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Heute möchte ich einmal das Wort ergreifen für eine zu unrecht geringgeschätzte Ethnie unserer Gesellschaft: Der Nachbar.
Sie meinen, Nachbar sei ein Kürzel für „Nach der Bar“, quasi der Kater am Morgen danach, der Sie beispielsweise letzte Woche angesprungen hat, als Sie nach dem Joggen Frau Weissalles vor der Haustür trafen. Sie hatten sich gerade Ihre Schuhe auf dem Rost kräftig abgetreten, als Frau Weissalles mit einem Kennerblick Ihre Profilsohle inspizierte.
„So können Sie aber nicht ins Treppenhaus! Sie müssen sich die Schuhe ausziehen“, lautete ihr fachkundiges Urteil. „Und dann haben Sie auch noch einen Büschel Gras in der Hand...!“
Mal ehrlich: Was wäre passiert, wenn Ihre Nachbarin Ihnen nicht mitgeteilt hätte, was Sie können und was nicht? Sie hätten hilflos vor der ersten Treppenstufe gestanden. Sie hätten verzweifelt versucht, ihre Füße zu heben und wären kläglich gescheitert, weil der Dreck unter Ihren Joggingschuhen Ihre Füße wie Blei nach unten gezogen hätte – und Sie hätten noch nicht einmal gewusst, woran es liegt. Oder stellen Sie sich vor, was passiert wäre, wenn Sie vergessen hätten, dass Sie einen Büschel Gras in der Hand halten: Ihre Tierchen, diese kleinen unschuldigen Fellknäuel, wären elendig verhungert. Hätten Sie das gewollt? Sehen Sie.
Oder gestern: Sie kommen von der Arbeit nach Hause und begegnen Frau Weissalles im Hausflur.
„Ich habe heute morgen Ihren Freund nackt im Schlafzimmer gesehen“, teilt Sie Ihnen ohne Umschweife mit. Frau Weissalles und Ihr Freund? Sie überlegen gerade, ob Sie sich so fatal in ihm getäuscht haben könnten, als sich aufklärt: Sie hat ihn durch das Fenster gesehen. Bevor sich zwischen den beiden allerdings eine Fernbeziehungen anbandeln kann, beschließen Sie, das Rollo in Zukunft morgens unten zu lassen. Als Folge davon rumpelt Ihnen Samstagmorgen der ICE, dessen Gleise doch eigentlich einen Kilometer entfernt von Ihrer Wohnung liegen, durch Ihre Schlafzimmerwand. Es jault, es donnert, es kracht, Sie schrecken schweißgebadet hoch, da realisieren Sie, dass es an der Tür klopft. Schnell werfen Sie sich den Bademantel über, stolpern zur Tür, öffnen und – sehen in das besorgte Gesicht von Frau Weissalles:
„Sind Sie krank? Es ist nach 8 Uhr und Ihre Rollos sind noch unten...“
Krank, ja krank müsste ich eigentlich sein, denken Sie sich, und Ihnen fällt prompt der letzte Abend ein. Aber halt, zuvor möchte ich Sie wieder einmal fragen: Wo wären Sie am Samstagmorgen ohne Ihre Nachbarin gewesen?
Im Bett. Sie hätten einen verregneten Morgen verschlafen, Sie hätten kostbare Stunden einfach so verpennt, und das bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von nur 76,6 - 82,1 Jahren.
Und wissen Sie, wie gefährlich bei steigender Arbeitslosigkeit in Deutschland nackte Männer sind? Insbesondere nackte Männer in Schlafzimmern? Das Risiko, dass bald hohe Kosten für Nachwuchs anfallen, verdoppelt sich bei Nacktheit eines Partners um das Vielfache.
Sie hätten ferner vor Schreck in Ohnmacht fallen können, hätte Ihnen niemand gesagt, dass Ihr Freund nackt in Ihrem Schlafzimmer umherwandelt. Und Ihr Freund erst: Wie schnell hat der sich ohne Kleidung am Leib eine hochfiebrige Grippe eingefangen. Aber gut, Sie wollten noch vom gestrigen Abend erzählen.
Es ist spät, es ist Mitternacht durch und Sie sitzen am Schreibtisch und arbeiten. Ihre Füße stecken in zwei Paar Socken, oben tragen Sie zwei Pullis übereinander und um die Beine haben Sie sich eine Decke gewickelt. Gerade eben stellen Sie einen Teller Suppe auf Ihrem Tisch ab – oder die Hälfte, die davon noch übrig geblieben ist – die andere haben Ihre vor Kälte zitternden Hände nämlich schon zwischen Küche und Arbeitszimmer auf dem Fußboden verteilt. Heißer Dampf kondensiert auf Ihren Brillengläsern, als Sie sich über die Suppe beugen. Den Löffel sehen Sie in dem Nebel gar nicht erst, aber das ist ja auch nicht wirklich nötig, da Sie schon oft Suppe gegessen haben und in etwa wissen, wo Sie Ihren Mund hinhalten müssen. Die Nachbarin unter Ihnen übrigens, die Schichtdienst hat, steht morgens um 5 Uhr auf dem gefroren Badezimmerboden. Und warum das alles? Weil Frau Weissalles die Heizung der Wohnanlage von 21 bis 7 Uhr abstellt. Weil der normale Mensch um 22 Uhr ins Bett geht und um 7 Uhr aufsteht. Das hat Sie Ihnen jedenfalls gesagt. Aber das ist noch nicht alles: Heute geben Sie monatlich 50 Euro aus, dafür fehlen Ihnen in der Rente 550 Euro – wissen Sie dann noch, wofür das Geld war? Richtig, für die Heizkosten. Und Frau Weissalles weiß, wovon sie spricht: Erlaubt ihre mickrige Rente ihr doch kaum, einmal das Haus zu verlassen. Mal ganz abgesehen davon weiß doch auch jeder: Nur die Harten komm’ in' Garten. Und: Trockene Heizungsluft trocknet die Schleimhäute aus. Ohne Schleimhäute fangen Sie bald an zu quietschen wie ihr Auto und werden bitterböse krank. Ihre Nachbarin denkt da nur an Sie und Ihre Gesundheit. Ein bisschen Bewegung gegen die Kälte zwischendurch hält im Übrigen fit und macht schön, und Ihrer Liebe geht es, wenn Sie in Zukunft säckeweise Teelichte und Kerzen anschleppen, mit ein bisschen Romantik auch gleich viel besser.
Ich denke, Ihnen sollte inzwischen klar geworden sein, wie viel Sie Ihrem Nachbarn schulden. Gehen Sie hin und bedanken Sie sich. Kümmern Sie sich selbst einmal um Ihren Nachbarn. Wie wär’s in etwa so:
„Hallo, ich habe letzte Nacht Ihre Autoreifen zerstochen. Wie jeder weiß, tut das der Umwelt gut und ihrer Figur ebenfalls – Ich will ja nur, dass Sie sich endlich auch einmal nackt im Schlafzimmer zeigen können.“

Impressum

Texte: June F. Duncan
Bildmaterialien: Cover: Thomas-Max-Müller/ PIXELIO (www.pixelio.de)
Tag der Veröffentlichung: 01.03.2009

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