Er blickt auf, sieht das Kind. Es ist klein, vielleicht würde es ihm bis zur Hüfte gehen.
Es hat einen Rucksack auf der Schulter. Der Rucksack ist halb so groß wie dieses
Mädchen, kariert. Das Mädchen hat goldene Locken, ganz so, wie man Engel immer malt und es ähnelt tatsächlich den Himmelswesen. Er hätte vielleicht auch eine Tochter. Sie wäre im selben Alter, wie dieses Mädchen, das gerade über die Straße geht. Aber das ist schon lange her. „Der Unfall ist vergessen“, glaubt er. „Konzentrier dich auf die Zukunft“, ermahnt er sich selbst und wendet sich wieder seinem Kaffee zu. Er ist schon kalt und riecht nach Wasser, also nach nichts. Er blickt wieder hoch. Sein Blick sucht das kleine Mädchen auf der anderen Seite der Fensterscheibe. Sie ist noch immer da. Sie geht langsam. Eher macht es den Anschein, als schleppe sie sich dahin. Leicht
nach vorne gebeugt, damit der Rucksack besser sitzt. Sie ist so zerbrechlich. Sie schaut nach unten, nicht auf die Straße. „Ist das nicht gefährlich?“, fragt er sich. Seine Tochter hatte auch nicht nach vorne geschaut. deshalb hat sie nicht den roten Volvo gesehen, mit dem Achtzig -jährigen am Steuer. Es wäre besser gewesen, sie hätte ihn gesehen.
„Denk an etwas anderes", prägt er sich ein. Er rührt den Kaffee um, ohne ihn anzublicken. Vielleicht kommt das Mädchen gerade von der Schule. Dann wäre es in den unteren Klassen. „Aber sie sieht so jung aus“, denkt er. Seine Tochter wäre noch nicht in der Schule. Er senkt den Blick.
Wieder schweifen seine Gedanken zu Türen, die er schon vor langer Zeit schloss. „Nein, schau wieder hoch“. Immer noch rührt er den Kaffee, obwohl er schon weiß, dass er ihn nicht mehr trinken wird. Er hebt den Kopf. Der Gesichtsausdruck des Mädchens zeigt Erschöpfung. Wahrscheinlich wegen der Schule. „Oder der Rucksack ist so schwer“, überlegt er sich. Warum hilft niemand dem Mädchen. Er will aufstehen, aber er tut es nicht. Er weiß nicht warum, hat einfach keine Lust.
Die Sonne scheint, aber das Licht wird blasser durch die schmutzigen Fensterscheiben. Alles ist trüb oder nicht? Das Mädchen ist nur wenige Schritte vorangekommen. Er sieht es und es tut ihm Leid. Der Rucksack, kariert, ist einfach zu schwer für sie. Einen Schritt tut sie. Ein kleiner Schritt, bemerkt er und fragt sich warum sie keine größeren Schritte macht. Seine Tochter hätte auch größere Schritte machen sollen, als sie damals über die Straße ging, aber sie hat es auch nicht getan. Er rührt den Kaffee nun wieder schneller. Ja, seine Tochter hatte auch Locken, aber braune. Er erinnerte sich, es war ein Tag wie dieser, als das Telefon
klingelte. Vor kurzer Zeit, aber eigentlich, das weiß er, war es keine kurze Zeit, sondern schon Jahre her. Noch bevor er sich von seiner Frau geschieden hatte und seinen Job gewechselt hatte.
Wie schnell man doch alles verlieren konnte?
Das Telefon klingelte und er wollte nicht abnehmen, weil das Klingeln ihn nervte. Das war damals. Hätte es heute geklingelt, hätte er abgenommen. Ja, seine Sekretärin hatte dann abgenommen und war zu ihm ins Büro gekommen.
Er hört auf zu Rühren und schaut wieder nach draußen. Er will nicht an diesen Tag denken, aber an die Locken seiner Tochter denkt er gern. Sie hatte sie nicht gemocht, ihre Locken, sie wollte glatte Haare, so wie die Doktor-Barbie. Das wusste er noch genau.
Er schmunzelte. Vielleicht will dieses Mädchen auch nicht ihre blonden Locken. Er fragt sich, warum er sich das fragt. Es hatte doch eigentlich gar keinen Belang für ihn. Jetzt nimmt er doch einen Schluck vom kalten Kaffee. Er kann das Mädchen nun nicht mehr sehen.
Den karierten Rucksack auch nicht mehr. Sie ist schon längst am alten Café, in dem er sitzt, vorbei gegangen. "Hoffentlich tut ihr Rücken nicht weh vom Rucksack", denkt er sich. Aber eigentlich interessiert ihn das gar nicht. Er denkt es trotzdem, um das Gefühl von Sorge zu bekommen, dass er in der letzten Zeit so vermisst hatte. Wer hatte schon Sorgen, wenn er keine Kinder hatte. Die wahren Sorgen galten doch nur ihnen. Nein es ist ihm egal, was mit dem Rücken des Mädchens ist, er kennt sie ja nicht. „Bei seiner Tochter wäre es ihm nicht egal gewesen“, denkt er. Aber in Wirklichkeit weiß er, dass er auch nicht viel gegen die Schmerzen seiner Tochter unternommen hätte. Er ist ein gemütlicher Mensch, sagen alle und er weiß es, aber er will es nicht wissen. Jetzt bereut er, dass er den Kaffee doch noch getrunken hat. Der Geschmack im Mund erinnert ihn an den Kaffee von damals. Damals im Büro, der Kaffee, der an dem Tag neben dem Telefon stand in einer Tasse mit schwarzen Lettern, die verkündeten: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“ Sein Lieblingsbecher mit seinem Lieblingsspruch. Er ist auch kalt gewesen.
Jetzt hört er endgültig auf zu rühren, legt den Löffel weg. Blickt noch einmal nach draußen und sieht einen Volvo. Dieser ist blau, nicht rot, wie damals. Er zahlt und verlässt das Café.
Am nächsten Tag liest er in der Zeitung während er im Kaffee rührt:
„7-jähriges Mädchen angefahren. Fahrer eines blauen Volvo verlor die Kontrolle.
Das Mädchen erlitt nur leichte Verletzungen. Wahrscheinlich rettete ein Rucksack ihr Leben.“
kariert
Tag der Veröffentlichung: 22.10.2008
Alle Rechte vorbehalten