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Solange wird die Liebe dauern, solang ein Mutterherz noch schlägt.

Albert Träger (1830 – 1912)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Sie war die einzige Hinterbliebene.

Dummerweise. Sonst hätte sie jetzt nicht hier sein müssen.

Sie kommen zurecht?“

Natürlich, wie sollte sie nicht. Die Wohnung war überschaubar: zwei Zimmer, Bad, Küche, Flur, Balkon. Lächerliche Frage.

Heike nickte und die Frau schloss hinter ihr die Tür.

Dicker flanellfarbener Teppich lag unter ihren Schuhen. Top Qualität. Sicher Nummer eins bei Stiftung Warentest. Sie hatte immer nur das Beste gekauft, nie zweite Wahl.

Der Gestank von Seife in der Wohnung. Ihrer Seife.

Heike ging durch das Wohnzimmer, um die Balkontür zu öffnen.

Die Möbel hatte sie also mitgenommen, als sie vor zwanzig Jahren umgezogen war. Kein Staubkorn auf dem glänzenden Holz. Ein paar Bücher, ein paar CDs. Ein Glastisch, eine anthrazitfarbene Ledercouch über zwei Wohnzimmerseiten, ein Fußablegewürfel.

Und die Postkarten. Die ganze Wand voller Postkarten.

Fass sie nicht an!’

Wollte sie doch gar nicht. Heike steckte die Hände in die Hosentaschen. Sie war nur kurz stehen geblieben. Wie damals, als Kind.

 

Mama, was machst du da?“

Ich hänge Karten auf.“ Heikes Mutter bückte sich nach dem Schuhkarton, in dem bunte Postkarten lagen.

Warum?“

Weil ich das schön finde.“ Ein roter Sonnenuntergang wurde an die Wand gepinnt.

Von wem sind die?“

Von Freunden.“

Du hast aber viele Freunde.“

Mutter nickte nur kurz.

Ich will später auch so viele Freunde haben, wenn ich groß bin.“

Dann sieh zu, dass du ein anständiges Mädchen wirst und was lernst. Hast du deine Hausaufgaben schon gemacht?“

Nein, aber...“ Heike ging auf eine Karte zu und streckte die Hand nach ihr aus.

Fass sie nicht an!“

Aber ich will doch nur sehen, von wem sie ist.“

Fass sie nicht an, oder du bekommst was hinter die Ohren. Hast du mich verstanden?“

Heike nickte.

Dann geh jetzt, mach‘ deine Hausaufgaben.“

 

Heike trat auf den Balkon. Frische Luft. Ein paar Lavendelpflanzen in den Blumenkästen. Ein Balkontisch und ein Stuhl, ordentlich zusammengeklappt, mit einer Regenkappe überzogen. Eine Kiste mit Gartengerät. Sie öffnete den Deckel. Keine Dreckkrumen an der Schaufel oder der Schere. Handschuhe, ein Bindedraht. Blumenzwiebeln in einer grünen Plastikschale, Tulpen. Seit wann mochte Mutter Tulpen?

Sie klappte den Deckel wieder zu und zog ein paar Grashalme aus den Blumenkästen. Garantiert der einzige makelbehaftete Fleck in dieser Wohnung. Und das auch nur, weil Mutter keinen grünen Daumen hatte.

Dafür hatte sie ein Händchen für Freunde. So oft, wie sie ausgegangen war und sie alleine gelassen hatte.

 

Wohin gehst du, Mama?“ Heike saß auf dem dicken Teppich im Bad und sah ihrer Mutter beim Maniküren der Fingernägel zu.

Zu Freunden.“

Kann ich dieses Mal nicht mitkommen, Mama? Bitte.“

Nein.“

Warum denn nicht?“

Weil du lernen musst, allein zu sein.“

Aber ich kann schon alleine sein, ich muss das nicht lernen.“

Offensichtlich doch, sonst würdest du mich nicht ständig fragen, ob du mitkommen kannst.“ Heikes Mutter steckte die Nagelfeile in die Handtasche und klappte den Verschluss zu. „Und jetzt sieh zu, dass du vom Fußboden aufstehst.“

 

Heike blickte auf ihre Hände: Erde an den Fingern und unter den Fingernägeln. Mutter hatte nie Dreck unter den Nägeln gehabt. Sie waren immer perfekt manikürt gewesen. Mutter schien nichts anderes zu tun zu haben, während sie telefonierte, Fernsehen sah oder Heikes Hausaufgaben kontrollierte – überall hatte sie die Nagelfeile in der Hand und manikürte sich die Nägel. Sie hatte immer perfekt gepflegte Fingernägel.

 

Da fehlt ein Wort.“ Heikes Mutter tippte mit der Nagelfeile auf einen mit Tinte geschriebenen Satz. „Und dort hast du einen Apostroph vergessen. Und hier... Mensch Heike, was soll das heißen? Das kann ja niemand lesen.“

Heike wippte gelangweilt auf ihrem Drehstuhl.

Häng’ gefälligst nicht so rum. Deine letzte Arbeit war eine vier. Noch eine davon und du gehst nicht mehr zum Volleyball, hast du gehört?“

Du bist gemein! Andere haben auch eine vier und ihre Eltern verbieten ihnen nicht das Volleyballspielen.“

Du bist aber nicht andere. Und was andere Eltern tun, interessiert mich nicht. Du musst lernen, damit du auf eigenen Füßen stehen kannst. Oder willst du später so enden wie Ute?“

Ute war die Frau mit den strähnigen langen Haaren, dem sackartigen Pullover und der schlabbernden Hose, die um die Ecke beim Supermarkt stand, ihre blasse Hand zitternd ausstreckte und jeden um einen Euro bat.

Und jetzt schreib den Text noch mal ab. Und zwar ordentlich.“

Nochmal?“ Heike zog missbilligend die Lippen kraus. „Das schaff ich nicht. Gleich läuft mein Lieblingsfilm.“

Ohne dich. Du hast noch Hausaufgaben zu erledigen.“

 

Tatsächlich, im Wohnzimmer stand ein neuer Flachbildfernseher. Sie hatte es geahnt. Mutter investierte gern in Details. „Prioritäten setzen“ nannte sie das.

Kind, du musst Prioritäten setzen.’

Ich habe offensichtlich immer die falschen Prioritäten gesetzt’, dachte sich Heike, als sie im Bad stand, um sich die Hände zu waschen, und das Gästehandtuch in den Händen hielt.

Gästehandtuch. Bei ihr gab es nur zwei Handtücher: Eins für sie selbst und eins für den Fußboden. Und Mutter hatte maßgeblich dazu beigetragen, indem sie ihr nach und nach jedes Hobby gestrichen und jeden Ausgang verboten oder sabotiert hatte. Damit die Priorität „Schule“ an oberster Stelle stehen konnte.

 

Was machst du so lange im Bad?“ Heikes Mutter stürmte in den kleinen Raum.

Ich style mich.“

Wozu? Sind deine Hausaufgaben schon fertig? Hast du für Mathe morgen gelernt?“

Ach menno, ich mach‘ das nachher.“

Wann nachher?“

Nach der Party.“ Heike versuchte genervt, ihre Haarklammer zu fixieren, die nicht sitzen wollte.

Ich hab’ dir gesagt, du gehst nicht auf die Party. Noch eine fünf in der Arbeit und du hast Ausgehverbot. Hast du das vergessen?“

Ich muss da hin. Christian kommt auch. Wenn ich nicht hingehe, denkt er, ich will nichts von ihm. Dann flirtet er mit Sylvia.“

Verbesser deine Schulnoten, dann kannst du wieder ausgehen.“

Aber Christian wartet auf mich. Das ist wichtig.“

Wichtig ist, dass du in der Schule gute Noten hast, sonst nichts. Und jetzt sieh zu, dass du aus dem Bad kommst. Du bist nicht die einzige in dieser Wohnung, Fräulein.“

Mir ist die Schule aber nicht wichtig. Ich will zu Christian, verdammt.“

Motz mich nicht an und setz dich statt dessen an die Arbeit. Und jetzt raus hier.“

 

Raus hier.’ Heike warf das Handtuch über den Haken. Wie passend.

Wie froh war sie gewesen, als sie endlich von Zuhause weg konnte. Keine Mutter mehr, die ihr ständig in den Ohren hing, dass sie mehr für die Schule tun müsse und dass ihre heißgeliebten Freunde und Hobbys zweitrangig waren.

Mutter hatte ja gut reden, sie hatte Hunderte, Tausende davon. Ein Blick auf die Postkarten im Wohnzimmer bewies es.

Heike starrte die Karten an und hätte sie am liebsten von der Wand gerissen.

Italien, Spanien, Frankreich, Portugal, Holland, Norwegen, Schweden – sie alle grinsten sie hämisch an, lachten sie aus, spuckten es ihr ins Gesicht: „Ha ha, und wo ist die von dir?“

Im Schließfach.

Die einzige Karte ihrer Tochter hatte Mutter ins Schließfach gelegt. Weil sie dort „sicher“ war, weil sie ihr dort niemand „wegnehmen“ konnte.

Als wenn irgendein Einbrecher daran denken würde, Postkarten zu stehlen.

Und sie hatte sich so viel Mühe gegeben, damals, als sie auf Klassenfahrt gewesen war, war so stolz gewesen darauf, ganz alleine eine Karte und die richtige Briefmarke gekauft zu haben. Selbst die Klassenlehrerin hatte sie dafür gelobt, für ihre Eigenständigkeit.

Ja, eigenständig, das war sie. Das war Mutters Steckenpferd, darauf hatte sie immer wieder bestanden.

Mach das alleine’, ‚Das kannst du selbst’, ‚Vom Jammern wird die Arbeit auch nicht weniger’.

Sie war so gottverdammt besessen davon, dass Heike selbstständig wurde, dass sie sich nicht um Heikes Bedürfnisse kümmerte.

Und Mutter selbst? Die ging aus, immer wieder ging sie weg zu ihren gottverdammten Freunden, die sich dort an der Wand verewigt hatten. Hängte zum Hohn auch noch die Karten aus, so dass Heike sie immer wieder sehen konnte, sehen musste.

Sieh her, so viele Freunde habe ich, denn ich bin schon eine erwachsene selbstständige Frau. Du musst das erst noch lernen, du bist noch nicht so weit, du machst jetzt erst mal Hausaufgaben.’

Wie sie diese Karten hasste! Keine einzige dieser Scheißkarten sollte da hängen bleiben. Heike sprang an die Wand und riss sie eine nach der anderen herunter. Italien, Spanien, Frankreich, Holland, Norwegen, Schweden – alle kratzte sie von der Wand, zeriss sie, warf sie durch das Wohnzimmer.

Und, Mutter, bist du nun zufrieden?! Sieh an, was ich mit deinem Heiligtum gemacht habe! Weg ist es, weg sind alle deine Freunde!“

Bunte Pappfetzen lagen überall verstreut auf dem Wohnzimmerteppich und der Couch. Heike musste lachen. Müll lag auf dem Besten vom Besten.

 

Ach Heike, das Beste bist doch du“, hatte Mutter irgendwann einmal gesagt, schon lange, nachdem sie ausgezogen war.

Sie glaubte es ihr nicht.

Triff dich mit deinen Freunden, Mutter. Davon hast du doch genug.“

Natürlich, aber du bist meine Tochter. Ich würde dich gerne auch mal wieder sehen.“

Jetzt nicht, hab’ viel zu tun.“ Heike dachte nicht im Traum daran, noch einmal zu ihrer Mutter zurück zu kehren. Auch nicht, nachdem diese umgezogen war.

Na ja, vielleicht schickst du mir mal wieder eine Karte, wenn du unterwegs bist? Du weißt doch, ich freu’ mich immer, wenn ich eine Postkarte bekomme.“

Vielleicht.“

Ich geb’ dir meine Adresse. Du kannst auch jederzeit vorbeikommen, wenn du möchtest.“

Ja.“

 

Nie war sie da gewesen in den letzten zwanzig Jahren. Keine einzige Karte hatte sie hingeschickt. Wozu auch? Damit eine weitere im Schließfach landete?

Heike schüttelte den Kopf. Es war vorbei. Mutter war tot. Niemals wieder würde sie an dem, was sie tat, herummäkeln. Niemals wieder würde sie, die tolle perfekte Mutter, ihr vorschreiben, wie sie zu leben hätte. Nie wieder.

Heike sammelte die Karten ein. Sie musste sie wegräumen, bevor die Verwalterin zurückkam. Eine nach der anderen warf sie in den Mülleimer.

... Dein Dich liebender Horst, ... Dein Dich liebender Günther.

So hießen sie also, Mutters Freunde.

... Dein Dich liebender Klaus, ... Dein Dich liebender Peter, ... Dein Dich liebender – die selbe Handschrift.

... Dein Dich liebender Hans, ... Dein Dich liebender Uwe.

Es dauerte ein paar Sekunden, ehe es Heike klar wurde: Alle Karten trugen dieselbe Handschrift.

Mutters Handschrift.

Es hatte keinen einzigen Freund gegeben da draußen. Mutter war allein gewesen all die Jahre.

 

Impressum

Texte: June F. Duncan
Tag der Veröffentlichung: 14.09.2012

Alle Rechte vorbehalten

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