„Frost liegt in der Luft“, sagt sie, den Blick aus dem Fenster, ein Lächeln auf den Lippen, das sich im Glas der Scheibe spiegelt. „Das war wohl die letzte Bootstour für dieses Jahr. In Zukunft müssen wir wieder Halma spielen. Aber das ist ja auch nett. Hier drinnen ist es warm und nicht so kalt...“ Sie lächelt kurz, wirft den Kopf andeutungsweise über die Schulter in meine Richtung. „Und wenn wir dann erst einmal zu dritt sind, werden wir diese Momente herbeisehnen, an denen wir noch ruhige Abende hatten zu zweit – oder zu viert mit Hannah und Jochen. Apropos, hast du von ihnen gehört?“ Wie beiläufig dreht sie ihren Kopf zur Seite, ihr Profil verschwimmt mit dem Licht der Spots auf dem Fußboden. „Na ja“, sie wischt eine imaginäre Fluse von ihrem roten Satinkleid, das kurz über ihren Kniekehlen aufhört, „er wird sich schon noch melden. Wahrscheinlich ist er gerade mit Hannah unterwegs.“ Sie verstummt einen Moment, drückt den Rücken durch und strafft die Schultern. „Die ersten Einkäufe machen... Weihnachten ist ja nicht mehr lange hin. Wir sollten auch bald gehen. Was meinst du – vielleicht nächsten Samstag?“ Die vollautomatische Kaffeemaschine springt an, zischt und rattert, reinigt sich selbst. „Ach ja, Kaffee und Tee sollen wir für Mutti mitbringen vom Weihnachtsmarkt, wenn wir hinkommen. Im Heim geben sie ihr nur die Standardplörre. Und für die Kinder von Manuela könnten wir auch was Schönes aussuchen. Und für unseres natürlich.“ Sie streicht mit der Hand über ihren flachen Bauch. „Wir haben ja lange genug darauf gewartet. Vielleicht ein paar Söckchen und Mützchen – dann hat es gleich etwas für den ersten Winter.“ Sie lacht, schüttelt ihre blonden Locken, die ihr üppig über die Schultern fallen. „Vielleicht haben Hannah und Jochen ja auch Lust, mit zu gehen. – Du hast auch nichts von ihnen gehört, oder?“ Sie zieht ihr Handy aus der Handtasche, gibt den Entsperrcode ein, klickt ein paar Tasten. „Vielleicht haben sie auch gerade keinen Empfang. Wer weiß, wo sie gerade sind...“ Sie starrt aus dem Fenster, versucht dabei, ihr Handy in die Handtasche zu stecken.
„Am See.“
„Was?“ Ruckartig dreht sie sich um.
„Sie sind am See“, wiederhole ich.
„Ach so.“ Sie lächelt. „Jetzt?“ Ihre Stirn zieht Falten, skeptisch sieht sie mich an. „Es ist ziemlich kalt da draußen. Sie wollen doch nicht etwa Boot fahren?“ Nervös spielt sie mit den Fingern an dem Lederband ihrer Handtasche.
„Vielleicht ein kleines Stelldichein?“, schlage ich vor. „Dabei wird ihnen schon warm.“
Sie lacht, einen Tick zu schrill. „Der Frost kommt hier ziemlich schnell. Du hast die Unwetterwarnung gehört. Blitzeis. Denk nur an letztes Jahr. 4 cm ist der See damals durchgefroren – in nur einer Nacht. Wir konnten noch bis in den Frühling hinein Schlittschuh laufen. Und dann – was mit dem Tauwetter alles an aufgeblasenen Tierkadavern ans Ufer gespült worden ist...“ Hastig läuft sie ein paar Schritte auf und ab, krallt ihre nackten Zehen in den Kaschmirteppich. „Vielleicht haben sie den Wetterbericht nicht gehört...“ Ihr Brustkorb hebt und senkt sich rasch, ihre linke Halsschlagader pulsiert. „Wir sollten sie warnen. – Hast du dein Auto hier?“ Sie läuft zur Geradrobe, sucht nach dem Schlüssel. „Egal, wir nehmen meins.“
Spiegelglatt liegt der See vor uns, als wir den alten Steg erreichen ...
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Diese Geschichte ist mit 19 weiteren Geschichten in der Anthologie "Lebensbunt. Löwenherz-Geschichten" vertreten. Hervorgegangen aus Siegergeschichten von Wettbewerben der Anthologie-Gruppe hier auf Bookrix. Wir Autoren verzichten auf ein Hornorar zugunsten des Kinderhospizes "Löwenherz" in Syke. Der gesamte Nettoerlös fließt in diese Einrichtung.
Die Anthologie gibt es sowohl als Taschenbuch als auch als eBook.
Saskia Kruse, Ursula Kollasch (Hg):
Lebensbunt. Löwenherzgeschichten
ISBN-13: 978-1505425598
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Texte: June F. Duncan
Bildmaterialien: Coverfoto: KleeKarl, www.pixabay.com
Tag der Veröffentlichung: 31.08.2014
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