„Die nächste rechts müsste es sein.“ Gina faltete den Stadtplan zusammen und beobachtete die vorbeirauschenden Tannen jenseits des Fensters. Tatsächlich, da war das Parkplatzschild der Grotte de Lourdes.
„Voilà, da wären wir. Bitte alles aussteigen.“ Anette stellte den Motor ab und zog die Handbremse an.
„Gar nicht so schlecht dafür, dass Frauen angeblich keine Stadtpläne lesen können, oder?“
„Pfff...“ Gina machte eine herablassende Handbewegung und öffnete die Autotür.
„Auf Anhieb gefunden.“
„Na, wenn das mal mit rechten Dingen zugeht...“ Ein Typ, dem man die Sixpacks selbst durch das Shirt durchsah, stieg aus dem nebenstehenden VW Polo.
„Wow, heißer Feger...“, flüsterte Anette Gina zu.
„Ein bisschen eingebildet vielleicht.“
Ein zweiter Kerl stieg aus dem Auto. Etwas weniger Sixpacks, dafür nicht schlechter anzusehen.
„Hey Pascal, gib nicht so an. Wir haben drei Anläufe gebraucht.“
„Was müssen die auch ständig neue Straßen bauen.“
„Du hättest halt die aktuellste Version in deinem Navi speichern sollen.“ Kerl Nummer drei stieg aus dem Auto.
„Ihr wollt wohl auch zu der Grotte?“ Der Sixpack drehte lässig seinen Autoschlüssel zwischen den Fingern, während er Anette taxierte. Verdammt, da war es schon wieder, dieses Kribbeln. Dabei hatte sie sich geschworen, dass von nun an alles anders werden würde. Keine sexy Männer mehr, die doch nur an Spaß und Party dachten und beim ersten Anschein von „Baby“ oder „Familie“ das Weite suchten.
„Klar doch“, sagte sie stattdessen ebenso lässig.
„Welchen Weg nehmen wir?“
Vom Parkplatz aus führten drei Wege in den Wald.
„Ich würde sagen, den mit dem Hinweisschild Grotte.“ Gina zeigte auf den rechten der drei.
„Was denn, kein kleiner Umweg gefällig?“ Kerl Nummer zwei, der sich als Philipp herausstellte, grinste Gina frech an.
Diese blauen Augen waren schon eine Versuchung wert. Aber Gina ließ sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen. Erst einmal wollten sie die Grotte finden. Darum waren sie schließlich hergefahren.
Der Weg durch den Wald war schmal, aber angenehm zu gehen. Geruch von Harz lag in der sommerlichen Luft und ein leichter Wind schaukelte sanft die hohen Tannen. Die dreißig Minuten, die sie bis zur Grotte brauchten, vergingen wie im Fluge.
„Komische Leute, die Franzosen. Was stellen die eine Maria vor den Eingang einer Grotte?“ Gina musterte die Marienfigur, die etwa in Kopfhöhe in eine Höhlung neben dem Eingang eingelassen worden war.
„Vermutlich wollen sie beten.“ Pascal, der Typ mit den Sixpacks, rollte mit den Augen.
„Lasset uns beten, A-m-e-n“, giggelte nun auch Maurice, Typ Nummer drei.
„Darf ich mich vorstellen – mein Name ist Frédéric. Ich werde Sie durch die Grotte führen.“ Ein Mann, der seinen Haarschnitt aus dem letzten Jahrhundert zu kopieren schien, hatte sich vor die Madonnenfigur gestellt. „Wie Sie sicher schon gemerkt haben, steht hier, vor dem Eingang der Grotte, die heilige Jungfrau Maria. Das liegt daran, dass vor vielen Jahren in der Höhle von Massabielle der heiligen Bernadette die heilige Mutter Gottes begegnet ist. Ihr zu Ehren hat man daraufhin in ganz Frankreich sogenannte Lourdesgrotten errichtet. Diese hier ist eine davon. Jedoch glauben einige Leute, dass die Madonnenfigur dieser Grotte nicht bloß als Zeichen ihrer Heiligkeit dient, sondern, dass sie außerdem darüber wacht, dass ein gewisser Fürst Ledoux sie nie wieder verlässt.“
„Was ist denn mit dem?“ Pascal konnte offensichtlich nicht abwarten.
„Nun, Monsieur Ledoux soll vor etwa 500 Jahren hier gelebt und unschuldige Jungfrauen zur Grotte gelockt haben, die er dann dort verführt hat.“
Die Jungs pfiffen anerkennend.
„Entschuldigen Sie, meine Knochen sitzen zwar schon längst nicht mehr im Verbund zusammen, aber könnte ich trotzdem nach draußen...“ Gina mimte eine tiefe männliche Stimme.
„Sie haben noch eine Frage?“ Die Köpfe der anderen Besucher drehten sich zu Gina um.
„Der Mann ist seit 500 Jahren tot...“
„Nun, wir haben es hier natürlich mit einer Legende zu tun. Der Aberglaube kommt vermutlich daher, dass man Ledoux, um seiner Triebhaftigkeit Herr zu werden, in dieser Grotte angeblich auch lebendig begraben hat. Genauer gesagt, soll er lebendig in die Grotte gejagt worden sein. Anschließend hat man dafür gesorgt, dass er sie nie wieder verlassen konnte.“
„Sie wollen doch nicht ernsthaft behaupten, die Menschen hätten ihn in die Grotte gejagt und anschließend lediglich diese Statue aufgestellt, nachdem sie gegangen waren?“
„Nein, man hat vor dem Tor ein Gittertor angebracht, sehen Sie.“ Frédéric führte die Gruppen in den Eingang. „Die Marienfigur ist erst später errichtet worden, um seine verlorene Seele zu bannen. Aber wenn Sie es genau nehmen und die Zahlen vergleichen...“
‚Hätten sie das mit Felix auch gemacht, wenn er ein paar hundert Jahre eher gelebt hätte? Hätte sie das gewollt?’ Anette schüttelte unmerklich den Kopf. Nein, sicherlich nicht. Auch wenn es weh tat zu erkennen, dass er nicht an eine feste Bindung dachte, an keine gemeinsame Zukunft, in der vielleicht auch mal Kinder eine Rolle spielten.
„Gehen wir hinein, und sehen uns das Verlies an, in dem der Fürst angeblich noch heute als Untoter wandelt... Bevorzugt Nachts, versteht sich.“
Die Gruppe Touristen folgte ihrem Führer in die Grotte und durch die Räume, die von elektrischem Licht nur spärlich erhellte wurden. Je tiefer sie in den Felsen hineingingen, um so kälter wurde es.
„Und dies hier...“ Frédéric machte eine bedeutungsvolle Pause, als sie in einem vielleicht 15m² großen Raum standen. „ist die Höhlung, in der der Fürst angeblich zum letzten Mal gesehen worden ist.“ Ein anerkennendes Gemurmel erfüllte den kleinen Raum. „In einen der drei Gänge hier, die nicht höher als ein Hund sind, ist er gekrochen und wurde nie wieder gesehen.“
‚Vermutlich war am anderen Ende des Tunnels ein Loch und er spazierte gut gelaunt in die Freiheit.’
Eine normale Führung in der Grotte, die ihr etwas über die verschiedenen Gesteinsschichten erzählte, hätte Gina vollkommen gereicht.
„Dann steckt der da noch drin?“, fragte ein kleiner Junge ungläubig .
„Einige Menschen glauben das...“
‚Na, das werden wir ja gleich sehen’, dachte Gina und ging in die Knie, um in einen der drei kleinen Gänge zu blicken, in die angeblich der Fürst gekrochen war.
„Tun Sie das nicht. Sonst kommen Sie wohlmöglich nie wieder heraus.“
„Weil sie dann der Fürst holt?“ Ein kleines Mädchen starrte Gina mit erschrockenen Augen an.
„Nun, möglich wäre das. Man sagt nämlich auch, der Fürst könnte von seinem Bann erlöst werden, wenn er eine Jungfrau findet, die ihn küsst.“
Gina wusste, dass die Betreiber einfach aufgrund des Unfallrisikos nicht wollten, dass sich Touristen an irgendwelchen unüberschaubaren Orten rumtrieben – was ihr schnurzegal war. Der verängstigte Blick des kleinen Mädchen jedoch ließ sie aufstehen.
„Vor zwanzig Jahren“, sagte Frédéric, als sie schon wieder auf dem Weg nach draußen waren, „hat übrigens mal eine Touristengruppe das Tor aufgebrochen und ist in der Grotte umherspaziert – am nächsten Morgen fand man ihre Leichen in einem der Räume.“
„Was für eine Hitze!“ Gina fächelte sich mit ihrem T-Shirt Luft zu.
„U-hu. Ich bin der böse Fürst...“ Philipp schlich sich von hinten an sie ran. „Aber so böse bin ich gar nicht, denn ich könnte dir helfen, dich von diesen lästigen Kleidungsstücken zu befreien, damit dir nicht mehr so warm ist...“
Gina verdrehte die Augen. Dass Männer auch immer so plump waren.
„Weißt du was, ich glaube, ein Eis könnte uns auch helfen, uns von der Hitze zu befreien.“ Der Betreiber der Grotte hatte ein wenig Geschäftsgeschick erwiesen und neben dem Ticketschalter auch ein kleines Café errichtet.
„Okay, dann laden wir die Damen zum Eis ein, oder Jungs?“
Pascal und Maurice grinsten. „Klar doch.“
Fünfzehn Minuten später saßen sie an einem der Tische im Schatten unter einer hohen Tanne und aßen ihr Eis.
„Was haltet ihr von dieser Befreiungssache? Der Fürst muss eine Jungfrau finden, die ihn küsst – dabei hatte der Fürst doch angeblich Tausend Jungfrauen gehabt, die ihn geküsst haben.“
„Jo, mindestens das.“ Maurice lachte.
„Das macht doch keinen Sinn. Ich mag Geschichten nicht, die keinen Sinn ergeben.“ Missmutig zog Anette ihre Waffel aus dem Eis.
„Hey Mädels, was haltet ihr von einem nächtlichen Besuch der Grotte?“ Pascal fuhr genüsslich mit der Zunge über seine Eiskugel „Oder glaubt ihr etwa den Kram, den der Frédéric erzählt hat?“
„Gute Idee. Dann kann ich doch noch mal in die Gänge reinsehen. Obwohl ich nicht glaube, dass da irgendetwas anderes als Staub drin ist.“
„Vielleicht ein paar Hasenköddel.“ Philipp grinste.
„Hm, man könnte in der Grotte auch noch ganz andere Dinge tun, als in irgendwelche Tunnel reinsehen. Obwohl – wenn ich mir vorstelle, wie ihr vor dem Eingang kniet und eure Hintern in die Luft streckt...“ Pascal lehnte sich genüsslich zurück und saugte an seiner Kugel.
„Und dann kommt der Fürst und bringt euch alle drei um – schon vergessen?“ Anette biss ein Stück ihrer Waffel ab.
„Vielleicht dürfen wir ja zusehen, wenn wir ganz lieb bitten?“
„Beim Umbringen?“
„Nein, wenn er euch... das Herz bricht.“ Pascal grinste von einem Ohr zum anderen. „Wobei wir euch danach natürlich sofort trösten würden, nicht Jungs? Wir sind ja richtige Gentlemen.“
Den Eindruck hatte Anette auch. Wenn der Typ bloß nicht so verdammt gut aussehen würde.
„Ich finde die Idee gar nicht so schlecht. Ich meine, mit dem nächtlichen Besuch in der Grotte. Den Rest lassen wir mal offen...“
„Klar doch.“ Pascal grinste. „Die schließen in zwei Stunden. Gehen wir bis dahin ein bisschen spazieren?“
Zwei Frauen und drei Männer – konnte das gut gehen? Anette war sich nicht so sicher, ob sie in der Grotte wirklich nur ein bisschen Schauerromantik genießen würden und in irgendwelchen Gängen rumkriechen. Und wenn sie ehrlich war, fand sie den Gedanken daran sogar sehr erregend. Soviel zu ihrem Vorsatz, sich nie wieder mit einem attraktiven Macho einzulassen.
Philipp hatte es auf Gina abgesehen, das war offensichtlich, aber was war mit Maurice? Oder würden sie dann alle zu fünft...
Eine Baumwurzel riss sie aus ihren Gedanken und direkt auf den Boden.
„Aua.“ Verdammt, war das peinlich. Hoffentlich hatte niemand bemerkt, dass sie in Gedanken war – und vor allem, in was für Gedanken sie gewesen war.
Aber darüber brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Pascal war nur den Bruchteil einer Sekunde später bei ihr – auf dem Boden.
„Pardon...“ Auch er brauchte eine Sekunde, um zu kapieren, was passiert war. Dann jedoch genoss er die Situation sichtlich.
„Verzeihung. Es tut mir wirklich leid.“ Er stützte sich auf seine gutgebauten Oberarme und beugte sich über sie. „Hast du dir weh getan?“ Eine muskulöse Männerbrust schwebte nur 30 Zentimeter über ihrer.
„Nein.“ Anette war plötzlich schwindelig. Ob sie sich bei dem Sturz doch den Kopf angeschlagen hatte?
„Schade eigentlich, ich dachte, ich könnte irgendwo pusten...“ und dabei hauchte er seinen Atem an ihren Hals.
Wenn sie nicht sofort aufstehen würde, hatte sie ein großes Problem. Eins, das schätzungsweise 1,85 Meter groß war und quer über ihr lag.
„Wir sollten weitergehen.“ Entschlossen, aufzustehen, stemmte sie die Hände gegen seine Brust.
Man fühlte die sich gut an.
Ohne darüber nachzudenken, fuhr sie mit dem Daumen ihre Kontur entlang.
„Süße, wenn du so etwas tust, wird das aber nichts.“ Pascal lachte und küsste sie direkt auf den Mund.
Ein wohliges Kribbeln lief von ihren Lippen direkt hinunter an eine Stelle, an der es mitten auf einem Waldweg besser nicht sein sollte.
Sie musste aufstehen, sofort.
Erneut presste sie ihre Handflächen gegen seine Brust – und spürte seine harten Brustwarzen. Ein Seufzen glitt aus ihrer Kehle, als sie aufgab.
Gott sei Dank waren die anderen so taktvoll gewesen und weitergegangen. Die Sorge, wo Maurice bei der Aktion bleiben würde, war unnötig gewesen. Als Anette und Pascal die anderen einholten, gab es deutliche Anzeichen dafür, dass keiner der drei hatte außen vor bleiben müssen. Details wollte Anette im Moment lieber nicht wissen. Ihre Fantasie hatte schon genug Purzelbäume geschlagen, seit sie auf diesem Berg waren. Jetzt wäre eine Abkühlung in der Grotte und ein wenig Schauerromantik genau das Richtige. Danach könnten sie immer noch irgendwo in die Stadt fahren und weitersehen.
Als die fünf bei der Grotte ankamen, stand der Mond schon hoch am Himmel und das Café war verlassen. Die Tannen wachten wie Friedhofsengel vor der Grotte.
„Das Tor ist zu.“ Gina rüttelte an der Klinke. „Da kommen wir nicht rein.“
„Lass mal sehen.“ Philipp trat näher heran. „Es hat sehr viel Spielraum. Wenn wir einen geeigneten Hebel finden, können wir es vermutlich aus den Angeln heben.“
„Geht dieser Ast hier?“ Maurice brachte einen beindicken Baumstamm zum Tor. Waren diese Typen eigentlich alle Freunde aus dem Fitnessstudio?
„Jetzt brauchen wir noch was zum Unterlegen...“ Pascal brachte einen weiteren Stamm. Dann arrangierten sie alles so, dass sie drücken konnten, Gina, Anette und Philipp hielten das Tor.
„Auf drei wird gestemmt. Eins, zwei, drei!“
Ein jaulendes Geräusch und die Tür sprang aus den Angeln.
„Das war ja einfach. Okay, wer geht zuerst rein?“
Nacheinander quetschten sie sich durch das Gittertor, bis sie alle in der Grotte standen.
„Ganz schön dunkel hier. Funktioniert das Licht?“
Maurice drückte auf den Schalter. Klack, klack. „Haben den Strom abgestellt, diese Geizkragen.“
„Na, dann müssen wir uns wohl ins Innere vortasten.“ Pascal hauchte seine Worte Anette in den Nacken, so dass dieser eine Gänsehaut den Rücken hinunter lief. „Wir werden euch natürlich vor dem bösen Fürsten beschützen...“
‚Wohl eher vor den Felsvorsprüngen, die hier teilweise von der Decke hängen’, dachte sich Gina, ließ den Jungs aber ihren Spaß. Hauptsache, sie konnte mal in die drei Gänge hineinleuchten. Was die anderen außerdem nicht wussten, war, dass sie eine Taschenlampe dabei hatte.
„Ohne Licht ist das echt übel...“ Pascal fing an zu murren, als sie einige Meter weit in die Dunkelheit hinein gegangen waren. „Ich meine, man sieht ja nichts.“
„Perfekt für die Frauen. Du weißt doch, die machen’s am liebsten im Dunkeln“, witzelte Anette und tastete sich dabei an der glatten Wand vor.
„Na warte nur, wenn wir erst wieder draußen sind...“ Ein warmer Atem streifte ihr linkes Ohr.
Irgendetwas war komisch. In der Wand war eine Säule oder so etwas eingelassen. Anette konnte sich gar nicht daran erinnern. Andererseits hatte sie bei ihrem Besuch am Nachmittag auch noch mit den Augen gesehen und sich nicht an der Wand entlang getastet.
„Okay, hier geht’s ohne Licht wirklich nicht weiter.“ Maurice blieb stehen. „Es hat nicht zufällig jemand eine Taschenlampe bei sich?“
Anette tastete weiter. Es fühlte sich nicht an wie eine Säule, es fühlte sich an wie eine Statue. Da waren Arme, ein Oberkörper, Schultern, ein Hals und – ein Kopf. Sie konnte Wangenknochen, Nase, Lippen und Augen fühlen. Eine sehr detaillierte Nachbildung. Sogar Ohren hatte die Statue und, was war das? Es fühlte sich an wie – Haare!
„Sagt mal Leute, war hier eine Statue in der Grotte?“ Ohne es zu wollen, zitterte Anettes Stimme ein wenig.
„Ich hab’ eine Taschenlampe.“ Gina, die ganz vorne lief, knipste das Licht an. Ein kleiner Lichtkegel huschte über den dunklen Boden.
Anette sah zu ihrer rechten Hand – und schrie. Das, was sie da betastete, sah nicht aus wie eine Statue aus Stein, sondern wie eine Leiche, die man an die Wand gestellt hatte. Ausdruckslose Augen starrten durch sie hindurch.
Ohne lange zu überlegen, sprang sie zurück und stolperte in Richtung Ausgang. Sie hörte, wie die anderen ihr folgten, drückte das Tor auf und rannte ins Freie.
„Mein Gott, was war das denn?“ In sicherer Entfernung vom Eingang kam sie zum Stehen und hielt sich die schmerzende Seite . „Habt ihr das gesehen?“
„Ich hab’ nichts gesehen. Was war denn los?“ Gina legte ihrer Freundin beruhigend eine Hand auf die Schulter.
„Da stand eine Leiche, an der Wand.“
„Hast du getrunken?“ Pascal zwinkerte ihr zu, aber Anette war nicht zum Scherzen zumute.
„Ich dachte, da wäre eine Statue, aber die hatte Haare. Der Typ hatte Haare. Und ganz dünne Haut über den Knochen. Der war doch heute Nachmittag noch nicht da, oder?“
„Vielleicht doch der böse Fürst...“ Pascal wusste einfach nicht, wann Schluss war.
„Also, ich hab’ heute Nachmittag nichts dergleichen gesehen...“ Gina versuchte ihre Freundin zu beruhigen. „Vielleicht einfach ein Trick des Besitzers. Vermutlich hat der da eine Vogelscheuche hingestellt, um die Ammenmärchen aufrecht zu halten und weiterhin Besucher in seine Grotte zu locken.“
„Also wenn das der böse Fürst war, dann brauchst du dich vor ihm jedenfalls nicht zu fürchten. Bist ja schließlich eine Frau und damit möglicherweise seine Erlösung.“ Philipp verhielt sich wesentlich taktvoller als Pascal.
„Und wenn’s ne Leiche war, dann auch nicht, denn die ist schließlich tot.“ Maurice war sehr pragmatisch, aber es half. Langsam legte sich Anettes Pulsschlag.
„Geh’n wir noch mal rein, oder habt ihr’s euch anders überlegt?“ Pascal wollte das nächtliche Abenteuer nicht so schnell aufgeben. „Komm, Anette, Gina und ich nehmen dich in die Mitte, Philipp und Maurice gehen voran.“
Anette zögerte. „Was ist, wenn der Mörder noch da ist?“
„Ich denke, die Leiche hatte schon kein Fleisch mehr auf den Knochen? Dann wird da auch kein Mörder mehr sein.“
Wirklich überzeugt war Anette nicht, aber sie wollte auch nicht als Spaßverderber dastehen, zumal sie die einzige war, die etwas gesehen hatte. Vermutlich hatte ihr die Angst einen Streich gespielt.
„Okay, gehen wir noch mal rein. Aber dieses Mal mit Taschenlampe. Und ich gehe zwischen euch beiden.“
Pascal grinste, nahm Anette aber großzügig in den Arm. „Dann auf jetzt.“
Die Höhle war genauso finster wie vorhin.
„Wo hast du sie gesehen?“
„Irgendwo auf der rechten Seite, vor dem Tunnel.“
Gina leuchtete mit ihrer Taschenlampe die rechte Wand ab. „Hier ist nichts.“
„Vielleicht ist sie umgefallen?“
„Auf dem Boden ist auch nichts.“
„Huhu, ich bin der böse Fürst“, machte Maurice, „und ich werde dir das Herz brechen.“
„Huhu, ich ... der ... Fürst“, echote es von den Wänden.
„Sag das noch mal, Maurice.“
„Huhu, ich bin der böse Fürst und ich werde dir... – hoppala, hier liegt was.“
Kein Echo. „Wieso gab es beim ersten Mal ein Echo und beim zweiten Mal nicht?“ Anettes Pulsschlag legte schon wieder an Geschwindigkeit zu.
„Vermutlich, weil die Höhlungen unterschiedlich beschaffen sind“, mutmaßte Gina. „Maurice wird beim ersten Mal in eine Richtung gesprochen haben, die ein Echo zurückgeworfen hat, beim zweiten Mal nicht.“
Irgendwo lachte es plötzlich. Anette stockte der Atem.
„Philipp, bist du das?“ Pascal lachte mit. „Hey, erschreck die Mädels nicht so!“
„Idiot“, zischte Anette und zog Gina und Pascal näher zu sich heran. „Maurice, was liegt da?“
„Die Leiche...“, raunte Pascal neben ihr und erntete dafür einen Hub mit dem Ellenbogen.
„Nichts, ich bin nur gestolpert. Hier ist nichts.“
„Au, verdammt.“ Pascal hatte es der Länge nach hingerissen.
Anette bückte sich. „Was ist los?“
„Ich bin über einen Felsen gestolpert. Gina, kannst du nicht ein bisschen besser mit der Lampe leuchten?“
„Tschuldigung. Ich habe den Gang abgesucht. Ich glaube, hier müssen wir rein, wenn wir zu dem Raum mit den drei Gängen kommen wollen.“
„Gina, kannst du nicht warten?“ Aber Gina ging schon in den Raum hinein. Sollte Anette jetzt bei Pascal bleiben oder ihrer besten Freundin folgen?
„Huhu, Gina, hier kommt Monsieur Ledoux – hey warte, ich komm’ mit“, brüllte Philipp ihr hinterher.
„Huhu ... Monsieur Ledoux ... komm’...“ echote es von den Wänden.
Anette war schwindelig. Das war der Puls, der raste. Ihr Blutdruck. So ein Mist auch.
„Alles okay, Pascal?“ Pascal blieb verdächtig lange auf dem Boden liegen, dafür, dass er nur gestolpert war. „Ist alles okay?“
„Maurice, wo bist du?“
„Hier.“ Sie blickte in die Richtung, aus der der Ruf kam, aber da Gina mit der Taschenlampe weg war, konnte sie ihn nicht sehen.
„Ich glaub’, ich habe mir den Fuß gezerrt.“ Pascal setzte sich und grummelte vor sich hin. Gott sei Dank, er nörgelte, dann war alles okay.
„Wo ist dieser verdammte Stein, über den ich gestolpert bin?“ Anette und Pascal tasteten mit ihren Händen den Fußboden ab.
„Hier ist eine kleine Rille, meintest du die?“
„Ich stolpere doch nicht wegen einer kleinen Rille.“
Anette musste lachen. Wahrscheinlich war er genauso ängstlich wie sie und wollte es nur nicht zugeben. „Okay, mein Held, dann steh mal auf.“ Sie gab ihm die Hand und zog ihn mit Schwung nach oben – so viel Schwung, dass sie mit dem Kopf gegen einen Felsvorsprung krachte. Schlagartig wurde ihr speiübel und schwindelig.
Gut, dass Pascal sie hielt. Sie merkte, wie ihr die Eiseskälte in die Glieder kroch. ‚Der Blutdruck’, sagte sie sich, ‚das kommt vom Stress’. Mein Gott, war ihr übel. Etwas Kühles legte sich gegen ihren Hinterkopf. Im ersten Moment zuckte sie zusammen, dann merkte sie, dass die Kühlung ihr gut tat. Jetzt hatte sie den anderen vier die Nacht verdorben. Ihr war klar, dass sie eine leichte Gehirnerschütterung hatte und in ein Krankenhaus musste. Ihre Sinne waren nicht klar beisammen. Vor ihren Augen verschwamm alles, auch wenn sie in der Dunkelheit ohnehin schon nichts mehr sehen konnte. Aber Gina würde gleich mit dem Licht kommen. Sie wusste, dass Pascal sie rufen würde, auch wenn sie ihn nicht hören konnte. In ihren Ohren hörte sie nur ein unaufhörliches Rauschen. ‚Wie Meer’, dachte sie, ‚oder wie Bäume im Wind’, und lächelte.
„Küss mich“, rauschten plötzlich die Wellen und die Bäume, „Küss mich.“
‚Mein Gott, Pascal’, dachte sie, ‚siehst du nicht, wie schlecht es mir geht. Denkst du jetzt nur ans Küssen?’ und eine Träne lief ihr über die Wange.
„Sch-sch“, rauschten das Meer und die Bäume. „Sch-sch, Chérie.“
Chérie? Er hatte sie zuvor noch nie Chérie genannt. Er war so süß. Natürlich hatte er mitbekommen, wie es ihr geht, er wollte sie mit den Küssen nur beruhigen . Typisch Pascal. Wieder lief ihr eine Träne über die Wange, dieses Mal jedoch vor Glück. Sie schloss ihre Hände fester um seine Arme – er war genauso kalt wie sie, was musste er für eine Angst um sie haben! - , schloss die Augen und öffnete ihren Mund einen Spalt weit. Sie merkte, wie er näher auf sie zukam und erwartete sehnsüchtig seinen Kuss – in diesem Moment blendete sie ein Lichtstrahl.
Sie hörte Gina schreien.
Dieser ganze Berg war ein erotisches Lodern. Erst die Aktion mit Philipp und Maurice im Wald und jetzt die Grotte.
Normalerweise wäre Gina mit Anette nicht noch einmal zurück gegangen, jetzt, wo sie sich so erschreckt hatte. Sie sah wirklich nicht gut aus, so blass und zitternd. Aber ihr Verlangen wuchs mit jedem Schritt, den sie sich der Grotte näherten. Außerdem glaubte sie nicht an den ganzen übersinnlichen Quatsch mit Untoten. Wenn überhaupt, dann hatte sich hier jemand einen ganz üblen Scherz erlaubt.
Sie wollte noch einmal in die drei Gänge sehen. Das behauptete sie jedenfalls. Eigentlich wollte sie nur eine Möglichkeit haben, noch einmal mit Philipp allein zu sein. Hier, in dem Berg, wo das Blut ihr so warm durch das Becken pulsierte. Eigenartig, hier mussten irgendwelche unterirdischen Ströme langfließen, Wärmeadern, irgendetwas in der Art.
Ob Anette das auch merkte?
So kalt, wie sie sich anfühlte, im Moment wohl eher nicht. Aber sie hatte Pascal, der würde reichen, und Sex – den er zweifellos im Kopf hatte – war sicher eine der besten Möglichkeiten, ihre Angst zu vertreiben.
Sie wünschte es ihrer Freundin und nutzte es als Ausrede, um davon zu huschen, in den Tunnel nebenan. Sie wusste, Philipp würde ihr folgen. Sie wusste, sie würden kurzen heißen Sex haben.
Sie unterdrückte ein Schreien, als sie kam.
„Wow, war das gut.“ Gina kicherte . „Sind die anderen schon hier?“
„Ich hab’ nix gehört.“ Philipp drückte ihr noch schnell einen Kuss in den Nacken, dann sorgte er dafür, dass seine Hose wieder ordentlich saß. „Irgendetwas ist mit diesem Berg, oder? Ihr Frauen seid so seltsam willig.“
„Sag’ das nicht noch einmal.“
„Ich mein’ ja nur... Das ist schon das zweite Mal innerhalb von vier Stunden. Oder bist du immer so?“ Gina konnte sein breites Grinsen förmlich sehen, auch wenn sie die Taschenlampe ausgeschaltet hatte.
„Gehen wir zurück und schauen, wo sie bleiben? Ohne Licht ist das schon ein bisschen gemein.“
„Okay, gönnen wir dem Kleinen einen Moment Ruhe.“
Der Lichtkegel der Taschenlampe huschte im Zick Zack über den Boden und führte sie aus dem Tunnel zurück in den Raum, wo sie die drei anderen zurückgelassen hatten.
Plötzlich blieb Gina stehen. Auf dem Fußboden zu ihrer Rechten lag jemand. „Maurice?“ Gina krallte ihre Hand fester um den Griff der Taschenlampe. „Maurice, kannst du mich hören?“
Sie wollte sich gerade auf ihn zu bewegen, als sie ein Stöhnen von links vernahm. Instinktiv schwenkte sie die Lampe.
Pascal lag am Boden, Anette stand, vielmehr hing in den Armen – einer Leiche!
Gina schrie.
Dann schaltete sich ihr Gehirn ein.
„Wer zum Teufel sind Sie? Lassen Sie die Frau los!“
Es gab keine lebendigen Leichen. Es gab nur lebendige Menschen. Vielleicht ein entstellter Mensch. Vielleicht eine Puppe, computergesteuert. Vieles war möglich heute.
„Lass’ die Frau los, du Arsch, oder ich schiebe dir die Taschenlampe rückwärts in deinen Allerwertesten!“ Sie wusste gar nicht, woher sie diese Wut nahm, aber plötzlich war sie wahnsinnig wütend.
Anette hing da, offensichtlich konnte sie sich kaum auf den Beinen halten, und dieser Typ nutzte die Gelegenheit, um sich an ihr zu vergehen.
Die Leiche wirkte unentschlossen. Sie blickte an ihr vorbei – Gina nahm an zu Philipp – dann wieder zurück zu Anette, die noch immer seine Arme umklammert hielt, um nicht um zu fallen, und die so aussah, als würde sie kaum etwas von dem mitbekommen, was um sie herum geschah.
„Lass sie los!“
„Gina!“
Aber Gina war schon nicht mehr zu bremsen. Mit einer wahnsinns Wut im Bauch ging sie auf den Typen los. Sie holte aus und schlug mit der Taschenlampe auf seinen bleichen Schädel. Er wich im letzten Moment aus, ließ Anette zu Boden gleiten.
Dann starrten seine trüben Augen sie an.
„Gina!“
Die Bewegung, die er machte, war schnell und geschickt. Im Bruchteil einer Sekunde stand er vor ihr, hatte ihre Hände hinter ihrem Rücken zusammengepresst.
Sie hörte Philipp herbeilaufen.
Ein wohl platzierte Kinnhaken und Philipp fiel rücklings auf den Boden.
Was immer er war, mit ihm war nicht zu spaßen.
Gina umfing eine Grabeskälte, als sie sah, wie er sich wieder zu ihr umdrehte. Sie wollte weg, nur noch weg.
Wirre Wortfetzen drangen an Anettes Ohren, sie konnte Ginas Stimme heraus hören und eine männliche – war das Philipp? – aber sie verstand nicht, was sie sagten. Sie schienen in Aufruhr zu sein, irgendetwas war los. Irgendjemand schien Pascal an zu greifen, er ging einen Schritt zurück und setzte sie auf dem Boden ab. Dann hörte sie Schritte, jemand lief weg. Eine gefühlte Ewigkeit später spürte sie, wie wieder jemand zurück in die Grotte kam. War es Gina? Pascal? Ein Fremder?
Die Person wollte ihr die Hand auf die Schulter legen, tat es aber nicht. Sie spürte ihre Aura.
„Excusez-moi, ma Chérie.“ Da war es wieder, dieses beruhigende Rauschen. „Excusez-moi.“
‚Pascal, was ist los?’, wollte sie fragen, war aber noch immer zu benommen. Sie spürte seine Zärtlichkeit und es machte sie unglücklich , dass sie ihm nichts erwidern konnte.
„Sch-sch“ Eine kalte Hand wischte ihr eine Träne von der Wange, die sich unbemerkt davongeschlichen hatte.
Er tat ihr so leid. Er brauchte doch keine Angst um sie haben. Sie würde bestimmt wieder gesund werden, ganz sicher. Es war nur eine leichte Gehirnerschütterung, die Rettungssanitäter würden kommen, und alles wäre wieder gut. Sie hätte gar nicht gedacht, dass er so in Sorge um sie sein würde, dass er schon so viel für sie empfinden würde. Wie falsch hatte sie ihn eingeschätzt! Sie wollte seine Hand greifen und sie drücken, aber er schob nur sachte ihren Arm zur Seite, damit sie sich nicht zu viel bewegte. Sie wollte ihn küssen. Jetzt. Sie musste ihn küssen! Da war endlich der Mann, der mehr von ihr wollte, als nur kurzweiligen Sex. Sie spürte es in ihrem Herzen, auch wenn sie sich nicht erklären konnte, wieso.
Ihre Lippen zitterten, als sie ihren Mund öffnete und den Kopf leicht drehte. Hoffentlich verstand er, was sie wollte.
„Chérie...“
Sie spürte, wie er näher kam, sie spürte seine Lippen auf ihren.
Sie waren so kalt. So hart. So verspannt. Mein Gott, wie lange hatte sie hier gelegen? War sie ohnmächtig gewesen? Pascal war ja komplett unterkühlt! Sie musste ihn wärmen und sie war so hilflos, dass sie nichts anderes tun konnte, als ihre Lippen zu öffnen.
Ihre Lippen öffnen – Wenn Pascal nicht plötzlich zum Eunuchen geworden war, dann würde er ganz schnell wieder warm werden, sie brauchte gar nicht viel anderes als ihre Lippen – und ihre Zunge.
Anette lächelte. Vorsichtig schob sie ihre Zunge nach vorne und tastete nach seinen Zähnen. Mit jeder Berührung wurde er wärmer und weicher. Sie spürte die Lebenskraft in ihn zurückkehren, sie fühlte, wie seine Lippen voller und entspannter wurden, sie spürte, wie die Wärme in seine Hand zurückkehrte, die er auf ihren Rücken gelegt hatte und die wohlige Schauer ihren Rücken hinunter jagte. Sie spürte seinen Atem und seinen Herzschlag. Und auf einmal wurde auch ihr wärmer als je zuvor.
„Anette –“
Gina hatte Fersengeld gegeben und war losgerannt. Sie achtete nicht auf Felsvorsprünge oder Steine, sie rannte so schnell sie konnte aus der verdammten Grotte, weg von diesem Monster. Wenn sie eins wusste, dann war es, dass sie die letzte und einzige Möglichkeit war, ihre Freundin vor einer Vergewaltigung zu schützen. Dafür musste sie entkommen. Sie musste raus und die Polizei anrufen.
Er verfolgte sie gut fünf Minuten den Pfad hinunter, dann ließ er plötzlich von ihr ab. Sie wusste, warum: Er wollte zurück zu seinem Opfer – Anette. Und sie hatte sie dorthin gebracht.
Mit zitternden Fingern wählte sie den Notruf. Dann drehte sie um und kehrte zurück.
Sie wusste selbst nicht, was sie tun wollte, aber sie konnte unmöglich hier sitzen bleiben, während der Typ sich an ihrer Freundin verging.
Vor der Grotte blieb sie stehen. Die Tannen rauschten noch immer im Wind. Der Mond war aus einer Wolke hervorgekrochen und beleuchtete Marias Haupt, so dass es aussah, als würde sie einen Heiligenschein tragen. Ihre Augen blickten gütig auf das Kind hinab, das sie im Arm hielt. Niemand würde auf die Idee kommen, dass nur ein paar Meter weiter in der Grotte gerade ein Unrecht geschah.
„Heilige Maria, hilf, dass ich Anette retten kann“, murmelte Gina, obwohl sie gar nicht religiös war. Dann trat sie in die Grotte. Sie schlich vorsichtig Zentimeter um Zentimeter voran. Als nichts passierte, knipste sie die Taschenlampe an. Im ersten Raum war niemand, das hatte sie auch nicht erwartet. Vermutlich war er mit Anette noch immer in dem zweiten Raum, der hinter der Kurve lag, wollte ungestört sein für seine Spielchen, der Perversling.
Oder er hatte sie gesehen, erwartete sie hinter der nächsten Ecke. Wollte sie hier umbringen, damit er sie nicht so weit schleppen musste.
Gina klopfte das Herz bis zum Hals, sie hörte seinen Rhythmus von den Wänden zurückhallen.
‚Denk’ logisch, das kann nicht sein, er kann deinen Herzschlag nicht hören’.
Was wollte sie tun, wenn sie ihn fände? Was würde sie vorfinden?
Zentimeter um Zentimeter tastete sie sich an der kalten Wand entlang, bis sie an der Ecke angekommen war. Jetzt gab es nur drei Möglichkeiten:
Erstens, er war nicht in diesem Raum.
Zweitens, er fiel gerade über Anette her.
Drittens, er erwartete sie.
Sie dachte an Anette und sprang um die Ecke.
Sie sah sie.
Sie saß auf dem Boden, hatte den Kopf ein Stück zurückgelehnt.
Er war über sie gebeugt, drehte Gina den Rücken zu. Sein graues Hemd hing wie der Fetzen einer Vogelscheuche um seine Wirbelsäule und die hageren Knochen herum.
Das war ihre Chance. Sie musste sich von hinten anschleichen, ihn überraschen und ihm eins mit der Taschenlampe überziehen.
Gina ging einen Schritt vorwärts.
Sie küssten sich.
Nein, er küsste sie. Sie konnte sich nicht wehren.
Anette wirkte glücklich.
Das konnte nicht sein. Wusste sie, wen sie da küsste? Niemand wirkte glücklich in den Armen einer Leiche. Ihre Wahrnehmung war vielleicht getrübt, sie konnte nicht richtig sehen, ihr Blick war vorhin so seltsam gewesen.
Was war das? Der Rücken der Leiche veränderte sich. Die Knochen bildeten sich zurück, das Hemd wurde nach und nach von einem männlichen Oberkörper ausgefüllt.
Das konnte nicht sein. Er war eine ferngesteuerte Puppe, in die jemand Luft blies.
Sie ging weiter auf ihn zu, sie musste es tun, jetzt oder nie – da sah sie, dass sich seine unteren Rippen dehnten und wieder zurückzogen. Er atmete.
„Anette –“
Anette öffnete die Augen und drehte den Kopf in die Richtung, aus der Gina sie gerufen hatte.
„Warte, Chérie, ich helfe dir.“ Das Rauschen war weg, dafür klang eine angenehm warme Männerstimme in ihr nach.
‚Wer war dieser Mann?’ Ihr Kopf dröhnte immer noch und sie konnte ihn in der Dunkelheit nicht richtig erkennen, aber er sah nicht aus wie Pascal.
„Wie kann das angeh’n. Sie sind nicht echt!“ Gina ging zwei Schritte auf den Typen zu, der plötzlich so hilfsbereit schien. „Lassen Sie meine Freundin los!“
„Pardon, Mademoiselle.“ Er schien nicht richtig zu wissen, was er tun sollte.
„Gina, was ist los?“ murmelte Anette, deren Schwindel überraschend schnell verflog.
„Gehen Sie.“
„Wer ist dieser Mann? Und warum schickst du ihn weg?“
„Pardon, Mademoiselles, ich bin Monsieur Ledoux.“
„Na klar, und ich bin Graf Drakula“, antwortete Gina schnippisch.
„Wer ist Graf Drakula?“
„Sie kennen Drakula nicht?“ Anette kicherte.
„Nein, bedaure.“
„Anette, der Typ hält sich für den Fürst Ledoux!“
„Mademoiselles, ich bin
der Fürst Ledoux.“
„Wenn überhaupt, dann waren
Sie der Fürst Ledoux. Wir haben inzwischen das 21. Jahrhundert, da gibt es keine Fürsten mehr.“
Einen Moment lag Schweigen in der Grotte.
Plötzlich zog Ledoux seinen Siegelring vom Finger. „Wie dem auch sei, ich werde ihre Freundin heiraten. Machen Sie sich keine Sorgen.“
„Haben Sie gerade heiraten gesagt?“ Anette blieb der Mund offen stehen. Sie wollte Beständigkeit, aber so schnell? „Ich kenne Sie doch gar nicht.“
„Mademoiselle, Sie haben mich geküsst.“
Anette kicherte und wies den Ring zurück, den er ihr hinhielt. „Ja, ja, aber das reicht doch nicht, um...“
„Anette ist keine Jungfrau. Sie wollen die falsche Frau heiraten, Monsieur Ledoux.“
„Keine Jungfrau? Aber wie kann das angehen?“
Ganz sicher wusste der Kerl genau, wie das angehen konnte.
Anette lachte. „Jungfrau meinte früher eine Frau, die unverheiratet war, Gina. Da war sie natürlich auch noch anders Jungfrau...“
„Der Typ hat doch ‚nen Rad ab. Ich habe gesehen, wie er...“ Gina stockte. ‚Ich habe gesehen, wie er vorher aussah wie eine Leiche’. Das würde sie ihr niemals glauben. Das würde ihr niemand jemals glauben. Das glaubte sie ja selbst nicht.
„Er küsst gar nicht so schlecht“, flüsterte Anette ihrer Freundin zu. „Ein Versuch ist es vielleicht wert.“
„Weißt du, wen du da geküsst hast?“ Gina versuchte es noch einmal. „Warst du überhaupt bei Bewusstsein?“
„Ich dachte, es wäre Pascal. Aber er war so zärtlich und so... Ich weiß auch nicht. Ich habe einfach gefühlt, dass er der Richtige ist.“
Gina öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Wenn sich ihre Freundin da mal nicht in etwas verrannte. Von Marke Sexboy zu Marke Romantiker sozusagen.
„Sie machen sich Sorgen um Ihre Freundin, das ehrt Sie. Aber es ist unnötig. Ich werde mich gut um sie kümmern. Und – es tut mir leid, dass ich ihre Freunde für eine kurze Zeit außer Gefecht setzen musste.“
Außer Gefecht setzen – wenn Philipp irgendetwas passiert war, konnte er seine Zähne vom Fußboden aufsammeln.
„Waren Sie nicht in der Lage zu sprechen? Man schlägt heute nicht mehr einfach auf seine Widersacher ein.“
„Pardon, Sie haben mich gesehen. Welche Frau hätte mich bei diesem Aussehen geküsst?“
‚Deswegen die Sache mit den Jungfrauen’, dachte Gina. ‚Er musste eine Jungfrau finden, die ihn küsst, obwohl er so hässlich war. Na, das ist er ja geschickt umgangen!’
„Anette, der Typ hat ausgesehen wie eine Leiche. Die Leiche, die du gesehen hast, an der Wand, das war er. Du hast eine Leiche geküsst.“
Anette sah ihre Freundin irritiert an. Wollte sie ihr den Typen madig machen?
„Anette, ich meine es ernst. Heirate ihn, wenn du willst, setze zwanzig Kinder in die Welt, aber – der Typ war eine Leiche! Das solltest du wissen. Das muss ich dir als deine Freundin sagen.“ Gina blickte sie gequält an.
Gina war nicht der Typ, der so einen mystischen Unfug glaubte. Gina hatte es auch nicht nötig, ihr einen Mann auszuspannen. Und dieser Typ in den seltsamen Klamotten wirkte schon ein bisschen verschroben. Es machte keinen Sinn, dass Gina ihn haben wollte. Es machte auch keinen Sinn, dass Gina ihr erzählte, sie hätte eine Leiche geküsst.
„Stimmt das?“ Anette blickte den angeblichen Fürsten an.
Dieser öffnete die Schnürung seines Hemdes. „Ja.“ Ein Brandmahl in Form eines Kreuzes kam auf seiner Brust zum Vorschein. „Damit haben sie mich gebranntmarkt. Sie glaubten, ich sei der Teufel, weil die Frauen mir nachgerannt sind. Hunderte, immer wieder, in die Grotte. Sie waren besessen von mir und ich von ihnen.“ Ledoux schluckte. „Ich weiß nicht, ob es letztlich der Teufel oder Gott war, der mich als Untoter in dieser Grotte umherwandeln ließ. Strafe oder Chance.“ Er ließ die Schultern hängen. „Excusez-moi. Ich wollte Ihnen nicht schaden. Ich wollte nur eine zweite Chance, verstehen Sie? Nur ein zweite Chance...“ Der Fürst stützte sich an der Wand ab. Er wurde seltsam blass.
„Was ist mit Ihnen?“
„Ich weiß nicht, ich vermute, es sind die 500 Jahre, ich vermute, die überlebt einfach keiner.“ Ein zaghaftes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Dann sackte er auf dem Boden zusammen.
„Oh mein Gott, was machen wir jetzt?“
„Wir gucken nach den Jungs.“
„Wir können ihn hier doch nicht einfach so liegen lassen. Er wird ja immer – “ Anette schluckte „knochiger.“
„Sieh es mal so: Du hast ihn von dem Fluch befreit, nun kann er in Ruhe sterben. Lass seine Seele in den Himmel ziehen oder nach sonst wohin.“
Das war nicht fair. Okay, der Typ war auch nicht fair gewesen, aber konnte sie es nicht nachvollziehen? Er verwandelte sich mehr und mehr in eine Leiche – sein Fleisch schwand von den Knochen, seine Wangen fielen ein, seine Haut wurde dünner. Keine Frau würde einen solchen Mann freiwillig küssen, keine, da hatte er Recht. Dabei hatte er sie verdient, die zweite Chance. Jeder hatte eine zweite Chance verdient! Unbemerkt hatte sich eine Träne aus ihrem Auge geschlichen, als sie sich neben ihn kniete, während Gina schon längst nach den Jungs schaute. Jeder hatte eine zweite Chance verdient. Sie wollte es rückgängig machen, diesen Verwesungsprozess im Schnelldurchlauf. Sie wollte wieder seine Stimme hören, die sie so zärtlich Chérie nannte, sie wollte sein Lippen spüren und überlegen, wie sie ihre Kinder nennen würden – na gut, das vielleicht noch nicht – sie wollte –
Vielleicht gab es eine Chance. Es war verrückt, total verrückt. Vielleicht war das nur ein Fehler mit dem Sterben. Vielleicht konnte sie ihn ein zweites Mal retten, wenn sie nur...
Sie beugte sich über ihn.
Seine Lippen waren kalt. Und hart. Nicht, weil er verspannt war oder unterkühlt. Weil der Knochen direkt unter ihnen lag. Sie wollte ihn wärmen, sie wollte ihm das Leben zurückgeben. Vorsichtig schob sie seine Zunge nach vorne und tastete nach seinen Zähnen. Wenn es einen Gott gab, dann musste er jetzt ein Einsehen haben, seine Lippen mussten voller werden, wärmer und weicher. Er musste...
Es war das Gefühl, dass ihr jemand etwas über den kleinen Finger schob, das sie in ihrer Verzweiflung innehalten ließ.
Es war sein Siegelring.
Texte: June F. Duncan
Tag der Veröffentlichung: 17.08.2012
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