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Langsam rückte der Weihnachtsabend näher. Unaufhaltsam, dass wurde ihm jeden Tag aufs neue begreiflich. Am liebsten hätte Alex sämtliche Kalender verbrannt, doch gegen die Zeit konnte man nichts ausrichten.

Ach, wie er das alles hasste. Je mehr sich das Weihnachtsfest näherte, umso durchgedrehter verhielten sich die Leute. Besonders deutlich wurde das beim Einkaufen. Die Läden wurden von den Massen gestürmt. Auf der Suche nach dem passenden Geschenk im letzten Moment oder als stünde ihnen der Weltuntergang bevor, so das kaum noch etwas in den Regalen stand und sogar um diese letzten Reserven ein unerbittlicher Kampf geführt wurde. Am Ende bildeten sie dann meterlange Schlangen, schier unendlich wirkend. War man einmal darin gefangen, glaubte man, dem festen Würgegriff nie mehr entrinnen zu können.

Jedes Jahr das Gleiche. Und da dachte man, die Menschen würden sich vielleicht doch ändern. Noch dazu hatte Alex wie immer dasselbe Pech. Genau, was er zu dieser Zeit unbedingt brauchte, war ausverkauft. Diesmal griff seine Hand bei den Cornflakes ins Leere. Ausgerechnet bei der Sorte, die sein Sohn Luca so gerne mochte. Und das auch noch, wo er ihm sein gewünschtes Weihnachtsgeschenk nicht kaufen konnte.

Den ganzen Weg über zur Kasse, auf dem er hin und wieder automatisch ein paar Sachen in den Korb stellte, bereitete Alex sich auf enttäuschte Kinderaugen vor, die ihn beim gebrochenen Versprechen erwarten würden.

Und als sei das alleine nicht schon schlimm genug für ihn, fand sein Einkauf weit vor dem Getränkeregal sein Ende.

Bis hierhin reihten sich die Menschen zu Schlangen. Ihre Körbe waren zum Teil bis oben hin gefüllt. In einem davon konnte er sogar die Lieblingscornflakes seines Sohnes erspähen. Sein Korb dagegen enthielt gerade mal ein Viertel vom Durchschnitt.

Was für ein mageres Weihnachtsfest. Ein Auflauf war das Einzige, das er seinem Sohn zaubern konnte. Zu mehr reichte es einfach nicht.

Alex lehnte sich an den Einkaufskorb, den Kopf ließ er dabei auf seine Arme sinken.

„Bitte besetzen Sie eine neue Kasse!“, wurde durch den Lautsprecher gerufen.

Langsam hob Alex den Kopf, um ihn auch gleich wieder sinken zu lassen.

Ganze drei Kassen waren unbesetzt, um die herum schon ein paar Leute lungerten. Wie ein Raubtier, kurz vor dem großen Sprung auf die Beute, hier in Form eins Bandes, das zu einer neu hinzugekommenen Kaiserin führte. Für ihn kein Grund seinen Platz zu verlassen. Es hätte sich noch nicht einmal ein Versuch gelohnt, dorthin zu gelangen. Schon bevor die junge Frau überhaupt saß, war die Schlange auf seiner Höhe angelangt.

Zu Alex’ Pech teilten seine Ansicht nicht einmal die Leute hinter ihm. Nur ein Wagen verließ die Schlange und das zum Ausgang hin. Sofort zog die Kassiererin die nächsten Waren über das Band.

Seine Schultern fühlten sich so schwer an, während sein Blick langsam zu Boden wanderte.

„Hallöchen“, drang eine Stimme zu ihm, die ganz in Freude aufs Weihnachtsfest getaucht war und nicht einmal der ganze Einkaufsstress erschüttern vermochte. Noch dazu sträubte sich bei ihrem Klang alles in ihm aufzusehen, auch wenn sie zu einem engelsgleichen Geschöpf gehörte.

„Hallo Melina“, rief er ihr trotz seines Widerwillens zu. Dabei erhob sich seine Hand, um ihr mit seinem verbliebenen Elan zu winken.

„Sag mal, was gefällt dir denn an dem Boden?“, versuchte sie ein Gespräch mit ihm loszubrechen. Sein Unwillen schien sie dabei vollkommen außer Acht zu lassen.

„Nettes Muster“, antworte Alex ihr sogar gelangweilt.

Melina war eine Traumfrau. Nein Melina war seine Traumfrau!

Ihr lockiges braunes Haar wirkte wie aus einem Werbespot für Haarpflegemittel, so schön weich und voll. Ihre braunen Augen wurden von einem dezenten Make-up umschlossen. Die etwas zu schmalen Lippen vermochte sie hin und in einen süßen Schmollmund zu verwandeln und ein Lächeln darauf versetzte ihn wieder in die Lage eines kleinen Schuljungens, der vor seinem Schwarm stand.

Wieso also war es für ihn so ein Graus, sie zu sehen? Vor einem Jahr hätte er sie noch zu einem Date gebeten. Doch heute ging er ihr so gut es ging aus dem Weg.

„Mir gefällt die schöne Anordnung der schwarzen und weißen Kacheln. Wirklich eine kreative Arbeit.“ Erst jetzt sah er auf, in diesen wundervollen Blick, den er früher wie eine zarte Umarmung genoss, jetzt aber in ihm eine ungeheure Abneigung weckte.

Bist du mir immer noch sauer?“ Ihre Stimme hatte so einen unschuldigen Klang. Voller Bedauern und Mitleid. Sie bedauerte den Unfall sicher, aber Alex hatte nicht vor, ihr zu verzeihen.

Wofür denn auch? Sie hatte ja nur sein Leben zerstört. So sah er es jedenfalls.

Nur eine ganz kleine, kaum hörbare Stimme in ihm, erinnerte Alex an seine Beteiligung daran. Seine eigene Schuld. Die wollte er aber nicht hören und verdrängte sie in einen noch tieferen Teil seines Kopfes. Dahin, wo sie seiner Meinung nach hingehörte.

„Also wie kommst du denn darauf?“, entgegnete er ihr mit gespielter Fassungslosigkeit. „Du bist ja nicht schuld daran, dass ich meinen Job verloren habe.“

Wenn sie seine Abweisung bis eben noch nicht bemerkt hat, war es ihr jetzt sehr deutlich.

„Es tut mir Leid“, entschuldigte sie sich. „Es tut mir wirklich Leid.“

„Kommt ja sehr früh“, knurrte er nur darauf. Alex hatte ganz sicher nicht vor ihr überhaupt zu verzeihen. Nicht jetzt und niemals später.

„Wie geht es denn Luca“, versuchte sie auf ein anderes Thema zu lenken.

Für ihn ein kläglicher Versuch, der die Abneigung ihr gegenüber kaum minderte.

Luca war sein fünfjähriger Sohn, der jetzt nur noch ihn hatte. Seine Mutter war schon vor sehr langer Zeit fortgegangen. Aber es war ihm egal. Alex und Luca kamen auch gut alleine zurecht.

„Ganz gut“, antworte Alex ihr.

Melina stand mit einem zauberhaften Lächeln vor ihm. Eine enge Jeans umschmeichelte ihren Po, der dicke braune Mantel war noch feucht. Ihr Haar hatte sie diesmal zu einem Zopf gebunden und der Inhalt ihres Einkaufswagens ließ darauf schließen, dass sie immer noch Single war.

Eigentlich hätte er ihr ja verzeihen können. Es war nicht ihre Absicht, zu der alles führte. Doch er wollte es einfach nicht. Als elenden Sturkopf, so konnte man ihn betiteln. Aber er wollte auch kein dauerndes „Es tut mir Leid, es tut mir Leid“. Er wollte, dass sie es akzeptierte. Alex wollte von ihr nichts mehr wissen und nicht dauernd bei jeder sich bietenden Gelegenheit angesprochen werden.

„Und was schenkst du ihm?“, fragte sie nun auch noch.

Er schob seinen Korb etwas nach vorne, wo sich schon eine Lücke gebildet hatte. Dabei schnitt er einer älteren Dame den Weg ab, die diese als Durchgang nutzen wollte. Das und alles andere war ihm in diesem Augenblick egal. Seine ganze aufgestaute Wut traf jetzt auf Melina. „Wenn ich nicht wegen einer dummen Kollegin gefeuert worden wäre, dann könnte ich ihm sogar das Fahrrad schenken, das er sich so sehr wünscht.“

Sie zuckte zurück, als sei sie von seinen Worten getroffen worden.

Doch wieso war er eigentlich so wütend auf sie?

 

Es war ein Jahr zuvor im Sommer.

Damals arbeite Alex in einer kleinen Firma zusammen mit einem Kollegen, der wegen des Jobs seiner Frau umzog. Melina wurde seine Nachfolgerin.

Eine wundervolle Frau, mit kleinen Fehlern, die Alex vom ersten Tag an den Kopf verdrehte. Manchmal lud er das Mädchen sogar in Restaurants ein, was sie immer gerne annahm.

Nur ihr Chef war nicht so angetan von ihr. Melina war ein kleiner Schussel, was Alex eigentlich auch immer recht amüsant fand. Sie verlegte öfters Sachen. Nur kleinere Vorfälle. Unterlagen, die am nächsten Tag wieder auftauchten und über die ihr Chef mit einem Kopfschütteln hinweg sah.

Bis zu diesem einen Tag.

Ihr Chef betraute Melina mit wichtigen Unterlagen, die zu einem neuen Projekt gehörten. Alex wurde die Aufgabe zuteil, Ordnerweise veraltete Papiere dem Reißwolf vorzuwerfen.

Eine Aufgabe, um die sich keiner von beiden riss und eigentlich für Melina vorgesehen war. Alex meldete sich freiwillig, damit die junge Frau endlich ihre Chance bekam, dem Chef zu zeigen, dass sie mehr konnte, als alle meinten.

Den ganzen Morgen saß er schon an der langweiligen Arbeit, die ihm nur Melinas Lächeln versüßte. Sein Lohn für alles. Dadurch blieb sogar ihm das Missgeschick unbemerkt. Dabei hatte er darauf geachtet, was sie tat, um sie auf Fehler aufmerksam zu machen. Doch über ihre nette Art, die ihn verzauberte, übersah er sogar dies, als sie zum Chef gerufen wurde.

Melina hatte in der Eile die Unterlagen auf seinen Stapel gelegt, der für den Reißwolf vorgesehen war und Alex bemerkte es viel zu spät. Kurz bevor er die letzten Blätter vernichten wollte. Ein Versehen, von dem ihr Chef nicht begeistert war.

Alex wurde dafür gefeuert, Melina aber schwieg über ihren Fehler und konnte bleiben.

 

Seitdem hatte sich Melina gebessert, das wusste selbst Alex. Helfen tat es ihm nicht.

„Es tut mir Leid“, wieder und wieder sprudelten diese Worte aus ihrem Mund. Wie bei einer Schallplatte mit Sprung, dazu verdammt immer die gleiche Stelle abzuspielen.

Er jedoch konzentrierte sich nur auf die Schlange vor ihm, die langsam zur Kasse führte.

„Schön, dass du es bedauerst“, wandte er sich noch ein letztes Mal an das Mädchen neben ihm, das nach einem einzigen Wort des Verzeihens zu hungern schien. „Es wäre schön gewesen, wenn du damals deinen verdammten Mund aufbekommen hättest.“

Sein Kopf sank wieder auf den Griff des Korbes. Nein, er wollte von Melina einfach nichts mehr hören. Sie stand neben ihm, mit ihren um Vergebung flehenden Augen. Ihre Lippen bildeten wieder die zum Standardsatz mutierten Worte. Ein Satz, der in ihm immer mehr Wut aufwallte und sich kaum aus seinen Gedanken verdrängen ließ.

Man, akzeptiere es Mädchen! hätte er ihr am liebsten entgegen gebellt. Sie sollte endlich ruhig sein und irgendwann war sie es auch. Wenigstens für einen Moment, bis seine Waren über das Band gezogen waren und wieder in seinem Korb verschwanden. Leider war Melina ebenfalls am bezahlen. Nicht einmal seine Flucht glückte.

Draußen herrschte ein Wetter, so schlecht wie sein Gemüt. Es wollte sich einfach nicht entscheiden, ob Regen oder Schnee aus den Wolken fiel. Keine dicken Flocken sondern ein Gemisch aus beidem.

Schlittenfahren war ein weiterer Wunsch von Luca. Einer, den niemand ihm erfüllen würde. Jedenfalls nicht hier, wo gerade mal ein paar Häufchen Schnee liegen geblieben waren.

„Ein Scheißwetter“, drang Melinas für ihn so aufdringlich gewordene Stimme zu dem jungen Mann.

Sein instinktives Nicken bedeutete keine Aufforderung zur Diskussion. Stumm strafte er sich selbst, als Wörter über ihn prasselten, wie dieser Regenschauer.

„Was machst du heute denn noch?“, erkundigte sie sich. Sie setzte erneut ein Lächeln auf, in der Hoffnung ihn zu beschwichtigen.

Hoffnungslos. Stumm rollte Alex seinen Einkaufswagen über den Parkplatz. Fast ohne Zwischenstopp zu dem Auto, das dort auf ihn wartete. Im Nacken, die tippelnden Schritte von Melina.

„Ich geh heute mit einer Freundin shoppen …“

Blitzschnell fuhr Alex zu ihr herum.

„Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, wie wenig mich das interessiert?“, ging er sie wie eine reißende Bestie an. „Manch einer geht freudig shoppen, andere haben wichtiger Dinge zu tun. Zum Beispiel sich um sein Kind zu kümmern. Zeit und Geld, um alles in Boutiquen zu bringen, bleibt da nicht.“

Das erste Mal wirkte Melina richtig eingeschüchtert von ihm. Und das erste Mal an diesem Tag zog sich ein Lächeln über seine Lippen. Aus Befriedung über das, was er sah.

„Aber … aber“, stotterte Melina unsicher. „Ich wollte doch nur Fragen, ob du und Luca … Vielleicht könntet ihr mitkommen. Kaffee trinken oder ein bisschen Tee.“

„Kein Interesse!“, rief er schroff, dann ging Alex weiter zu seinem Auto.

Endlich hatte er es damit geschafft. Melina gab ihren Versuch auf, alles wieder zwischen ihnen bereinigen zu wollen.

Alex verstaute kurz seine Sachen im Kofferraum, und nachdem er den Korb weggebracht hatte, fuhr er los. Er wollte nur noch in sein warmes zuhause, wo sein Sohn schon auf ihn wartete.

 

Langsam öffnete sich seine Wohnungstür, was nicht unbemerkt blieb. Kaum betrat er den Flur, da wurden seine Beine von dünnen Kinderarmen so fest sie konnten umschlossen. „Daddy! Daddy!“ Dieses Wort drang dabei dauernd von dem Jungen.

Luca war ein süßer Junge und Alex’ ganzer Stolz. Kein Fehler, wie er zu Anfang meinte, nicht einmal, als Alex mit ihm alleine war.

Vorsichtig stellte Alex die Einkäufe ab, um sich zu ihm hinunter zu hocken und ihn in seine Arme zu schließen. „Hast du Tante Cindy auch nicht geärgert?“, begrüßte er den Fünfjährigen.

„Luca ist doch immer ein Engel.“ Cindy stand in der Tür zum Wohnzimmer. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, beim Anblick von Vater und Sohn. Nur um kurz darauf Alex mit einem strengen Blick zu rügen. Fast so, als sei er der kleine Junge, nicht Luca. “Nur sein Vater ist so schrecklich unzuverlässig. Du weißt, dass ich verabredet bin.“

Eine Rüge, die er seiner Meinung nach wirklich nicht verdiene.

„Sorry.“ Alex schob den Jungen weg und nahm seine Einkäufe. „Es war die Hölle. Die Leute kaufen ein, als gäbe es keinen Morgen. Dabei ist bloß Weihnachten. Dann ist mir auch noch meine Ex-Kollegin begegnet und die hat mich aufgehalten.“

Cindy war ein reiner Engel. Einst war sie die beste Freundin von Lucas Mutter, jetzt war sie immer für die beiden Jungs da. Ohne sie wäre Alex alles über den Kopf gewachsen. Besonders nach dem Lucas Mutter verschwand. Es sei ihr alles zu stressig und sie bräuchte eine Pause, das waren ihre Worte. Nur das diese Pause seit drei Jahren anhielt. Die Illusion, sie würde zurückkommen, hatte er nie gehabt. Sie verschwand nicht einfach so, sondern brannte mit seinem besten Kumpel durch. Alex’ einziger Trost. Ihn hatte sie nach kurzer Zeit auch schon wieder verlassen.

Am Schlimmsten traf es Luca. Er konnte nichts für alles und wurde einfach so von ihr im Stich gelassen. Das konnte Alex ihr nie verzeihen.

„Die Ex-Kollegin, von der du mir schon so viel berichtet hast?“, erkundigte sich Cindy bei ihm. Ohne sein Nicken abzuwarten, sprach sie schon weiter. „Es ist ja auch schwer, dich zu vergessen.“

Alex war erst 24. Im Büro bewahrte er sich ein förmliches Auftreten, doch privat wirkte alles eher chaotisch. Die Kleidung aber auch sein ganzes Auftreten. So manches Mädchen fand das sehr sympathisch. Wenn sie dann noch auf Luca trafen, flogen ihm Herzen entgegen. Nur wenige scheuten sich vor der Verantwortung. Trotzdem fand sich keine darunter, die er auf ewig an seiner Seite wollte.

Die Richtige für beide.

Cindy griff nach ihrem dicken Wintermantel.

„Ich glaube sie bereut es wirklich“, warf Alex zu seiner eigenen Überraschung ein. „Aber sie versteht nicht, dass ich nichts mehr von ihr hören will.“

„Tante Cindy muss jetzt echt gehen.“ Ihre Jacke hatte sie sich übergeworfen, sodass nur noch der Reißverschluss fehlte. „Begleite mich doch einfach mit Luca. Das wird sicher lustig.“

Leicht knuffte sie ihn in die Seite. Alex musste sie jedoch enttäuschen.

„Sorry aber für heute hab ich wirklich genug. Ein anderes Mal vielleicht.“ Er schenkte ihr ein nettes Lächeln, dann verzog er sich in die Küche.

„Tschüss mein Schatz.“ Mit einem Kuss auf Lucas Stirn verabschiedete sich Cindy, während Alex alles wegräumte, um sich danach dem Essen zu widmen.

 

Melina nippte an ihrem Espresso.

Sie saß in einem kleinen Café. Hier traf sie sich öfters mit ihrer Freundin. Die beiden Frauen plauschten und genossen die Atmosphäre. Sogar den Trubel vom Tag konnte man dabei gut vergessen. Obwohl ihr heute Alex nicht aus dem Kopf gehen wollte.

Früher lief es so gut zwischen ihnen. Seine kleinen Komplimente, die warme Art bei der Arbeit und seine Einladungen zum Essen. Er war ein süßer Typ.

Jetzt war alles ganz anders.

Sie verstand, dass er nichts mehr von ihr wissen wollte. Melina würde in seiner Situation sicher nicht anders handeln. Trotzdem wollte sie es wieder gut machen. Es war ja alles ihre Schuld.

Vielleicht konnte Melina ihren Cousin deswegen Fragen. Der suchte gerade jemanden, der sich um sein Büro kümmerte. Wenn es da nicht zwei Probleme gab.

Alex würde nie im Leben einen Job annehmen, den ausgerechnet sie ihm besorgte. Und ihr Cousin suchte nach jemand, der von einer Anzeigetafel gesprungen kam. Eine süße Blondine, die ihm den Kaffee brachte.

Was konnte sie nur tun?

Noch einen Schluck, bevor sie einen Blick auf die Uhr warf.

Schon seit einer halben Stunde wartete sie hier, ohne dass sich die Freundin meldete. Das war nicht ihre Art. So unzuverlässig. Sonst rief sie wenigstens an.

„Entschuldige bitte, dass ich so spät komme“, drang eine Stimme zu Melina. Cindy war ganz außer Atem, als sie sich zu der Freundin setzte. „Ich wurde aufgehalten.“

„Es ist nicht schlimm“, kam es sofort beruhigend von Melina. Sie wandte sich an einen der Kellner, um ihn an den Tisch zu winken. Eine kleine Tasse Espresso konnte sie sich noch gönnen, besonders jetzt, wo Cindy endlich da war, die sich ebenfalls einen bestellte.

Beide kannten sich noch nicht lange, eher durch einen Zufall. Seitdem trafen sie sich regelmäßig und unternahmen etwas. Ein angenehmes Zusammensein für jede der beiden Frauen.

Auch wenn es diesmal nicht so ablief wie immer.

Sofort nach dem sie das Café verließen, zog sie Cindy nicht wie sonst durch die Straßen, sondern zielte einen kleinen Laden an. In der Auslage stand ein Weihnachtsmann, der fröhlich tanzte und dabei ein Weihnachtslied sang. Um ihn drehte eine kleine Lok ihre Runden auf den ausgelegten Schienen. Richtig süß, genau wie das Spielzeug, das darum ausgebreitet war.

„Hast du etwa ein Kind, von dem ich noch nichts weiß?“, wollte Melina von der Freundin wissen.

„Das nicht.“ Cindy stieß die Tür zu dem Geschäft auf. „Ein Freund von mir hat aber ein Kind. Ein süßer kleiner Junge von fünf Jahren.“

Melina folgte der Freundin und wurde beim Betreten von einer angenehmen Wärme umfangen. An der Kasse stand eine Frau mit einem kleinen Baby auf dem Arm. Im hinteren Teil zeigten sich ein paar ältere Kids interessiert an den Konsolenspielen, während ihre Eltern durch den Laden liefen. Scheinbar um kurzfristig noch ein paar Geschenke aufzutreiben.

Selbst Cindy stöberte interessiert in den Regelen auf der Suche nach dem perfekten Geschenk.

Während die Freundin nach etwas bestimmten Ausschau hielt, wusste Melina überhaupt nicht, was sie hier sollte. Sie kannte doch niemanden, der ein Kind hatte. Ihre Schritte wirkten ziellos, als sie vor den Plüschtieren anhielt.

Der kleine Luca kam ihr in den Sinn.

Als sie noch zusammenarbeiteten, hatte Alex ihn ein paar Male mitgenommen. Ein wirklich süßes Kind, das es vermochte, die ganze Belegschaft in Atem zu halten. Sogar ihr Chef zeigte sich begeistert von dem Jungen. Dabei kannte Melina bis dahin nur dessen Strenge.

Wie alt war er nur gleich wieder? Fünf oder sechs? Sie wusste es nicht mehr.

Melinas Hand blieb auf einem der Stofftiere liegen. Ein kleiner Teddy mit Renntiergeweih und Weihnachtsmannmütze. Eine süße Kreatur.

Alex würde das sicher nicht annehmen aber irgendetwas trieb sie doch dazu, den kleinen Teddy zu kaufen.

„Und wie steht es bei dir mit Kindern?“, sprach Cindy den Teddy an. Vor der Blondine lagen ein paar Spielsachen. Ihren eigenen Teddy bezahlte Melina danach.

„Ach, ich hab eine Nichte, der ich ihn das nächste Mal mitnehmen kann.“ Sollte Alex selbst diese kleine Geste abschlagen. Ein stummer Anhang.

Melina vertraute Cindy wollte die Freundin aber nicht mit derartigen Dingen belästigen. Das würde auch sehr blöd klingen. Melina, die ihrem einstigen Kollegen hinterher lief. Sie wusste nicht einmal, wo Alex wohnte, um ihm das Geschenk zu geben. Dafür begegneten sie sich oft in der Stadt. Es würde sich eine Gelegenheit auftun, ihm den Teddy zu geben. Selbst wenn es erst nach Weihnachten sein würde.

Der Rest des Tages verlief wie gewohnt mit Gesprächen und einem Bummel durch die Stadt. Bis sie sich verabschiedeten.

„Du kommst doch“, bat Cindy. Sie meinte damit den Weihnachtsabend nicht besinnlich mit der Familie zu verbringen, sondern in einem Club. Beide waren Single und hatten niemanden, mit dem sie die Zeit verbringen konnten, da bot es sich an. Das war jedenfalls Cindys Meinung. Melina konnte sich zwar etwas Besseres vorstellen aber Cindy hatte sie dazu überredet.

„Ja klar“, antworte Melina.

Vielleicht machte es wirklich Spaß.

 

Es vergingen genau zwei Tage, dann war der Weihnachtsabend gekommen. Alex saß in seiner Wohnung und musste sich den zweiten Tag in Folge anhören, wie toll es doch werden würde, wenn er Cindy und eine ihrer Freundinnen zu einer Party begleiten könnte.

„Um die Zeit ist Luca im Bett“, lautete ihr hartnäckiges Argument.

Trotzdem wollte Alex nicht, das schien Cindy einfach nicht akzeptieren zu wollen.

„Lass mich bitte“, bat er sie jetzt schon zum fünften Mal. „Vergnüg dich mit deiner Freundin aber ich will den Tag mit meinem Sohn verbringen. Und auf eine Party habe ich echt keine Lust.“

Und endlich gab Cindy Ruhe. Sollte sie doch ihre Party feiern, er freute sich auf einen schönen ruhigen Abend. Der nach Plätzchen backen und ein paar Spielen schnell kam.

Luca bekam zwar sein gewünschtes Fahrrad nicht, aber er freute sich trotzdem über die Geschenke von ihm und ein paar, die Cindy da gelassen hatte.

Lange blieb Luca nicht wach. Er gähnte schon seit halb zehn, wollte aber trotzdem, dass ihm sein Vater ihm etwas vorlas. Eine Weihnachtsgeschichte, die sie am Vortag begonnen hatten.

Für Alex war das hier tausende Male schöner als jede Party der Welt.

 

Weswegen sie sich auch immer dazu hatte überreden lassen. Melina bereute es jetzt schon.

Cindy fand gleich zu Beginn des Abends einen netten Typen, mit dem sie die meiste Zeit auf der Tanzfläche verbrachte. An Melina dagegen hatte sich ein Kerl gehängt, der ihre Abfuhren immer überhörte.

„Darling, lass uns doch zu mir gehen.“ Direkt aber viel zu aufdringlich.

Melina hatte sich vorgenommen ihn zu ignorieren und nahm einen Schluck aus ihrem Glas. Bei dieser Gesellschaft musste es schon hochprozentig sein. Aber vielleicht gab er auch von alleine auf.

Ein Lächeln huschte über ihre Lippen.

Immer wenn sie sich begegneten, verfolgte Alex diese Taktik. Meist mit demselben Erfolg wie sie jetzt auch. Dieser Störenfried wollte nicht verschwinden. Ob sie Alex genauso auf die Nerven ging, wie ihr dieser Typ?

Melina besaß immer noch den Weihnachtsteddy, der ihre Handtasche sein Heim nannte. Jetzt lag sie unter ihrem Stuhl.

Vielleicht sollte sie die kleine Kreatur behalten. Als Mahnung, nie wieder irgendjemandem so auf die Nerven zu gehen.

Hier bleiben wollte sie auf gar keinen Fall. Egal wie sehr sich Cindy dagegen wehrt. Nachdem Melina ihre Tasche nahm, war sie zu ihrer Freundin gegangen und hatte diese von der Tanzfläche geschleift. Weg von all der heißen Stimmung, in die kühle Nacht.

„Willst du etwa jetzt schon nach Hause?“, wollte Cindy wissen, worauf sie ein entschiedenes „Ja“ erntete.

Melina hatte genug für heute. Auf Party konnte sie jetzt gut und gerne verzichten.

„Ach komm schon!“ Cindy zog sie fort, in die entgegen gesetzte Richtung ihres eigentlichen Ziels. „Hier in der Nähe wohnt ein guter Freund von mir. Der ist heute schon den ganzen Tag nicht gut drauf gewesen. Wir überraschen ihn und lassen den Abend, bei einem kleinen Gläschen Wein ausklingen.

Melina war es nicht sofort aufgefallen, so selten wie es Cindy in dieser Nacht zu ihrem Glas zog aber die Freundin war schon recht angeheitert.

Sie torkelte zwar nicht durch die Gegend, dafür kicherte Cindy die ganze Zeit, besonders als sie die Tür zu einem Block öffnete.

Das kann doch nicht gut gehen, zweifelte Melina an der ganzen Sache aber nicht einmal reden half. Und auch wenn sie diesen Mann nicht kannte, zu dessen Tür Cindys Schlüssel gehörte, konnte sie ihn doch nicht mit ihr alleine lassen. Besonders in dem Zustand.

Cindy betrat die Wohnung, wie selbstverständlich, nur Melina zögerte.

Worauf ließ sie sich da nur ein? Sie kam sich in diesem Moment wie ein Eindringling vor. Vielleicht sollte sie hier einfach stehen bleiben. Cindy würde von diesem Freund schon raus geworfen werden, wenn sie störte.

Nur Cindy sah alles anders. Sie kam zurück und stieß Melina vor sich her. Hinein in diese unbekannte Wohnung, in der sie so fremd war.

Vorsichtig taste sich Melina durch alles.

Die Wohnung war schlicht eingerichtet und etwas chaotisch. Keine unnötigen Staubfänger oder Fotos ließen sich entdecken. Auf einen Tisch in der Stube, die von einem kleinen Weihnachtsbaum erleuchtet wurde, lag neben ein paar Bewerbungen auch etwas Spielzeug. Wäre das nicht, könnte man beinah auf eine Junggesellenbude schließen.

Es gehörte sich zwar nicht, aber Melina warf doch einen neugierigen Blick auf die Empfänger. Eine Adresse darunter war ihr sogar bekannt. Die Firma ihres Cousins.

Melina hatte am Vortag schon mit ihm gesprochen und nur zu hören bekommen, er würde in Bewerbungen untergehen. Nur seine Wunschbewerberin war noch nicht darunter. Da würde der Wohnungseigentümer schlechte Karten haben.

Langsam sah sie sich nach der Freundin um und fand sie an der Tür zu einem kleinen Zimmer. Cindy bedeutete ihr ruhig zu sein. „Das Gläschen Wein können wir vergessen“, rief sie leise. Über ihre Lippen huschte ein Lächeln.

Vorsichtig trat Melina an die Tür und warf einen kurzen Blick auf ein harmonisches Bild im Schein eines kleinen Nachtlichtes, das sie verschreckt zurückwarf.

Vater und Sohn lagen friedlich schlafend zusammen auf einem Bett. Der Junge wurde von einer dicken Decke zugedeckt, auf der das Kinderbuch aufgeschlagen lag. Cindy legte es beiseite.

Sie hatte nie den Namen ihres Freundes erwähnt. Und wenn doch, hätte Melina nie daran gedacht, dass es der Alex war, den sie auch kannte.

Sanft tätschelte die Blondine dem Jungen eine Wange, während Melina nur noch weiter zurückwich. Urplötzlich fühlte sie sich nicht mehr nur wie ein ungebetener Eindringling, einfach falsch hier. Wie ein Teil, das nicht hergehörte. Sollte Alex aufwachte, dann würde es erst recht ungemütlich werden. Sie musste hier raus!

Cindy hatte nicht vor einen der Beiden zu wecken. Sie holte eine Decke, um sie über den schlafenden Mann zu legen.

Bevor Melina die Wohnung verließ, blieb sie noch einmal in der Stube stehen. Ihr Blick fiel erneut auf den Stapel Bewerbungen, der in einem bunten Licht erstrahlte.

Ein Gedanke durchfuhr sie, der Alex sicher nicht gefallen hätte. Genauso wie das, was Melina jetzt tat. Sie zog den Umschlag an ihren Cousin heraus und verstaute ihn in ihrer Tasche. Nun hatte der kleine Bär keinen Platz mehr.

Mit einem kurzen Lächeln stellte sie ihn unter den Baum.

Alex würde ihn von ihr sicher nicht annehmen. Andererseits brauchte er auch nicht wissen, von wem er war.

Still verließ sie die Wohnung.

 

Die Nacht war schön klar. Wie Diamanten auf dunkelblauer Seide, so erstrahlte der Himmel.

Eigentlich wollte sie sofort nach Hause, hatte dann aber doch auf Cindy gewartet. Jetzt liefen die beiden Frauen durch eine kühle Nacht, die leider ohne Schnee blieb.

„Alex hat alles sehr hart erwischt“, erzählte Cindy. „Seine Freundin ist mit dem besten Freund abgehauen und hat sich seitdem nicht einmal mehr gemeldet. Wie er das alles Luca erklären soll, weiß er bis heute nicht. Dass seine Mutter sich in keiner Weise für ihn interessiert.“ Nicht alleine die Nacht war eisig, auch Cindys Stimme, als sie über das Mädchen sprach. Ihre frühere beste Freundin.„Wie man sich so in einem Menschen irren kann. Vor ein paar Monaten hat er zudem wegen irgend so einem dummen Ding seinen Job verloren.“

Als ob Melina das nicht genau wusste. Ihr war die ganze Sache so schrecklich unangenehm.

Sie blieb stehen, ihren Blick auf den runden Mond gerichtet, der alles erhellte.

„Dazu soll sie noch extrem anhänglich sein und ein einfaches Nein nicht verstehen.“

Melina konnte ihn ja verstehen, nur wollte sie es irgendwie wieder gut machen. Vermutlich war es das Beste, wenn sie sich da heraushielt. Nur noch einen einzigen Versuch, mehr wollte sie nicht wagen.

„Du bist doch normalerweise nicht so still“, meinte Cindy, womit sie recht hatte.

„Ach.“ Melina druckste um die Antwort herum und benötigte sogar drei Anläufe, bis sie es endlich ausspuckte. „Diese dumme Kollegin, die nicht locker lassen will, bin dann wohl ich. Aber ich verfolge ihn nicht. Bis eben wusste ich noch nicht einmal, wo er wohnt. Wir treffen uns nur öfters in der Stadt.“

„Also bist du seine Stalkerin.“ Cindy lachte auf.

„Stalkerin.“ Sogar Melina musste in das Lachen mit einstimmen. „Ich hoffe, dass er nicht wirklich so über mich redet.“

„Nein, dafür redet er aber trotzdem oft genug über dich.“

Melina ließ einen bedrückten Seufzer von sich kommen. „Bitte sag ihm nicht, dass du ihn mit mir besuchen wolltest. Ich will nicht der Grund für Streit sein oder eure Freundschaft sogar zerstören. Ab jetzt lasse ich ihn in Ruhe.“

Mit diesen Worten gingen sie weiter, ohne dass eine von ihnen das Thema für heute noch weiter anschneiden wollte.

 

Es war noch Nacht, als Alex erwachte. In seinen Armen lag Luca. Er musste selbst während der Gutenacht-Geschichte eingeschlafen sein. Das Buch lag nicht mehr auf dem Bett oder Fußboden, wie sonst, sondern im Regal.

Cindy wird nach ihm geschaut haben. Vielleicht sollte er die Freundin daran erinnern, dass man nicht einfach so in andere Wohnungen eindrang, selbst wenn man dazu den Schlüssel besaß.

Vorsichtig, um Luca nicht zu wecken, verließ er das Bett und knipste das Nachtlicht aus, bevor er hinaus ging. Die Tür schloss er darauf bedacht auch hier keinen Laut von sich zu geben.

Cindy war nirgends mehr zu finden, dafür jemand oder eher etwas anderes. Den kleinen Besuch entdeckte Alex, als er das Licht ihres Weihnachtsbaums löschen wollte.

Ein kleiner Teddy saß darunter. Mit Renntiergeweih und Weihnachtsmannmütze.

Eine komische Kreatur.

Dabei sah Cindy so etwas nicht ähnlich. Mit einem Kopfschütteln löschte Alex das Licht und ging zu Bett.

 

Impressum

Bildmaterialien: Bild von Frau: xmasstock (deviantart.com) Hintergrund: Jennifer (maggie230173/deviantart.com) Font: Andrew (dirt2.com)
Tag der Veröffentlichung: 19.12.2012

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