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In deinen Armen



Das Glas lag in tausend Scherben zersplittert am Boden.
Die Frau, die sie geworfen hatte, zitterte vor Wut. Ebenso bebte die Unterlippe des kleinen Mädchens, das mich fest an sich drückte. Maria. Die Tränen standen ihr in den Augen und würden jeden Moment ihr kleines rundes Gesicht hinabkullern.
Wie ein Echo hallten die zornigen Worte von Marias Mama von den Wänden wieder: "VERSCHWINDE ENDLICH! ICH HABE KEINE ZEIT FÜR DICH!"
Diese Frau hatte nie Zeit für sie. Sie saß immer nur in der Küche und trank einen Schnaps nach dem anderen. Bis die Flasche leer war. Dann folgte ein Glas Whisky nach dem anderen. Und meist fand sie dann auch noch einen Likör, den sie nachschüttete, so dass ihr Promillepegel rasch 2,5 überstieg.
Manchmal verschwand sie aus dem Haus und feierte mit irgendwelchen Freunden, von denen sie meist selbst nicht wusste, wie ihre Namen lauteten. Dann war es sehr friedlich in der Wohnung und Maria und ich konnten herauskommen, ohne dass wir geschlagen oder angebrüllt wurden. Wenn ihre Mutter wieder zurückkam, schlief sie ihren Kater auf der Couch aus, so dass Maria und ich nur im Haus herumschleichen konnte, um ein paar Dinge zu holen. Ansonsten trauten wir uns gar nicht erst aus ihrem Kinderzimmer, denn schlafende Hunde sollte man ja bekanntlich nicht wecken.
Die Tochter dieser verrückten Frau war ganz anders als ihre Mutter. Sie war lieb und sanft. Und ich war ihr bester Freund.
Die Familie hatte nicht viel Geld, um Kindern sonderlich viel bieten zu können, nicht dass es ihre Erziehungsberechtigte je gekümmert hätte, ob sie genug Spielzeug hatte oder nicht. Aber Marias liebstes Spielzeug war ich - ich, ein Geschenk ihrer Großmutter.
Zum Kindergarten und zur Schule hat sie immer ihre Oma gebracht. Sie stellte ihr auch öfters richtiges, gekochtes Essen in den Kühlschrank und hin und wieder, da schenkte sie ihr Spielzeug. Wann immer sie ihre Mutter überreden konnte, nahm sie Maria und mich zu sich nach Hause und irgendwie kamen wir über alle Runden. Ich sah Maria am meisten bei ihrer Oma lachen, wenn sie aßen und über ihre Klassenkameraden sprachen oder einen lustigen Film ansahen. Ich würde sie auch so gerne zum Lachen bringen, aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich war in einem Käfig aus Leblosigkeit gefangen, obwohl ich ihr so gerne helfen wollte. Sie sollte lächeln können, ganz gleich wie ihre Mutter war. Oh, Marias Lächeln war so wunderschön!

Doch jetzt war keine Spur von Freude in dem Gesicht des kleinen Mädchens. Erschrocken und unter Tränen rannte sie zurück in unser Zimmer, schloss ab und als weitere Wutausrufe vom Flur heraus kamen und Gegenstände warnend gegen die Tür schepperten, dass sie auch ja nicht wieder herauskommen sollte, saß sie schluchzend am Boden und drückte mich so fest sie konnte.
So gerne wollte ich sie umarmen können und trösten, doch ich konnte mich nicht bewegen. Ich sah sie mitfühlend an und hoffte, meine Wünsche erreichten sie. So sprach ich in Gedanken auf sie ein: Maria, Liebes. Weine nicht. Ich bin doch hier, du bist nicht allein. Sei tapfer, ich weiß, du bist stark. Ich bin bei dir..
„Ach, Teddy!“, schluchzte sie herzzerreißend auf. „Sie ist so gemein zu mir!“

Ich weiß, Maria, ich weiß. Ich wünschte so sehr, ich könnte es ändern. Auch, wenn es schwer wäre, ich würde es für dich tun! Weine nicht..



Das Kind mit den großen grünen Augen wischte sich die Tränen von den Wangen, als sie mich auf ihren Schoß setzte. Liebevoll nahm sie meine Pfoten und lächelte traurig, obwohl weitere Tröpfchen des Leides ihre Wange hinab kullerten.
Doch sie wirkte stark mit ihrem freundlichen Ausdruck. Es kam mir in solchen Momenten immer vor, als würde sie um meinetwillen aufhören, nicht um ihrer. Als würde sie sich wirklich um mich sorgen.
„Du bist immer bei mir Teddy“, stellte sie nachdenklich fest und bewegte meine Arme spielerisch auf und ab, vermutlich, um mir einen Hauch Leben einzuflößen.
„Ich bin glücklich. Ich habe dich.
Ich sollte nicht weinen.“

Du sollst niemals weinen, meine Kleine, niemals..
Du verdienst diesen Schmerz nicht.



„Du brauchst mich nämlich auch, nicht wahr?“

Ich brauche dich, Maria. Denn ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr.



Nun lächelte sie breit, fast, als hätte sie den Streit mit ihrer Mutter vergessen. Als hätte sie meine Worte verstanden. Vielleicht stellte sie sich vor.
„Gut. Denn ich hab dich lieb.“
Und in diesem Moment brachen meine Gefühle wohl zu ihr durch. Durch die Barriere, die seit jeher zwischen Lebenden und Gegenständen existierte.
Für sie war ich nicht nur irgendjemand. Irgendwas. Irgendein Ding. Ich konnte nicht mit ihr sprechen, nicht zu ihr hingehen. Ich konnte ihr kein Taschentuch reichen, nicht mit ihr lachen. Und doch erkannte ich in ihren Augen, dass sie in meinen Knopfaugen mehr sah. Dass ihre Seele die meine sah. Dass sie vielleicht irgendwo erkannte, dass ich derjenige war, der ihr nie was Böses wünschen würde. Und dass sie auch unter schlechten Umständen doch jemanden hatte, der an ihrer Seite war. Und egal, welche Form dieser Jemand vielleicht hatte.
Wärme breitete sich in meinem Herzen aus. In ihren Armen.

Bei dir, Maria.



"Sei nicht traurig, ja, Teddy?"
Sie gab mir ein Küsschen auf den Kopf und ich blickte hoffnungsvoll durch den Vorhang aus blonden Haaren zu ihr auf. Sie hatte mich erkannt.
Ich hätte nicht glücklicher sein können.

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Tag der Veröffentlichung: 23.10.2012

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