Er war so schön.
Meine Finger fuhren sanft über die Rundungen des kleinen Schwans, streichelten den Kopf, den anmutig gebogenen Hals und seinen metallenen Bauch. Sein blaues Auge strahlte mich an, während meine Hand auf seinem Schlüsselbein ruhte.
„Er ist wunderschön“, sagte ich zu Simon und legte den Schwan zurück in seine Halskuhle. „Wunderschön.“
Der Sturm draußen machte mich noch verrückt. Seit zwei Stunden lag ich nun schon wach, wälzte mich von einer Seite auf die andere und lauschte dem Knarren und Ächzen des alten Hauses. Als Mitternacht durch war, schien er sich endlich legen zu wollen, doch kaum war ich eingeschlafen, spürte ich, dass es hell im Zimmer geworden war. Ein Lichtstrahl schob sich unter meiner Schlafzimmertür durch, kaum heller als eine 25 Watt Birne. Ich war allein und meine Sinne waren heute Nacht zweifellos überreizt. Hätte ich bloß nicht das alte Fotoalbum durchgeblättert. Seufzend schloss ich wieder die Augen und wartete darauf, dass das Licht ausging. Der Wind rüttelte an den Rollläden und schlug die rostigen Lamellen scheppernd gegen das Fenster, doch das Licht verschwand nicht. Wahrscheinlich hatte der Sturm einen Strauch vor den Bewegungsmelder der Außenbeleuchtung geblasen. Müde drehte ich mich auf die Seite und schob die Beine aus dem Bett. So konnte ich nicht schlafen. Ich ging zur Tür und drückte den Griff hinunter. Ein qualvoller Ton löste sich, als sie aus dem Schloss sprang.
Irritiert sah Simon mich an. „Hey Manuel, lass uns Klavierspielen jetzt, wir wollten doch Klavierspielen.“
Doch ich konnte meine Augen nicht von ihm abwenden. Sein Hals war genauso schlank und anmutig wie der des Schwans, der in seiner Halskuhle lag. Sein Gesicht war jungenhaft schön, die ersten Barthaare wuchsen über seiner Oberlippe, seine Lippen waren rosig und weich, seine dunklen Haare kräuselten sich hinter den Ohren.
Ich gab mir einen Ruck. „Okay“, sagte ich. „Chopin?“
Ich blickte über den Flur, doch die Tür zum Gästezimmer, an dessen Fenster die Außenbeleuchtung angebracht war, war zu. Das Licht kam aus dem Wohnzimmer. Ergeben beugte ich mich meinem Schicksal und schlappte mit nackten Füßen über das Laminat im Flur, um das Licht auszuschalten. Staubflusen verfingen sich zwischen meinen Zehen. Die Tür zum Wohnzimmer war angelehnt. Ich hob meine Hand, um sie aufzudrücken, da hörte ich einen Klavierakkord. War meine Haushälterin noch hier? Oder Jochen?
Er spielte die oberen Hände, ich die unteren. Wir hatten das oft so gemacht.
„Ey“, hatte mein Bruder mir einst zugerufen, als ich an Beethovens Für Elise saß. „Lass mich mitspielen.“ Und dann hatte er sich einen Hocker aus der Stube neben das Klavier gezogen und einfach in die Tasten gegriffen.
Irritiert schob ich die Tür zum Wohnzimmer ein stückweit auf. Das Erste, was mir auffiel, war dieses Licht. Ein unwahrscheinlich weiches Licht, das sich anfühlte wie eine Decke aus Weidenkätzchen. Es umhüllte die Blumen in ihren Töpfen, strich sanft über das Holzregal an der Wand, berührte vorsichtig den metallenen Lampenschirm neben dem Sofa und legte sich auf den schwarz glänzenden Flügel, der in der Mitte des Raumes wie ein Gott leuchtete.
„Sind sie nicht ein schönes Paar“, sagten die Leute scherzend, wenn sie uns fortan an jedem ersten Adventssonntag in der St. Afra-Kirche spielen sahen. „So ein schönes Paar.“
Doch an dem Flügel saß jemand. Entschlossen, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen, stieß ich die Tür ganz auf. Mit einem lautem Knall schlug sie gegen die Wand, die Lampe an der Decke flackerte, die Blumen zitterten. Der Mann, der mir den Rücken zudrehte, rührte sich nicht. Stattdessen begann er zu spielen. Er spielte eine Melodie, die mir bekannt vorkam, doch ich konnte mich nicht erinnern, wo ich sie schon einmal gehört hatte.
„Simon“, sagte ich und nahm die Hände von den Tasten. „Hast du schon mal ein Mädchen geküsst?“
„Was ist los mit dir? Du bist komisch heute. Spiel weiter.“
„Lass es mich dir zeigen. Damit du weißt, wie es geht.“ Ich drehte mich zu ihm um und ergriff seine schlanken Hände. „Als erstes musst du sie zu dir heranziehen, ungefähr so, und dann...“ Ich legte eine Hand in seinen Nacken und näherte mich mit meinen Mund seinen Lippen. Ich hatte kaum seine warme Haut gespürt, da wurde eine Tür aufgerissen.
„Hey Sie, wer sind Sie!?“, überschlug sich meine Stimme, als ich tapfer einen Schritt über die Türschwelle trat. Doch der Mann an meinem Flügel rührte sich nicht. Er spielte weiter, flog mit seinen feinen Händen über die Tasten, führte sie geschickt durch die Tremuli und Triller, behutsam über die Adagi und sicher durch die Crescendi. Erst als es auf das Finale zuging, fiel mir wieder ein, wo ich die Melodie das letzte Mal gehört hatte: im März 1960, an einem Steinwaypiano, vor dem zwei Jugendliche Zungenküsse ausprobierten.
Mutter schrie, dass es die Nachbarn auf der Straße mitbekamen.
Vater eilte hinzu und verdrosch uns die Hintern mit einer Holzlatte. „Ihr seid enterbt“, schrie er. „Enterbt! Seht zu, dass ihr fortkommt.“
Ich lief fort.
Simon blieb.
Plötzlich hörte das Klavierspiel auf. Der Mann mit den knochigen Schultern und dem fast vollständig ergrautem Haar drehte sich zu mir um. Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Das konnte nicht wahr sein, er konnte nicht hier sein, wie war er herein gekommen, wie –
In meiner Angst stopfte ich die Noten von Chopin, das kleine Fotoalbum und ein paar Klamotten in den Rucksack, meine Geldbörse, mein Sparbuch. Dann rannte ich durch die dunklen Straßen, rannte, rannte, bis mir vom Rennen der Brustkorb schmerzte.
Simon drehte den Kopf von mir weg. Ganz langsam schob er seinen rechten Daumen über eine Taste. Als sie unter seinem Druck nachgab, vibrierte ein leiser Ton zwischen den Klavierseiten. Fis zwei. Noch ehe der Ton verstummt war, legte er den Zeigefinger auf die Taste, wo eben noch sein Daumen gelegen hatte, und schob jenen eine Terz tiefer. Was machte er hier? Ich konnte den Blick nicht von seinen Händen wenden, obwohl ich fühlte, dass er mich wieder ansah. Simon löste den Zeigefinger von der D zwei Taste und ließ seinen Ringfinger darauf wandern. Hatte er geheiratet? Dann schob er mit der gleichen Bedächtigkeit den Daumen auf A eins. Wieder ein Vibrieren zwischen den Klavierseiten, noch tiefer als die Male zuvor. War er vielleicht schon wieder geschieden? Wie viele Beziehungen hatte er gehabt? Er legte den Zeigefinger auf die G eins Taste. Ich hörte den nächsten Ton, noch ehe sein Daumen die Saite zum Schwingen gebracht hatte: D eins. Eine vollendete Oktave.
Einem Jungen wie mir gab man in der Stadt keine Lehrstelle. Ich musste fortziehen. Doch jeden ersten Adventssonntag schlich ich mich wieder zurück in die St. Afra-Kirche und sah ihn spielen. Ich sah, wie er zum Mann heranwuchs, wie sein einst jungenhaftes Gesicht Kanten und Ecken bekam, wie sein Bart voller wurde. Ich sah seinen Brustkorb wachsen und wie sich sein Umgang mit Frauen änderte.
Das Licht im Raum zog sich von den Wänden zurück und sammelte sich in seinen Augen. Wie in Trance ging ich einen Schritt auf ihn zu – einen, noch einen, noch einen. Ich streckte meine zitternde Hand nach ihm aus. Sein Daumen fuhr über die Kante der Tastatur nach oben, geräuschlos. Plötzlich riss er beide Hände hoch und schleuderte sie über die Tasten. Der Boden unter mir drehte sich. Ich griff nach dem Klavier, um mich abzustützen, doch ich fand keinen Halt und schlug auf dem Boden auf. Ein scharfer Schmerz bohrte sich in meinen Körper. Nach Luft ringend schrie ich auf. Ich sah Tasten, die sich unaufhörlich bewegten, die seine Musik spielten. Ich sah Blumen, die ihm entgegen wuchsen, das Regal an der Wand, das sich ihm entgegenkrümmte, die metallene Stehlampe, die unter seinen Klängen schmolz und auf ihn zu floss. Klaviermusik vermischte sich mit meinem Schweiß zu schillernden Tropfen, die unbemerkt auf den dunklen Fußboden fielen.
Kurz vor Abschluss meiner Ausbildung sprach ich ihn an.
„Hey, Simon, war 'nen gutes Spiel da drinnen“, sagte ich zu dem jungen Mann, der mit einer Frau im Arm aus der Kirche schlenderte.
„Wer bist du, was willst du?“ Er klappte den Kragen seines Mantels hoch, dann war er fort.
Als das Drehen um mich herum aufgehört hatte, war ich allein. Der Raum war dunkel. Mir war kalt und ich hatte Durst. Mit zittrigen Beinen schleppte ich mich in die Küche und schenkte mir ein Glas Wasser ein. Aus den Augenwinkeln sah ich einen Schatten draußen zwischen den Bäumen stehen, doch als ich mich zu ihm umdrehte, war er verschwunden.
1965 heuerte Simon auf der Amazing Grace an und setzte über nach England. Man sagte, er wolle die Welt sehen, ehe er alt wurde.
„Manuel?“ Ein leises Klopfen riss mich am nächsten Morgen aus den Kissen. „Bist du wach?“ Es war Jochen. Mit müden Beinen schlurfte ich ins Bad. Ich hatte schlecht geschlafen, ich hatte so gut wie gar nicht geschlafen. Aus der Küche schwappte das Geräusch von klappernden Tellern zu mir. Jochen machte unser Frühstück. Erst als sich Kaffeeduft durch die Räume schlängelte, fühlte ich wieder Lebenskräfte in mich zurückkehren.
Einmal, 1972, fuhr ich nach London, um ihn zu suchen. Ich durchzog alle Bars, die einen Klavierspieler beschäftigten - Es war eine so große Stadt, ein so großes Land.
„Was Interessantes drin?“ Ich deutete auf die Zeitung, die Jochen neben den Brötchenkorb gelegt hatte.
Jochen nickte und sah mich mit einem seltsam eindringlichen Blick an. „Ich glaube, dein Bruder...“
„Ja?“
Er kniff die Lippen zusammen, dann gab er sich einen Ruck. „Er ist tot. Vorgestern Nacht hat man seine Leiche gefunden, in einem See.“
Vierzig Jahre war es her, dass Simon Deutschland verlassen hatte. Vierzig Jahre. Dann war da plötzlich dieser Artikel in der Zeitung gewesen, letzte Woche. Die Reederei der Amazing Grace lud alle Besatzungsmitglieder, die 1965 auf ihr angeheuert hatten, zu einem Wiedersehenstreffen ein.
„Das ist nicht möglich.“ Ungläubig überflog ich den Artikel. „Das ist nicht möglich... er...“
„Ihr hattet schon lange keinen Kontakt mehr, oder?“
„Ja. Seit meinem 16. Lebensjahr, aber...“
„Und jetzt glaubst du, du hast etwas falsch gemacht...?“ Jochen legte seine Hand auf meine.
„Nein, ich, er...“
„Manuel, mach’ dir keine Vorwürfe. So etwas kommt in den besten Familien vor.“ Dann wechselte er das Thema. „Da ist noch etwas mit der Post gekommen heute Morgen.“ Er reichte mir einen Briefumschlag. „Ohne Absender. Für dich.“
Das alte Album lag ganz oben im Schrank, eingepackt in zwei Kartons und eine Decke. Ein Bild von meiner Taufe, meiner Einschulung, meiner Kommunion.
Ein Bild von Simon und mir an dem Bechsteinflügel der Gemeinde – Mozart, Klaviersonate in D-Dur, Köchelverzeichnis 381, vierhändig.
Ich öffnete das Kuvert und zog ein gefaltetes Tuch aus dem Umschlag. Ein kleines Metallteil, leicht angeschwärzt, lag darin. Es war ein Schwan mit anmutig gebogenem Hals und einem blauen Stein als Auge, ein Kettenanhänger.
Er war wunderschön.
Texte: June F. Duncan
Bildmaterialien: Coverfoto: Kerstin Nimmerrichter / PIXELIO (www.pixelio.de)
Tag der Veröffentlichung: 15.03.2010
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