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Es war einmal vor gar nicht allzu langer Zeit, da lebten drei Freundinnen in einer wunderschönen Stadt, die nichts entbehrte, was die Menschen zum Leben brauchten: Ihre Äcker waren voll goldener Ähren, die Bäume voll süßer Früchte, ihre Wiesen voll sattem Grün und der nahegelegene Wald voll würzigem Holz.
Doch all die Äcker, Bäume, Wiesen und Wälder gehörten einer handvoll Männer, dem Stadtrat, die von ihrem Reichtum nichts abgaben und die Leute harte Arbeit für eine Ähre Korn oder einen Apfel verrichten ließen . Und so waren auch die drei Freundinnen bettelarm und lebten von dem wenigen, das die Herren ihnen bezahlten oder das sie im Müll auf der Straße fanden.
Eines Tages nun begab es sich aber, dass der Stadtrat eine Belohnung in Höhe von 1000 Talern für denjenigen aussetzte, der es schaffen würde, den Winter zu verbannen. Denn ohne den Winter, so sagten sie sich, würden sie zu viel mehr Reichtum gelangen und könnten so noch angenehmer leben.
„Wir sollten ausziehen“, sagte Cassandra, die Mutigste von den drei Freundinnen. „Was haben wir noch zu verlieren?“
Anja und Lorelei zögerten einen Moment, doch dann willigten sie ein.
„Du hast Recht, wir brauchen das Geld, sonst erfrieren wir in einem der nächsten Winter auf der Straße. Er wird ja von Jahr zu Jahr schlimmer.“
Also zogen sie los, den Winter zu vertreiben.

Doch wie sie so daher gingen, kamen ihnen Zweifel.
„Erinnert ihr euch noch, wie Hennar mit abgefrorenen Händen und Armen wiederkam?“ Anja schauerte bei dem Gedanken an den jungen und einst so gesunden Mann, dessen Arme und Hände bei seiner Rückkehr nur noch zwei schwarze Stümpfe gewesen waren. „Oder die Meyers, die erzählten, wie ihre Gefährten in einem eisigen Fluss eingebrochen sind?“ Cassandra und Lorelei nickten. „Der tiefe Schnee soll andere Wanderer einfach verschluckt haben. Und dann diese Berge aus Eis, aus denen niemand mehr lebend herauskommt... Wenn all die anderen jungen tapferen Männer ausweglos versucht haben, den Winter zu bannen, wie sollen ausgerechnet wir das dann schaffen?“
Schweigend gingen die Freundinnen eine zeitlang nebeneinander her. Dann sagte Lorelei:
„Wir dürfen einfach nicht so handeln wie sie. Wir brauchen einen neuen Plan.“
„Wir brauchen Verbündete“, sagte Cassandra, „die uns helfen, den Winter zu verbannen.“
„Aber wen?“
„Fragen wir doch den Frühling, ob er uns hilft“, sagte Lorelei . „Er muss schließlich wissen, wie das geht.“
„Aber wo finden wir ihn?“
„Lasst uns nach Osten gehen und da jemanden fragen.“

Also gingen die drei Freundinnen nach Osten, um den Frühling zu suchen. Und wie sie so des Weges zogen, trafen sie auf ein Pferd, das hatte ein lahmes Vorderbein und humpelte sehr.
„Pferd, was hast du? Warum bist du hier draußen und nicht in der Stadt in einem warmen Stall?“, fragte Anja, die sofort Mitleid mit dem Tier hatte.
„Ach“, sagte das Pferd, „mein Meister wollte mich zum Schlachter bringen, weil ich nicht mehr tauge, den Wagen zu ziehen. Da bin ich davon gelaufen. Jetzt will ich zum Frühling, ich habe gehört, er kann mir vielleicht helfen.“
„Oh, da wollen wir auch hin“, sagte Cassandra. „So komm’ doch mit.“
Also zogen sie zu viert weiter, den Frühling zu suchen.
Und als sie einige Tage gegangen waren, da sahen sie einen jungen Wolf, der am Wegesrand lag.
Cassandra bückte sich sofort, um nach dem Tier zu schauen. „Wolf, was hast du?“
„Ein Jäger hat meine Mutter erschossen und nun hungere ich.“
„Vielleicht kann der Frühling dir helfen?“, sagte Lorelei. „Komm mit, wir wollen zu ihm.“
Und also zogen sie zu fünft weiter, den Frühling zu suchen.
Und wie sie so weiterliefen, da trafen sie auf einen Raben, der auf der Erde herumhüpfte.
„Rabe, was hüpfst du auf dem Boden?“, fragte Lorelei. „Du gehörst doch in die Luft.“
„Ach“, sagte der Rabe, „mein Flügel ist gebrochen, ich kann nicht mehr fliegen. Nun bin ich auf dem Weg zum Frühling, er kann mir vielleicht helfen.“
„Dann komm doch mit uns, wir wollen auch dorthin“, sagte Anja.
Und also zogen sie zu sechst weiter, den Frühling zu suchen.

Und als sie so weiter nach Osten zogen, da wurde ihnen mit jedem Schritt das Herz leichter. Das Pferd humpelte weniger, dem Wolf knurrte nicht mehr so der Magen und der Flügel des Raben wurde fester, bis schließlich all ihre Gebrechen fort waren.
„Wir müssen bald da sein“, sagte Lorelei.
Und so kam es. An einem besonders herrlichem Sonnentag erreichten sie eine Wiese, die in dem sattesten Grün strahlte, das sie je gesehen hatten, durchzogen von den buntesten Blumen und den angenehmsten Gerüchen – und dort schwebte der Frühling von einer Blume zur anderen, sprach mit ihnen ein paar Worte, half ihnen beim Wachsen und flog dann zur nächsten.
Als er die Wanderer sah, flatterte er auf sie zu. „Na das ist ja mal eine Überraschung. Normalerweise bin ich immer ganz alleine hier mit meinen Gräsern und Blumen. Es freut mich, euch zu sehen.“
„Wir freuen uns auch, dich zu sehen, Frühling“, grüßten die drei Freundinnen und der Wolf bellte, das Pferd schnaubte und der Rabe krächzte.
„Wir sind hier, weil wir jemanden suchen, der uns hilft, den Winter zu vertreiben. Wir hoffen, dass du uns helfen kannst.“ Und dann erzählten sie ihm die ganze Geschichte.
Der Frühling hörte sich alles geduldig an, half währenddessen ein paar Blumen und Gräsern beim Wachsen und sagte dann:
„Ich verstehe eure Not und will euch helfen. Ich habe ein Feuer, das ewig brennt, und das auch der härteste Winter nicht löschen kann. Ich will euch einen Funken davon abgeben. Passt gut auf ihn auf. Solange noch Liebe in euren Herzen ist, wird er brennen. Wenn ihr ein größeres Feuer braucht, stellt euch dicht zusammen in einen Kreis und fasst euch an den Händen, dann wird er sich vergrößern. Wenn ihr euch aber durch Hass oder Neid zerstreitet, wird der Funken erlöschen.“ Und nachdem er ihnen einen Funken des ewigen Feuers auf einem Holzscheit gegeben hatte, fügte er noch hinzu: „Und wenn es euch möglich ist, bannt den Winter nicht zu stark. Sonst kann ich nur noch den Herbst vertreiben. Und das macht längst nicht so viel Spaß.“
„Das werden wir bedenken“, sagte Lorelei. „Danke für das Feuer, Frühling.“
„Wir kommen mit euch und werden euch helfen, so wie ihr uns geholfen habt“, sagte das Pferd, das Stirling hieß, der Wolf, der keinen anderen Namen außer Wolf hatte und Luca, der Rabe. Und damit gingen die sechs zurück und nach Norden, um den Winter zu suchen.

Und wie die Männer erzählt hatten, kamen sie bald an einen Fluss, dessen Wasser zugefroren war. Luca flog ohne Probleme herüber. „Kommt“, rief er, „alles okay.“ Auch Wolf lief ohne Probleme über den Fluss.
„Stirling wird es nicht schaffen“, sagte Anja. „Die Männer haben erzählt, sie seien eingebrochen und selbst wenn wir nicht einbrechen, weil wir leicht genug sind, Stirling wird zu schwer sein. Das Eis wird ihn nicht tragen.“
„Dann müssen wir das Feuer vergrößern“, sagte Lorelei.
Also stellten sie sich zu viert in einen Kreis, doch das Feuer wurde nicht wirklich groß.
„Es ist zu klein, es reicht nicht. Irgendetwas machen wir falsch.“
„Was ist, warum kommt ihr nicht? Wolf hat schon eine interessante Fährte in der Nase. Beeilt euch.“ Luca flatterte aufgeregt über den Fluss.
„Es reicht nicht, die Flamme wird nicht groß genug“, sagte Lorelei.
„Hol Wolf rüber, er soll helfen.“
Und so stellten sie sich zu sechst in einen Kreis, und tatsächlich, das Feuer wurde größer und größer und schließlich groß genug, dass sie damit an einer flachen Stelle das Eis schmelzen konnten, so dass sie alle heil das andere Ufer erreichten.

Und wie sie so weiter nach Norden wanderten, wurde die Schneedecke von Tag zu Tag dichter und höher, bis sie irgendwann nicht mehr weitergehen konnten.
„So geht das nicht, wir müssen uns etwas einfallen lassen“, sagte Cassandra.
„Stirling könnte vorgehen“, sagte Anja. „Er ist der Größte von uns.“
„Wir könnten wieder mit dem Feuer das Eis schmelzen“, schlug Lorelei vor.
„Dafür müssten wir uns immer wieder in einen Kreis stellen. Das wäre sehr aufwendig für diese weite Strecke“, wandte Cassandra ein.
„Und wenn wir uns an den Händen halten?“
„Dann schließen wir keinen Kreis“, Cassandra überzeugte Loreleis Vorschlag nicht.
„Wir können uns auf Stirling setzen. Dann haben wir alle Kontakt zueinander“, schlug Anja vor.
Stirling war von dieser Idee nicht so begeistert. Aber da er sah, dass ihnen nicht viel anderes übrig blieb, schüttelte er schließlich zustimmend seine zerfranste Mähne. Und so gelang es ihnen , dass Feuer groß genug zu halten, dass die Schneedecke um sie herum schmolz und sie weiterziehen konnten.

Einige Tage vergingen auf diese Weise, bis ihnen eine Wand aus Eis den Weg versperrte.
„Ich seh’ mal nach, was dahinter ist“, sagte Luca und flog auch schon in die Lüfte, um sich umzusehen.
„Ein Labyrinth aus Eis“, keuchte er halb erfroren als er zurück kam. „Das führt bestimmt zum Haus des Winters. Aber ich kann nicht weit genug fliegen, um es zu finden.“
„Luca, hast du einen Eingang in das Labyrinth gesehen?“
„Einen Kilometer in diese Richtung“, sagte er und zeigte entlang der zerklüfteten Eiswand.
„Ich schlage vor, wir suchen heute noch den Eingang und gehen dann morgen, sobald es hell wird, in das Labyrinth“, sagte Cassandra. Alle nickten. Also liefen sie noch den Kilometer, bis sie den Eingang gefunden hatten, und legten sich dann schlafen, während das Feuer des Frühlings ihnen den Schnee und die Kälte fernhielt.

Als am nächsten Morgen die Sonne aufging, betraten die sechs das Labyrinth und Luca flog in die Luft und versuchte, sie durch das Labyrinth zu leiten. Doch das war gar nicht so einfach, denn die Gänge zogen sich oft kilometerweit hin, ehe sie in einer Sackgasse endeten oder einfach im Kreis führten, und Luca konnte nicht allzu lange in der Luft bleiben, weil es dort zu kalt war. Das Feuer vom Frühling hatte jedoch noch einen anderen Vorteil: Dort, wo es einmal den Weg geschmolzen hatte, blieb noch für einige Zeit der Schnee fort. Und so konnten sie sehen, in welche Gänge sie schon gegangen waren und in welche noch nicht.
Einige Tage irrten sie so umher, als sie merkten, dass das Feuer des Frühlings es nicht mehr schaffte, das Gras und die Blumen unter ihren Füßen wachsen zu lassen.
„Ob das bedeutet, dass wir dem Winter jetzt immer näher kommen?“ ...


LiebeR LeserIn,

du möchtest wissen, wie das Märchen weitergeht?

Das Märchen ist Teil der Anthologie "Wintermärchen", Märchen für Kinder ab 8 Jahren:

Irina Piechulek (Hg): Wintermärchen

. Nürnberg: Sperling 2012, ISBN: 978-3942104104, broschiert, 12,80 ¤.

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Viel Spaß beim Lesen

wünscht dir

June

Impressum

Texte: June F. Duncan
Bildmaterialien: M.R.
Tag der Veröffentlichung: 28.02.2012

Alle Rechte vorbehalten

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