Mit einem letzten vorbereitenden Atemzug nickte ich den beiden Butlern zu und sie öffneten die große, mit Buntglas verzierte Doppeltür. Nervös umfasste ich den Brautstaruß in meinen Händen noch fester und Schritt, gefolgt von Bree – meiner Brautjungfer – den Gang entlang. Ich starrte angestrengt auf en braun gekachelten Boden, welchen ich unter den weißen und rosanen Blumen erkennen konnte, doch ungefähr nach der hälfte des Weges hob ich den Blick. Von den aufwändig dekorierten Bänken blickten mir freundliche Gesichter entgegen. Gesichter die ich kannte. Vorne, in den ersten beiden Reihen saßen meine Familie und meine Freunde und jene, die bescheid wussten, nickten mir aufmunternd zu. Du schaffst das, hörte ich eine Stimme in meinem Kopf, straffte die Schultern und richtete meinen Blick auf den Altar. Dort stand er. Ich spührte wie sich meine Wangen röteten und wandte schnell den Blick zu Robert, der als Brautvater einsprang. Als ich mich bei ihm einharkte entspannte ich mich merklich und er strich mir beruhigend über die Hand.
„Es ist alles in Ordnung“, flüsterte er und lächelte. Im nächsten Moment übergab er mich auch schon dem Bräutigam und trat ein Stück zur Seite
Erst jetzt, wo ich direkt vor ihm stand, erkannte ich wie atemberaubend er in diesem Anzug tatsächlich aussah. Der Prister sprach seine ersten Worte und ich versuchte meinen Blick von dem Mann vor mir loszureißen.
Die Trauung war nicht so romantisch wie sie im Fernsehn immer dargestellt wurde, sondern eher kalt und unpersöhnlich. Jener Prister ratterte seine Text herunter, ließ uns unsere Treuesprüche aufsagen und verkündete dann: „Sie dürfen die Braut jetzt Küssen.“ Ich holte tief Luft. Es war so weit. Schon seit Tagen hatte ich mir über diesen Moment den Kopf zerbrochen.
Einige Sekunden lang sahen wir uns tief in die Augen. Vorsichtig legte er die Hände auf meine Hüften und mit klopfendem Herzen sah ich, wie sein Gesicht, seine Augen und sein Mund immer näher kamen. Kurz vor meinen Lippen hielt er inne und ich sah seinen rechten Mundwinkel zucken. Er murmelte ewas, was ich nicht verstand, doch bevor ich auch nur ansatzweise darüber nachdenken konnte, küsste er mich. Seine Lippen waren weich und fest und umschloss die meinen in einer warmen, zärtlichen Liebkosung. Mein Gehirn schaltete ab und ich schlang die Arme um seinen Hals. Genoss diese Lippen auf meinen, das dumpfe prickeln in meinem Bauch und sogar das schnelle Schlagen meines Herzens. Viel zu schnell löste er sich von mir, hielt mich jedoch noch immer in seinen Armen. Und da erkannte mein Verstand das Wort, was er zuvor kaum hörbar über die Lippen gebracht hatte: „Endlich.“
Mein Herz setzet aus. Was?
„Haily, aufwachen“, brüllte jemand neben meinem Ohr.
„Was?“, brüllte ich automatisch zurück und fuhr im Bett hoch. Neben mir saß meine Zimmergenossin Amy und sah mich teils genervt, teils belustigt an. Stöhnend ließ ich mich zurück auf die Matrazte fallen. „Was ist denn?“
„Nichts, nur wenn du noch was zu Essen willst, solltest du dich beeilen.“
Erneut fuhr ich hoch. „Wie viel Uhr ist es?“ Gleichzeitig sprang ich auf, griff nach meiner Hose und einem Oberteil und zwängte mich hinein.
„Gleich neun. Du hast noch drei Minuten bis sie alles abbauen.“
Ich fluchte, steckte meine Füße in ein Paar Socken, welche ich ebenfalls auf dem Boden fand, sprühte sie vorsichthalber noch kurz mit Deo ein und schlüpfte in meine alten, abgetragenen Turnschuhe. Dann schnappte ich mir Amys schwarze Kaputzenjacke, die an meinem Bettende zusammengeknüllt gelegen hatte und stürmte zur Tür.
„Hey, das ist meine“, rief sie wütend, doch ich war schon auf dem Flur und sprintete los. Im Speisesaal angekommen, sah ich die letzten grade noch ihre Teller wegräumen und steuerte, versucht unauffällig, den Tisch mit dem Frühstück an.
„Haily Bradison“, ertönte eine strenge Stimme hinter mir. Mist. Langsam drehte ich mich um.
„Guten Morgen Ms Pamalla.“ Dass ausgerechnet unsere Heimleitern mich erwischen musste war natürlich wieder klar.
„Weißt du eigentlich wie spät es ist?“ Sie ließ mir keine Chance zu antworten. „Ja richtig, Neun Uhr. Das bedeutet, dass Frühstück ist zuende. Was führt dich also zum Buffet?“
Ich verschränkte die Hände in einander. „Entschuldigung, ich habe verschlafen Miss, aber es kommt nicht wieder vor, versprochen.“
Das war eins meiner größten Probleme: wenn ich etwas falsch gemacht hatte und es genau wusste, schaltete mein Verstand einfach ab und mir blieb nichts anderes übrig als die Wahrheit zu sagen. Jedenfalls solange es um etwas ging, dass ich verbockt hatte. Aber dennoch, diese Eigenschaft war ziemlich peinlich. Doch ich glaube gerade deshalb konnte mich Pammala von allen Jugendlichen hier im Heim am besten leiden. Das und die Tatsache, dass ich nicht hier war, weil ich ein Problemkind war. Ja, unser Heim war kein normales Kinderheim. Hier kamen nur Kinder unter Achtzehn hin, wenn sie wirklich Mist gebaut hatten. Außer mir. - Ich Glückspilz.
Miss Pammala seufzte und sagte dann: „Du hast zehn Minuten.“ Erleichtert ließ ich die Schultern sinken. „Und du hilfst Regina mit dem Abwasch.“ Na toll. Regina, unsere Köchin, war ein wahrer Drache. Naja eigentlich waren das alle Erwachsenen hier, aber bei dieser Meute mussten sie das auch sein. Doch keiner der anderen war so schlimm wie Regina Lohokin.
Etwa um zehn öffnete ich die große, eisenbeschlagene Heimtür und atmete die frische Luft ein. Der Himmel war voller dunkelgrauer Wolken und ein kühler Wind wehte mir die Haare ins Gesicht. Wenn das mal kein wunderschöner Tag war.
Das Heim lag nicht direkt im Dorf, sondern auf einem kleinen Berg direkt daneben. Eine kleine geteerte Straße erstreckte sich keine hundert Meter den Berg hinunter, schlängelte sich durch das Dorf und führte auf der anderen Seite wieder hinaus. Diese Straße lief ich nun entlang, direkt zur Gedenkstätte meines Onkels. Es war nun schon fast zwei Monate her seit er gestorben ist. Seinen Tod zu verkraften war einfacher gewesen als erwartet, doch seit dem besuchte ich jeden Tag seinen Unfallort. Jedoch weniger um ihn zu besuchen als mehr um irgendwohin zu gehen. Nur nicht den ganzen Tag in diesem Heim zu verbringen. Denn trotz allem: wohl fühlte ich mich dort nicht. Des weiteren, ich wäre ebenfalls fast hier gestorben. Ich hatte nur das Glück aus dem Wagen geschläudert zu werden und nicht mit samt der Carosserie zu verbrutzeln. Doch allein schon das ich mit dem Kopf auf dem Asphalt aufgeschlugen war, hätte weitaus mehr als eine kleine Platzwunde zur folge hben sollen. Aber bis auf ein paar Schrammen war ich unverletzt geblieben. Allen und auch mir selbst blieb dies ein einziges Rätzel.
Vor dieser ganzen Sache hatte ich ein eigentlich ein ganz akzeptables Leben geführt. Ich hatte gute Freunde und sogar einen festen Freund. Wir gingen alle in die selbe Schule und kannten uns von Geburt an. Doch seit dem Tod von Onkel Henry war alles anders. Jason hatte sich von mir getrennt, meine restlichen Freunde hatten sich ebenfalls von mir abgewandt und ich war das Heim gezogen. Die Dorfgemeinschaft hatte es für richtig empfunden mich bis zu meinem achtzehnten Geburtstag dort unterzubringen. Im endeffekt hatten sie mir dadurch wirklich einen Gefallen getan.
Ich erreichte die kleine Buche, oder eher das, was von ihr noch übrig war.
Ich unterdrückte ein Stöhnen, als ich den Hof des Heimes erreichte. Jason saß auf der Stufe zum Eingang und vor ihm stand Steve. Sie waren in meinem Alter, eigentlich - für diesen Ort - noch ganz normal, aber irgendwie schienen sie es auf mich abgesehen zu haben.»Na wenn das nicht unser Mädchen ist«, rief Jason und Steve drehte sich langsam zu mir um. Seine klaren grünen Augen blitzen auf. Jedesmal wenn wir uns sahen unterzogen mich die Beiden einer genauen Musterung. Es war schon fast gruselig.Ich ignorierte Jasons Aussage und nahm mir vor schnurstracks an ihnen vorbei zugehen. Mir war klar, dass selbst ein Stein meine Unsicherheit hätte spühren können, aber ich heftete meinen Blick auf die Tür und bemühte mich das seltsame Gefühl von Nacktheit abzuschütteln. »He, Hail'. Wo biste' denn gewesen?«, fragte Steve. Seine tiefe Stimme jagte mir einen Schauer über den Rücken. »Ich war spazieren«, antworte ich und versuchte gelangweilt zu wirken.»Spazieren«, wiederholte er nachdenklich und sah mir tief in die Augen. Sofort viel mir eine meiner Zahlreichen Fantasien ein, in der mein Braun in seinem Grün zu versinken drohte, meine caramelfarbene Haut seinen blassen Teint berührte und sich Rot um Rot legte um den Anderen zu kosten.Als mir bewusst wurde welche Richtung meine Gedanken nahmen, gab ich mir innerlich einen Klaps auf den Hinterkopf und spürte, wie meine Wangen zunehmend an Farbe gewannenJason stand auf, legte Steve einen Arm um die Schulter und erklärte mir grinsend: »Du musst aber eine ziemliche Langweilerin sein. Wer geht schon den ganzen Tag allein spazieren?«Ich wurde wütend. Sie waren zwar erst seit einem Monat hier, doch dass hieß trotzdem nicht, dass sie über mich Urteilen konnten. Ich atmete tief durch und sagte dann, trotz meiner eigentlichen Verstimmung: »Dann frage ich mich, warum ihr mich überhaupt angesprochen habt.«Steve legte den Kopf schräg und blickte mich noch intensiever an. Ich versuchte ihm stand zuhalten. »Da hast du recht. Lass uns abhauen Jase', hier gibts anscheinend nichts für uns.« Damit drehte er sich um und die zwei verschwanden im Haus.Ich holte tief Luft und entspannte mich merklich. Wie ich solche Situationen hasste. Einen Augenblick später, folgte ich den Beiden ins Haus und machte mich auf den Weg zum Abendessen. Ich musste echt etwas für mein Selbstbewusstsein tun.
Als ich den Essenssaal, bei dem es sich nicht mehr als um einen vierunddreißig Quadratmeter großen Raum mit Stühlen, Tischen und einer Essenstheke handelte, betrat, saß Amy schon an unserem Stamplatz, eine Scharr Jungs um sich. Das Mädchen schien Kerle geradezu anzuziehen. Ich unterdrückte ein Stöhnen, schnappte mir bei Miss Regina einen Joghurt und gesellte mich zu der kleinen Gruppe. »Haily-Schatz, da bist du ja. Ich hab mir schon Sorgen gemacht«, begrüßte mich Amy.»Sorry«, antwortete ich mit einem entschuldigen Lächeln und setzte mich auf den Stuhl ihr gegenüber. Die anderen Plätze waren von Typen belegt. Sie wirkten nicht gerade erfreut über mein Erscheinen, doch ich ignorierte die Blicke, die sie sich zuwarfen und zog konzentriert den Deckel von meinem Abendessen.»Sag mal, willst du nicht vielleicht mal etwas richtiges essen?«, fragte Amy und musterte irritiert den Jogurt in meiner Hand.Ich verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Seit dem Unfall war mein Appetit drastisch gesunken. »Hab keinen Hunger.«Auf diese Antwort erntete ich einen besorgten Blick ihrerseits.»Hey Amy, du wolltest uns doch gerade noch was erzählen«, rief ein Junge neben ihr und warf mir einen beinahe mörderischen Blick zu.Ich atmete durch und stand auf: »Du Amy, ich geh aufs Zimmer.«Sie warf dem Typen einen giftigen Blick zu und schenkte mir dann ein Lächeln. »Ist okay. Ich komm' auch bald.« Ich nickte, warf den noch nicht einmal zur Hälfte gegessen Joghurt weg und ging hoch auf unser Zimmer. Dort streifte ich Schuhe und Hose ab und krabbelte unter meine Decke.Mein Leben war echt nicht das aufregenste. Wäre doch nur Onkel Henry noch da.
»Nein. Bitte. Bitte hör auf.«Es war ein Traum, sie wusste es.Sie schwebte als körperlose Gestalt über dem Geschehen und dennoch fühlte es sich seltsam real an. Sie schaute auf die Personen unter sich. Gütiger Gott, da war sie selbst und.....er? Warum war er in ihrem Schlafzimmer? Und warum war er nackt? Sie keuchte auf. Oh nein, bitte nicht. Bitte, bitte nicht. Doch als sie das Mädchen, das eigentlich sie selbst war erneut flehen hörte, gab es keinen Zweifel mehr daran was gerade unter ihr geschah. Was gerade mit ihr geschah. Er hatte sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf sie drauf gelegt und presste sie auf das Bett. Sie strammpelte und wollte um sich schlagen, doch ihre Beine richteten kaum etwas aus und ihre Arme waren unter ihm eingeklemmt.Auf einmal wechselte sich ihre Perspektive. Sie war nicht länger jemand der von außen zusah. Nein, sie war Teil davon. Sie war nun sie. Und nun spürte sie es. Spürte wie seine viel zu feuchten Lippen ihre Haut liebkosten. Wie seine großen Hände an ihren Klamotten zerrten, bis sie schließlich nackt unter ihm lag. Sie spürte die Scham, den Ekel, die panische Angst. Und all das in einer ungeheuren Intensität. Fragen schossen durch ihren Geist. Warum tat er das? Warum? Hatte sie etwas falsch gemacht?Er berührte sie immer weiter, an immer intiemeren Stellen. Doch ihr Körper weigerte sich dies zu akzeptieren. Übelkeit stieg in ihr auf.»Bitte, hör auf«, rief sie erneut. Doch als er auf einmal gewaltsam ihr Beine auseinander drückte, begann sie wie am Spieß zu schreien und Tränen strömten über ihr Gesicht. Denn sie, die echte, hatte erkannt, dass dies kein einfacher Traum war. Nein, es war eine Erinnerung.
Als ich am nächsten Tag erwachte, lag Amy friedlich schlafend in ihrem Bett. Es sah aus als hätte ihre Bettdecke geplant sie aufzufressen. Ich lächelte, stand auf und schlich leise mit meinen Duschsachen aus dem Zimmer. Links von mir, am Ende des Ganges, warf die Morgensonne ihr Licht durch das Ost-Fenster. In diesem Moment, als der Staub im Schein der Sonnenstrahlen glitzernd umhertanzte, wirkte das Heim seltsam friedlich. Ich ging in die entgegengesetzte Richtung, an der Treppe vorbei. Direkt daneben befanden sich die Gemeinschaftsduschen der Mädchen. Zum Glück war noch niemand da. Ich war gerade damit beschäftigt gewesen, das Shampoo aus meinen Haaren zu waschen, als Claudine auf einmal die Kabinentür aufriss.»Haily, da sind zwei Männer für dich. Pamalla will, dass du sofort runter kommst.«»Was? Was für Männer?« Claudine sah mich genervt an. »Woher soll ich das wissen? Ich wurde jedenfalls gerade von Regina aus dem Bett geschmissen! Wegen dir?! Und jetzt beeil dich verdammt.« Damit warf sie die Türe wieder zu und stürmte aus dem Duschraum. Während ich mich schnell abtrocknete und mich innerlich über die verbliebene Seife in meinen Haar beschwerte, drehten sich meine Gedanken im Kreis.'Was für Männer waren das? Was wollten sie? Hatte ich vielleicht etwas angestellt?' Ich überlegte kurz. 'Nein. Ich hatte mich immer soweit vorbildlich verhalten. Vielleicht waren es Bekannte von meinem Onkel. Was wollten sie von mir?'Nur mit einem Handtuch bekleidet rannte ich raus auf den Flur. Dort stieß ich - ich konnte es echt nicht glauben - auf einmal mit Jason zusammen. Meine Klamotten und die Flasche mit dem Shampoo vielen zu Boden, bei letzterem platze der Verschluss auf und die rosa-durchsichtige Creme verteilte sich auf dem Linoleum Fußboden. Und, wie sollte es anderes sein, war auch noch mein Handtuch runtergerutscht und ich stand spliternackt vor ihm. Einen Moment starrte er mich an. Dann weiteten sich seine tief grauen Augen. Oh nein.»Guck weg, guck weg, guck weg«, schrie ich panisch. Schnell drehte er sich um und ich hockte mich in der selben Geschwindigkeit hin um das Handtuch wieder um mich zu schlingen. Gerade als ich aufstand, kam Steve die Treppe runter.»Ist was passiert?«, fragte er und musterte das Szenario vor sich. Er betrachte mich, wie ich mein Handtuch fest an mich drückte, dann die Sachen auf dem Boden und zuletzt Jason, welcher immer noch mit dem Rücken zu mir stand. Für einen Moment kniff Steve die Augen konzentriert zusammen, doch bereits im nächsten brach er in schallendes Gelächter aus. War die Situation so offensichtlich? Ich wurde knallrot, bückte mich um so schnell wie möglich, meine Sachen aufzusammeln und sah gerade noch aus dem Augenwinkel, wie Jason sich umdrehte und an mir vorbei stürmte. Was hatte er?»Was ist das für ein Lärm?«, brüllte aufeinmal eine nur all zu bekannte Stimme. Ms Pamalla polterte die Treppe hinauf. Erst als sie oben an angekommen war, sah sie uns böse an. »Haily, Steve. Was hat das hier zu bedeuten?« Ich wollte antworten, doch dann erstarrte ich. Hinter unserer Heimleiterin kamen zwei Männer die Treppe hoch. Der eine war alt, schätzungsweise über sechzig, hatte graue Haare, einen ebenfalls grauen Schnurrbart. Der andere war jung, auf jedenfall anfang zwanzig, hatte haselnussbraunes Haar, einen leichten Drei-Tage-Bart und schmale dunkle Augen. Er war definitiv attraktiv. Beide Männer steckten in teuren Anzügen und standen in einer aufrechten Haltung. Alles an ihnen ließ auf eine Hohe Gesellschaft und viel Geld schließen. Sie mussten die Männer sein, die mich sprechen wollten. Und ich stand vor ihnen, in einem Handtuch und nassen Haaren, die mir teilweise sogar im Gesicht klebten. Super erster Eindruck Haily, echt. »Ä-ähm«, stotterte ich und blickte mich hilfesuchend nach Steve um. Doch der sah nicht mal in meine Richtung. Na toll. »Also, ich wollte mich beeilen und schnell in mein Zimmer um mich anzuziehen und so, aber dann bin ich mit -«»Okay, dass reicht«, rief Ms Pamalla. Sie hatte zusätzlich sogar die Hand gehoben um meinen Redefluss zu stoppen. Ich fühlte mich wie ein unartiges Kind.»Geh jetzt auf dein Zimmer und mach dich fertig, danach kommst du runter in mein Büro. Und du«, sie zeigte auf Steve.»Du wirst die Sauerei hier wegmachen.«Er sah sie entrüstet an. »Ich war das doch nicht mal, ich kam erst später dazu. Wenn dann soll sie das tun.« Mein Kopf fuhr zu ihm rum und ich warf ihm einen giftigen Blick zu.»Ich habe gesagt 'Du wirst das wegmachen'. Ist das so schwer zu verstehen? Wir haben Gäste Mr Leigh, musst du dich ausgerechnet Heute von deiner besten Seite zeigen?» Steves Kiefer schienen zu mahlen, doch er antwortete nichts. »Und jetzt ab mit euch.«Ich nickte und eilte schnell in mein Zimmer, dort, im Türrahmen, stand bereits Claudine und als sie die Tür hinter mir zuzog konnte sie sich nicht mehr halten.»Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte mal eine so filmreife Vorstellung gesehn' habe Hail'«, rief sie prustend und musste es dreimal wiederholen, da sie wegen des Lachens jedesmal nur die Hälfte herausbekam. »Komm, das war voll peinlich. Hast du echt alles gesehen?«, fragte ich. Sie steigerte sich immer mehr in ihren Lachanfall und konnte zur Antwort nur nicken. Während meine Freundin sich langsam beruhigte, zog ich mich an und band meine nassen Haare zu einem Pferdeschwanz. »Was glaubst du wer die sind?«, fragte ich und setzte mich neben Amy aufs Bett.»Diese Männer? Mich würde eher interessieren, was sie von dir wollen.« Ich nickte zustimmend. Dann stand ich auf und machte mich auf den Weg in Pamallas Büro.
»Sie wollen was?«, rief ich und meine Stimme hallte unangenehm laut durch den kleinen Raum. Die beiden Männer tauschten einen Blick und der ältere räusperte sich.»Liebes, bitte beruhigen Sie sich. Aber Sie haben richtig verstanden. Wir beabsichtigen Sie mit nach England zu nehmen. Ihre Mutter war Tochter des Erfolgsmillionär Robert Willkinson, Englands wichtigsten und berühmtesten Unternehmer. Demnach sind Sie seine Enkelin und ebenfalls eine Angehörige. Wir haben berei-«»Stopp, stopp, stopp«, unterbrach ich ihn. »Das geht jetzt zu schnell.« Es war als hätte man mich in ein Becken mit eiskaltem Wasser geworfen. Ich war völlig übervordert und betrachtete blinzelnd und verwirrt die Männer. Der ältere hatte sich als Alisdar Rose vorgestellt, Verwalter des Willkinson-Anwesens und enger Freund der Familie. Der jüngere hieß Miles Willkinson und war ebenfalls ein Enkel von diesem Robert, was ihn zu meinem Cousin machte. Nein, machen sollte. Ich konnte diese ganze Zeug nämlich nicht wirklich glauben. Und meine mum? Sie und Dad hatten mich mit drei Jahren einfach bei Onkel Henry sitzen gelassen und waren abgehauen. Welche Eltern taten so etwas bitte? Und sie sollte adlig sein? »Haben sie irgendeinen handfesten Beweis, dass ich oder meine Mutter wirklich Teil ihrer Familie sind?«, fragte ich und war selbst über meinen selbstsicheren Ton erstaunt. Ich war in solchen Situationen weder selbstbewusst noch in irgendeiner Hinsicht schlagfertig, aber nun war ich es, aus irgendeinem mir unbekannten Grund. Irgendwo in meinem Kopf war eine Stimme felsenfest davon überzeugt, dass es an unseren Gästen lag. Aber es war eine kleine, unbedeutende Stimme, die ich zwar noch nie gehört hatte, an die ich aber keinen Gedanken verschwendete.Ohne mich aus den Augen zu lassen, griff Milse in die Innentasche seines Anzugs und beförderte mehrere Papiere zu Tage. Er sortierte sie und schob sie nacheinander über den Tisch. Ich nahm das erste Blatt in die Hand. Es war eine Geburtsurkunde. Emily Willkinson, geboren am 26. März 1973 und noch einige andere Informationen standen darauf. Auf dem zweiten Zettel war die Hochzeit meiner Eltern dokumentiert, der Name meines Vaters, der meiner Mutter und dass sie von nun an 'Bradison' heißen würden. Mein Magen verkrampfte sich. Als nächstes kam meine Geburtsurkunde. Ich warf nur einen kurzen Blick darauf. Schweigend stapelte ich die Dokumente ordentlich übereinader und schob sie in die Mitte des Tisches zurück. Ich zweifelte keine Sekunde an ihrer Originalität.»Ich«, begann ich ohne zu wissen, was ich sagen sollte. Es war wahr? Es stimmte? Das alles kam so plötzlich, so überraschend. Und ich wurde das seltsame Gefühl, dass ich mich hier in einem Traum befand, einfach nicht los. Aber noch etwas beunruhigte mich. Da war irgendetwas, was sie mir nicht erzählten.»Wo sind meine Eltern jetzt?«Nun war es totenstill im Raum, jedenfalls kam es mir so vor. Alisdar sah in seine in einander verschränkten Hände und auch Milse wich meinem Blick aus. Ich spürte wie Ms Pamalla hinter mich trat und mir die Hand auf die Schulter legte.»Sagen Sie es ihr«, befahl sie in schroffem Ton.Die beiden Männer tauschten einen Blick und da verstand ich. Wie konnte ich nur so blöd sein. Welchen Grund hätten Sie sonst gehabt mich zu sich holen zu wollen und das ausgerechnet jetzt. Bei der Erkenntnis fühlte ich mein Herz schwer werden, sehr schwer, schmerzend schwer.»Vor etwa einem Monat haben wir ihre Leichen gefunden«, erklärte Milse leise. Ich starrte auf irgendeine undefinierbare Stelle hinter ihm. »Wa...«, meine Stimme brach und ich räusperte mich und begann von neuem, den Blick weiter ins Nichts gerichtet. »Warum hat mir niemand beschied gesagt oder mich aufgeklärt? Und warum kommen sie erst jetzt? Ich mein', wenn ich zu ihrer Familie gehören soll, hätten sie mich schon nach dem Tod meines Onkels zu sich nehmen können.« Meine Stimme klang rau und monoton.Milse ergriff das Wort: »Bis vor einem Monat war uns nicht mal deine bloße Existenz bekannt. Wir wären, in der Zeit die Emily fort war, nie auch nur auf den Gedanken gekommen, sie würde diesen Mann heiraten, geschweige denn ein Kind auf die Welt bringen. Und dann bedarfte es noch einer Unmenge an Überprüfung, Gesprächen und Organisationen, bis wir bereit waren um um die halbe Welt zu fliegen. Wir mussten uns einfach zu hundert Prozent sicher sein, dass alles richtig ist.« Bei dem letzten Satz sah ich ihn an.»Und sind Sie sich sicher?«Alisdar antwortete: »Es gibt keinerlei Zweifel.«Langsam begann ich ihnen zu glauben. Dabei war das alles so verrückt. So unvorstellbar und absurd. Doch es gab Beweise, befürwortende Beweise. Und zudem noch ein seltsames Gefühl, dass sich in jeder weiteren Sekunde mehr in mir ausbreitete und mir sagte, dass sie wirklich die Wahrheit sagten. Dass meine Mutter wirklich eine so bedeutende Person gewesen war. Dass ich wirklich das Blut der Willkinsons teilte. Und dass meine Eltern wirklich tod waren. Je länger diese Gedanken durch meinen Geist schwirrten und je deutlicher das seltsame Gefühl wurde, desto mehr zog sich in mir alles zusammen; bis ich es nicht mehr aushielt. Ich musste hier raus und zwar schnell.»Ich bin - ich brauche kurz frische Luft«, sagte ich, bemüht meine Stimme nicht allzu gehetzt klingen zu lassen. Dann rannte ich fast aus dem Büro und wurde auch nicht langsamer, als ich bereits auf der Straße und den Hügel hinunter war.
Tag der Veröffentlichung: 03.05.2014
Alle Rechte vorbehalten