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Niemand

Niemand hat mich je haben wollen. Das begann schon mit meinen Eltern. Nicht nur, dass ich ein Unfall gewesen bin und meine Mutter derzeit so stark übergewichtig, dass sie mich erst bemerkte, als es schon zu spät war – mein Vater lief vor mir davon und kam nie wieder, nachdem ich ihm bei seinem ersten und letzten Wickelversuch sein allerliebstes Hemd nass gemacht hatte. Meine Mutter, gesegnet mit sieben Kindern, vergaß, wenn sie gefragt wurde, wie viele Kinder sie habe, immer mich.

„Sechs. – Ach, und den Henna.“

In der Schule wollte mich niemand in seinem Sportteam haben, ich saß alleine in der ersten Reihe. Selbst die Lehrer übersahen mich. So kam es, dass ich im Sommer 86 das Wochenende alleine im Schullandheim verbrachte – der Klassenlehrer hatte mich beim Durchzählen auf der Rückfahrt schlicht vergessen.

Als ich schließlich erwachsen wurde, wollten mich auch die Arbeitgeber nicht – aber die Damen vom damaligen Sozialamt noch weniger. Also musste einer in den sauren Apfel beißen und mich beschäftigen.

Selbstverständlich hat mich auch keine Frau haben wollen und meine Herzallerliebste hat mich nur geheiratet, weil ich sie damit erpresst habe, ansonsten überall zu erzählen, dass sie auf ihrem dicken Schwabbel-Hintern nicht nur Cellulite sondern auch das bunte Tattoo von dem 16jährigen Joey McIntyre prangen hat. Dummerweise habe ich dabei nicht bedacht, dass ich mir damit fortan erstens ständig das spitznäsige Gesicht von Klein-Joey würde angucken müssen und dass mir zweitens Rita – so heißt die Gute – jeden Cent aus der Tasche ziehen würde für eine Fettabsaugung nach der nächsten.

Ihre Eltern, meine Schwiegereltern, hat sie mir bislang geschickt vorenthalten, genau so wie sie die Ehe mit mir hat verheimlichen können. Bis dann vor einer Woche Stefan – dem sie die Ehe mit mir ebenso gut verschwiegen hatte wie mir die Affäre mit ihm – ganz offiziell vor ihren Eltern um ihre Hand angehalten hat und sie nicht anders konnte als zuzugeben, dass sie schon verheiratet ist. Hin- und hergerissen dazwischen, Stefan zu heiraten und dabei zu riskieren, dass ich meine Drohung wahrmache, oder weiter mit mir verheiratet zu bleiben, will sie nun ihre Eltern entscheiden lassen. Ich weiß, wie das nur ausgehen kann.

Und ehrlich gesagt, ich habe die Schnauze voll von alle dem! Wenn mich niemand will, dann will ich auch niemanden mehr.

Blöderweise bin ich ein gutmütiger Typ und habe zugesagt, mich heute Nachmittag bei Familie „Wir-entscheiden-über-deine-Zukunft“ zerreißen zu lassen. Darum fahre ich jetzt schnell zum Supermarkt. Pralinen kaufen für die Schwiegereltern.

 

Ich stolpere gerade die Treppen in dem 12 Parteienhaus, in dem ich als 13. Partei wohne, drei Stockwerke hinunter, als ich mitbekomme, dass offensichtlich meine neue Nachbarin gerade einzieht. Sie hat eine der Wohnungen im Erdgeschoss angemietet, die mit einer schönen Terrasse und einem kleinen Stück Garten. Ihren Namen bekomme ich dabei selbstverständlich nur zufällig mit, als sie einer der Typen, die ihr beim Umzug helfen, ruft.

„Sonja, wo soll’n der Busch hier hin?“ Ein bäriger Typ mit Pferdeschwanz und Kinnbart schwenkt eine Pflanze mit zackigen Blättern durch den Flur.

Meine Nachbarin – gutaussehend – steht im Türrahmen ihrer neuen Wohnung. „Vorsicht, die ist giftig.“

Muskelmann lacht. „Haha, essen wollte ich sie ja auch nicht.“

„Du brichst ihr gerade die Blätter ab.“

„Na und?“

„Die sind auch giftig.“

„Echt jetzt? Hey, ich hab da so’ne olle Kollegin...“ Muskelmann giggelt, sieht mich nicht und zieht mir beim Umdrehen das Pflänzchen durchs Gesicht.

„Upps, was war das denn?“ Irritiert blickt er sich um. „Hey, du, halt mal.“ Er hält mir den Pflanzenkübel von bestimmt 30cm Durchmesser entgegen, zieht ihn aber gleich wieder zurück. „Oder besser nicht. Woll’n ja nicht, dass du zusammenbrichst, haha.“ Sein Kollege stimmt in das Gelächter ein.

Ich könnte jetzt zu Sonja so etwas sagen wie: ‚Hey, macht nichts, dass mich der Kerl hier fast über den Haufen gerannt hat, das bin ich gewohnt – willst du nicht auf ‚nen Kaffee raufkommen?’ oder ‚Hallo, ich bin Henna, dein Nachbar aus dem Dachboden, der, der extra für mich ausgebaut worden ist, der, der im Sommer irre heiß und im Winter klirrend kalt ist, weil sie leider die Heizungsrohre vergessen haben, bis nach oben zu verlegen. Willst du trotzdem mit mir nen Kaffee trinken?’ Aber ich sage nichts von beidem. Statt dessen sage ich:

„Die ist wirklich giftig?“ Okay, von Intelligenz strotzt das nicht gerade, allerdings weiß ich, dass weder Alternative a noch b besser gewesen wäre.

„Willst de’s probieren?“ Muskelmann hält mir wieder den zackigen Busch entgegen und grinst breit.

„Warum eigentlich nicht“, sage ich leichthin und breche mir einen kräftigen Trieb ab inklusive Blatt und Samenkapsel. „Der Tod wird mich schon haben wollen.“

„Oh ha! Da ist aber wer depressiv. Soll’n wir lieber nen Psychodoc holen?“ Muskelmann Nummer zwei schiebt sich mit einem anderen Kübel vorbei.

„Ne danke, mich umbringen schaffe ich schon alleine. Und falls nicht, renne ich euch beiden einfach noch mal vor die Füße.“

„Na, Humor hat er wenigstens.“ Die beiden Typen verschwinden in Sonjas Wohnung und ich schleiche durch die Haustür nach draußen zu meinem Fahrrad.

„Wohne oben im Dach. Kannst raufkommen, wenn du willst. Einfach klopfen, Klingel habe ich nicht. Haben sie vergessen“, murmel ich dabei noch vor mich hin, aus Gewohnheit. Habe schließlich mal gutes Benehmen gelernt. Und die Klingel haben sie tatsächlich vergessen. Aber das stört mich nicht, schließlich will eh niemand etwas von mir, da brauche ich keine Klingel.

 

Ich radel gerade auf meinem Drahtesel zum Supermarkt, als es mir plötzlich wie Schuppen aus dem Haar rieselt:

„Der Tod wird mich schon haben wollen“ – natürlich! Wieso bin ich nicht schon viel früher darauf gekommen! Der wird mich nicht abweisen, wenn ich vor ihm stehe.

Ich bin begeistert. In Gedanken sehe ich mich schon vor ihm stehen, ihm ins Gesicht spucken und zu ihm sagen: „Ha, du kannst mich nicht abweisen!“

Und alles, was ich dafür tun muss, ist diese Pflanze essen, die da so harmlos in meiner Fahrradtasche liegt. Genial.

Aber nach Selbstmord soll das Ganze nicht aussehen, das ist mir zu primitiv. Außerdem habe ich keine Lust, mir als Engel eine Trauerrede anhören zu müssen a la: „Sein ganzes Leben wollte ihn niemand haben, nun hat er den einzigen Ausweg im Tod gesehen.“ Blablabla, Drama, Trauer, bla.

Es darf nicht auffallen. Ein Unfall, ein blöder Zufall, ein Magen-Darminfekt, der den schwächlichen Henna leider zufällig dahingerafft hat...

Die Pralinen! Genau. Ich kaufe keine Pralinen, ich mache sie selber. Das wirft auch gleich ein viel besseres Licht auf mich als herzallerliebster Schwiegersohn. Ein bisschen gemahlene Samenkapseln als Krokant drunter gemischt, gegessen und gut ist.

Und wenn dann ausgerechnet jemand anderer die präparierte Praline erwischt?

Ich strecke das Gift. Präpariere mehrere Pralinen – sagen wir: sechs Stück. So dass es drei braucht, damit das Gift wirkungsvoll genug ist. Dann können die anderen drei von den anderen gegessen werden und ich muss nur darauf achten, dass nicht eine andere Person alle drei auf einmal isst. Das hat auch gleich den Vorteil, dass man glaubt, es handele sich um einen zufälligen Magen-Darminfekt, weil die anderen auch Bauchweh bekommen. Eine geniale Idee. Da sich für mich auf der Erde schon niemand interessiert, wird in diesem Fall auch niemand weiter nach meiner Todesursache forschen, wenn ich erst einmal unter der Erde liege.

Gedacht, getan. Ich kaufe also Schokolade, Kokosfett, Bittermandelöl und gemahlene Mandeln und bereite daraus zuhause meine eigenen Pralinen her.

Dafür lege ich ein Quadrat von fünf mal fünf Pralinen an. In diesem Quadrat versteckte ich ein Kreuz von sechs Pralinen – vier horizontal, drei vertikal – die ich statt mit Bitteraroma mit den bitterschmeckenden Kapselraspeln vermische. Die obere, die linke und rechte äußere Pralinenreihe lasse ich unversehrt. So ist also ein gleichschenkliges Kreuz in der Mitte und eine weitere Praline in der Mitte der unteren Außenreihe vergiftet. Drei Pralinen brauche ich, um eine tödliche Dosis zu erreichen. Bleiben also noch drei über, die die anderen essen können. Ich muss nur dafür sorgen, dass niemand alle anderen drei zu fassen bekommt. Aber das sollte kein Problem sein, ich muss mich nur auf die Pralinen in der Mitte stürzen.

 

Außerordentlich gut gelaunt fahre ich schließlich mit Rita zu ihren Eltern.

„Du weißt schon, dass dich meine Eltern nicht mögen werden?“ Rita dreht ihren runden Kopf in meine Richtung und mustert mich abfällig.

„Herzchen“, trällere ich, „du weißt schon, dass ich im Falle einer Scheidung jedem von deinem Tattoo erzählen werde?“ Heute bringt mich einfach nichts mehr aus der Ruhe. Unerwünschter Schwiegersohn – was soll das schon noch in meiner Reihe der Unerwünschtheiten ausmachen? Gar nichts, absolut gar nichts.

Rita verzieht ihren Mund mit den wulstigen Lippen, die sie sich hat spritzen lassen, und beißt in einen Schokoriegel. „Für die nächste Fettabsaugung“, sagt sie. „Ich bezahle sie ja nicht.“

Das ist wohl unser unausgesprochener Deal. Ich kann verheiratet sein, und sie kann so viel essen, wie sie will, ohne jemals eine Diät machen zu müssen. Nur, dass sie sich dieses Mal irrt. Aber das wird sie schon früh genug herausfinden.

Das Treffen verläuft zunächst wie erwartet. Eine Frau, doppelt so breit wie Rita, und das will schon etwas heißen, öffnet uns die Tür.

Das is’ also dein Mann, ja?“ Das Michelinweibchen betont das „das“ so, als würde sie auf einen Haufen Schafsköddel zeigen. „Mädel, ich hab’ dir ehrlich mehr Geschmack zugetraut.“ Sie schlurft um mich herum, begutachtet mich von oben bis unten. „Viel dran is’ ja nich’ an dem.“

Ich lächele mein perfektestes Schwiegersohnlächeln, verbeuge mich und reiche ihr die Schachtel mit den Pralinen.

„Noch kleiner wär’ wohl nich’ gegangen, hm? Sieh mich ma’ an. Seh ich aus, als würd’ ich damit lang’ hinkommen? Und was hast du für den Holji?“

„Holji?“

„Na, Ritas Papa, Mensch. Allzu helle is’ er ja nich’, Rita. Mädel, wie konntest du uns das nur antun...“ Michelinweibchen schlurft ins Hausinnere, die Pralinen fest in der Hand.

Am gedeckten Esstisch sitzt „Holji“, Ritas Vater. Vom Umfang her nicht ganz so breit, Pausbäckchen, kleine Augen hinter dicken Brillengläsern. Ich frage mich, wie er eine Frau wie Ritas Mutter hat heiraten können. War er vielleicht auch ein Niemand, und Ritas Mutter hat ein Tattoo von Jerry Lee Lewis auf dem Allerwertesten?

„Was starrst de mich so an?“ unterbricht Ritas Mutter meine Überlegungen.

„Ist ja nicht viel zu essen“, sage ich statt dessen, weil ich will, dass sie meine Pralinen mit anbieten, und deute auf den Tisch, auf dem eine einsame Packung Kekse mit der Aufschrift „Kaffeekränzchen“ steht.

„Ne, wir sin’ ja auch davon ausgegangen, dass unser Schwiegersohn ordentlich was mitbringt, nich’ Holji?“

„Na ja, hätt’st schon noch zwei Äpfel dazu tun können“, sagt ‚Holji’. „Der Kleine fällt ja fast vom Fleisch.“

„Das is’ doch nich’ unser Problem!“ Michelinweibchen ist entrüstet. „Leitungswasser, kalt oder warm? Was willst de?“

„Cola“, sage ich. Zu verlieren habe ich ja nichts mehr, mein Schicksal ist eh besiegelt.

„Die gibt’s hier nich’.“

„Sie sehen nicht so aus, als gäb’s die hier nicht.“

Ritas Mutter steigt die Röte ins Gesicht. „Junge, du wills’ doch, dass die Rita mit dir verheiratet bleibt, oder? Dann sieh ma’ zu, dass du nen bisschen freundlicher bist!“

„Häschen, lass gut sein. Nervös ist der. Kennst du doch.“ Holji scheint ganz nett zu sein.

„Genau“, sage ich. „Essen wir jetzt lieber die Kekse und die Pralinen.“

Holji unterdrückt ein Giggeln. „Essen wir.“

Teil eins meines Planes verläuft also wie vorhergesehen. Fehlt nur noch Teil zwei. Um nicht allzu respektlos zu erscheinen, überlasse ich die Wahl der ersten Pralinen den Gastgebern. Ritas Mutter greift zielgerichtet nach der in der Mitte. Mist.

„Ich ess’ immer das Herz zuerst. Was dagegen? Du guckst, als wenn dir das nich’ passen tät.“

„Nein, nein.“ Vehement schüttele ich den Kopf und nehme schnell eine weitere Praline aus der Mitte.

„Bah! Die sin’ ja bitter!“ Ritas Mutter verzieht angewidert das Gesicht.

„Ist der letzte Schrei“, sage ich. „Schokolade mit Chili, Rose, Ingwer – oder jetzt eben bitter. Ich dachte, einer Frau des Genusses kann ich nicht mit einer Null-acht-fünfzehn-Schokolade kommen.“

„Da hätts’de mal lieber die Rita gefragt. Die sin’ ja ekelig“, sagt Ritas Mutter und greift nach einer weiteren Praline – aus der Mitte.

Doppelmist. Jetzt wird es eng. Ich schiebe mir meine in den Mund – ekelig – und greife nach der nächsten. Rita schnappt sich ebenfalls eine.

Holji erwischt eine unpräparierte. „Weiß gar nicht, was ihr habt. Die sind doch gut. Haben das gewisse Etwas. Du isst doch auch Bittermandeln sonst, Häschen?“

Ich zähle im Geist zusammen. Zwei vergiftete Pralinen für Ritas Mutter, zwei für mich, eine für Rita. Da bleibt nur noch die eine in der Mitte der Außenreihe. Ich muss sie erwischen. Bloß welche Außenreihe ist es? Ritas Mutter hat die Schachtel mehrmals gedreht, so dass ich nicht mehr weiß, welche Reihe die untere ist, die mit der vergifteten letzten Praline in der Mitte.

‚Häschen’ kann Holjis Kommentar jedenfalls nicht auf sich sitzen lassen und greift schon wieder nach den Pralinen. Ich komme ihr zuvor und schnappe ihr eine Praline, die in der Mitte einer Außenreihe sitzt, vor der Nase weg.

Ritas Mutter grabscht sich die nächste – zielgerichtet eine in der Mitte der nächsten Außenreihe. Ich will mir schnell Nummer drei aus der dritten Außenreihe holen, da kommt sie mir zuvor – und greift sich gleich darauf auch Nummer vier aus der Mitte der vierten Außenreihe.

Will sie etwa sterben???

Ich tue, was ich kann, lehne mich blitzschnell über den Tisch und entreiße ihr eine Praline von den dreien, die sie gerade in ihren Mund stopfen will, wieder aus der Hand.

Zu meiner Linken höre ich grölendes Gelächter. Holji hält sich mit der einen Hand den Bauch und versucht mit der anderen, seine Lachtränen wegzuwischen. Rita hat sich ebenfalls in den Pralinenkampf eingemischt, aber sie angelt nur wenig zielgerichtet irgendwelche Pralinen aus der Packung.

„Ist ja zum Kuhugeln. Junge, du bihist adoptiert.“ Holji kämpft noch immer mit den Tränen, während ich im Geiste meine Chance überschlage, alle drei Pralinen erwischt zu haben. Sie stehen eins zu eins mit Ritas Mutter. Verdammt. Wie hätte ich aber auch ahnen können, dass sie so verfressen sein würde.

„Nix is’ der. Was der uns für ‚nen Fraß vorgesetzt hat...“ Ritas Mutter rümpft die Nase und erbricht sich gleich darauf.

„Na, komm schon, Häschen. So viel Spaß hattest du schon lange nicht mehr, gib’s zu.“ Michelinweibchen erwidert jedoch nichts, sondern lehnt sich nur vor, um die nächste Ladung anverdaute Pralinen wiederzukäuen.

„Das nächste Mal, Junge, bringst du aber lieber die gekauften mit. Sonst bist du bei deiner Schwiegermama wirklich unten durch. Und wenn ich dir nen Tipp geben darf: Nimm Mon Chéri, die liebt sie.“ Holji zwinkert mir zu und angelt sich einen trockenen Keks aus der Kekstüte. „Ach, und für mich dürfen es welche mit Nuss sein. Egal was, bin da nicht so wählerisch.“ Er tätschelt mir tatsächlich meine Hand und ich frage mich, in was für eine Familie ich da bloß hineingeheiratet habe. Aber das ist jetzt ja egal, denn es wird weder die einen noch die anderen Pralinen von mir geben, denn auch ich spüre eine Welle der Übelkeit in mir aufsteigen. So viel Bitteraroma auf einmal war wohl nicht das Beste. Unter einem Vorwand verabschiede ich mich und gurke zurück nach Hause. Dann schleppe ich mich die Treppe nach oben bis in den dritten Stock, öffne die Tür meiner Dachzimmerwohnung und lasse mich rücklings auf das Bett fallen. Tod, du kannst kommen. Lächelnd werde ich ohnmächtig und als ich wieder halbwegs wach bin, blicke ich in einen grinsenden Totenschädel.

 

„Wer bist du?“, frage ich den Schädel. Schummrig ist noch alles um mich herum, mein Kopf dreht sich.

„Ich bin der Tod“, sagt der Schädel, an dem, wie ich jetzt sehe, auch noch ein ganzes Skelett hängt.

„Ha!“, rufe ich enthusiastisch aus. „Du kannst mich nicht abweisen. Ich habe es geschafft.“

„Moment mal“, sagt der Tod. „Du bist doch Henna Nikolaus.“

„Ja“, sage ich. „Genau der, und du kannst mich nicht zurückschicken!“ Wäre mir nicht noch so schlecht, würde ich jetzt fröhlich ein Liedchen summen.

Der Tod dreht sich um, murmelt irgendetwas vor sich hin, geht vor einem Regal an Kerzen auf und ab.

„Da gibt’s leider ein Problem“, sagt der Tod, als er sich mir wieder zuwendet. „Mein Geselle, der Depp, hat mit seinem Mantel deine Kerze gestreift – aber sie ist noch nicht erloschen. Im Gegenteil, ich sehe hier noch einige stramme Jahre vor mir...“

„Wie bitte?“

„Ich würde meine Berufsauthentizität aufs Spiel setzen, wenn ich das ignoriere. Wir wirtschaften hier nachhaltig. Kerzen, die nicht komplett runtergebrannt sind, landen nicht im Recycling.“

„Das darf nicht wahr sein!“, schreie ich.

„Doch, so ist es. Allerdings weiß ich gar nicht, was du so unbedingt hier willst. Bei der Frau in deinem Bett...“ Der Tod grinst noch breiter, als er es eh schon tut. „Da könnte ich ja glatt wieder auf Ideen kommen...“

Frau in meinem Bett? Die einzige Frau, die jemals in meinem Bett gewesen ist, wenn ich von meiner Mutter am Tag meiner Geburt einmal absehe, ist Rita. Dass jemand außer mir auf die scharf sein kann, wo bald wieder eine Fettabsaugung ansteht, kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Andererseits fehlt dem Tod natürlich so einiges an Fleisch.

„Also wie auch immer. Hier kannst du nicht bleiben. Ich schicke dich wieder zurück.“

„Nein!“ rufe ich, doch es ist schon zu spät, ich spüre wieder die weiche Matratze meines Bettes unter mir.

 

„Bist du sicher, dass du das nicht willst? Bislang hat das eigentlich noch jeder Mann gemocht.“

Ich öffne notgedrungen die Augen – ich kann’s ja doch nicht mehr verhindern – und starre in das Gesicht von – Sonja. Nanu, was will die denn hier?

„Du hast mich eingeladen. Erinnerst du dich? Heute morgen. Ich dachte, ich komm’ mal vorbei. Deine Tür war offen. Und als du so hilflos auf deinem Bett hier lagst...“

Mein Hemd steht offen, meine Hose auch.

„Soll ich wieder gehen?“

Ich schaffe es gerade noch, den Kopf zu schütteln, bevor ich wieder wegnicke und von wunderschönen Dingen träume. Wirklich wunderschönen Dingen.

Irgendwann in der Nacht werde ich jedoch wieder wach, ein Klopfen an der Tür weckt mich. Vermutlich Rita. Ich halte mir mein Hemd vor meine Blöße und schlappe zur Tür, die nur angelehnt ist. Aber normalerweise verirrt sich eh niemand nach hier oben. Dann öffne ich die Tür ganz und vor mir steht – der Tod. Er hat sich hübsch herausgeputzt, mit Mantel, Stock und Zylinder.

„Bin ich jetzt dran?“, frage ich, die Hand immer noch vor meiner Blöße.

Der Tod schielt über meine Schulter hinweg auf mein Bett. „Hübsch hübsch“, sagt er. Dann räuspert er sich und sein Blick streift den Rest meiner Wohnung. „Ich bin kein Unmensch, weißt du. Ich habe mir mal dein Leben angesehen. Bis auf diese Szene gerade ist es wirklich zum Weglaufen. Und mein Geselle, der Depp, hat beim Aufräumen gerade zwei Kerzen vertauscht. Deine und die eines 76jährigen Mannes mit Nierentumor. Also, wenn du willst, könnte ich so tun, als hätte ich es nicht gesehen...“

„Nein!“, rufe ich und schlage dem Tod die Tür vor der nicht vorhandenen Nase zu. Dann öffne ich sie jedoch kleinlaut wieder. „Äh, ich meine, danke für dein Angebot.“

Der Tod nickt. „Wie gesagt, ich bin kein Unmensch.“

„Aber so wie es derzeit aussieht, habe ich kein Interesse.“

Der Tod nickt wieder, dann grinst er breit. „Habe ich mir fast gedacht.“

„Wie... ähm, wie sieht es denn aus mit Ritas Mutter...?“

„Soll ich was vertauschen?“, fragt der Tod.

Ich schüttel den Kopf. „Sie lebt noch?“

Der Tod lacht. „Und wie. Hat eine der dicksten Kerzen bei uns abbekommen. Wenn mein Geselle, der Depp, die mal zum Staubwischen verschieben muss, hat er immer arge Probleme.“

„Aber wie konnte das angehen...?“

„Du meinst wegen der dritten Praline?“

Ich nicke.

„Hat sofort alles wieder ausgespuckt. Ist nicht viel drin geblieben.“

„Na dann...“, sage ich.

„Na dann“, sagt der Tod, dreht sich um und zieht seinen Zylinder zum Gruß.

„Bis später.“

 

Impressum

Texte: June F. Duncan
Bildmaterialien: Coverfoto: PDPics / www.pixaby.com
Tag der Veröffentlichung: 31.08.2014

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