Cover

Prolog






Ich werde nicht nachgeben, sagte ich einst. Ich werde es solange probieren, bis es klappt, egal, wie viel Zeit und Mühe es mich kosten wird.
Ich werde mein Ziel erreichen, sagte ich einst. Denn ich tat alles für meinen Wunsch. Und ich hatte nur diesen Wunsch.
Aber vermutlich war das schon zu viel verlangt.
Meine Träume reichten in die Ferne, doch die bittere Realität holte mich zurück. Sie ließ mich nicht einfach davon fliegen.
Ich strebte dem Horizont entgegen, doch ich erreichte ihn nie. Mit jedem Schritt, den ich näher kam, entfernte er sich einen Schritt. Ich würde nie ankommen können. Und nicht fort kommen von diesem Ort hier, der mir nur ewigen Kummer brachte.
Ein fernes Land war mein Ziel, eine neue Stadt. Am liebsten würde ich sogar auf einem anderen Planeten sein, doch das war nicht im Bereich des Möglichen.
Obwohl ich schon glücklich wäre, keines der Gesichter, an denen ich in der Stadt vorbei lief, zu erkennen. Wenn es niemanden gäbe, der einem dumm hinterher gafft und unüberlegte, verletztende Kommentare fallen ließ.
Mein Herz könnte ruhen, ich könnte endlich einmal durchatmen. Und das Geschehene vergessen.
Ein Neuanfang an einem anderen Ort war mein Traum.

Aber ich sollte aufhören, zu träumen.
Schon theorethisch war es nicht möglich, diese grausige und trostlose Stadt zu verlassen.

Ich war eh hierher gebunden. Also was soll's.


Ein ganz normaler Tag




"Aufstehen."
Das Zimmermädchen riss die tiefblauen Vorhänge auf und stechend helles Sonnenlicht durchflutete den großen Raum.
Mary-Ann kniff die Augen zusammen, zog sich die Decke über den Kopf und drehte sich wie ein Igel zusammen, so dass man sie möglichst schwer aus dem Bett bekommen würde.
"Dein Vater wartet unten am Frühstückstisch bereits auf dich."
"Dann kann er noch lange warten", knurrte das Mädchen. "Ich brauch noch mindestens 20 Minuten."
Niemals würde sie mit verwuschelten Locken, durch Müdigkeit verkleinerten Augen und im weiten, halb durchsichtigen Schlafhemd vor ihrem Vater erscheinen. Selbst, wenn er um sein Leben schreien würde, sie solle auftauchen.
"Beeil dich einfach."
Das Zimmermädchen versuchte, das Knäul zu entwirren und die Decke wegzuzerren, da bemerkte sie, dass Mary-Ann schon auf der unteren Bettseite unter der Decke rausgekrabbelt war und sie ansah, als wäre sie verrückt. "Was tust du da?"
"Dich zu wecken, ist meine Aufgabe", erwiderte sie einfach. "Mit allen Mitteln."
Mary-Ann verdrehte die Augen. "Man kann auch alles übertreiben. Lass mich jetzt alleine, ich komme nach."
Das Zimmermädchen musterte sie kritisch und fragte sich, ob sie ihr wirklich trauen konnte.
"Komm einmal nicht zu spät, ja?", meckerte sie. "Du hast keine Ahnung, wie dein Vater mir gegenüber ist, wenn ich ihm sagen muss, du brauchst noch eine halbe Ewigkeit."
"Es interessiert mich nicht, wie mein Vater dir gegenüber ist", schnellte eine Antwort zurück. "Dein Komfort ist nicht mein Job."
"Dein Job ist es, pünktlich zu erscheinen, wenn dein Vater es wünscht. Also beeil dich."
"Das hast du nicht zu entscheiden, Reika", erwiderte Mary-Ann kühl.
Reika verzog das Gesicht. Schon wieder fing das Mädchen an, so arrogant zu werden - und sie konnte das nicht ausstehen!
"Kannst du deine Selbstsucht nicht etwas zurück schrauben?", fragte sie, während das Mädchen Kleidung aus ihrem Schrank holte. "Das ist unerträglich."
Mary-Ann hielt inne, als sie das hörte. "Du hältst mich für selbstsüchtig? Du kannst dir denken, was du willst, aber du hast nicht das Recht, es mir zu sagen."

Sie sah das Zimmermädchen giftig an und schmiss die Sachen auf ihr Bett. Sie sah wütend aus, doch tief innerlich war sie sehr verletzt.
Reika wendete sich zum Gehen. Sie wusste, wenn Mary-Ann wütend wurde, handelte sie oft unüberlegt und sie mussten nun eh dem Herren des Hauses sagen, dass die Prinzessin noch eine Weile brauchte. Sie seufzte.

Mary Ann sah ihr wütend nach. Alle hielten sie für ein reiches, unverschämtes und egoistisches Ding. Und nichts weiter.
Wenn doch eh alle so dachten, ohne sie zu kennen - wieso sollte sie sich da noch die Mühe geben, das Gegenteil zu beweisen? Sie war in dieses Klischee gedrückt worden, ohne es zu wollen. Nicht sie hat sich zu so etwas gemacht, sondern die anderen Leute sie.

Eine halbe Stunde später erschien sie am Früstückstisch, der nur noch eigens für sie gedeckt war. Ihr Vater betrachtete sie streng von der Seite, als sie aß, doch Mary-Ann ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen.
"Was gibt es, Vater?"
"... Es gibt eine Personaländerung. Wir haben einen neuen Butler. Wenn du zur Schule gehst, möchte ich, dass du dich von ihm verabschiedest. Damit unser Personal ein besseres Bild von dir bekommt."
"Ein besseres Bild? Sind wir beim Fotografen?", fragte die 17-jährige spöttisch. "Ich bin nett zu denen, die nett zu mir sind. Ist jemand schlecht zu mir, so bin ich auch schlecht zu ihm."
Der Vater sah sehr zweifelnd aus. "Erzähl diese Geschichte jemand anderem. Du bist immer nur schlecht gelaunt und behandelst alle um dich herum wie irgendwelche Sklaven."
"Grundsätzlich sind sie es für uns auch, Vater. Das hast du selbst gesagt."
Der Vater sah sie böse an. "Wir sind eine gutes Haus, wo Grundsätze verändert werden. Deswegen sind sie unsere fleißigen Angestellten, die respektvoll behandelt werden müssen."
Mary Ann verdrehte die Augen. "Das sagst du nur, weil Reika um die Ecke steht, nicht wahr?"
Der Vater seufzte. "Ich diskutiere nicht mehr länger mit dir. Tu, was ich sage und sei freundlich zum Butler."
"Von mir aus."

Nachdem ihr Vater sich ins Büro begeben hatte und sie ihre Schulsachen geholt hat, ging sie zum Hausflur und zog ihre Stiefel an. Als sie ihren Mantel vom Kleiderhaken nehmen wollte, wurde der ihr schon hingehalten.
"Kommen Sie nicht zu spät zur Schule, junge Dame."
Es war der neue Butler. Verwundert ließ sie sich von ihm einkleiden. "Danke.."
Sie war überrascht von seinen Augen gewesen. Sie waren leuchtend grün. So etwas Ungewöhnliches hatte sie noch nie gesehen und er war äußerst jung. Schätzungsweise um die 25. Wie viele junge Männer hatten heutzutage das Bestreben, Butler zu werden? Sicher nicht viele.
"Mein Name ist James", stellte sich der Butler dann höflich vor und reichte ihr die Hand. Erstaunt darüber, dass er einen Namen hatte, der sie an Englands Adelsleben erinnerte,
schüttelt sie kurz seine Hand und stellt sich auch vor. "Mary-Ann."
Der Butler lächelte und öffnete ihr dann die Tür, damit sie austreten konnte. "Ich werde Sie zur Schule bringen."
Mary-Ann blieb auf der Treppe stehen und sah ihn verwundert an. "Ist Lino etwa krank?"
Lino war der Chauffeur des Hauses und übernahm normalerweise den Transport der Tochter von Mr. Carter.
"Nein", erwiderte James. "Er musste nur kurzfristig nach Hause reisen, wie ich hörte. Seine Tochter hat ihr Kind zu früh bekommen und er will sich unbedingt um die beiden kümmern.. Derweilen bringe ich Sie in die Schule. Stellt das ein Problem dar?"
Mary-Ann schüttelte den Kopf. "Natürlich nicht."
"Worauf warten wir dann noch? Lassen Sie uns losgehen."

Fünf Minuten später arbeitete sich der silberne Mercedes durch den Stadtverkehr. Mary-Ann musste zu ihrem großen Verwundern feststellen, dass sie sich plötzlich wie eine Dame des englischen Königreiches aus früherer Zeit fühlte und nicht wie ein junges Mädchen aus dem modernen Zeitalter. James agierte wie ein Gentleman, hielt ihr die Türen auf, machte ihr Komplimente für ihr Outfit und lobte ihre gerade Haltung.
Als sie an der Schule ankam, hatte sie das Gefühl, als hätte James sie schon immer gefahren und schon immer so mit ihr gesprochen.
Etwas fröhlicher als sonst betrat sie die Schule. Und dass sie wohl etwas lächelte, passte einem gar nicht - ihrem größten Verehrer.

Jack sah sie durch die Aula in seine Richtung kommen, da ihr Klassenzimmer in derselben Richtung lag und fing sie ab, wie so oft auch. Doch heute war die Frage nicht "Na, Süße, hast du es dir endlich anders überlegt?" sondern "Wieso lächelst du?"
Mary-Ann sah ihn spöttisch an. "Wie? Ist es seit Neuestem verboten, zu lächeln?"
Jack gefiel die Antwort nicht. "Es kommt auf den Grund an, Schatz."
Mary-Ann hasste es, wenn er sie so behandelte, als wäre er ihr Freund, der alles für sie regeln würde. Nun durfte sie ja noch nicht einmal lachen.
"Dich geht mein Leben nichts an, Jack." Als er nach ihrem Handgelenk greifen wollte, um sie herzuziehen, riss sie sich heraus. "Du bist ein Niemand für mich. Verschwinde endlich."
Wie beinahe jeden Morgen standen weitere Schüler da und beäugten das Spektakel, obwohl sie wussten, wie es ausgehen würde.

Mary-Ann passte wieder einmal kaum im Unterricht auf.
Hin und wieder gab es Geflüstere hinter ihrem Rücken, doch sie schenkte dem keine Beachtung. Sie war es gewohnt.

Mit einem Berg Hausaufgaben wurden alle Schüler der Fachoberschule entlassen. Sie würden jetzt wieder einmal pauken müssen, aber das war ja immer so.
Es war ein ganz normaler Tag.

James fragte sie, wie die Schule war, als er sie pünktlich abholte.
"... Heute war sie nicht so schlimm", erwiderte Mary-Ann. "Ausnahmsweise nicht." Obwohl der Schmerz, den sie fühlte, wenn sie die Schule betrat immer noch derselbe war.

Der Vater hörte von James später erzählt, dass Mary-Ann sich ihm gegenüber hervorragend benahm. Und statt Reika zu schicken, von der er wusste, dass seine Tochter sie nicht leiden konnte, schickte er James zu ihr ins Zimmer, um ihr Tee zu bringen.
"Herein", bat Mary-Ann, als es klopfte und sie gerade vor ihrem Spiegel saß und ihr Haar kämmte.
"... Ihr Tee, Mary-Ann."
James stellte das Tablett auf ihrem Tisch ab. "Wenn ich nichts mehr für Sie tun kann, dann lasse ich Sie nun alleine."
Mary nickte. "Vielen Dank. Sie können sich auch ausruhen."
Obwohl er nicht unhöflich erscheinen wollte, ließ James den Blick durch's Zimmer wandern und blieb mit dem Blick am Bild über ihrem Tisch hängen.
"Entschuldigen Sie meine Neugier.. Aber was soll dieses Bild darstellen?"
Mary-Ann lachte etwas. "Das ist eine gute Frage. Ich weiß es nicht."
James hob die Augenbrauen. "Wieso haben Sie es dann aufhängen lassen?"
Mary legt die Bürste weg und ging zu dem Tisch hin.*
"... Es gefällt mir einfach. Ich stelle mir vor, dass es ein Horizont ist. Möglicherweise in einer anderen Welt. Auf jeden Fall hat es traumhafte Farben inne, wenn auch der meiste Teil finster ist."
James lächelte daraufhin etwas. Das Mädchen schien ihm nicht so zu sein, wie Reika es erzählt hatte.
"Ich verstehe. Nun denn, Mary-Ann. Gute Nacht."
Mary nickt und wünschte ihm ebenfalls gute Nacht, jedoch nicht, ohne den Blick von diesem Bild zu nehmen.

Ein nicht so ganz normaler Tag






Mary-Ann gähnte. Die Vorhänge waren bereits aufgezogen, die Uhr zeigte aber, dass es eine halbe Stunde zu früh war, um aufzustehen.
"Ich hielt es für sinnvoll, Sie früher zu wecken, Mary-Ann." James stand an der Tür und sah zu ihr rein. "Damit Sie in Ruhe frühstücken können."
Mary-Ann schämte sich etwas, dass James sie so verschlafen sehen musste, wie sie nunmal jeden Morgen war. "Okay..", war alles, was sie herausbrachte. Ihr Gesicht versteckte sie im Kissen.
Der Butler ließ sie alleine und ging den Vater 5 Minuten später ebenfalls wecken. Sie sollten zusammen frühstücken.
Mr. Carter zog sich in Ruhe an, während seine Tochter von Schrank zu Kommode zu Spiegel sprang und sich fertig machte, damit sie frisch und wach aussah.
James' Plan ging auf. Vater und Tochter bekamen erstmals seit Jahren das Frühstück zeitgleich serviert.
"Ich bin positiv überrascht", sagte Mr. Carter seiner Tochter. Beide wussten, was er meinte.
Mary-Ann lächelte und sah über seinen Kopf zu James, der scheinbar unbeteiligt bereit stand, falls man ihn brauchte.
Der reiche Geschäftsmann schwieg, während er aß. Es gefiel ihm, dass einmal alles so lief, wie er es wollte. Doch er hatte noch etwas mit Mary-Ann zu besprechen.
"Planst du eigentlich, deine schulischen Leistungen irgendwann zu verbessern, Mary?" Er hatte sich den Kopf so darüber zerschlagen, die Wut stieg jetzt in seinen Worten mit. Erzieherisch betrachtet war das sehr von Nachteil. Mary-Ann sah ihn verärgert an.
"Du weißt genau, dass dieses Jahr nicht so wichtig ist. Erst nächstes beim Fachabitur."
"Ich will nicht, dass du erneut ein Jahr wiederholst, Mary", ließ der Vater seinen Wunsch klar verheißen.
Mary-Ann schnaubte. Ihr Vater konnte nie einen Tag NICHT jammern.
"Jaja. Ich schau, was sich machen lässt."
"Was machst du eigentlich immer in deinem Zimmer? Du hast doch sonst nichts zu tun", fuhr er sie an. Wütend darüber, dass sie seine Aussage offensichtlich durch ein Ohr aufgefasst hatte, durch das andere aber gleich wieder aus dem Kopf entsorgt.
"Ich ... beschäftige mich viel mit Kunst."
"Wenn es deine Noten beeinträchtigt, ist es eine sinnlose Beschäftigung. Außerdem sehe ich keine Resultate davon."
"Achja?"
Die Wut übernahm die Oberhand und Mary-Ann raste nach oben, holte eine Mappe mit Entwürfen. Zeichnungen von alten Bauwerken, Schmuckstücken, gewöhnlichen Alltagsgegenständen bis hin zu Raubtieren, Blumen und Landschaften.
"Sieh's dir einmal an! Sonst interessiert es dich auch nicht! Aber jetzt auf einmal, ja?" Ihr Inneres kochte vor Wut.
Ihr Vater sah sie missbilligend an, schob dann aber seine Brille auf die Nase und sah die Zeichnungen durch. Kritisch betrachtete er sie, stellte jedoch ziemlich schnell fest, dass ihre Bilder wirklich bis ins Detail perfekt ausgearbeitet waren und keine unrealen Dinge darstellten, wie Engel oder Nixen. Menschen hatte sie überhaupt nicht gemalt.
"Ich verstehe", sagte er nach einigen Minuten des Schweigens. "Du befindest dich in der falschen Schule."
Mary-Ann starrte ihn dann an. Hatte er das jetzt ehrlich gesagt?
"Wenn man sich deine Talente ansieht", ergänzte er. "Aber vergiss nicht, wessen Tochter du bist."
"Oh nein, Vater", sie schnaubte. "Das würde ich nie vergessen. Wie könnte ich auch?"

Mary-Ann sagte kein Wort, als sie im Auto saß und James sie zur Schule fuhr. James fühlte ihren Groll auf ihren Vater, da sie an ihn gebunden war, ohne es zu wollen und beschloss, das Mädchen seinen Gedanken zu überlassen.
"Heute musst du mich nicht abholen, James", erwiderte sie, als sie bereits vor der Schule standen. "Ich werde alleine nach Hause kommen. Ich hab noch was zu tun."
Ohne Einsprüche zu erheben, die er eh nicht berechtigt war zu machen, entließ er sie dann und vermerkte das in seinem Kopf.

Jack hatte wohl heute einen der Tage, wo er Mary-Ann einfach nicht in Ruhe lassen wollte. Er schien es nicht wahrhaben zu wollen, dass sie ihn tatsächlich immer wieder abservierte. Seltsamerweise wies Mary-Ann ihn dieses Mal auch gar nicht ab. Sie sagte nur: "Oh, hi Jack", als sie ihn sah. Nachdem er sich an sie kettete und ins Klassenzimmer brachte und sie nicht daran rummeckerte, fragte er mal ganz normal, wie es ihr ging, ihr Gesichtsausdruck erstaunte ihn, sie sah aus, als hätte sie ein mit Streit vergiftetes Frühstück gehabt.
"Nicht sonderlich gut", sagte sie knapp. "Aber es ist nicht so wichtig." Er zuckte mit den Schultern. "Na.. wenn es dich traurig macht, dann ist es aber sehr wohl von Bedeutung."
Mary-Ann sah ihn überrascht an. Ok. Wer hatte ihm Drogen verabreicht? Einen Kurs für gute Manieren aufgezwängt? Etwas Menschlichkeit ins Herz gesetzt? Ihr war klar, dass er sich nach wie vor an sie ranmachte, aber auf einmal tat er es auf eine ganz andere Weise. Eine Weise.. die sie wie zu Beginn ihrer Bekanntschaft denken ließ, er sorgte sich doch um sie.
Sie wusste nicht, ob das stimmte.

Früher, zu Beginn des Schuljahres war sie einfach an ihm vorbei gelaufen, ohne ihn zu beachten. Er hatte ihr stets hinterhergesehen und hatte ein paar Mal einen Ellenbogen in den Magen bekommen, als seine Kumpel ihn wieder auf sich aufmerksam machten. Nicht oft hatte er ein "Er ist ja tatsächlich in die reiche Tussi verknallt" gehört.
Natürlich war Mary-Ann bekannt. Dafür, dass sie immer teure und schicke Klamotten trug, die Mittagspause aber immer allein verbrachte und nie auf irgendwelche Partys ging.
Und für ihren kühlen Gesichtsausdruck. Das gefiel Jack am meisten. Sie schien wie von einem anderen Planeten zu kommen, einem Planeten, wo das Eis herrschte, den Planeten beherrschte und auch die Herzen der Menschen. Und auch, wenn sie edel gekleidet war, immer ein super Make-up und eine tolle Frisur hatte, war sie nicht wie andere Mädchen bzw. Tussis. So ein Einzelstück würde er selten wieder finden, deswegen beschloss er zu handeln, bevor es der gutaussehnde Streber aus dem Jahrgang über ihnen tat. Nicht selten hatte er Mary-Ann abgefangen und sie mit seinem Wissen zu beeindrucken versucht. Mary-Ann hörte sich das immer an. Aber nicht, weil sie das interessierte, sondern weil ihr Vater sagte, sie solle doch mal mit anderen sprechen.
Einmal war Jack ausgetickt, als er ihre Hand genommen hatte, um ihr zu zeigen, wie das Blut in ihrer Hand kursierte.
"Hey, Mary!" Jack war dazu gesprungen und hatte einen Arm um sie gelegt. "Was macht ihr hier?"
Mary-Ann sah ihn kühl an. "Kennen wir uns?"
"Klar, ich bin's. Jack."
"Jack?" Sie dachte ziemlich intensiv darüber nach, ob ihr dieser Name was sagte, als ob sie Angst hätte, ihn wirklich vergessen zu haben, obwohl sie in Wahrheit noch nie ein Wort gewechselt haben.
"... Keine Ahnung, wer du bist", sagte sie schließlich. "Nimmst du deinen Arm bitte weg?"
Jack musste sich beugen und nahm den Arm weg. "Na gut." Einen Moment lang hatte er sich sehr gut dabei gefühlt.
Aber das war schnell vorbei, als er Streber ihn ansah und meinte, er störe. Mary sagte nichts dazu. Sie fand das komisch.
Jack's erster Versuch schlug fehl. Eigentlich hatte er Mary fragen wollen, ob sie nach der Schule 5 Minuten Zeit hätte, aber mit dem "Du störst" hatte sich das rasch erledigt.
Eine Woche später half er ihr dabei, ihre Physiksachen aufzuheben, als diese ihr die Treppe runterfielen. Sie bedankte sich bei ihm, ohne zu wissen, wer es ist. Als sie sich aber aufrichteten und ihre Blicke sich trafen, seufzte Mary-Ann. "Ach du bist es."
"Bin ich so schrecklich anzusehen?", fragte Jack etwas verletzt.
Mary-Ann. "Nein. Ich hab nur deine Aktion, als ich mit dem Typen gesprochen habe, nicht verstanden. Wolltest du da vielleicht was sagen?"
Jack witterte eine Chance und holte tief Luft. "Mary", sagte er voller Hoffnung, ein Tonfall, der vorankündigte, dass gleich etwas Größeres kommen würde.
Mary blinzelte ihn ruhig an. So wie sie es immer tat. "Woher kennst du eigentlich meinen Namen?"
"Du bist bekannt auf dieser Schule", erwiderte Jack. "Was ich dich fragen wollte.." Er hoffte, sie würde nichts weiteres einwenden oder Fragen stellen. "Hast du mal Zeit am Wochenende?"
Mary-Ann sah ihn skeptisch an. "Wofür?"
"Na", meinte Jack. "Einfach einmal einen Tag was anderes machen, als sonst. Der Alltagstrott ist doch lahm, oder nicht?"
Mary überlegte einige Sekunden und musterte ihn kritisch. Jack hatte Angst, sie würde gleich "Nein" zu seiner Einladung sagen.
"Du hast schon recht", antwortete sie aber. "Ich bin gelangweilt von dem ganzen Unsinn. Lass uns was anderes machen." Jacks Augen hellten sich auf. "Soll ich dich am Samstag in der Früh abholen? Dann musst du nicht extra wohin kommen."
Mary sah nicht sonderlich zufrieden aus. "Mir wäre es lieber, wenn wir uns irgendwo in der Stadt treffen. Wenn es für dich in Ordnung ist."
"Klar.." Jacks Freude schwand etwas, aber immerhin hatte sie überhaupt zugestimmt, etwas mit ihm zu machen.
Sie verabredeten sich für Samstag um 12 Uhr an einem Café. Dann konnten sie etwas gemeinsam essen und in der Stadt bummeln gehen. Jack grinste von einem Ohr zum anderen, als er sich von ihr verabschiedete. Mary-Ann hätte lächelte ihm zuliebe etwas und sah ihm nachsichtig, was seine große Freude betrifft, nach. Erst, als Samstag um 12 Uhr, angezogen wie immer, mit der Ausrede im Kopf, sie würde in die Bibliothek gehen, um von ihrem Vater wegzukommen war, da stand und ihn sah, begriff sie, dass es ein Date war, dem sie zugestimmt hatte.

"Also, was ist los?", fragte Jack. Mary-Ann war unentschlossen, ob sie sagen sollte, dass es um ihren Vater ging. Ihr Vater hatte einen guten Ruf. Sie wollte so etwas nicht zerstören. "Mary, bitte!" Jack sah sie gequält an, als sie nichts antwortete. Er hatte wieder diesen Ausdruck von früher, als er alles wissen wollte, was sie betrifft, um eine vertraute Person für sie sein zu können.
Mary wurde schwach bei seinem Anblick. Sie hatte sich gewünscht, er wäre eine vertrauenswürdige Person. Hätte er nur nicht alles zerstört..
"... Du denkst immer noch nicht, dass du mir vertrauen kannst, nicht wahr?" Jack seufzte schwer. Ihr Ausdruck sagte ihm beinahe das, was sie wirklich gedacht hatte.
"Ich habe mich 1 Million Male dafür entschuldigt! Soll ich es weitere Millionen Male tun, damit du mir endlich vergibst?"
Plötzlich griff sie nach seinem Handgelenk und hielt ihn fest, bevor er wegging, wie er es so oft tat, wenn sie nichts sagte. Seine Augen zeigten Leid. Und ihr Inneres wünschte sich gerade, ihm eine zweite Chance zu geben, egal, was er für ein Mistkerl auch war. Ein wahrer Mistkerl würde sie doch nach Monaten einfach fallen lassen, oder nicht?
Jack sah sie an, als würde er weiter warten und nicht weggehen.
Mary fasste Mut, auch, wenn es letztendlich doch wieder peinlich war, so eine Kleinigkeit zuzugeben. "Es ist wegen meinem Vater. Aber.. die Geschichte dauert länger."
Jack nickte. "Ich habe Zeit."
Das Klingeln zur ersten Stunde erönte, Mary sah ihn an, sie wollte, dass er geht, um nicht zu spät zu kommen. Jack wiederholte seine Worte geduldig. "Ich habe Zeit."
Sekunden der Unschlüssigkeit verstrichen.
"Essen wir heute zusammen zu Mittag?", fragte Mary plötzlich. Sie konnte gerade nicht über das Thema, das sie belastete, sprechen. Ihr Herz schlug zu schnell, als dass sie das sachlich erklären könnte.
"Na klar. Warte hier auf mich, ich werde dich abholen."
Mary nickte dankbar, die Sehnsucht nach Beistand stand ihr ins Gesicht geschrieben. Jack nahm ihre Hand weg, drückte sie kurz, lächelte und ging dann zu seinem Klassenzimmer.
Er ist kein Schwein, Mary,

sagte ihre innere Stimme.
Ich weiß, sagte Mary zu sich selbst. Ich weiß es doch.

Mühsam verstrichen die Schulstunden. Mary hatte sich selten so angespannt gefühlt. Sie wollte mit Jack reden, doch sie hatte auch Angst und große Bedenken. Wenn es ihm zu viel werden würde, würde er dann einfach weggehen? Das würde sie sehr verletzen. Aber einen Rückzieher könnte sie auch nur machen, indem sie Jack verletzte. Musste überhaupt jemand verletzt werden? Konnten sie sich nicht vertrauen?
Mary war sich da nicht so sicher. Nach Jacks häufigstem Verhalten zu schließen war er einfach nur ein Aufreißer, der etwas beleidigt war, weil er ein Mädchen nicht bekommen konnte. Nach Jacks seltenem Verhalten zu schließen, war er jemand, der unglaublich treu sein konnte.
Manchmal wünschte sie sich nur, mit ihm reden zu können, schließlich hatte sie niemand anderen. Aber er wünschte sich mehr und das war nicht zu leugnen. Sie hatte Angst, damit einen großen Fehler zu begehen.

Als der alles beendende und erlösende Gong der 1. Schulphase ein Ende bereitete, hatte Mary kaum Zeit, ihre Sachen wegzupacken, Jack kam bereits mit geschulterter Tasche herein.
"Hey."
"Du warst schnell", bemerkte Mary. Sie lächelte aufgrund seines Übermuts.
"Ich hatte es eilig", erklärte er grinsend.
Mary verstaute ihre Hefte und Bücher nahm ihre Umhängetasche hoch. "Lass uns gehen."
Jack stand schon an der Tür un ließ ihr den Vortritt, die Blicke der ganzen glotzenden Mitschüler von Mary-Ann ignorierend. Die hatten ja nichts Besseres zu tun, als dauernd zu spekulieren.
Schweigend gingen sie beide in die Kantine, wählten ihr Essen aus und setzten sich an einen Tisch, der etwas abseits der anderen lag.
"Also, was ist los?", fragte Jack zum wiederholten Male, als sie nicht anfing, von selbst zu reden. Mary-Ann sah ihn an. "Es geht um meinen Vater."
Jack nickte. "Erzähl."
Mary war sich nicht sicher, wie sie anfangen sollte, ob sie es überhaupt tun sollte, doch dann fasste sie sich ein Herz, weil Jacks Augen so bittend funkelten und erzählte, wie ihr Vater sie nie anhörte, sie nie tun durfte, was sie wollte, wie gemein er ihr gegenüber war, auch, wenn sie gute Noten nach Hause brachte und so weiter..
Schließlich ließ sie sich von ihren Gefühlen leiten und atmete schwer und tief aus, ihre Augenlider senkten sich etwas erschöpft vom vielen hitzigen Erläutern. "Ich fühle mich wie in einem Käfig, Jack. Es ist ein goldener Käfig, ich habe alles, was ich brauche und noch mehr das, was ich will. Aber mein Leben ist bereits im Vorfeld geplant worden und ich darf nicht selbst entscheiden. Weil ich die Erbin von ihm und seiner Firma bin."
Jack musterte sie nachdenklich, er war nicht sonderlich gut bei Beraten von Problemen, aber er konnte sie nicht einfach so verlassen, ohne was getan zu haben, jetzt, da er es wusste und sie sich ihm endlich anvertraut hatte.
"Der wird es schon verstehen. Früher oder später", war sich Jack sicher. "Vielleicht muss nur noch etwas Entscheidendes passieren."
"Was wäre das?", Mary blickte ihn ratlos an und ihre Augen suchten eine Lösung in seinem Gesicht.
"Warte einfach ab."
Marys Hoffnung schwand. Sie hatte es ja doch geahnt. Sie nickte kläglich, weitere Worte fehlten ihr. Einem Erbe konnte kaum einer entkommen.
Und Jack sah das wohl nicht einmal als große Schwierigkeit. Wahrscheinlich wünschte er sich, selbst so ein mächtiges Erbe zu besitzen. Welcher normale Bürger hätte denn nicht gern etwas mehr Geld? So waren die Menschen..
"Ich bin mir sicher, das wird wieder", sagte er ernst. "Ich weiß es."
Mary nickte nur. Sie wollte nichts mehr darüber hören.

Trotz Mary-Anns klarem Befehl stand James bei Schulschluss vor der Schule, wo er sie auch am Tag davor abgeholt hatte. Mary konnte das Auto kaum übersehen.
James wartete und beobachtete die ganzen Schüler dabei, wie sie lachend, sich umarmend oder ärgernd aus der Schule gingen. Kaum einer war alleine, kaum einer hatte es eilig. Nur die, deren Bus gerade an der Haltestelle abfahren wollte, rasten wie Raketen aus dem Gebäude.
Wenn Mary es sich anders überlegt hatte, dann wäre er bereit und zur Stelle, so wie ein echter Butler. Was ihn wunderte war tatsächlich, dass Mr. Carter und Mary ihn als Butler bezeichneten, was ziemlich edel klang, anstatt Türöffner oder ein Irgendjemand vom Hauspersonal. Sie lebten in einer deutschen, mittelgroßen Stadt in Baden-Württemberg, da war die Bezeichnung "Butler" nicht sehr verbreitet.
Dies war seine erste Stelle in diesem Beruf und er wollte sie gut machen und möglichst lange behalten.
Mr. Carter würde möglicherweise einen Aufstand machen, wenn er sah, dass James nicht pünktlich losfuhr, um seine Tochter abzuholen. Oder auch einen Aufstand darüber, dass er ohne seine Tochter zurückkam, wenn er nur den Anschein erwecken wollte, er hole sie ab. Laut Mr. Carter waren Marys Gewohnheiten klar: Jeden Tag zur Schule, pünktlich nach Hause. Hausaufgaben, wenn denn und dann hatte sie Zeit für sich und machte irgendwelche Dinge in ihrem Zimmer. Nur Samstag ging sie manchmal in die große Bibliothek, um irgendwas Interessantes zu suchen, doch sie kam selten mit etwas zurück. Sonntag ging sie nach Laune in den Park und sah den Kindern und Hunden beim Spielen zu. Mehr gab es nicht zu beachten. Ihr Plan konnte nur nach zwei Arten aussehen. Und Mr. Carter wusste das.
James spielte am Knopf der Radiosender herum. Nichts sprach ihn wirklich an, also schaltete er es aus. In eben dem Moment kam Mary aus der Schule und schulterte ihre Tasche noch einmal ordentlich. Dann ging sie die Stufen hinab, ohne jemanden anzusehen und an James vorbei, da sie ihn nicht einmal wahrnahm.
James hupte. Sie total zerstört so davon gehen zu sehen würde er nicht zulassen. Es würde gegen seine Pflicht verstoßen.
Mary-Ann blickte überrascht auf, sah James, sah noch einmal hinter sich, als würde sie sich vergewissern wollen, dass ein bestimmter Jemand sie nicht sah, als sie dann zum Auto ging und sich dankbar auf den Beifahrersitz plumpsen ließ.
"... Dankeschön, James." Mary seufzte. "Danke, dass du nicht auf meine Worte gehört hast." Sie grinste dann etwas.
James lächelte. "Ich wollte einfach zur Stelle sein, falls Sie mich brauchen würden."
Mary-Ann sah ihn etwas unzufrieden an. "Du kannst mich auch mit -Du- ansprechen.. bitte."
James startete den Motor und nickte. "Wie du wünschst, Mary."
Das Mädchen legte den Sicherheitsgurt an und beschloss, von sich aus zu fragen. "Und wie geht es dir?"
James lachte auf. Normalerweise sollte er das fragen. "Gut, wie immer, danke. Und dir?"
Der Blinker des Mercedes leuchtete auf und das Auto begab sich wieder auf die Straße.
"Es ist alles wie immer", erwiderte Mary knapp. "Und meine Noten auch."
James sah konzentriert auf die Straße. "Vielleicht ist es mir nicht gestattet, so etwas zu sagen, aber solltest du dich nicht etwas mehr anstrengen?"
Das Mädchen grummelte etwas. "Sollte. Aber für meinen Vater tue ich es nicht. Das kann ich dir gleich sagen."
"Ich versteh nicht so ganz, wieso du dich immer so widersetzt", bemerkte ihr Butler. "Er will deine sichere Zukunft gewährleisten."
"Das weiß ich doch!", erwiderte sie. "Aber er könnte mir etwas mehr Freiheit lassen." Sie erinnerte sich an den Vergleich, den sie auch Jack schon gesagt hatte. "Es ist ein goldener Käfig für mich, James."
"Ich bin jetzt auch in diesem sogenannten Käfig. Deswegen hoffe ich, es ist nicht mehr so schlimm für dich."
"... Wenn ich jetzt aufwache, weiß ich, es ist nicht mehr so schlimm wie sonst", gab die 17-jährige zu.
Ein Schmunzeln umspielte James' Lippen. "Ich kann deinen Vater fragen, ob ich dich zukünftig wecken kann." Er sah kurz von der Straße weg und sie an. "Wenn du möchtest."
Mary-Ann grinste unwillkürlich. "Sehr gerne. Und ich kann fragen, ob mein Vater dir einmal am Wochenende auch freigibt."
James verneinte, er brauche keine freien Tage. "Manchmal muss man vom Alltagstrott weg", erklärte Mary streng.
"Oh, vielleicht, wenn mir mit dir mal langweilig wird." Er lächelte amüsiert. "Aber das bezweifle ich, zumindest in der nächsten Zeit." Ein frecher Unterton begleitete seine Stimme.
Die Augen seiner Beifahrerin weiteten sich etwas. Mehr konnten sie nicht sagen, denn plötzlich ging eine Erschütterung durch das Auto. Jemand war ihnen hinten aufgefahren.

Es dauerte eine Weile, bis der Unfall von der Polizei geklärt wurde. Während James draußen stand und mit der älteren Frau, die das angerichtet hatte, über Haftpflichtversicherung und Verschuldung gemeinsam mit den Polizisten diskutierte, rief Mary ihren Vater per Handy an und beschloss, ihn nicht in Unwissenheit zu lassen, wieso sie später nach Hause kommen würden. Aber nicht wegen ihr selbst, sondern damit James nicht bereits am Anfang seiner Arbeit Schwierigkeiten mit ihm bekam. Ihr Vater hörte sich alles geduldig an, etwas überrascht, dass seine Tochter ihn sachlich informierte und gab sein "Alles klar, ich weiß jetzt Bescheid."
Nach einer halben Stunde war alles halbwegs geklärt, Schadenskostenregelung würde per Post genauer statt finden, denn der Schaden war nicht ausschlaggebend dafür, dass sie nicht weiter fahren konnten. Es war ein einfacher Stoß.
James sah aus, als wären seine Nerven sehr strapaziert, sein Gesicht war ziemlich angespannt. Die Frau hatte ihm ohne Ende ihre Entschuldigungen entgegen geschmissen, ohne sich auf die Klärung des Falles zu konzentrieren und das störte ihn höllisch. Als sie endlich wieder Richtung Zuhause unterwegs waren, zuckten seine Mundwinkel ständig.
Mary-Ann betrachtete ihn von der Seite. "Alles in Ordnung?"
James lächelt etwas bitter und sprach zum ersten Mal für einen Butler untypisch. "Die Frau hat meine Nerven ausgesaugt. Ich bin froh, dass es endlich vorbei ist. Ich hätte sie am liebsten angeschrien."
Mary erwiderte nichts Konkretes darauf, sie wollte ihn nicht noch mehr verärgern.
James versuchte, sich zu fassen. Er war sich bewusst, dass er Mary gerade eine ganz andere Seite von sich gezeigt hatte.
"Gleich bin ich wieder normal, keine Sorge."
"Ich sehe nichts Unnormales", erwiderte Mary. "Mich hätte es auch aufgeregt."
"Dein Vater würde das nicht mögen. Bei meiner Arbeit dürfen Gefühle und Charakter keine Rolle spielen."
"Mein Vater mag vieles nicht", antwortete sie einfach. "Es ist ok."

Als Mary später alleine im Zimmer saß, kursierten ihre Gedanken um James. Schon dieser kleine Vorfall hatte ihr gezeigt, dass er nicht wirklich so war, wie er als Butler zeigen wollte. Sie fand das nicht sonderlich schlimm, dass er genervt war. Doch Mary hatte gelogen, sie selbst ignorierte so etwas und ließ sich nicht beirren.
Sie wollte ihn nicht verurteilen, dafür war die Sache viel zu einfach, dennoch ahnte sie, dass vielleicht mehr hinter seiner Fassade steckte, als sie vermutet hätte.
Zu allererst sollte man ihn aber dafür bewundern, dass er sie nach der Schule abgeholt hatte, weil er die einzelne Anweisung zwar übergangen hat, den Grundsatz seiner Pflicht aber geachtet hatte. Und es war ihr gerade recht gekommen.
Jack hatte nichts weiter Erwähnenswertes zu ihrer Situation gesagt und sie hatten sich recht still getrennt. “Warte”, hatte er immer wieder auf's Neue wiederholt. “Es wird alles wieder gut.” Aber worauf denn? Wenn man nur wartete, würde sich nichts tun. Das war ein klarer Grundsatz. Man musste etwas tun!
Mary-Ann seufzte. Vielleicht würde ihr noch irgendwas einfallen, an einem anderen Tag. Doch zuerst einmal sollte sie Hausaufgaben machen.

Kaum waren alle Matheformeln angewandt, alle Vokabeln gelernt und alle Zeilen geschrieben, klopfte es an Marys Tür.
Das erfreute "Herein" und das rasche Zuwenden zur Tür ließen klar erkennen, dass Mary jemanden erwartete. Aber es war nicht James. Die Tür ging auf - aber niemand stand da. Mary-Ann blinzelte verwirrt, um die Situation zu verstehen. Hatten sich Reika oder James einen Spaß erlaubt? Rasch sprang sie auf und sah nach rechts und links in den Gang. Den Gang, in dem niemand war, der gekichert hätte und gesagt hätte. "Haha, das war ein Scherz. Hast du dich erschreckt?"
Als sie niemanden sah, erschreckte sich Mary-Ann tatsächlich. Normal war das ganz bestimmt nicht, es ließ sich keinerlei rationale Erklärung dafür finden. Mit alarmierten Blick lief sie runter in den Eingangsbereich und sah, wie James gerade durch die Tür hereinkam. Ganz offensichtlich hatte er das Auto gerade geparkt.
"Hallo, Mary", grüßte er sie freundlich. "Brauchst du was?"
James hängte die Autoschlüssel an ihren rechtmäßigen Platz.
"N-nein, alles.. in Ordnung..", stotterte sie daher. Unbehagen lag ihr schwer auf der Seele, doch sie wusste nicht, was sie tun sollte. Das konnte sie ihm ja wohl unmöglich erzählen: "Oh, James. Da war gerade so etwas wie ein Geist bei mir. Kannst du das nicht überprüfen gehen?" Wie absurd das doch klang...
"Du siehst beunruhigt aus", stellte er fest und zog seine Jacke aus. "Ist wirklich alles in Ordnung?"
"Ja", erwiderte Mary, immer noch etwas konfus. Sie sah sich im Haus um, alles war wie immer. Hatte sie sich das eingebildet? "James, können wir vielleicht...", es entstand eine lange Pause. Sie wollte gerade nicht alleine sein und erst recht nicht alleine in ihrem Zimmer. "... zusammen Tee trinken? Das wäre jetzt sehr schön."
James lächelte. "Natürlich. Ich erledige alles, dann bringe ich ihn hoch in dein Zimmer."
"Nein, wir können doch auch hier trinken", erwiderte Mary-Ann plötzlich und als sie James nachdenklichen Blick sah, der fragte, wieso es denn nicht sein sollte, wie immer, hängte sie ein schwaches "... nicht?" hinterher.
"Doch, natürlich", erwiderte der Butler. "Alles, was du willst."
Mary-Ann atmete erleichtert aus. Sie hatte sich das sicher nur eingebildet, die Tür war vielleicht auch vom Zugwind aufgegangen und das Klopfen war eine Halluzination gewesen, da sie James ja so erwartet hatte. Jetzt konnte sie sich beruhigen, da er in der Nähe war und mit ihr sprach, um sie abzulenken. Alles war ok. Schließlich konnte das jedem mal passieren ... oder?

Als sie eine Weile später zusammen am Tisch saßen und den Nachrichten aus dem Fernsehen lauschten, verschluckte sich Mary vor Schreck, so dass James ihr auf den Rücken klopfen musste, damit sie wieder Luft bekam und ihrem Leben nicht einen Endstrich setzen musste.
Ziemlich entsetzt lauschte sie der prognostizierten Unwetterwarnung für heute Nacht. Es waren keine glücklichen Verkündungen, die sie hörten. Starke Windböen mit Geschwindigkeiten bis zu 65 km/h sollen auftreten, gemischt mit heftigen Schauern und Gewittern. Dabei war der Tag doch völlig normal gewesen? War das nicht seltsam?
James lauschte dem scheinbar unbesorgt und nippte an seiner Tasse Tee. "Heute darf kein Fenster geöffnet bleiben", meinte er schlicht.
Niemals würde sie es zugeben, doch wann immer ein Gewitter über die Stadt zog, verkroch sie sich ängstlich im Bett, bangte jede Sekunde und bekam kein einziges Auge zu, da immer, wenn sie zu müde wurde, um sich weiter zu quälen, ein Donnergrollen ertönte und ihre Angst wieder vollends aufkeimen ließ.
Sie fürchtete Gewitter über alles, da sie nichts dagegen tun konnte und ihm vollends ausgeliefert war. Die Natur konnte keiner beherrschen. Das war ihr mehr als klar.
Und das machte ihr mehr als so vieles richtige Angst.
Mary-Ann sagte nichts zu James' Kommentar. Sie sah eher beängstigt zu, wie die Winde auf der Wetterkarte dargestellt wurden.
James Augen huschten über ihr Gesicht und er begriff, ohne zu fragen: Sie fürchtete heute Nacht.

"Gute Nacht...", sagte Mary-Ann schließlich ihrem Vater, nachdem James und sie erklärt hatten, was vorgefallen war und er sich in seine Gemächer zurückziehen wollte.
Der Regen prasselte bereits verheißungsvoll an die Fensterscheiben und James sah sie fragend an, wieso sie nicht endlich hochgehen wollte.
Mary schluckt schwer. "Wo genau..." Sie überlegte, wie sie das am besten formulieren sollte, ohne, das es auffiel, war sich aber sicher, er würde sie ja doch irgendwie durchschauen. "Ist dein Zimmer, James?"
Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie gar nicht wusste, wo Reika und James übernachteten. Schließlich waren sie immer um sie herum, wenn sie sie brauchte. Dieses Mal wollte sie jedoch sicher gehen. Im Falle eines Falles würde sie ja schließlich doch lieber zu James laufen, statt zu Reika. Ihr Vater kam gar nicht erst in Frage, der würde sie sowieso nur auslachen.
Mit Verblüffung fand sie heraus, dass das Zimmer im selben Flur war. Umso besser.
James musterte sie nachdenklich. Er hatte schnell begriffen, was ihr Problem war, dennoch beschloss er, es nicht darüber zu sprechen, weil er fürchtete, er könne sonst ihr Selbstwertgefühl erschüttern.
In ihrem Zimmer zog Mary sich rasch um, mit dem stetig wachsenden Gefühl, dass sie beobachtet wurde. Lag wohl daran, dass sie jetzt doch mit irgendeinem ängstlichen Teil ihrer Seele glaubte, sie habe tatsächlich einen Geist gesehen. Trotzdem zwang sie sich zur Ruhe und erlaubte sich nicht, in Panik auszubrechen, wenn es nicht handfeste Beweise dafür gab. Sie musste nur schlafen, das war alles. Vielleicht würde sie sogar so tief schlafen, dass sie das Gewitter übertönte. Sie hoffte es.
Doch als sie schließlich die Lichter ausgemacht hatte und gedankenverloren von ihrem Bett aus an die Decke starrte, wurde dieses Gefühl nur noch intensiver.
Und der Schlaf kam nicht.

Als der Regen zornig an ihre Fensterscheibe prasselte, die Uhr weit nach Mitternacht anzeigte und die Vorhänge die Geräusche, die ihr den Schlaf raubten, scheinbar nicht zu dämpfen vermochten, drehte sie sich fest wie ein Igel zusammen und zwang sich, an James zu denken. An Jack. An ihren Vater. Was alles vorgefallen war die letzten Tage. Das alles, um sich abzulenken, das alles, um keine Angst zu haben. Sie hoffte, sie würde bald müde werden und einschlafen, schließlich musste ihr Körper irgendwann erschöpft genug sein.
Die Zeit verstrich.
Der Schlaf kam nicht.
Als sie unter der Decke zu ersticken drohte, nahm sie sie sich vom Gesicht und holte tief Luft.
Ein kalter Windhauch stahl sich ihre Wange entlang und sie sah in die Richtung des Fensters. Der Himmel grollte und der Regen prasselte unablässlich weiter. Mary-Ann hatte Angst, sich auch nur weiter zu bewegen, aus Angst, es könnte gewaltig blitzen. Ein weiterer
Windhauch strich ihr Gesicht und dieser fühlte sich noch kälter an als der zuvor.
Das junge Mädchen zog die Brauen zusammen, als es die Luft flimmern sah, die Luft direkt vor ihrem Bett mit der Aussicht zum Fenster...
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch richtete sie sich auf und spürte wieder etwas ihre Wange entlangstreicheln, diesmal fühlte es sich nach etwas festem an, das war kein Windhauch mehr..
Doch sie sah nichts.
Plötzlich hörte sie ihr eigenes Herz so laut schlagen, dass sie fürchtete, es war ein anderes fremdes Geräusch, bis sie sich die Hand auf die Brust legte um zu fühlen, ob sie wirklich Herzrasen hatte. Es war ihr eigenes.
Erleichtert atmete sie durch und sah zu dem Bild in ihrem Zimmer, das sie so liebte.
Normalerweise fühlte sie sich getröstet davon, weil es ihr eine Art Weg zeigte, doch in diesem Moment kam es ihr mehr beängstigend als vertraut vor. Die Farben waren zwar grau wegen der Dunkelheit, doch das war nicht der Punkt. Die grauen Farben bildeten weniger einen Weg, als einen gierigen Schlund, der so finster war, dass sein Ende nicht zu sehen war.. vielleicht sollte er nicht gesehen werden..
Mary schüttelte den Kopf und verwarf den Gedanken. Sie übertrieb wieder mit ihrer Fantasie, das Bild würde bei Tage wieder harmonisch und strahlend aussehen. Sie musste nur den Tag abwarten.
Doch der Tag war fern.
Nach mehreren Minuten, die sie still dasaß und abwartete, ob was geschah – "was" wollte sie in diesem Fall nicht definieren – legte sie sich wieder zurück und sprach innerlich beruhigend auf sich selbst ein. Das bildest du dir nur ein, Mary.

Der gleiche Satz, immer wieder.
Sie sah zum Fenster, die Vorhänge wehten geheimnisvoll.
Dann knarrte plötzlich eine Bodendiele und Mary richtete sich erschrocken auf.
Dann kam das, was sie die ganze Zeit gefürchtet hatte, es blitzte und grollte am Himmel, das Zimmer war erleuchtet von dem Grauen, das selbst die Vorhänge durchdrang.
Doch das wäre noch nicht das schlimmste gewesen.
An ihrem Fenster konnte sie nun viel mehr erkennen.
- Da stand jemand.


Eine schwierige Woche






Bis er an diesem Tag ins Bett kam, dauerte es ganz schön lange. James hatte noch die gesamte Küche geputzt und aufgeräumt. Da er noch lange mit Mary beisammen gesessen war - was sich für einen Butler nicht gehörte – hatte er ein schlechtes Gewissen und wollte ein paar Zusatzaufgaben übernehmen, um es zu lindern.
Der Mann faltete das Handtuch beiseite und machte das Licht nach einem stolzen Blick auf sein Werk aus. Dann ging er die Treppe hoch in sein Zimmer und drückte gerade die Türklinke runter, als er einen schrecklichen Schrei vernahm.
Alarmiert blickte er in die Richtung, aus der er gekommen war und wusste sofort, woher er genau kam: Aus Marys Zimmer.
Wie hätte es auch anders sein sollen?
Er eilte sofort hin und klopfte. Ohne eine Antwort zu erwarten, betrat er dann den Raum, den Mary-Ann glücklicherweise nicht zugesperrt hatte und sah sie aufrecht am Rand ihres Bettes sitzen, die Hand seltsam nach vorne gestreckt. Sonst war nichts zu sehen.
"Mary?", flüsterte er zaghaft. Er wollte sie nicht erschrecken.
Sie antwortete nicht. James trat vorsichtig an sie heran und musterte sie besorgt. Irgendwas stimmte nicht mit ihr, das war mehr als klar. Sie blickte nur starr vor sich hin. Als würde ihr jemand grausame Geschichten erzählen und sie könnte nicht anders, als ihr zuzuhören.
"Mary", wiederholte James.
Erschrocken sah er zu, wie kristallklare Tränen ihre Wange hinab fielen, ohne, dass sich sonst eine Regung in ihrem Gesicht zeigte.
Er beugte sich neben sie und nahm ihre Hand runter. Als sie nicht reagierte, drehte er ihr Gesicht sanft und vorsichtig zu sich und sah sie durchdringend an, in der Hoffnung, sie irgendwie zu erreichen.
Erst nach wenigen Sekunden blinzelte sie verwirrt und schien ihn zu erkennen, ihre Augen fixierten seine.
"James?", fragte sie etwas konfus, als wüsste sie nicht sicher, wer vor ihr wäre.
"Was ist passiert?", drängte er zu wissen.
"Es tut mir so weh", klagte sie dann, verzog das Gesicht schmerzvoll, als würde das Leid sie erst jetzt richtig erreichen. "Es tut weh."
James wusste nichts damit anzufangen und sein Blick wurde zunehmend besorgter. "Was tut weh?"
"Mein Herz."
"Wie?", fragte er alarmiert, ob er nicht den Arzt rufen sollte. Vielleicht war das ja was Ernstes..
"Irgendwie", flüsterte sie und legte den Kopf an seine Schulter.

Und irgendwann kam doch der nächste Morgen.
James war noch eine ganze Weile bei ihr gesessen und hatte sie davon überzeugen wollen, dass sie einen Alptraum gehabt hatte. Sie schien es nicht wahrhaben zu wollen, gab letzendlich aber nach und legte sich hin. Das Gewitter schien ihr überhaupt nichts mehr auszumachen, sie zuckte bei keinem Donnergrollen zusammen und sah nur eine Weile vor sich hin, bevor sie die Augen schloss. James machte das fast noch mehr Sorgen. Sie sah in der heutigen Nacht dem Mädchen, dass er die letzten Tage kennen gelernt hatte, gar nicht ähnlich. Sie hatte weder etwas Übertrotziges an sich, noch sah sie so stolz aus, wie sonst immer. Heute Nacht war sie ein anderer Mensch gewesen. Das war beinahe unheimlich.
Umso erleichter war er, als er - sowieso schon übermüdet, weil er erst tief in der Nacht schlafen konnte – sah, dass Mary-Ann lächelnd zum Frühstückstisch kam und ihren Vater mit Sätzen wie "Mach nur, mach nur", "Jaja, ich weiß" und "Das interessiert mich sowieso nicht" abwimmeln wollte, als er ihr sagte, er wäre für eine Woche auf einem wichtigen Meeting in England.
Als er nichts Verwertbares aus seiner Tochter herausbekam, zog Mr. Carter auch James zu Tisch und erklärte ihm alle wichtigen Vorgänge im Haus, worauf er achten muss und was auf gar keinen Fall vergessen werden durfte.
"Ich verlasse mich sehr auf dich, James", beendete er seinen Vortrag über die Ordnung in diesem Haushalt. "Und ich hoffe, ihr kommt alleine klar. Reika wird für zwei Tage nicht da sein, da sie Urlaub hat, also denkt nicht sie hätte meine Erlaubnis nicht."
Mary-Ann nickte knapp. Es war ihr nur recht. James musterte Mr. Carter etwas misstrauisch. Ihm wollte nicht klar werden, wie er ihn alleine mit seiner minderjährigen Tochter alleine lassen konnte. Aber vielleicht war das für Geschäftsmänner gar kein Problem. Nicht, dass er irgendwelche bösen Pläne hatte.
"Mein Flug ist heute um 17 Uhr. Beeil dich bitte nach der Schule, Mary. James soll dich abholen und wir fahren dann gemeinsam zum Flughafen."
Das Mädchen nickte. Sie war das ganze Spielchen im Grunde gewohnt und es brachte auch einen ganz klaren Vorteil mit sich: Sie musste sich nicht ständig vor ihrem Vater rechtfertigen.
Reika war nicht anwesend, wahrscheinlich war sie irgendwie mit der Wäsche beschäftigt Auch ihr würde er einen Vortrag halten, da war sich Mary sicher.


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Tag der Veröffentlichung: 07.08.2012

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