„Wer war sie?“
„Yvonne Schmidt.“
„Lesen kann ich selber!“ Das vierzehnjährige Mädchen neben mir kneift die Lippen zusammen und verzieht missbilligend ihr Gesicht.
Ich zucke mit den Schultern, blicke auf den Grabstein vor uns – Yvonne Schmidt, geboren am 14. Juli 1972, gestorben am 3. Juni 2004.
„Was willst du wissen?“
„Woran ist sie gestorben?“
„Depressionen.“ Das war es doch gewesen, oder? Jedenfalls hatten das die Ärzte gesagt – postpartale Depression.
„Wieso war sie depressiv?“ Das Mädel ballt ihre Hände zu Fäusten und starrt mich an.
Ich seufze. „Woher soll ich das wissen?“
„Du warst mit ihr zusammen, du hast sie gevögelt, oder etwa nicht?“ Ich spüre ihren feindseligen Blick auf mir ruhen, auch wenn ich an ihr vorbei auf den Grabstein blicke.
Natürlich war ich mit ihr zusammen und habe sie... Verdammt, nein, wir haben mit einander geschlafen, wir waren zärtlich zueinander, wir haben uns gemocht, gerne gemocht und...
„Also?“
„Lass uns setzen“, sage ich und steuere die braune Bank hinter uns an. Ihre Farbe ist halb abgebröckelt, Feuchtigkeit liegt auf ihr, aus den Rissen im Holz quellen gelbliche Pilze.
Die Vierzehnjährige zieht wieder eine missbilligende Schnute, bleibt vor der Bank stehen, bohrt ihre Absätze in den Matsch des Weges. Mir egal, ich setze mich. Ich frage mich sowieso, wie sie bei diesem Herbstwetter mit Pumps und kurzem Rock umherlaufen kann. Ich hätte ihr das nie erlaubt. Welche Mutter erlaubt ihrem Kind so etwas?
„Ich setze mich nicht“, sagt sie und verschränkt die Arme vor der Brust.
Ich nicke.
„Yvonne war schon immer sehr sensibel. Ich vermute, ihr tat es leid, dass sie ihr Kind weggegeben hat.“
„Pffft.“ Das Mädel tritt gegen die Bank. „Warum hat sie es dann getan?!“
Ich starre auf das Grab, in dem außerdem noch Frieda, geborene Wendlandt, und Werner Schmidt liegen, sowie Ulrich Schmidt.
„Sie meinte, das Kind hätte es bei anderen Eltern besser als bei uns.“
„Wieso? Wie kann ein Kind es irgendwo anders besser haben als bei den eigenen Eltern?“ Der Teenager zieht die Stirn kraus, eine kleine Falte bildet sich, genau wie bei Yvonne.
Wider Willen muss ich lachen.
„Tut mir leid“, sage ich und hebe abwehrend die Hände. „Du siehst gerade genauso aus wie deine Mutter, die...“
„Meine Mutter ist Sabine Brinkmann!“
„Natürlich. Ich meinte auch nur – “
„Beantworte meine Frage, ich will nicht ewig hier dumm rumstehen.“
Als wenn ich das möchte. Als wenn ich irgendetwas von dem, was vor vierzehn Jahren passiert ist, wieder aufwärmen möchte. Aber sie hatte mich doch angerufen. Nicole Brinkmann war es doch gewesen, die plötzlich eine Nachricht auf meiner Mailbox hinterlassen hatte, von wegen, sie hätte erfahren, dass sie adoptiert worden sei, und wolle Kontakt mit ihren leiblichen Eltern aufnehmen. Ich hätte mich niemals darum gerissen.
„Yvonne war krank. Sie hatte Endometriose, und die bleierne Müdigkeit und Leistungsschwäche, die oft gemeinsam mit dieser Erkrankung auftritt, machte sie fertig. Sie konnte nur Teilzeit arbeiten. Zur Zeit ihrer Schwangerschaft war sie mal wieder arbeitslos. Aber selbst mit Arbeit hatte sie sich kaum über Wasser halten können, weil ihr Gehalt zu gering war. Ihrer Meinung nach hatte die Erkrankung außerdem dazu geführt, dass sie ihre Ausbildung nicht hatte erfolgreich beenden können.“ Ich blicke auf den grünen Bodendecker auf dem Grab, von dem hin und wieder ein Tropfen Nebelwasser fällt, und erinnere mich an Yvonnes Verzweiflung. „Sie hatte das Gefühl, von den Ärzten nicht genügend Unterstützung zu bekommen. Sie schoben ihre Müdigkeit auf die Psyche.“
„War’s das denn?“ Nicoles Blick wandert unsicher zum Grab, in dem die Asche ihrer biologischen Mutter liegt.
„Sie glaubte nicht. Ihre Beschwerden wurden zyklisch bedingt schlechter oder besser. Natürlich hätte eine Psychotherapie sicher auch nicht geschadet, aber das wollte sie nicht. Sie wollte, dass die Ärzte ihre Grunderkrankung ernst nahmen.“
„Aber wegen einer Endosonstwas bringt man sich doch nicht um!“ Der eben noch unsichere Blick weicht wieder einem versteinerten. „Was ist das überhaupt?“
„Endometriose“, wiederhole ich. „Das ist eine Erkrankung, bei der Gebärmutterschleimhaut oder ihr ähnliches Gewebe im Körper versprengt wird. Ähnlich wie beim Krebs. Nur nicht so tödlich.“
„Und was macht die? Außer der Müdigkeit?“
„Zum Beispiel Regelschmerzen. Yvonnes Schmerzen waren so stark, dass sie nicht arbeiten gehen konnte, wenn sie ihre Tage hatte. Dann diverse andere Probleme, je nachdem, wohin die Endometriose sich ausgebreitet hat. Bei Yvonne waren es diverse Darmprobleme. Außerdem verringert sie die Fruchtbarkeit, weil die Eileiter oftmals verkleben. Darum hätten wir auch nie im Leben damit gerechnet, dass Yvonne einmal schwanger werden könnte...“
„Ihr habt also nicht verhütet!“ Nicole sieht mich so trotzig an, dass ich mich wie beim Sexualkundeunterricht in der Schule fühle.
„Nein, sie hat die Pille nicht vertragen.“
„Es gibt Kondome!“
Ich knete meine Finger in meinem Schoß. „Damit hatte ich ein Problem.“
„Dann hättet ihr eben keinen Sex haben dürfen! Das ist unverantwortlich, ein Kind in die Welt zu setzen, wenn man sich nicht darum kümmern will!“
Ich kenne diese Vorwürfe. Ehrlich gesagt, sie kotzen mich an. Als wenn immer alles so einfach wäre. Aber als Teenager ist die Welt noch einfach. Hast du ein Potenzproblem, dann behebst du es entweder oder du vögelst nicht. Punkt. Ein dazwischen gibt es nicht.
„Ich habe Yvonne gesagt, dass ich mich kümmern würde“, lenke ich wieder auf unser ursprüngliches Thema zurück, „Ich hätte das Geld verdient und mich am Wochenende und nach der Arbeit um das Kind gekümmert, aber das war ihr zu wenig.“
„Wieso?“
Ich schließe meinen Mantel um meine Beine, langsam kriecht die kalte Nässe doch vom Boden hoch.
„Sie war der Ansicht, dass sich beide Eltern um das Kind kümmern sollten, nicht nur einer und der andere geht arbeiten. Außerdem wollte sie nicht diejenige sein, die fünf Tage die Woche zu Hause bleibt. Sie hatte das Gefühl, etwas zu verpassen.“
„Dann hättest du eben zu Hause bleiben müssen.“
„Ja, wenn Yvonne das Geld hätte verdienen können, hätte ich das gemacht. Aber das hätte sie nie geschafft. Ohne Ausbildung als kranke Frau – keine Chance.“
Einen Moment lang schweigen wir und ich höre nur das Quaken von Enten, die irgendwo in der Nähe an einem See vermutlich um die letzte Grütze streiten.
Tausend Gespräche hatten wir damals geführt – ihre Angst, nicht genug Geld zu besitzen, um überleben zu können. Ihre Sorge, nicht die Kraft zu haben, sich Vollzeit um das Kind zu kümmern. Ihre Bedenken, dass ich genug Geld für drei verdienen könnte. Und schließlich ihre Abneigung, dass nur sie sich um das Kind kümmern und ich ein Wochenenddaddy werden würde.
„Das ist doch alles Blödsinn!“ Nicole schnaubt verächtlich und kickt einen Tannenzapfen weg. „In Deutschland muss kein Mensch verhungern.“
„Das stimmt leider nicht.“ Bilder von Briefkästen, die Yvonne Freitags und Samstags nicht leert, weil dann immer die Post vom Amt kommt, auf die sie übers Wochenende nicht reagieren kann, sehe ich vor mir. „Yvonne hatte oftmals tatsächlich nicht einmal das Geld, das ihr als Existenzminimum zugestanden hätte. Die Deppen vom Amt prellen die Bedürftigen um jeden Cent, wo sie nur können.“
„Wieso hast du dann nicht weniger gearbeitet und sie arbeiten lassen?“
Ich schüttle energisch den Kopf. „Eben weil ich gesehen habe, was die Typen vom Amt mit Yvonne gemacht haben. Nie im Leben wollte ich arbeitslos werden! Und was hätte das auch gebracht? Dann wären wir beide arbeitslos gewesen.“
„Der Arbeitgeber muss dich Teilzeit arbeiten lassen.“ Nicole reckt ihre Nase in die Höhe und sieht mich tadelnd an.
Ich lache ein bitteres Lachen. „Da hast du Recht. Theoretisch schon. Aber faktisch bist du der Erste, der entlassen wird, wenn’s hart auf hart geht. Die finden dann schon eine Ausrede. Und bei Teilzeit hätte das Geld auch nicht mehr gereicht.“
„Aber es gibt doch Unterstützung für Kinder vom Staat!“
„Ja, auch die gibt es. Aber das war Yvonne zu unsicher. Mir übrigens auch. Nach dem, was sie mit den Ämtern schon durchgemacht hatte...“
„Ich glaube das nicht. Ihr hättet es versuchen müssen!“ Nicole läuft ein paar Schritte hin und her, kein Wunder, es fängt an zu nieseln.
„Deine Mutter – Yvonne, hätte dich nie auf die Straße gesetzt. Aber sie hat gesehen, dass es eine bessere Alternative für dich gab: Die Adoption. Sie war überzeugt davon, dir damit etwas Gutes zu tun. Sie sagte, da seien Eltern, die vom Jugendamt auf Herz und Nieren geprüft worden seien. Eltern, die ein Kind um des Kindes Willen haben wollen, nicht bloß, um ihr Ego aufzupuschen, Eltern, die in stabilen wirtschaftlichen Verhältnissen leben und gesund sind. Sie wollte, dass es dir gut geht.“
„Mir hätte es auch bei euch gut gehen können.“
„Yvonne glaubte, dass sie als Vollzeitmutter zusammenbrechen würde – dann wärest du verwahrlost, so ihre Ansicht.“
„Dann hättest du...!“
Wir drehen uns im Kreis.
Ich hätte Geld verdient, ich hätte mich halb tot gearbeitet, um genügend Geld zu verdienen, damit wir uns eine Tagesmutter hätten leisten können.
„Und, was hätte das Kind davon gehabt?“, höre ich Yvonne sagen. „Immer abgeschoben zu Tagesmutter, Babysitter und Kita?“ Ich blicke hinüber zum Grabstein, an dem die ersten feinen Regentropfen hinunterrutschen. „Und du, was hättest du von dem Kind gehabt?“, spricht sie weiter, „Du hättest doch gar keine Beziehung zu ihm aufgebaut, wenn du so gut wie gar nicht zu Hause gewesen wärst! Weißt du, wie viel du hättest arbeiten müssen?“
Ich weiß es. Ich hätte vermutlich einen zusätzlichen 450€-Job aufnehmen müssen und wäre nicht einmal am Wochenende zu Hause gewesen. – So wie ich es dann getan habe, nachdem ich Yvonne mit einer Überdosis Tabletten im Schlafzimmer gefunden hatte.
Ich werfe einen letzten Blick hinüber zum Grab, auf dem die kleinen Blätter des Bodendeckers unter den stärker werdenden Regentropfen wippen.
Schwerfällig erhebe ich mich von der Bank.
„Es wird kalt, lass uns gehen“, sage ich zu dem Teenagermädchen, das meine Tochter hätte sein können.
Dann verlassen wir den Friedhof.
Die Erkrankung der Endometriose inklusive ihrer „Nebenwirkungen“ gibt es wirklich. Bis zum Erkennen dieser Erkrankung vergehen im Schnitt noch immer bis zu 10 Jahre, wenn es sich „nur“ um Schmerzpatienten handelt. Genauso häufig werden die betroffenen Frauen in ihren Symptomen nicht ernst genommen, ein Antrag auf Behinderung zieht sich oftmals über mehrere Jahre und Gerichte hin. Nicht selten verlieren die betroffenen Frauen nahezu alles, was im Leben Halt gibt: Partner, Freunde und die Arbeit.
Eine ursächliche Therapie gibt es nicht.
Die Erfahrungen mit den Ämtern teilen ebenfalls viele Betroffene: Obwohl gesetzlich ein Existenzminimum definiert ist, finden die Mitarbeiter der entsprechenden Agenturen immer wieder mehr oder weniger fadenscheinige Gründe, das Geld nicht in der vollständigen Höhe auszuzahlen. Ein Mehrbedarf wird kaum bewilligt und für Endometriose schon gar nicht. Wer dort überhaupt etwas erreichen möchte, muss Einsprüche schreiben und vor das Sozialgericht gehen – mit nur mittlerer Aussicht auf Erfolg. Wie gut das außerdem möglich ist, wenn man sowieso schon krank ist oder sich rechtlich nicht besonders auskennt, sei noch einmal dahingestellt. Diverse Fälle wie kaputte Haushaltsgeräte, Unfälle o.ä., die eine einmalige erhöhte Ausgabe bedeuten, sind von Alg II grundsätzlich nicht abgedeckt. Man darf sich glücklich über günstige Kredite schätzen, die man monatlich zurückzahlen muss – natürlich von seinem Existenzminimum.
Wer immer noch meint, Hartz IV - Bezieher seien reich und glücklich, dem empfehle ich, es einmal zu werden. Viel Spaß.
Texte: June F. Duncan
Bildmaterialien: Cover: Lupo / PIXELIO, www.pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 21.08.2013
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