Am Samstag ging ein Jemand durch eine Stadt und sah einen Mann am Rande der Straße sitzen. Aber nicht auf einer Bank oder dem Boden, wie man hätte vermuten können. Nein, es war ein Klavierhocker, der dem Mann als Sitzgelegenheit diente und es weckte sein Interesse. Beides, sowohl der Klavierhocker, als auch der Mann. Was machten zwei solch außergewöhnliche Dinge hier draußen? Denn außergewöhnlich waren sie allemal. Keines der Dinge wäre ohne das andere für den Jemand interessant gewesen. Und von seiner Neugier erfasst, trat der Jemand näher und stellte sich vor den Mann auf dem Klavierhocker.
„Guten Abend“, grüßte er den Sitzenden höflich, denn er wollte auf jeden Fall vermeiden, ihn wie einen Gegenstand nur zu betrachten, so wie es ihm nur zu oft geschah. Und aus irgendeinem Grund hatte der Jemand bereits vermutet, dass der Mann nicht antworten, ihn nicht mal anschauen würde. Aber das störte den Jemand nicht, schließlich war es etwas, was den Mann noch außergewöhnlicher machte.
„Darf ich fragen, wieso Sie an einem Tag wie diesen hier auf einem Klavierhocker sitzen?“, fragte er vorsichtig, denn es kam ihm so vor, als könne er mit einem zu lauten oder schnell gesprochenen Wort diesen Mann und seinen Klavierhocker in Scherben zerbrechen, wie eine teure Vase.
„Fragen dürfen Sie, was Sie wollen. Ich kann Sie schlecht daran hindern, aber ob ich antworten werde, weiß ich noch nicht.“, meinte der Mann nach einiger Zeit, und der Jemand hatte mit dieser Antwort gerechnete, denn ein einfaches „Ja“ oder „Nein“ wäre nicht interessant genug für den Klavierhockermann gewesen.
„Und werden Sie mir antworten?“, fragte der Jemand.
„Ich sagte doch, ich weiß es noch nicht.“, immer noch schaute er den Jemand nicht an, sondern durch ihn hindurch.
„Verzeihung, ich dachte nur, Sie wüssten es vielleicht jetzt.“
„Wäre das der Fall gewesen, hätte ich es Ihnen mitgeteilt.“, der Klavierhockermann sprach langsam, als überlege er jede einzelne Silbe. Außergewöhnlich. Die Neugierde des Jemands zwang ihn zu einem neuen Versuch, ehe er aufgeben und mit einer unbeantworteten Frage weiter durch die Stadt gehen würde.
„Sie werden verstehen, dass Sie mich faszinieren.“, der Jemand griff nun auf die all bewährte Taktik der Wahrheit zurück.
„Spätestens jetzt habe ich es verstanden.“, sagte der Mann und immer noch blickte er auf nichts bestimmtes, nur durch den Jemand hindurch in eine weite Leere.
„Ich habe übrigens darüber nachgedacht und ich habe beschlossen, ich werde antworten.“, sagte der Klavierhockermann schließlich.
„Worauf?“
„Na, auf Ihre Frage, die Sie stellen wollten.“
„Ach so, natürlich.“, der Jemand war überrascht, denn er dachte, der Mann würde damit fortfahren auf einem Klavierhocker zu sitzen und ihn stumm zu ignorieren.
“Nun, Ihre Frage?“
„Wieso sitzen Sie hier auf einem Klavierhocker?“, wiederholte der Jemand.
„Ich warte.“
„Worauf?“
„Darauf, dass ich mein Klavier wieder finde.“
„Haben Sie es denn verloren?“
„Allerdings, andernfalls würde ich es nicht wieder finden wollen.“
Der Jemand war erstaunt und gleichzeitig erfreut, dass es so eine außergewöhnliche Antwort war. Eine, die es wert war, noch länger darüber nach zu denken, und das konnte man, weiß Gott, nicht von allen Antworten behaupten.
„Wieso warten Sie denn hier?“
„Wieso sollte ich denn nicht hier warten? Das Klavier muss hier irgendwo sein.“
Der Jemand blickte sich um und hatte fast das Gefühl, er würde tatsächlich gleich ein schlichtes weißes Klavier hinter sich entdecken. Denn er stellte sich vor, dass nur ein schlichtes, weißes Klavier zum Mann passen würde oder ein altes aus hellen Holz. Eine andere Farbe konnte sich der Jemand gar nicht vorstellen. Es wäre ein Fehler im Bild. Nicht, dass ein Mann und ein Klavierhocker am Straßenrand kein Fehler im Bild wären.
Aber hinter dem Jemand stand weder ein weißes noch ein hellbraunes Klavier und so drehte er sich wieder um zum Mann und versah ihn mit einem verwirrten Blick in der Hoffnung, der Klavierhockermann würde von alleine antworten. Aber wie bei so einem Mann zu erwarten, sagte dieser nichts mehr.
„Ich sehe kein Klavier.“, fing der Jemand an.
„Ich auch nicht. Darum suche ich es ja.“
Der Jemand musste schmunzeln über diesen alten Mann.
„Aber wieso warten Sie dann hier? Glauben Sie, das Klavier wird vorbei gefahren kommen?“
„Ein Klavier fährt nicht. Zumindest nicht hier.“, antwortete der Mann und eine Spur Empörung schwang in seiner Stimme mit.
„Wenn nicht hier, wo dann?“
„Ich sagte doch ein Klavier fährt nicht.“
„Und Sie sagten auch, zumindest nicht hier.“, der Jemand hatte nicht die Absicht den alten Mann zu verwirren, aber er wollte es wissen.
„Wenn irgendwo ein Klavier fährt, dann doch auf einer Straße.“
„Aber das hier ist doch eine Straße. Oder als was würden Sie diese breite Teerspur bezeichnen?“, es war der Alte, der den Jemand verwirrt hatte..
„ In meinem Wohnzimmer gibt es keine breite Teerspur. Davon würde ich wissen.“, der Mann blieb ruhig, aber vermied es immer noch dem Jemand ins Gesicht zu blicken.
„Aber ich rede nicht von ihrem Wohnzimmer. Ich rede von der Kirchstraße, an deren Rand Sie sitzen.“
„Aber ich bin doch in meinem Wohnzimmer.“
Ein kühler Herbstwind fegte durch die Kirchstraße, als der Jemand durch die Stadt ging, da sah er die Stelle, an der der alte blinde Mann einst mit dem Klavierhocker gesessen hatte und sein Klavier gesucht hatte. Er lächelte und ging weiter auf der Suche nach Außergewöhnlichem.
Tag der Veröffentlichung: 24.10.2008
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