Cover

Das Gartentor

Ilse liebte ihren Garten. Tag für Tag war sie draußen und zupfte hier ein paar welke Blätter von den Blüten, setzte dort einige neue Blumen, jätete wieder an einer anderen Stelle Unkraut oder erntete das reife Obst. Selbst im tiefsten Winter, wenn es unablässig schneite, fand sie noch etwas, das sie tun konnte, und wenn sie nur überprüfte, ob ihre Pflanzen alle noch gut eingedeckt waren oder ob der Wind schon einige der Jutesäcke gelöst hatte.

Im Sommer saßen wir oft gemeinsam auf der Terrasse und blickten über die bunten Beete, das grüne Gras und die Obstbäume am Ende unseres Gartens, ließen den Blick schweifen über die anliegenden Felder und sahen am Horizont der Abendsonne beim Untergehen zu.

Doch dann wurde Ilse krank. Die Behandlungskosten überstiegen bei Weitem unsere gemeinsame Rente. Wir überlegten lange hin und her – schließlich entschieden wir uns schweren Herzens, die Hälfte unseres Gartens an einen Bauträger zu verkaufen. Schon seit längerer Zeit hatte die Gemeinde angefangen, die Äcker und Felder um unser Grundstück herum aufzukaufen, um eine neue Wohnsiedlung dort entstehen zu lassen. Die Hälfte unseres Gartens war groß genug, mindestens ein weiteres Haus bauen zu können, und so war es schnell verkauft.

Der Käufer, der schließlich nebenan einzog, war ein junger Mann mit seinem Sohn. Es hatte Ilse schon unglücklich gemacht, ihren geliebten Rosenstrauch in der Mitte des Gartens ausgraben zu müssen, damit die Grundstücksgrenze gezogen werden konnte, aber jetzt musste sie zunehmend mit ansehen, wie auch der Rest ihres Gartens, den sie verkauft hatte, verrottete. Der Vater mähte allenfalls einmal im Monat den Rasen, während der sechsjährige Sohn mit seinem Fußball alles zerschoss, was vorher noch üppig gewachsen war. Zu allem Überfluss flog der Ball etliche Male über die Grundstücksgrenze und vernichtete auch in unserem Teil Ilses so liebevoll gepflegte Blumen. Es verging kein Tag, an dem es keinen Streit deswegen gab. Schließlich beauftragten wir eine Zaunfirma, einen Sichtschutzzaum um unseren Garten zu setzen. Nun musste Ilse nicht mehr länger mit ansehen, wir ihr Garten jenseits des Zaunes verwahrloste. Dafür hörten wir fortan regelmäßig nach der Schule das Gedonnere, wenn der Fußball des Nachbarjungens gegen den Zaun krachte, und das ein oder andere Mal flog der Ball immer noch zu uns hinüber, landete in den Petunien und zerdrückte ihre zarten Köpfe. Ilse wurde zunehmend melancholischer. Zu allem Überfluss hatte die Behandlung nichts bewirkt und so lag Ilse schließlich im Sterben, als ich an einem Morgen im September ihre Hand hielt.

„Versprich mir“, sagte sie mit gebrochener Stimme, „Versprich mir, dass du den Rest unseres Gartens niemals verkaufen wirst.“

Ich nickte, mühsam den Kloß in meinem Hals herunterschluckend.

Eine Woche später starb sie.

 

Die Welt war leer ohne Ilse. Im Garten sammelte ich das Fallobst von dem letzten uns verbliebenem Apfelbaum ein, und als der Winter kam, deckte ich Ilses Rosen und die anderen frostempfindlichen Pflanzen mit den alten Jutesäcken zu. Schnee ließ die Blumen und Sträucher schlafen und schluckte alle Geräusche der Umgebung. Im Haus hallten meine schlurfenden Schritte alleine von den Wänden wider.

Ilses Krankheit hatte unsere Ersparnisse vollkommen aufgezehrt. Zwar war das Haus inzwischen abbezahlt, aber die Kosten für Reparaturen und Instandhaltung blieben.

Als schließlich der Frühling ins Land zog und die ersten Krokusse ihre zarten Köpfe durch die dünne Schneedecke steckten, ging die Heizung kaputt, und ich wusste nicht, wie ich ihre Reparatur bezahlen sollte. Der Verkauf des letzten Teils unseres Gartens war die einzige Möglichkeit für mich, an Geld zu gelangen. Aber ich konnte es nicht. Also zog ich mir meinen dicken Wintermantel und eine Mütze über und harrte in der Kälte aus. Ich zählte die Eisblumen an den Fenstern, bis es eines Tages an meiner Tür klingelte. Der junge Mann von nebenan.

„Hallo“, sagte er, „ich dachte, Sie kennen sich vielleicht noch mit so etwas aus. Ich habe leider zwei linke Hände.“ Er drehte seine rechte Hand linksrum, hielt beide Hände nebeneinander vor sich hin und lächelte entschuldigend. „Meine Heizkörper werden nicht mehr richtig warm.“

Ich ging mit ihm hinüber in sein Haus.

„Sorry für das Chaos, aber ich komme mit dem Aufräumen hinter Max nicht hinterher.“

„Warum haben Sie sich dann ein Haus gekauft?“

„Ich wollte, dass der Junge im Grünen aufwächst. Hier ist die Gegend super, der große Garten...“

Ich folgte seiner Handbewegung und sah aus dem Wohnzimmerfenster hinaus in den Garten. Die alten Bäume standen noch, auf den Beeten jedoch ragten schwarze Stümpfe verfaulter Blumen in den Himmel.

„Für Gartenarbeit haben Sie wohl auch zwei linke Hände“, sagte ich, während ich Ilses traurigen Blick beim Anblick dieser Verwahrlosung sah.

Er seufzte. „Ich arbeite Vollzeit, und wenn ich nach Hause komme, muss ich mich um meinen Sohn kümmern. Sie wissen schon – dass er die Hausaufgaben gemacht hat, ein bisschen spielen und so. Hier ist übrigens einer der Heizkörper, der nicht mehr richtig warm wird.“

„Sie haben noch einen alten Rippenheizkörper“, murmelte ich, während ich die Rippen von vorne nach hinten abtastete.

„Ach ja, mein alter Herr hat darauf bestanden. Soll ‚ne bessere Heizleistung haben als die neuen Dinger heutzutage.“

Ich nickte. Warum hatte er dann nicht seinen ‚alten Herrn’ um Hilfe gebeten?

Der Heizkörper fühlte sich vorne heiß und hinten kalt an.

„Der Heizkörper muss entlüftet werden“, sagte ich. „Haben Sie eine Wasserrohrzange – oder eine Kombizange?“

Der junge Mann schüttelte den Kopf.

„Ich hole eine.“ Ich ging zurück in mein Haus. Mein Nachbar folgte mir.

„Übrigens, ich heiße Reiner“, sagte er und hielt mir seine ausgestreckte Hand entgegen.

„Johann“, sagte ich. Meine Generation war es nicht gewohnt, sich mit den jungen Leuten zu duzen.

Reiner folgte mir in den Keller, in dem ich mein Werkzeug aufbewahrte.

„Schönes Haus“, sagte er. „Sehr groß. Aber verdammt kalt...“

„Meine Heizung ist kaputt.“

„Vielleicht muss sie nur mal entlüftet werden?“, versuchte er, einen Witz zu machen.

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. Nach scherzen war mir im Moment nicht zumute.

„Wann kommt der Heizungsbauer?“

Ich nahm die Wasserrohrzange vom Brett, an dem sie neben dem anderen Werkzeug hing, und dachte an unsere leeren Sparbücher.

„Später“, sagte ich.

„Sie haben kein Geld?“, fragte Reiner und war mir einen Tick zu neugierig.

„Die Krankheit meiner Frau hat alles aufgebraucht“, antwortete ich knapp und drehte mich wieder um zur Kellertür.

Reiner nickte. „Das tut mir leid.“

Gemeinsam gingen wir die Treppe hinauf.

„Ihr Haus ist sehr groß“, sinnierte er plötzlich, oben angekommen. „Vielleicht vermieten Sie einen Teil unter? Dann hätten Sie ein paar Mieteinnahmen. Ich hatte einen guten Makler, den kann ich Ihnen empfehlen, da müssen Sie sich um nichts kümmern.“

Ich schüttelte den Kopf. Jemand anderen in dem Haus wohnen lassen, in dem Ilse und ich über 30 Jahre lang gelebt hatten? Das konnte ich mir nicht vorstellen.

 

Zwei Wochen später jedoch tobte ein Sturm über unsere Gemeinde. Er riss einige Ziegel vom Dach und einen Teil der Dachrinne. Ich konnte nicht länger mit den Reparaturen warten. Also rief ich den Makler an, den mir Reiner empfohlen hatte, und wählte unter den Bewerbern, die er mir schließlich präsentierte, eine junge Frau mit ihrer Tochter aus. Sie hatte angeboten, mir im Haushalt zu helfen, und trotz unseres großen Altersunterschiedes hatte ich das beste Gefühl bei ihr. Vielleicht, weil sie Floristin war und den bezeichnenden Namen Flora trug. Ihre Tochter, Marie, war lebendig, aber beide respektierten das Gartenverbot von mir.

So konnte ich die Heizung und das Dach reparieren lassen, und das Leben in meinem Haus verdrängte die Stille, die sich dort seit Ilses Tod eingenistet hatte.

Jeden Tag kniete ich nun an Ilses statt im Garten und versuchte zu pflegen, was sie einst liebevoll am Leben erhalten hatte. Doch meine Knochen schmerzten und ich hatte nicht Ilses grünen Daumen. An den Stellen, an denen Ilse die Einjährigen gesät oder gepflanzt hatte, blieben schließlich Lücken.

„Soll ich Sie mitnehmen in unser Gartencenter? Wir haben gerade viele Pflanzen im Angebot“, fragte Flora eines Tages, als ich gerade dabei war, das Unkraut zwischen den Vergiss-mein-nicht zu jäten.

„Vielleicht brauchen Sie noch etwas“, schob sie hinterher, als ich unschlüssig aufblickte.

Natürlich, es fehlten sämtliche einjährige Pflanzen. Aber mehr Pflanzen bedeuteten auch mehr Pflege – und der Garten war auch so schon groß genug.

Ich sah Ilse mit traurigem Blick auf die brachliegenden braunen Flecken hinab schauen. Ich wollte nicht, dass sie immerzu eine solche Einöde sehen musste, auch wenn ich nicht wusste, wie ich sie bewirtschaften sollte. Also nickte ich.

Im Gartencenter gab es so viele verschiedene Pflanzen, dass ich gar nicht wusste, welche ich nehmen sollte. Ilse hätte es gewusst. Ilse hätte im Nu aus jeder grauen Einöde ein blühendes Paradies gemacht. Aber Ilse war nicht mehr. Nun musste ich ihr Werk fortführen.

„Oh, die Hortensien machen sich sicher gut in Ihrem Garten. Wo wollen Sie sie hinsetzen? Neben den Schuppen? Da passen sie gut zu den Fensterrahmen.“

Eigentlich war es Flora, die schließlich entschied, welche Pflanzen ich mitnahm und welche ich stehen ließ, denn so oder so ähnlich lief auch der restliche Einkauf ab. Ich blieb vor einer Pflanze stehen, betrachtete sie eingehend und Flora kommentierte sie. Je nachdem, wie ihr Kommentar ausfiel, legte ich sie dann entweder in den Wagen oder ließ es bleiben.

Als wir wieder zu Hause waren, bot sie mir an, mir beim Einpflanzen und Angießen zu helfen. Auch wenn ich es nicht gerne zugab, ich war froh darum. Ohne sie hätte ich inmitten der neuen Blumen verloren wie ein kleiner Junge gestanden, denn ich hatte keine Ahnung, wo ich sie hätte hinsetzen sollen. Flora wusste es, und als alle Blumen gesetzt worden waren, waren die brachliegenden Flecken bunten Farbtupfern gewichen.

Von nun an bot mir Flora öfter an, im Garten zu helfen. Und da meine Knochen immer schwächer wurden, ließ ich es immer öfter zu.

 

Eines Tages, als Flora und ich gerade wieder einmal Unkraut jäteten, schrie ihre kleine Tochter aus Leibes Kräften nach ihr. Flora lief sofort zu der Kleinen, die weinend auf der Terrasse stand – mit aufgeschlagenen Knien.

„Was ist passiert?“, fragte ich Flora, nachdem sie Marie verarztet hatte.

„Sie ist beim Spielen auf der Straße hingefallen.“

Ich bekam ein schlechtes Gewissen. Erfolgreich hatte ich das Mädchen aus dem Garten verbannt, den einst der Nachbarsjunge so übel zugerichtet hatte. Nun hatte sie sich böse verletzt, was beim Spielen auf dem weichen Rasen sicher nicht passiert wäre. Ich sah Ilses besorgtes Gesicht, ob ihrer Blumen, wenn ich der Kleinen gestatten würde, von nun an im Garten zu spielen.

„Es ist ein Mädchen“, redete ich ihr zu. „Das spielt sicher kein Fußball und passt mehr auf als ein Junge.“ Ich konnte Ilses Zweifel und Sorge hören, aber es schien mir unbillig, Marie das Spielen im Garten nicht zu erlauben. Also bot ich ihr an, dass sie unter strenger Aufsicht ihrer Mutter im Garten spielen durfte.

 

Marie spielte gerne im Garten. Sie sprang mit dem Springseil, spielte mit ihren Kuscheltieren oder hüpfte auf ihren Trampolin, das ich Flora gestattet hatte, in einer hinteren Gartenecke aufzubauen. Als sie von der Oma ein kleines Häuschen für ihre Puppen geschenkt bekam, bot ich ihr an, es in den Garten neben den Schuppen zu stellen. Nach und nach zogen so immer mehr Spielsachen von ihr in den Garten ein und hier und da lag schon mal eine Puppe oder ein Teddy, die sie vergessen hatte, zwischen den Sträuchern. Ich sah Ilse besorgt über ihre Pflänzchen wachen, aber bis auf ein paar kleine Schäden passierte nichts.

 

Dann sah ich Marie immer seltener im Garten.

„Was hat denn Ihre Tochter?“, fragte ich Flora, als sie mir gerade half, einige verwelkte Blüten zu entfernen. „Sie spielt kaum noch im Garten.“

„Die ist bei Max drüben. Sie hat sich mit ihm angefreundet. Und sie spielen Fußball...“ Flora lachte, und in der Tat hörte ich Kinderlachen von der anderen Seite des Zauns und das obligatorische Krachen, wenn der Ball gegen die Wand geschossen wurde.

War mir das vorher gar nicht aufgefallen? Wurde ich taub?

Auch fiel mir jetzt öfter auf, wie Marie am frühen Nachmittag das Haus über die große Eingangstür verließ, mit ihren kleinen Beinen über die Gehwegplatten stolperte, bis sie schließlich durch den Vorgarten von Reiner an dessen Haustüre klingelte, hinter der sie im Dunkeln verschwand.

„Ilse“, sprach ich in Gedanken, nachdem ich wieder einmal beobachtet hatte, wie Marie den Gehweg entlang zum anderen Haus gelaufen war, „meinst du nicht auch, dass es zu gefährlich ist, das kleine Mädchen immer vorne entlang gehen zu lassen, an der Straße, wo die vielen Autos fahren? Wo sie doch nur in den anderen Garten hinüber will... Es wäre doch besser, sie könnte direkt hinüber in den anderen Garten, nicht? Vielleicht durch ein Tor, das kann man wieder abschließen, wenn es nicht funktioniert...“ Ilse antwortete mir nicht und ich fürchtete ihren Tadel, aber so ein Tor, fand ich, war eine sinnvolle Sache, denn so brauchte ich kein schlechtes Gewissen zu haben, dass der Kleinen etwas passieren könnte.

Also fragte ich Reiner, ob er etwas dagegen hätte, wenn ich eine Tür in die Bretterwand sägte. Er hatte es nicht und ging mir im Gegenteil noch ordentlich zur Hand. Er war offensichtlich doch nicht so unbegabt, wie er behauptet hatte.

Das Tor musste jedoch immer geschlossen bleiben. Ich konnte es Ilse nicht antun, dass sie von ihrem Lieblingsplatz auf der Terrasse aus in die andere Hälfte des Gartens sehen musste, die einst ihre gewesen war und jetzt so lieblos vor sich hinvegetierte.

 

„Warum ist es Ihnen eigentlich so wichtig, dass das Tor zu ist?“, fragte mich Flora eines Tages, als wir gemeinsam auf der Terrasse beim Tee saßen und ich argwöhnisch Marie hinterher blickte, die gerade durch das Tor hüpfte und zu vergessen drohte, es zu schließen.

„Das andere Grundstück hat früher uns gehört“, erklärte ich. „Wir mussten es verkaufen, als meine Frau krank wurde.“

„Und nun möchten Sie nicht daran erinnert werden, dass es Ihnen mal gehört hat?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich möchte nicht, dass meine Frau mit ansehen muss, wie der Garten so verwahrlost. Sie hat ihn so geliebt, er war ihr Herzstück, und der Reiner...“ Ich hielt kurz inne. „Der Reiner kümmert sich nicht richtig.“

Flora nickte. „Er hat nicht viel Zeit. Alleine mit Kind...“

„Dann soll er sich kein Haus mit Garten kaufen, wenn er’s nicht bewirtschaften kann.“ Ich kniff die Lippen zusammen. So etwas tat man einfach nicht.

Flora nickte. „Ich kann ja mal schaun, was ich tun kann.“

 

„Flora ist ein Engel“, sagte ich zu Ilse, als ich mal wieder beim Abendbrot auf der Terrasse saß. „Du würdest sie mögen. Sie ist tüchtig, sie hilft mir so oft beim Haushalt, sie kümmert sich mit um den Garten...“ Ich beobachtete, wie ein paar Vögel sich um einen Platz auf dem Apfelbaum zankten. „Sie ist natürlich nicht du. Niemand kann aus dem Garten ein solches Paradies machen wie du... Ich höre den Reiner öfter Rasen mähen in den letzten Wochen. Ich glaube, sie hat mit ihm gesprochen, weißt du. Sie kann so etwas.“

„Das wäre zu schön, um wahr zu sein“, hörte ich Ilse skeptisch sagen.

„Ich habe ein bisschen gespickt“, sagte ich mit einem Lächeln, „Wenn Marie durch das Tor ist, habe ich geguckt, wie es drüben aussieht. Das, was ich sehen konnte, war gepflegt – Natürlich konnte ich so nicht viel sehen...“, kam ich Ilses Einwand zuvor, „Also habe ich heute Vormittag, als ich wusste, dass sie alle auf der Arbeit sind, das Tor geöffnet und selber in den Garten geschaut. Er ist zwar längst nicht mehr so schön wie bei dir, die meisten Beete sind weg, aber der Rasen, der ist jetzt gepflegt. Und der Junge, der Max, der hat jetzt ein Fußballtor bekommen, das weiter hinten im Garten steht, dann knallt es nicht so oft gegen unseren Zaun. – Ach, Ilse, wenn ich mich daran erinnere, wie schön er einst war, wie weit man gucken konnte, der Sonne beim Untergehen zusehen konnte, und jetzt endet alles dort an diesen Brettern...“

„Sie sprechen mit Ihrer Frau?“

Ich hatte Flora gar nicht kommen hören.

„Sie fehlt mir so“, hauchte ich so leise, dass ich dachte, sie hört es nicht, aber sie hörte es doch.

„Wenn Sie wollen, können wir den Zaun wieder abbauen. Ich glaube nicht, dass der Reiner etwas dagegen hätte...“

„Sie und Reiner... Sie mögen sich, nicht?“ Mir war nicht entgangen, dass die beiden in letzter Zeit oft zusammen waren und dabei verliebte Blicke austauschten.

„Er ist ein netter Kerl. Sie sollten ihn mal kennen lernen, ich meine richtig. Er ist etwas unordentlich, das stimmt, aber er hat ein Herz für seinen Sohn...“

Ich nickte abwesend, sah in Gedanken den alten Garten vor mir, die alten Baumbestände im hinteren Drittel unseres Anwesens.

„Wir stellen das Fußballtor einfach auf die andere Gartenseite“, lachte Flora plötzlich, „Dann fliegt der Ball im Zweifelsfall zu den anderen Nachbarn“.

„Sei vorsichtig“, mahnte Ilse, „Du weißt, wie das schon einmal gelaufen ist.“

„Wir könnten es ausprobieren“, antwortete ich ihr halblaut. „Und wenn es nicht funktioniert, werden die Bretter wieder aufgestellt.“

„Ich bin mir sicher, das würde Ihrer Frau gefallen“, sagte Flora plötzlich lächelnd. „Sie werden sehen, er sieht wieder ganz ordentlich aus. Und wenn Sie einen Wunsch haben... Der Reiner ist nicht so...“

„Die Rose“, sagte ich, „Ilse hatte in der Mitte des Gartens immer einen Rosenstrauch stehen. Sie sagte, das sei das Herz des Gartens, da müsse etwas Besonderes hin.“

 

Zwei Wochen später montierten sie den Zaun ab. Reiner hatte seine Freunde mobilisiert, und zum ersten Mal sah ich sie nicht bloß saufend Würstchen grillen, sondern ordentlich mit anpacken.

„Es sind im Grunde anständige Kerle“, sagte Flora, als sie meinen skeptischen Blick auffing, mit dem ich ihre Ankunft bedachte. „Sie arbeiten viel, darum brauchen sie am Wochenende einmal Pause und hängen ab. In Ihrer Generation ...“

In meiner Generation hatten wir auch getrunken und geraucht. Und was wir alles in uns hineingekippt hatten – solange, bis ich Ilse kennen gelernt hatte. Sie hatte mich gezähmt. Ich lächelte.

„Sind die denn alle Junggesellen?“, fragte ich Flora, die mich darauf etwas irritiert ansah. „Wenn sie noch einen drauf machen müssen...“

„Ach so...“ Sie lachte. „Sehen Sie mal, den Garten – Ihren Garten.“

Die Männer hatten das letzte Brett entfernt, das die beiden Hälften von einander getrennt hatte. Man sah wieder die alten Obstbäume am Ende des Gartens und dahinter den Horizont mit der untergehenden Abendsonne.

„Es ist schön, nicht?“, flüsterte ich.

„Ja“, sagte Flora. „Und wissen Sie was, wir setzen in die Mitte wieder Rosen. Aber dieses Mal zwei. Eine für Sie und eine für Ihre Frau. Damit das Herz des Gartens wieder schlägt.“

Flora war ein Engel, und widerwillig musste ich zugeben, dass ich ihn ohne Reiner nie gefunden hätte. Ohne Reiner hätte ich vermutlich auch den Rest des Gartens noch verkaufen müssen, um überleben zu können. Vermutlich hätte ich das ganze Haus irgendwann verkaufen müssen und wäre in ein Altenheim gezogen. Vermutlich... Plötzlich wurde mir schlagartig klar, dass ich nicht ewig leben würde. Dass man das Grundstück spätestens nach meinem Tod versteigern würde. Ich schluckte.

Die Männer schleppten unterdessen zwei große Rosensträucher an. Es waren wirklich derbe Kerle, aber sie waren gut, das wusste ich jetzt, als Flora sich wieder an mich wandte.

„Wir haben sie schon mal gekauft, die Rosen. Ich habe gehofft, dass sie Ihnen gefallen würden, und wenn nicht, dann...“

„Nein, nein.“ Ich winkte ab. „Setzen Sie sie. Sie haben ja sowieso schon das meiste in unserem Garten gepflanzt.“

Flora lächelte. „Sagen Sie einfach, wie Sie sie haben möchten.“

Ich sah, wie die Männer zu uns hinübersahen und auf ein Zeichen von mir warteten, dass alles okay war. Ich machte ein Roger mit meiner Hand und lächelte wie ein kleiner Schuljunge, und die Männer lachten zurück.

„Ilse, ich werde nicht ewig leben“, sagte ich zu Ilse, nachdem Flora mich kurz verlassen hatte, um den Männern beim Setzen der Rosen zu helfen.

„Ich weiß...“, hörte ich sie sagen, „darüber habe ich auch schon nachgedacht.“

„Der Garten, der schöne Garten... Ist er nicht wundervoll“, sagte ich zu ihr und sie nickte, während sie mit ihrer Hand über meine strich.

„Ich weiß, du hast gesagt, ich solle ihn niemals verkaufen...“

„Niemals“, sagte Ilse und ich spürte, wie sie das Rückrad durchdrückte.

„Ilse“, sagte ich, „sieh nur, wie glücklich Flora, Reiner und die Kinder sind.“ Tatsächlich standen die vier um die zwei frisch gesetzten Rosen, die Kinder gossen sie unter Floras Anleitung an. „Weißt du, ich will ihn auch gar nicht verkaufen, ich will ihn verschenken. Was meinst du?“

Ich spürte, wie sie meine Hand drückte. „Aber sie sollen ihn niemals weiterverkaufen“, sagte sie.

„Niemals“, sagte ich.

Dann schlief ich ein.

 

Impressum

Texte: June F. Duncan
Bildmaterialien: Cover: Ilse Dunkel / PIXELIO, www.pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 31.05.2014

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /