Oma hatte immer zur rechten Zeit den richtigen Spruch parat.
„Ein Schlückchen in Ehren kann keiner verwehren“ zum Beispiel hörte ich sie zu Mutter sagen, als diese sie darauf hinwies, dass der Franz Branntwein für ihre Beine zum Einreiben gedacht war und nicht zum Trinken.
„Kindermund tut Wahrheit kund“ als ich – bei Mutters Geburtstagsfeier auf ihre Frage, eigentlich an die Freundinnen gerichtet: „Habe ich durch die Diät nicht schon wahnsinnig viel abgenommen?“ – „Nein“ antwortete.
„Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen“, als meine Schwester und ich bei einer Affenaugusthitze von 30 Grad unbedingt ein Eis wollten, Mutter uns aber auf den nächsten Einkauf vertrösten wollte.
Diese Sprüche waren irgendwie cool und ganz sicher praktisch. Oma half meiner Schwester und mir damit mehr als einmal aus der Patsche. Nur mit einem von ihnen stand ich irgendwie auf Kriegsfuß – Kein Zustand dauert ewig.
Das lag an dessen ambivalenter Nutzungsmöglichkeit. Bei Oma klang das so:
Ich war skaten gewesen und mit aufgeplatzten Knien heulend nach Hause gekommen. Oma sah das Desaster schon von weitem, erhob sich aus ihrem Gartenstuhl und eilte auf mich zu.
„Junge, was hast du denn gemacht? Bist du hingefallen?“
Ich nickte. „Es tut so weh.“
„Ja, ja, ist gleich weg.“
„Und wenn es nicht weg geht?“
Oma sah mich ernst an.
„Hör mal Junge, auf dieser Welt kannst du eines gewiss sein: Alles geht irgendwann einmal weg, kein Zustand dauert ewig.“
„Und wenn ich in einer anderen Welt wiedergeboren werde?“
„Es gibt nur diese Welt. Und hier dauert nichts ewig. Siehst du, tut dein Knie noch weh?“
Ich öffnete gerade den Mund, um „ja“ zu sagen, doch Oma war schneller.
„Nanana“, Sie wedelte mit dem Zeigefinger vor meiner Nase herum, „belüg Oma nicht, sonst gibt es keinen Apfelkompott zum Nachtisch.“
Apfelkompott war allerdings ein gutes Argument gegen Schmerzen und seltsamerweise war das brennende Ziehen schlagartig verschwunden.
Das war Oma. Oma sagte auch „kein Zustand dauert ewig“, wenn ich mein Zimmer aufräumen, Abtrocknen oder das Bett machen musste.
„Komm Junge, das dauert ja nicht lange, ist gleich wieder vorbei, nichts dauert ewig.“
Mutter benutzte Omas Spruch, wenn ich länger Fernsehen, PC spielen, mehr essen oder sonst irgendetwas tun wollte, das Spaß machte.
Klar, dass ich mich mehr zu Omas Sichtweise hingezogen fühlte. Ich mochte Oma, denn sie war im Grunde zu jeder Schandtat bereit. Wie sonst hätte ich in der Lage sein sollen, schon mit acht Jahren perfekt Poker zu spielen? Oma war der Ansicht, dass man die wirklich wichtigen Dinge des Lebens nicht früh genug lernen konnte. Dummerweise kam ich aus diesem Grund auch nie um das Abtrocknen und Betten machen herum, wurde dafür aber immer mit einer Runde Poker oder Apfelkompott belohnt. Ein fairer Deal, wie ich fand.
Ich brauchte, bis ich fünfzehn Jahre alt war, bis ich Oma das erste Mal beim Pokern schlug.
„Kein Zustand dauert ewig“, flötete ich gutgelaunt, als ich mein Siegerblatt aufdeckte, und hatte im gleichen Moment fast ein schlechtes Gewissen, weil ich den Spruch gegen sie verwand.
Aber Oma klopfte nur mit ihrem knochigen Finger auf den Tisch und sagte: „Junge, ich sehe, du hast gelernt.“ Dann griff sie nach ihrem Stock. „Ich muss jetzt ins Bett, ist schon spät für so eine alte Frau wie mich.“
„Ach Oma, noch ein Spiel...“ Aber sie ließ sich nicht von ihrem Plan abbringen.
Seufzend sah ich Oma hinterher, wie sie mit langsamen Bewegungen zur Treppe ging und Stufe für Stufe nach oben tastete.
Oma war auch da, als ich meinen ersten großen Liebeskummer hatte. Ich war siebzehn und das Mädel, einen Tag zuvor noch meine Freundin, war mit dem Klassenbesten der Nachbarsklasse durchgebrannt. Ich heulte Rotz und Wasser und rührte mein Abendbrot nicht an.
„So geht das aber nicht, Junge.“ Oma stand sorgenvoll vor dem Tisch, hinter dem ich auf der Sitzbank hing. „Du musst etwas essen. Oder glaubst du etwa, dass dich auch nur ein Mädchen anguckt, wenn du erst mal dürr wie Struwelpeter bist?“
„Ist mir egal. Ich will keine andere mehr.“
Oma schüttelte den Kopf, ging um den Tisch und rutschte neben mich auf die Bank. Dann legte sie ihre faltige Hand auf meine und seufzte: „Junge, ich weiß, es ist nicht leicht. Als ich meinen Hermann verloren habe, dachte ich auch, die Welt bricht zusammen. Und wir waren 40 Jahre verheiratet, 40 Jahre. Aber weißt du, die Welt dreht sich weiter. Du wirst eine andere finden und der Schmerz wird vergehen. Nichts dauert ewig in dieser Welt, nichts.“ Damit hatte sie alles gesagt und schob mir den Apfelkompott hin. „Und jetzt iss, Junge.“ Ich brachte es nicht übers Herz, die alte Frau zu enttäuschen, auch wenn mir zum ersten Mal in meinem Leben nicht nach ihrem Apfelkompott zumute war. Also versuchte ich ein schiefes Lächeln und löffelte den Kompott in mich hinein. Oma nickte zufrieden und erhob sich wieder.
„Du wirst schon sehen, Junge, nichts dauert ewig“, sagte sie und blickte dabei durch das Fenster auf den kleinen Hof. „Nichts.“
Dass Oma Recht hatte, bekam ich im folgenden Herbst zu spüren. Die Tage waren schon lange Zeit viel zu dunkel, dichte Wolken schoben sich ausgerechnet während der wenigen Lichtstunden über den Himmel, klammer Nebel lag häufig bis zum Mittag über den Feldern.
Oma klagte seit Wochen über Schmerzen in allen Gelenken und verließ oft das Bett nicht mehr. „Dieses Wetter“, stöhnte sie, „dieses Wetter macht mich noch fertig.“
Der Arzt bestätigte das Schwinden sämtlicher Lebensgeister von Oma. Dabei war Oma erst vierundsiebzig Jahre alt und ich achtzehn. Es war zu früh für Oma zum Sterben.
„Oma, du musst in den Süden“, beschloss ich deswegen kurzerhand, als sie wieder einmal besonders schlecht aus dem Bett kam. Sie war schon lange nicht mehr aufgestanden, um mir Apfelkompott zu kochen. Alleine deswegen musste ich etwas unternehmen. Ich zog mir einen Stuhl an ihr Bett und klappte meinen Laptop auf. „Wo willst du hin?“
„Ach Junge..“ Oma winkte ab. „Ich bin eine alte Frau...“
„So alt nun auch wieder nicht. Das Durchschnittsalter von Frauen liegt heutzutage zwischen siebenundsiebzig und fünfundachtzig Jahren, da schaffst du noch ein paar Jährchen.“
„Ach... Ich hatte ein gutes Leben. Der Hermann und ich...“
„Oma, wo willst du hin? Mallorca oder Teneriffa? Auf beiden Inseln spricht jeder dritte deutsch, das ist doch perfekt.“ Ich öffnete ein paar Seiten. „Teneriffa ist wärmer, Malle soll doch recht kühl und feucht im Januar und Februar sein. Dafür ist es nicht so weit weg, der Flug dauert nur knapp über zwei Stunden.“
„Junge...“
„Warst du schon mal auf Mallorca, Oma?“
„Ja, vor dreißig Jahren, mit Hermann, zu unserem 20jährigen Jubiläum, das war sehr schön, aber...“
„Perfekt, wir fliegen nach Mallorca. Nächsten Dienstag.“ Ich tippte flink die geforderten Daten ein. „Kommst du mit 23kg Gepäck aus oder brauchst du 46kg?“
Da Oma nur den Kopf schüttelte und wieder wegdöste, buchte ich ihr vorsorglich ein zweites Gepäckstück ein.
Dann sprach ich mit Dr. Boerner, Omas langjährigem Hausarzt.
„Omas Schwester auf Mallorca ist schwer krank. Sie muss nächste Woche unbedingt dort runter fliegen, bevor es zu spät ist. Können Sie ihr nicht etwas geben, das sie für den Flug munter macht? Nur einmal?“
Ich hatte extra nachgesehen, die Fluggesellschaft verbot erst Menschen ab 80 Jahren das Fliegen, aber sicherer wäre es bestimmt, wenn sie einigermaßen fit wirkte und nicht halb tot. Ich wollte nicht riskieren, dass sie das Flugpersonal als ‚unmittelbar-vor-dem-Ableben’ wieder auswies.
Es brauchte meine ganze Überredungskunst und letztlich Omas verschwörerisches Eingreifen, als sie sah, dass es mir wirklich wichtig war – „Nie wieder Apfelkompott sonst, Herr Doktor“ – dass Oma einen Schluck von etwas bekam, dessen Inhalt unseren Klassenjunkie in Ekstase versetzt hätte, ich aber lieber nicht näher hinterfragte. Jedenfalls ging Oma beinahe beschwingt an ihrem Krückstock und lächelte unentwegt. Da wir ja nach Malle flogen, konnte sich auch niemand an der Sonnenbrille stören, die ich ihr vorsichtshalber aufgesetzt hatte, um etwaige vergrößerte Pupillen zu verbergen.
Soweit, so gut. Oma taperte zwischen mir und meiner Schwester mit zwei Koffern zum Flughafen, Mutter versprach nachzukommen.
Mit dem Beamten beim Check-In scherzte sie, als wäre sie maximal fünfzig und nicht vierundsiebzig Jahre alt. Aber der war das wohl bei diesem Flugziel gewöhnt, lächelte bloß und händigte ihr das Ticket aus. Juchuh!
Knapp zwei Stunden später saßen Oma, Mutter, meine Schwester und ich im Flieger nach Malle. Als der Flieger startete, krallte sich Oma ein wenig im vorderen Sitz fest.
„Kein Zustand dauert ewig“, flüsterte ich ihr zu und grinste.
„Ach Junge!“ Auf Omas faltigem Gesicht spiegelte sich kurz so etwas wie ein Lächeln. „Komm du einmal in mein Alter.“
Genau das war das Problem. In ihr Alter zu kommen. Ich brauchte nämlich keine Medizin von Dr. Boerner, um mich komplett dappisch zu verhalten. Es reichte das mallorquinische Wetter, die Sonne, die vom strahlendblauen Himmel schien, die – für November – fast sommerlich warme Luft, die Tatsache, dass ich im T-Shirt Fahrrad fahren konnte, kleine Sträßchen entlang, auf denen kaum Verkehr war, eingesäumt von Mäuerchen aus Steinen, die die Einheimischen aus ihrer Insel geschlagen hatten. Überall die warme braune Erde auf den Feldern, erste grüne Grassaat und die dürren Olivenbäume. Es brauchte nur diesen Flair von Urbanität und lauem Spätsommerfeeling, das mich auf meinem Rad die Hand nach einem Ast ausstrecken ließ, der quer über der Straße hing – dummerweise hing er über einer Stromleitung, die ein bisschen tiefer als sonst üblich über Land verlief, weil es irgendwo im Feld einen Mast durchgehauen hatte.
Nun bin ich natürlich tot.
Für Oma hingegen ist Mallorca ein voller Gewinn: Das Wetter bekommt ihr hier so gut, dass sie auch ohne Dr. Boerners Medizin mit ihrem breiten Sonnenhut und der Sonnenbrille, die ich ihr geschenkt habe, über die zur Zeit leeren Strände läuft und nach Abnehmern für ihren Apfelkompott sucht. Ich bin mir sicher, sie wird hier noch einen angenehmen Lebensabend verbringen und ihre Rente im Sommer gut aufzustocken wissen, während ich ihr so gerne entgegenrufen würde:
„Oma, du hattest Unrecht. Nicht alles geht vorüber. Der Tod dauert ewig.“
Allerdings, da kitzelt doch etwas an meinem Zeh, was ist denn das, ein Wurm, nein, hey, nicht doch...
Texte: June F. Duncan
Bildmaterialien: Cover: Rainer Sturm / PIXELIO, www.pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 05.06.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Allen lieben Omas dieser Welt