Die Feiertage waren vorüber, doch jetzt begann eine heikle Zeit. Nur wenige Tage trennten Weihnachten von Neujahr und das Chaos ging in Verlängerung. Der Weihnachtsbraten war Vergangenheit, von dem vielleicht nur noch ein paar Reste übrig blieben. Jetzt musste ein Silvesterdinner gezaubert werden. Bei ihm würde es Fischfilet geben. Unbrauchbare Geschenke wurden umgetauscht, während die Auslage an Feuerwerk ihren Reiz bekam.
Neue aber dennoch alltäglich Dinge wurden Mangelware, auch wenn die Zeitspanne in denen alle Geschäfte schlossen, diesmal kürzer war, als über das Weihnachtsfest. Dafür konnte Alex endlich die Lieblingscornflakes seines Sohnes ergattern.
Luca wird sich sicher freuen, ging es Alex durch den Kopf. Dies und ein kleines Set Feuerwerkskörper, das er mitnehmen wollte.
So langsam wurde alles interessant, was laut war und BUMM machte. Sogar wach bleiben wollte der Kleine schon, aber Alex wusste, dass spätestens 10 Uhr die Augenlider seines Sohnes unsagbar schwer werden würden.
Ausgiebig studierte der Vater die Aufschrift auf dem Karton. Er konnte so vieles nicht verstehen, was seinem Kind Freude machte. Diese klebrig, süßen Dinger zum Beispiel. Für ihn war es nur kitschig buntes, Zahnschmerzen verursachendes Zeug, sein Sohn jedoch liebte es und hätte am liebsten jeden Morgen damit begonnen.
Eine kleine Freude, die er Luca ungern nahm. Wo er ihn schon so oft enttäuschen musste.
Mit einem Seufzen ließ Alex die Packung in seinen recht leeren Korb sinken.
Am Morgen hatte er schon wieder einen Stapel Bewerbungen zur Post gebracht, mit denen ein kleiner Hoffnungsschimmer mitreiste, doch mit jeder erneuten Absage wurde der geringer.
Egal, was Alex anstellte, sein Glück schien ihm mit der Kündigung genommen worden zu sein. Es gab schon ein paar Angebote. Einmal dachte er sogar, den großen Glücksgriff gemacht zu haben. Zu spät erfuhr er, von den Zahlungsschwierigkeiten der Firma, die ihm nach einer Gehaltszahlung die weiteren schuldig blieb.
Dann waren da noch ein paar Jobangebote, außerhalb seines Berufes, die er hätte annehmen können. Davor schreckte er jedoch zurück, als bekannt wurde, wie die Arbeitszeiten geregelt waren. Seinen kleinen Luca hätte er in dem Fall nicht einmal mehr zu Gesicht bekommen.
Für ihn ein undenkbares Opfer.
Und das alles nur wegen ...
Alex hob den Blick an. Entlang an schlanken Beinen in überaus engen Jeans, sehr zum Vorteil der Trägerin, die am anderen Ende es Ganges stand. Entlang der schlanken Hüften, über eine knappe aber modische Jacke, der Hals- und Kinnpartie hinauf, in ein überaus hübsches Gesicht, umrahmt von wundervollen, braunen Locken.
… Melina.
Langsam tauten die von Kälte geröteten Wangen auf und hinterließen ein Glühen, erfüllt von Scham in diesem zarten Gesicht, das sich kurz darauf abwandte. Fluchtartig verschwand das Mädchen hinter einem der Regale aus seinem Blickfeld.
Eine doch recht ungewöhnliche Begegnung, wenn man die letzten dachte, in denen ihr sogar eine aufdringliche Art nicht peinlich zu sein Schein.
Alex’ Kopf sank auf seine Hände, die auf dem Griff des Einkaufswagens ruhten. Über seine Lippen wanderte ein amüsiertes Lächeln, während sein Blick nicht von der Stelle wich, an der Melina verschwand.
Was wohl in sie gefahren war? Ganz anders als die Melina, die er kannte und immer bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf ihn zu stürmte. Eher wie ein kleines Schulmädchen. Verlegen, wie er es oft früher bei einer Begegnung mit ihr war.
Es passte nicht zu ihr.
Gedanken, für die er sich sofort rügte.
Was hatte ihn das überhaupt zu interessieren? Er sollte sich gefälligst darüber freuen, dass sie endlich Vernunft angenommen hatte! Das war doch sein Wunsch. Dass Melina ihn endlich in Ruhe ließ.
Und doch ... Sein Blick lag starr auf dieser einen Stelle, genauso eisern, wie das Lächeln auf seinen Lippen, was sich nicht vertreiben ließ und dieses warme Gefühl tief in seiner Brust. Ein wärmender Schal, der sich um sein pochendes Herz legte.
Nicht nur sie fühlte sich wie ein kleines Schulkind in der Nähe der ersten großen Liebe.
Wild schlug ihr Herz in der Brust, seitdem sie ihm wieder über den Weg gelaufen war.
Erst jetzt, hier vor der Käsetheke, wo Melina angehalten hatte, beruhigte es sich langsam wieder.
Den Blick warf sie kurz zurück.
Seit dieser einen Nacht hatte Melina öfters an ihn denken müssen. Alex und den süßen Luca.
Sie wusste, es war nicht richtig, die Bewerbung an sich genommen zu haben. Wenn Alex das erfuhr. Melina mochte nicht an die Konsequenzen denken. Konnte sie überhaupt in seiner Gunst noch tiefer sinken als jetzt?
Dabei mochte sie ihn. Seine nette Art, damals als beide noch im gleichen Büro arbeiteten. Fürsorglich und höflich. Meist war er im Beruf ernst, aber sein verträumtes Lächeln an manchen Tagen machte sie glücklich. Dann noch der kleine Luca. Ein echter Sonnenschein. Wie die Mutter beide hatte verlassen können, sie konnte es nicht nachvollziehen.
Wann immer sie in seiner Nähe war, fing ihr Herz an, in einer wilden Melodie zu tanzen, nicht so heftig wie jetzt. Außerdem schien sich ihr Kopf abzuschalten.
Oftmals wurde es genau dann peinlich. Sie stellte sich so ungeschickt an. Wie eben auch an diesem einen, schicksalhaften Tag, den sie seitdem verfluchte.
Als sie mit Alex plauschte und die Akten in ihrer Hand sich auf seinen Stapel verloren.
Aufgefallen war es ihr viel zu spät.
Ach, er hatte ja recht wütend auf Melina zu sein, sie sogar zu hassen.
Gedankenverloren streifte Melina durch den Markt.
Was wollte sie noch kaufen? War es Kaffee, Milch oder etwas anderes? Selbst das wurde aus ihrem Kopf verdrängt. Nur noch Alex war in ihren Gedanken und die brachte er dort gehörig durcheinander.
Mit leeren Taschen verließ Melina letztendlich den Laden. Was auch immer sie hier wollte, es würde schon nicht so wichtig sein. Und spätestens nach Silvester konnte sie ihren Einkauf nachholen.
Knaller und alles andere, was manche so in die Luft schossen, stand nicht auf ihren Einkaufsplan. Cindy hatte sie gebeten, wieder mit ihr zu feiern, doch selbst das hatte Melina abgesagt. Ihre Pläne für dieses Silvester waren ganz andere.
Ihr Cousin hatte sein Büro in einem belebten Teil der Stadt. Ein gewaltiger Komplex, mit Dachterrasse, auf der er sich sein kleines Reich geschaffen hatte. Ein grünes Paradies in diesem tristen Grau, von dem aus die ganze Stadt überblickt werden konnte.
Er braucht keine Diamanten oder andere wertvolle Steine. Dieser Smaragd war sein einziger Schatz, pflegte ihr Cousin immer zu sagen. Und es stimmte.
Dieser ruhige Pol in einer von Hektik gepeitschten Stadt war ein Traum, der jetzt wegen der Feiertage, an dem die Belegschaft frei bekommen hatte, verschlossen war. Nur der Chef persönlich hatte heute ein paar Dinge zu erledigen. Vielleicht gab es aber auch ehelichen Streit, vor dem er hierher floh.
Melina wagte es nicht, David darauf anzusprechen, sondern gesellte sich nur zu ihm in die Küche, wo eine alte Kaffeemaschine röchelnd ihren Dienst tat. Schon seit ein paar Jahren, frage sich Melina aber auch die Angestellten ihres Cousins, wann dieses Ding endlich seinen Geist aufgab. Leider erfreute sich die Maschine einer erstaunlich langen Lebensdauer. Dabei raubte sie so manchen, mit ihren Macken den Verstand, aber ihr Cousin hing unverständlicherweise daran.
„Verdammt!“, schrie er auf, als ein Schwall heißen Wassers über seine Finger lief.
„Kocht der Chef seinen Kaffee denn immer noch selbst?“, warf Melina ihm zur Begrüßung zu, ohne ihren bissigen Ton zu verstecken. „Ich dachte, genau dafür suchst du eine süße Kaffeezauberfee.“
Es war aber auch ein amüsanter Anblick. Der schick gekleidete Mann in Anzug und Krawatte quälte sich mit diesem alten Ding ab, das so manchen Fleck provozierte. Auch David tränkte seinen neuen Anzug bald in dem frisch gebührten Kaffee, als er zwei Tassen füllen wollte.
Wieder drang ein lautes Fluchen aus seiner Kehle.
„Also wenn du eine hübsche Bedienung für dich suchst, solltest du darüber nachdenken, eine neue aufzustellen. Oder willst du, dass deine neue Sekretärin schon nach wenigen Tagen vor Schreck wieder verschwunden ist?“
„Zauberhafte Melina.“ Diesmal drang sogar ein Lachen aus seiner Kehle, obwohl er immer noch mit der Bedienung dieser Maschine jonglieren musste. „Du weißt doch, dass der Kaffee aus dieser Maschine einfach himmlisch ist.“
Oder teuflisch, wie dieses Ding, dachte Melina, ohne es laut auszusprechen.
„Aber trotzdem solltest du bei deiner Auswahl mehr darauf achten, jemanden zu finden, der damit umgehen kann, statt nur auf die Maße zu achten.“
Die junge Frau nahm ihrem ungeschickten Cousin sofort alles aus der Hand, bevor er sich noch ernsthaft verletzte. Sei es durch weitere Verbrennung oder anderes. Als nächstes kühlte sie Davids Hand mit einem feuchten Tuch.
„Du bist ein Schatz. Hättest du nicht Lust, bei mir anzufangen?“
„Entschuldige bitte, aber mein Job ist wesentlich sicherer“, gab sie ihm einen Korb. „Außerdem muss ich mich dort nicht mit solch einem eigenen Chef rum ärgen, wie du es bist.“
„Oh du brichst mir das Herz.“
Melina schob ihn zur Seite, damit er nicht im Weg stand, während sie alles fertigmachte. Ihr Cousin konnte in manchen Situationen wie ein kleines Kind sein. Ihr tat die Person jetzt schon leid, der diese Anstellung angeboten wurde.
Mit einem Papiertuch trocknete sie die Arbeitsfläche. Erst dann schaute sie, was er tat.
Auf den Tisch hatte sie ihre Tasche und die Bewerbung gelegt. Weit weg von möglichen Kaffeeflecken durch die Schusseligkeit ihres lieben Cousins. Jetzt blickte David mit einer Miene darauf, die das nächst Folgende schon erahnen ließ.
„Oh nein Melina, nicht noch eine.“ Ein tiefes Seufzen drang von ihm, mit seinen Fingern beantragte er eine Auszeit von all dem Stress. „Die stapeln sich bei mir schon bis zur Decke. Wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann ab in die Ecke damit.“
Mit seinem Blick deutete David auf einen Mülleimer, in den Melina die feuchten Tücher und danach den benutzten Filter warf. Ein gemeiner Kommentar, für den sie sich nicht erwärmen konnte.
„Dieser Bewerber bricht sich an deiner Höllenmaschine nicht gleich die Nägel ab“, kommentierte sie darauf.
„Du weißt doch Melina ...“
„Klar, deine Traumkandidatin hat eine Größe von 1,80 Metern, mit langen, schlanken Beinen, Aussehen und Figur eines Models. Dazu muss sie dir jeden deiner Wünsche erfüllen.“
Melina verdrehte die Augen. Wie oft hatte sie das eigentlich schon mit ihm durchgekaut? Nicht jeder Bewerber erfüllte diese Voraussetzungen. Darüber hinaus sollte er vorwiegend nach jemanden suchen, der das Büro ordentlich führte und seine Termine gut koordinierte.
Die Tassen klirrten bei Melinas hektischen Bewegungen. Die Ansicht ihres Cousins ließ sie in Rage versinken.
„Und ist es ein Freund, Bekannter, Verlobter?“ Skeptisch studierte er die Anschrift von seiner Position aus.
Verraten würden ihm diese paar Worte auf dem Umschlag nicht viel. Melina hatte zwar über Alex mit ihm gesprochen, aber den Namen oder anderes wichtige nicht erwähnt.
„Wir haben mal zusammengearbeitet.“
„Der Ex-Kollege, von dem du mir schon berichtet hast?“, hakte David neugierig nach. „Und du willst nun darum bitten, dass ich ihn einstelle?“
Melina schüttelte den Kopf und reichte ihm eine von beiden Tassen. Die Zweite nahm sie selbst mit einem kleinen Stück Zucker.
„Ich will dich nur darum bitten, dass du ihn in dein ach so kritisches Auswahlverfahren mit einschließt. Gib ihm einfach eine Chance.“
Manche Männer musste man zu ihrem Glück zwingen! Besonders, wenn sie so stur waren, wie ihr Cousin.
Sie konnte sich jedenfalls gut vorstellen, dass sich Alex in dieser chaotischen Umgebung wohlfühlen würde. Genau, wie David ihn mögen wird. Beide passten gut zueinander.
„Ich werde es mir überlegen“, versprach David, den Blick weiter skeptisch auf den Umschlag gerichtet.
Lieb war es aber von ihm, dass er sich die Bewerbung anschauen wollte. Solang er sein Versprechen auch hielt. Melina hoffte es für Alex.
Eine einzige Tasse Kaffee trank sie mit ihm, dann hatte Melina ihn auch schon wieder in seiner Einsamkeit zurückgelassen.
Wieso machte er das überhaupt? Allen hatte David freigegeben, nur er saß hier im Büro über den Akten. Eine Hilfe, die einen Teil davon abnahm, konnte er wirklich gut gebrauchen.
David sah kurz zu dem Stapel Bewerbungen, bevor er sich im Stuhl zurücklehnte. Die würde er auch noch alle vor sich haben.
Seine Hand griff zur Tasse, blieb aber plötzlich über einem weißen Umschlag liegen. Ein Lächeln zog sich über seine Lippen.
Er hatte Melina angewiesen, sie auf den Stapel zu lagen. Dieses freche Ding!
Vielleicht sollte er doch wenigstens einen Blick hineinwerfen.
Seine Hand setzte ihren Weg fort. Nur noch einen kleinen Schluck, dann musste er sich wieder auf die Arbeit stürzen.
Das Display seines Handys zeigte noch immer die unbekannte Nummer an. Ihm war es, als wäre all dies nur ein Traum.
Trotz Bewerbungen, die in Stapeln abgeschickt wurden, Anrufe oder Sonstiges war es ihm bisher nicht gelungen, ein vernünftiges Jobangebot zu bekommen. In einer gut laufenden Firma, ohne auf Kundenfang gehen zu müssen.
Noch dazu hatte er erst diesen Morgen einen Stapel zur Post gebracht. Darunter auch eine an diese Firma. Oder hatte er vielleicht schon vorher eine losgeschickt?
Alex zweifelte an sich selbst.
Wenn es den Weihnachtsmann wirklich geben würde, dann könnte ihm noch eine weitere Möglichkeit einfallen.
Er war jedoch kein Kind mehr. Alex verscheuchte den Gedanken wieder. Statt zu zweifeln, sollte er sich einfach über das Vorstellungsgespräch freuen.
Alex bekam seit langer Zeit endlich wieder eine Chance. Zuerst sollte er aber seinen persönlichen Engel anrufen.
Cindy.
„Könntest du morgen auf Luca aufpassen?“, bat er die Freundin direkt, noch ehe sie einen Ton gesagt hatte. Eigentlich mochte die junge Frau es nicht, wenn er sie so überfiel. Cindy hatte genug eigene Termine, wenn es aber um Luca ging, waren die schon mal Nebensache. „Ich habe ein Vorstellungsgespräch. Du hast auch was gut bei mir.“
„Oh“, kam es überrascht von ihr. „Ob da womöglich der Weihnachtsmann nachgeholfen hat?“
Ja wahrscheinlich ging es Alex erneut durch den Kopf. Es grenzte an ein Weihnachtswunder, dass dies geschehen war.
„Lass die Scherze!“, forderte er sie kühl auf. „Ich bin einfach nur froh, dass es endlich geklappt hat. Es ist bei einer Werbeagentur in der Stadt. Und wenn alles gut läuft, dann führe ich dich zum Feiern in das beste Restaurant der Stadt aus.“
„Wie großzügig“, rief sie vergnügt aus. „Natürlich kannst du auf mich zählen. Wozu sind den Freunde da?“
Alles war so schrecklich kompliziert. Ein vollkommenes Chaos, in das es sich entwickelt hatte.
Cindy zupfte ihrem Gegenüber die letzten Falten aus den Sachen. Schon den ganzen Abend hatte sie eisern versucht, ein Lächeln aufrecht zu halten. Dennoch entglitt es ihr des ein oder anderen Mals. Unbemerkt blieb nichts davon.
„Was ist denn mit dir los?“, wollte die junge Frau wissen und betrachte sich prüfend im Spiegel. „Wirkt das nicht zu verspielt?“ Von allen Seiten wurde das Spiegelbild begutachtet. „Sag doch schon. Sonst drängst du mich zu jeder Party und jetzt, soll ich zu Hause bleiben.“
Es war der 31. Dezember. In wenigen Stunden würde das Jahr enden und Cindy sah schon das Schlimmste kommen.
Aber zum Anfang.
Eine Werbeagentur in der Stadt. Cindy musste unweigerlich an Melina denken, deren Cousin eine besaß. Nie hätte sie daran gedacht, dass es wirklich diese Firma war. Nie hätte sie es sich für beide Freunde gewünscht, so wie Alex von seiner ehemaligen Kollegin sprach.
Und wie heute ihr, so half sie ihm damals bei der Auswahl seiner Kleidung.
Dabei und im späteren Gespräch erfuhr sie alles.
Es war wirklich diese Firma. Und nicht nur das. Melinas Cousin hatte ausgerechnet Alex zur Silvesterfeier eingeladen.
Eben diese Feier, für die sich auch Melina fertigmachte.
„Komm doch bitte mit, es gefällt dir sicher.“
Da hatte sie Recht, Cindy würde es gefallen. Solche Partys mochte sie. Nur diesmal ging es nicht.
„Ich hab an diesem Abend die Aufgabe, einen kleinen, süßen Jungen zu unterhalten, da sein Daddy ebenfalls zu irgend so einer Silvesterfeier gehen muss.“
Sie war in eine Zwickmühle geraten. Da war Melina, die wissen musste, wen ihr Cousin eingeladen hatte aber auch Alex, dem sie etwas sagen sollte. Aber dennoch konnte sie sich nicht dazu überwinden.
Im Geheimen wünschte sie sogar, die beiden könnten sich begegnen. Vielleicht würden sie sich in solch einer Umgebung wieder näher kommen.
„Du könntest mich doch auch begleiten“, meinte Cindy plötzlich. „Du kennst den kleinen Luca.“
„Nein!“ Melina sah betrübt in den Spiegel. Man musste schon blind sein, um es nicht sehen zu können. Wie viel sie für Alex empfand. Eine Vergangenheit, die sie endlich hinter sich lassen wollte. „Ich will ihm nicht unbedingt über den Weg laufen.“
Ein brüchiges Lächeln zog sich über Cindys Lippen.
Genau das war ihre Hoffnung, aber auch ihr Angst.
Cindy hatte Melinas Cousin kennengelernt, genau wie dessen Büro. Es war geräumig genug, um solch einer Party platz zu bieten aber dennoch nicht so groß, dass sie sich aus den Weg gehen konnten. Eine Begegnung beider war vorherzusehen. Wie die ablaufen würde, leider nicht.
Für Alex wäre es wirklich ideal, wenn er den Job bekäme. Der Chef war ungewöhnlich im Charakter aber auch so nett, dass Alex vom Vorstellungsgespräch begeistert erzählte.
Leider hatte Cindy die Befürchtung, die Freundin hätte ihre Finger im Spiel gehabt.
War das denn überhaupt möglich?
Oh, wie das nur enden würde. Ihr war ganz flau im Magen. Aber jetzt, wo Melina in dieser Kombination vor dem Spiegel stand. Sollten sie sich doch begegnen.
Wenn Melina nichts damit zu tun hatte, war es vielleicht ein Wink des Schicksals. Und wenn doch, würde er das, bei dem Anblick vielleicht sogar vergessen.
Sie war auf alle Fälle gespannt, was dabei herauskam.
Wie schnell der Abend angerückt war. Eben noch hatte er sich um Luca gekümmert, da klingelte auch schon Cindy an der Tür. Vielleicht war es auch Aufregung, wegen der ihm die Zeit wie davon geflogen erscheinen ließ.
Das Gespräch am Vortag war traumhaft, genau wie das Büro. Es lag in einem belebten Teil der Stadt. Doch von der Hektik bekam man in diesem Büro nicht so viel mit.
Womöglich war es anders, wenn erstmal alle aus ihrem Urlaub da waren. Der Chef schien jedenfalls ein angenehmer, wenn auch leicht verrückter Typ. Besonders nachdem er Alex sofort auf eine Silvesterfeier einlud. Das hätte er nie erwartet. Wie sollte er da auch ablehnen?
Cindy legte ihm noch ein paar Sachen zurecht, bevor sie ihn guten Gewissens auf die Feier schickte.
Jetzt stand Alex vor dem Büro, aus dem eine lockere Atmosphäre drang. Keine zu laute Musik, eher fröhliches Plaudern. Es war einladend. Dennoch musste er sich überwinden, einen Fuß in die ungewohnte Umgebung zu setzen.
Der Geschäftsleiter, David – er bestand darauf beim Vornamen genannt zu werden – war ungefähr zehn Jahre älter als Alex und recht chaotisch. Anders als die Chefs, denen er schon begegnet war.
Er begrüßte Alex spontan mit einem freundschaftlichen Händedruck.
Modern und ungewöhnlich, nach diesem Konzept lebte und führt er seine Firma. Nicht nur seine Angestellten begrüßten das, auch bei den Kunden kam es sehr gut an. Über fehlende Aufträge konnte der Mann sich nicht beschweren.
David reichte dem Neuen ein Glas Sekt und begann dann sofort mit einer kleinen Führung, durch das provisorisch aber festlich geschmückte Büro, in dem ihm auch ein paar der Mitarbeiter vorgestellt wurden.
Eine warme Begrüßung. Auch die anderen wirkten nett.
Fast wie in einem Traum. Ob es da nicht einen Haken gab, zweifelte Alex an. Gedanken, die er nur noch verscheuchen wollte.
Manchmal passierten gute Dinge, wenn man sie am wenigsten erwartete. Wie hier in diesem von warmen Licht erstrahlten Büro. Eine festliche aber auch familiäre Umgebung, in der ihn sogar ein paar der Leute zu einem Gespräch einluden.
Nicht alle Angestellten waren anwesend. Ein Teil hatte anderes zu tun, als auch im Urlaub zurück ins Büro zu kehren. Dennoch war alles gefüllt mit eingeladenen Freunden und Bekannten.
Dazu wurde ein reichlich gefülltes Buffet angeboten. In Dank für ein wundervolles Geschäftsjahr und mit der Hoffnung auf das ebenso verlaufende neue Jahr.
Alex musste sich gestehen. Hier anfangen zu können, wäre ein Traum.
„Hey, wie schön, dass du kommen konntest“, hörte man David aus der Menge heraus. „Letztes Jahr hast du mich zu Weihnachten versetzt und da dachte ich mir, dieses Jahr gibt es eine Feier zu Silvester.“
„Natürlich konnte ich da nichts anderes als Kommen“, rief eine Frau mit vergnügtem Lachen. „Als ob du mir auch eine andere Wahl gelassen hättest.“
Alex hörte genau zu, ohne sich dabei umzudrehen. War es denn möglich? Diese Stimme. Sie kam ihm so bekannt vor. Aber nein, das konnte nicht sein. Er konnte nicht so viel Pech haben. Nicht ausgerechnet sie!
Sein Blick wanderte über den angerichteten Tisch, der eine große Auswahl bot. Alex nahm sich ein Stück davon, erst danach schaute er wieder zu seinem potenziellen Chef und dessen Gesprächspartnerin.
Die Frau erschien wie ein dunkler Engel.
Eng legte sich das schwarze Kleid um ihren Körper. Der Stoff war mit glitzernden Effekten durchzogen und mit schwarzen Federn besetzt. Ihr Haar hatte sie kunstvoll mit einer silbernen Spange hoch gesteckt.
Wunderhübsch und doch für Alex eine weniger erfreuliche Erscheinung.
„Ich habe deinen Rat doch befolgt“, sprach David das Mädchen an. Sofort hatte er Melinas volles Interesse. Er kostete das einen Moment aus und sprach erst weiter, als sie es nicht selbst erriet. „Dass ich nicht nur nach jungen, hübschen Sekretärinnen schauen sollte. Meine Frau würde dann vielleicht auch nicht mehr so wütend werden, wenn ich mal länger im Büro bin.“
Tatsächlich?
Wieder musste Alex an den Haken dieser ganzen Geschichte denken. Es wäre auch zu schön gewesen.
Er steckte sich noch einen Happen in den Mund, bevor er neben seinen Gastgeber trat.
Ganz genau verfolgte er, wie aus Melinas hübschem Gesicht sämtliche Farbe wich.
„Alex“, haute sie überrascht.
Nein, das konnte nicht sein! Sie konnte nichts mit all dem zu tun haben! Aber gab es denn solche Zufälle?
Das Verhältnis von ihr und David schien sehr innig, so wie ihr Umgang, war auch die Umarmung, mit der sie sich begrüßt hatten. Sodass Alex im Moment nicht wusste, wie er es deuten sollte.
„Deswegen wollte Cindy, dass ich nicht zu der Feier gehe?“ Die Brünette biss sich auf die mit feinem Rot überzogene Unterlippe, um nicht noch mehr auszuplaudern. Dafür war es aber schon zu spät.
„Meinst du diese Cindy, die ich auch kenne.“ Alex trat einen Schritt auf die Frau zu, auf den sie eingeschüchtert zurückwich.
Melina brauchte nichts zu sagen, ihre Körperhaltung sprach Bände.
Wieder trat sie einen Schritt zurück, bevor sich ihre Lippen zur Antwort öffneten.
„Wir kennen uns noch nicht so lange und ich wusste bis vor Kurzem auch nicht, dass sie dich kennt.“
Mit seinen Fingern fuhr sich Alex durchs Haar und rekapitulierte alles noch einmal innerlich.
Die Freundin hatte sich schon komisch benommen, als er von dem Vorstellungsgespräch berichtete. Er hatte es nicht weiter beachtet. Jetzt wurde ihm auch klar wieso.
Dass ausgerechnet seine beste Freundin und Seelentrösterin mit der Frau befreundet war, über die er sich in letzter Zeit aufgeregte, würde er in Ruhe mit ihr klären müssen.
Und wer weiß, vielleicht war ja doch was an seiner Vermutung dran, und es gab wirklich nicht solche Zufälle, dass er aus gerechnet in diesem Büro ein Vorstellungsgespräch bekam.
Alex presste die Lippen aufeinander.
Am liebsten würde er Melina damit sofort konfrontieren. Dafür war hier nicht der richtige Platz.
Ein Gedanke, der auch ihr kam.
„Bitte können wir das nicht woanders diskutieren?“ bat sie ihn.
Das konnte sie seiner Meinung nach gerne haben. Und kaum hatte er dem zugestimmt, wies Melina den Weg.
Vom Büro aus hatte man Zugang zu einer festlich gestalteten Terrasse. Sofort zog es Alex an den steinernen Rand, wo man die ganze in ein Lichtermeer getauchte Stadt überblicken konnte.
Ein atemberaubender Anblick.
„Alex!“, sprach ihn Melina an.
Ohne den Blick von dieser Schönheit abzuwenden, viel er der jungen Frau ins Wort.
„Weißt du, was mich von Anfang an gestört hat? Ich wurde zu diesem Vorstellungsgespräch gebeten, obwohl ich die Bewerbung am selben Morgen erst abgeschickt hatte.“ Alex lehnte sich auf das Geländer und während er diesen Moment des Schweigens genoss, war es für Melina eine erdrückende Zeit. „Eigentlich müsste die frühstens gestern oder erst heute eingetroffen sein. Hat da Cindy ihre Finger mit im Spiel?“
„Nein, sie weiß nichts davon. Oder nein. Wahrscheinlich ahnt sie etwas.“
Also war doch mehr an allem, wie er bisher gedacht hatte. Alex ließ den Kopf auf seine Arme sinken, sein Blick ruhte weiter verträumt auf diesem dunklen Panorama.
Auch Melina gesellte sich nun zu ihm. Dabei erzählte sie die Geschichte. Von der Weihnachtsparty mit Cindy und wie sie von dieser dann ausgerechnet in seine Wohnung gedrängt wurde.
Alex musste an seine Freundin denken, die schon immer von einer beeindruckenden Frau redete, der sie ihn gerne vorstellen wollte.
Ein Lächeln zog sich über seine Lippen.
Was war das nur für eine konfuse Geschichte, in die beide da hineingezogen worden waren.
„Es tut mir leid.“ Wieder dieser so nervige Satz, den sie immer wiederholen musste. „Ich kann verstehen, dass du mich hasst. Und ich wollte dir wirklich nicht zu nahe treten. Mein Cousin sucht gerade jemanden für sein Büro. Aber ich habe ihn nicht gebeten, dich einzustellen.“ Sie schüttelte ihren hübschen Kopf. „Ach, das Beste wäre, ich geh einfach und lass dich in Ruhe.“
Melina wandte sich zum Gehen ab, da ergriff Alex’ Hand ihren Arm.
Für ihn kam diese Geste genauso überraschend, wie für sie.
Was tat er da? Wieso tat er das? Sonst war er froh, wenn sie ihn in Ruhe ließ, sehnte es sogar herbei. Doch jetzt ...
Einen Moment hielten beide in dieser Position inne. Sie sahen sich stumm an, dachten nicht einmal an etwas, bis einer von ihnen dieses Schweigen brach.
„Bleib hier!“, drang es zögerlich aus Alex’ Kehle. „Mein Sohn ist erst fünf Jahre alt aber manchmal benehmen sich selbst erwachsene wie kleine Kinder.“
Wieder verirrte sich ein Lächeln auf seine Lippen. Eine Seltenheit bei ihren Treffen im letzten Jahr, das sie sofort erwiderte.
„Es gibt nur eine Sache, die ich gerne wüsste, bevor ich hier anfange.“ Alex zog seine Hand zurück und begab sich wieder in die Position wie zuvor. Zu diesem wundervollen Stadtblick. „Was hat es mit dieser Kaffeemaschine auf sich?“
„Ach die!“ Melina lachte auf, dann stellte sie sich neben ihn, ihren Oberkörper warf sie dabei weit über das Geländer. Auf Zehenspitzen, nur von ihren Armen gestützt. „Frag lieber nicht, wieso mein Cousin so auf die fixiert ist. Angeblich zaubert sie einen fabelhaften Geschmack. Also wenn du nicht viel Wert auf den Job legst, kannst du gerne eine von denen aufstellen, die ihm seine Angestellten schon alle geschenkt haben. Die lagern in irgendeinem Schrank.“
Ein schneidender Wind sauste das Gebäude hinauf. Die Strähnen ihres braunen Haares umspielten das im Mondschein bleiche Gesicht. Eine engelhafte Gestalt, bereit zum Abheben.
Melina genoss dieses Gefühl. Die Schönheit der Nacht. Und zog sich erst zurück, als ihr Körper unter dem dünnen Stoff fröstelte.
Sein Blick wandert kurz über die vielen kleinen Härchen auf ihrem Arm, die sich aufgestellt hatten. Es war auch viel zu kalt, um lange in einem solch dünnen Kleid den letzten Dezembertag zu verbringen.
Sein Arm legte sich über ihre Schulter und mit etwas Druck zog er sie an sich, ohne sie dabei weiter anzusehen. Seinen Blick richtete er gerade aus, auf das atemberaubende Bild. Ein leichtes Rosé zog sich über seine Wangen. Er spürte ihren Körper dicht an seinen.
Melina wehrte sich nicht dagegen. Sie schien diesen stillen Moment sogar schon lange herbeigesehnt zu haben. Daher schmiegte sie ihren Körper nach einer Weile an seinen.
Im Mondlicht schimmerte auch auf ihren Wangen ein leichtes Rosa.
„Ich habe Luca versprochen mit ihm Schlittenfahren zu gehen“, erzählte Alex ihr, in der Hoffnung ein angenehmeres Thema zu finden, als ihre sonstigen Differenzen. „Leider sieht es so aus, als würde das ins Wasser fallen.“ Verlegen lachte er auf. Er fühlte sich wieder wie schon bei ihrem letzten Treffen.
Und es war das erste Mal seit Langem keine Wut, sondern dieses schön wärmende Gefühl für sie, das er verloren geglaubt hatte.
„Ich weiß, es wäre als Date unpassend, dennoch hätte ich dich gerne dazu eingeladen.“
„Wenn der Schnee nicht hierher kommen will“, überwand sie sich zu einer schüchternen Antwort, die gar nicht ihre Art zu sein schien. „Könnten wir uns doch einen Fleck mit Schnee suchen.“
Ein Lächeln zog sich über ihre Lippen. Scheu aber für ihn in diesem Moment so schön. Wie konnte er das überhaupt vergessen. Die wundervolle Wärme in ihrer Nähe?
Wie hypnotisiert senkten sich seine Lippen ihren entgegen, hinein in einen innigen Kuss, während um sie herum tosend und pfeifend Raketen in den Himmel stiegen und wo sie ein buntes Feuer entfachten.
Das neue Jahr hatte begonnen und für beide könnte dies nicht schöner sein.
Bildmaterialien: Hildegard Endner/pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 21.12.2012
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