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Es waren einmal ein Esel, ein Hund, eine Katze und ein Hahn, die machten sich auf, um Stadtmusikant in Bremen zu werden. In einem Wald vor Bremen trafen sie Räuber, die hatten ordentlich etwas zu futtern dabei. Kurz entschlossen überlisteten sie die Räuber und aßen deren Speisen restlos leer. Und wenn sie nicht gestorben sind –
Ich stand vor der bronzenen Statue der Bremer Stadtmusikanten

an der Westseite des Rathauses. Esel, Hund, Katze und Hahn hatten sich aufeinander gestellt und lärmten – der Moment, in dem sie die Räuber erfolgreich in die Flucht schlugen.
Mein Magen stellte den Ton dazu. Er klang, als würde sich eine Gerölllawine vom Mount Everest lösen.
Der Esel stand ganz unten. Ihn an den Beinen zu berühren, sollte Glück bringen. Und außerdem hatte man einen Wunsch frei. Nach dem Reinfall mit Nikolai konnte ich beides sehr gut gebrauchen.
Ich streckte meine Hand nach der Fessel des Esels aus.
Ich wünsche mir ... Liebe.
Ich hasse Liebe. Bis vor zwei Monaten hatte ich dreimal wöchentlich Liebe. Dann war ich eine Woche auf Studienfahrt gewesen und danach hatte ich einen halbverhungerten Hamster, einen Freund, der mit einer anderen herumspielte, und fünf Kilo mehr auf den Hüften, weil ich fortan meine Sorgen mit den Marzipantorten aus der Tiefkühltruhe teilte. Nix Liebe. Ich wünsche mir lieber etwas, das Bestand hat, das nur für mich gilt...
Gesundheit.
Gesundheit ist in der Tat etwas länger währendes.
Allerdings bin ich erst 22 Jahre alt. Mit 22 sollte man sich noch nicht um seine Gesundheit sorgen. Den Wunsch hebe ich mir für später auf, wenn ich so um die 60 bin. Die fünf Kilo bekomme ich schon alleine wieder runter. Stattdessen wünsche ich mir lieber...
Geld. Von Geld hat man als Student eigentlich nie genug.
Allerdings ist „Geld“ sehr unpräzise, das könnte heißen, dass ich gleich einen Cent auf der Straße finde. Das wäre etwas wenig.
Dann wünsche ich mir ... 10 000 Euro.
Das ist natürlich sehr materialistisch. Gibt sicher kein gutes Karma für einen Neubeginn...
Vielleicht sollte ich es einmal mit Glück probieren. Ich wünsche mir also –
„Grüßen sich zwei Esel...“
Wie bitte? Ein schlaksiger junger Mann mit einem roten Baseballkäppie auf dem Kopf, das er zur Seite gedreht hatte, trat an die Statue heran.
„Du fasst den Esel nicht richtig an. Du musst die Beine mit beiden Händen anfassen, sonst bringt das kein Glück.“
Den Eindruck hatte ich allerdings auch gerade. Nicht nur, dass mich der Typ aus dem Konzept gebracht hatte. Wie ich feststellen musste, liefen inzwischen zwei weitere Paare und ein Mann vor der Statue auf und ab. Ein Japaner winkte und hielt seine Kamera hoch. Er wollte ein Bild von seiner Freundin machen.
„Na los, berühr’ die Beine noch einmal, sonst klappt das nicht mit dem Glück.“ Der Typ mit dem Käppie zwinkerte mir zu.
Ich umklammerte mit beiden Händen fest die dünnen Beine. Ich wünsche mir...
In meinem Magen löste sich eine weitere Gerölllawine, die man bis auf die andere Seite der Weser hören konnte.
„Ich wünsche mir eine heiße, knackige Currywurst.“
War das ich? War das aus meinem Mund gekommen?
Käppieboy lachte und drehte sein Käppie in die Stirn. „Die kannst du haben, ich lade dich ein. Allerdings hättest du die Beine eigentlich leicht reiben müssen, nicht so fest zupacken.“
Ich hatte es noch nicht richtig gemacht, das hieß, ich hatte noch eine dritte Chance, oder? Selbst wenn inzwischen drei weitere Touristen vor der Statue lungerten. Schutz den Unentschlossenen... Ich rieb die Beine des Esels.
Ich wünsche mir... Direkt vor mir auf dem Platz hat der Ratskeller seine Tische aufgebaut. Die haben bestimmt auch eine Currywurst.
Ich wünsche mir aber natürlich keine Currywurst, ich wünsche mir...
Zu meiner rechten steht eine Kirche. Sie hat bunte Fensterscheiben. Die Farben kann man in dem Licht gar nicht richtig erkennen. Ein paar sind wohl lila, dann sind da noch grüne Flecken und ganz dunkle, braune oder schwarze, und gelbe, currygelbe, so wie das Pulver, das über eine knackig heiße Currywurst gestreut wird, mit Pommes und einem großen Klacks Mayo...
„Möchtest du jetzt die Wurst, oder doch lieber die Beine des Esels reiben? Du scheinst richtige Entscheidungsschwierigkeiten zu haben“, brabbelte Käppieboy in meine Gedanken hinein. „Soll ich dir helfen? Die meisten Leute wünschen sich so etwas wie Glück, Gesundheit, Liebe, Geld, einen angenehmen und gutbezahlten Job, übrigens 73 % ...“
„Kannst du nicht einfach die Klappe halten.“ Upps, das war jetzt vielleicht doch ein bisschen hart. Egal. Konnte ich ahnen, dass die vier Tierchens solche Massen anzogen? Ich schob mir meine Tasche über die Schulter, ließ die Wartenden Wartende sein und eilte die Obernstraße hinunter. Ich würde später noch einmal dorthin gehen. Und wünschen würde ich mir dann... wünschen würde ich mir... Eine beste Freundin. Genau. Mit einer besten Freundin würde ich im Zweifelsfall durch alle Höhen und Tiefen des Lebens gehen, Geld konnte ich mir von ihr borgen und gesund war ja eh nur der, der sich gesund fühlt. Und nur für den Fall, dass das mit den 5 kg doch nicht so schnell klappen sollte, kaufe ich mir jetzt etwas Neues zum Anziehen. Ich bog nach links in ein kleines Modegeschäft ein. Und da sah ich ihn –
Mir wurde schwindelig vor Glück. Meine Augen leuchteten, meine Wangen glühten, mein Herz hüpfte wie ein Flummi in meinem Brustkorb herum. Das war er, er, auf den ich seit mindestens zwei Monaten gewartet hatte, wenn nicht schon mein ganzes Leben lang: ein wunderbar leuchtender, weicher, kuscheliger rosa Pullover. Ich streckte meine Hände nach ihm aus, lief einen Schritt auf ihn zu und prallte mit jemandem zusammen.
„’Tschuldigung.“ Eine Frau, deren Einkaufstüten gefährlich schwankten, krallte sich in meine Schulter. „Auch ein Opfer der Konsumgesellschaft?“ Sie lachte, ließ mich wieder los und strich über ein türkisfarbenes Exemplar. „Mein Freund meinte, wenn ich mir diesen Pullover kaufe, sehe ich aus wie ein Papagei auf Pumps.“ Sie hielt sich den Pulli vor die Brust und beäugte ihn. Dann sah sie plötzlich mich an. „Stimmt das?“
„Äh – “ Ihre Füße steckten in schwarzen Pumps mit silbernen Schnallen, ihre Beine bedeckte eine dünne grüne Strumpfhose, darüber trug sie einen roten Stretchrock. Ihre schwarz gefärbten Haare durchzogen rote und blonde Strähnen, eine dunkelblaue Kette aus dicken Holzperlen baumelte an ihrem Hals. „Ja.“
Ich sah sie an, sie sah mich an. Dann grinste sie. „Weißt du was, ich mag Papageien.“
„Ich auch.“ Wir lachten.
„Und mein Ex meinte...“ Ich hielt mir den rosa Pulli vor die Brust. „Rosa sei nur eine Farbe für Babys.“
„Öh – nö.“ Sie schüttelte den Kopf. „Steht dir gut. Dein Ex war ein Blödmann. Ich hoffe, du hast ihm ‛nen Tritt gegeben...?“
„Nicht ganz. Ich habe ihn mit einer anderen im Bett erwischt, als ich von einer Studienfahrt heim kam.“
„Das tut weh.“ Sie biss sich auf die Unterlippe.
„Ja. Aber viel schlimmer war, was er Teddy angetan hat.“
„Teddy?“
„Mein Goldhamster. Er hat schwarze Knopfaugen und ein ganz plüschiges Fell.“ Ich strich über den weichen Pullover und lächelte. Dann spannten sich meine Gesichtsmuskeln an. „Als ich von der Fahrt heim kam, waren seine Augen glanzlos, sein Bauch eingefallen. Ich hab’ gedacht, er hat Würmer oder so etwas und bin mit ihm sofort zum Tierarzt.“ Ich krallte mein Hände in den Pulli, meine Augen verengten sich zu Schlitzen.
Die Frau vollendete meinen Satz. „Aber in Wirklichkeit hat er nur gehungert.“
Ich war verblüfft. „Ja. Nikolai, mein Ex, hatte vergessen ihn zu füttern.“
„Doppelter Mistkerl! Gut, dass du ihn los bist.“ Sie dachte einen Moment nach, dann sagte sie: „Du solltest Jannes mal kennen lernen, der ist nicht so, der würde so etwas nie tun.“ Sie schüttelte den Kopf. „Er redet nur manchmal ein bisschen viel.“ Sie lachte, dann reichte sie mir die Hand. „Ich bin übrigens Niki.“
„Lisa.“
„Willst du nicht gleich mitkommen, wir essen heute Abend zusammen Labskaus.“
„Wir?“
„Unsere WG. Wir sagen einfach, du wärest hier, um dir das Zimmer anzusehen, das frei wird.“
„Äh –“ Eigentlich wollte ich so schnell keinen neuen Typen. Ganz sicher eigentlich sogar nicht. Marzipantorten und Pullis waren weitaus unkomplizierter. Ein Zimmer allerdings...
„Habt ihr wirklich ein Zimmer frei? Ab wann? Ich habe nämlich nur eins zum Übergang gemietet.“
Sie nickte. „Ja, haben wir. Zum 1.1.“
„Das klingt gut, das interessiert mich. Und was ist Labskaus?“
„Du kennst es nicht?“
„Nein, ich bin neu nach Bremen gezogen. Ich wollte weit weg.“ Ich grinste schief. Genaugenommen hatte ich bei meiner Aufräumaktion, in der ich alles wegwarf, das mich an Nikolai erinnerte, die Stadtmusikanten aus Plüsch wiedergefunden. Meine Oma hatte sie mir als kleines Mädchen von einer Reise nach Bremen mitgebracht.
„Das sind die Bremer Stadtmusikanten“, hatte sie gesagt und über ihren hellblauen Plüschkörper gestrichen. „Kennst du sie?“ Ich schüttelte den Kopf. Daraufhin erzählte sie mir das Märchen. Wie ein Esel, ein Hund, eine Katze und ein Hahn, allesamt alt und krank, zur Arbeit nicht mehr nutze und von ihren Herren zum Tode verurteilt, vor ihrem Schicksal flohen und sich auf in ein neues Leben machten – nach Bremen.
Irgendwie schien mir der Gedanke tröstlich, dorthin zu ziehen, wo schon andere verstoßene Seelen eine Heimat gefunden hatten. Und es gefiel mir, wie ein so kleines Land über die Jahre seine Selbstständigkeit zu bewahren suchte. Mit dem Essen hatte ich mich bei meinen Recherchen allerdings nicht auseinandergesetzt. In dem Märchen hieß es: „...und aßen, als wenn sie vier Wochen hungern sollten.“ Das hatte mir als Indiz, dass es hier etwas Ordentliches zu futtern gab, gereicht.
„Labskaus ist ein traditionelles Bremer Gericht.“ Sie grinste. „Lass dich überraschen.“

Zwei Stunden später schlenderten Niki und ich über den WG-Flur zur Küche. Dem Stimmengewirr nach zu urteilen, hatten sich schon alle Mitbewohner dort eingefunden. Kein Wunder, denn wir waren ein bisschen spät dran. Wir hatten zuvor in der Stadt schnell noch dieses und jenes erledigt.
„Dort wohnt Mirko, hier Britta.“ Niki zeigte auf zwei Türen, die vom Flur abgingen. „Im hinteren Teil ist Ninas Zimmer und meins.“
Sie öffnete die Tür zur Küche. „Hallo zusammen, das hier ist Lisa, sie wollte sich das Zimmer angucken. Ich habe sie zum Essen eingeladen, sie ist nämlich zugewandert und kennt Labskaus nicht.“ Ein allgemeines Nicken und Lachen schwappte durch den Raum, und Niki stellte mir die anderen vor.
„Und der Mann, der gerade den Kompost auf den Balkon gebracht hat, ist Jannes – unser Chefkoch.“ Sie zwinkerte mir zu.
Durch die Tür kletterte ein junger Mann, eine Küchenschürze lässig um die Hüfte gebunden, eine Kochmütze auf dem Kopf. Als er sich zu uns umdrehte, erkannte ich ihn: Käppieboy.



* * *



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Die komplette Geschichte findest du in der Anthologie "Kurioses aus meinem Bundesland":

"Kurioses aus meinem Bundesland", Verlag Tredition, ISBN 978-3-86850-450-7, Preis 9,90.-



Viele Grüße
und bis zur nächsten Geschichte,

June F. Duncan

Impressum

Texte: June F. Duncan
Bildmaterialien: June F. Duncan
Tag der Veröffentlichung: 31.08.2009

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