Das Dorf, indem ich lebe, ist nicht groß und auch nichts Besonderes. Es ist noch nicht einmal schön, dennoch zieht es Leute aus aller Welt hierher. Sie kommen, um sich eine Besonderheit nahe davon anzusehen. Einen See, der nicht mit Wasser gefüllt ist, wie es eigentlich der Fall sein sollte.
Das Einzige, was dieser See enthält, sind Wolken, die so dick sind, dass man darüber sogar laufen kann. Ein Phänomen, das einzigartig auf dieser Welt ist.
Es ranken sich tausende von Legenden darum und jährlich kommen neue hinzu. Doch keine einzige ist wahr.
Woher ich das weiß?
Meine Füße sinken bei jedem Schritt in die flauschigen Wolken ein, bis sie festen Stand finden, umschlossen von einem durchsichtigen Dunstschleier. Mein Weg führt in die Mitte, wo ich mich rückwärts der Wolkendecke entgegen fallen lasse. Schon im Fall wird mein Körper abgebremst und landet sanft in diesem seichten Nebel. Durch mein kurzes braunes Haar fährt ein Windstoß und setzt alles um mich in Bewegung, als würden Wellen um meinen Körper schlagen. Der Wind ist auch das Einzige, was die Wolken hindurch lassen.
Meine braunen Augen halte ich geschlossen, auf meiner Brust liegt ein goldenes Amulett, das die Wärme der Sonnenstrahlen aufzufangen scheint und ein angenehmes Gefühl abgibt.
Es gibt nur eine Wahrheit des Sees, tief verborgen vor Fremden und ganz anders, als sich jeder erzählt.
Früher, als ich noch ein Kind war, wurden wir vor dem See gewarnt.
Uns wurde erzählt, wer den See betritt, würde von einem fürchterlichen Monster in die Tiefe gezogen werden. Eine Legende, die ich damals glaubte. Jedenfalls bis zu einem bestimmten Tag.
Ich war gerade sieben Jahre alt. Ein paar Jungs aus meinem Dorf zogen mich damit auf, dass ich so viel Angst vor dem See hatte. Sie betitelten mich als Angsthasen und Feigling. Dazu scherzten sie über mich. Einer von ihnen behauptete: „Du bist genauso feige wie dein Vater. Der flieht sogar vor einer Maus.“
Ihr Lachen schmerzte so stark, dass ich kaum meine Tränen zurückhalten konnte, weckte gleichzeitig aber auch unbändigen Zorn in mir. Meine Hände ballten sich zu Fäusten.
Sie lachten über mich, dabei erging es ihnen doch nicht anders als mir. Auch sie hatten Angst davor, einen Fuß auf den See zu setzen.
Mein Körper zitterte vor Wut über ihre Worte und dass sie nicht aufhören wollten, mich zu schikanieren. Also tat ich es. Vorsichtig setzte ich einen Fuß auf den See, danach den anderen.
Nichts passierte!
Die Anderen verstummten, während in mir meine Angst verflog, je weiter ich auf den See ging, ohne dass mir das Monster begegnete.
Ich sollte ein Angsthase sein? Ein Feigling?
Als ich wieder klar denken konnte, stand ich auch schon weit auf dem See.
„Es ist genug!“, riefen mir die Jungs vom Ufer entgegen. „Es reicht. Wir hören ja auf aber komm zurück.“
Ihre Gesichter waren gleichermaßen mit Erstaunen wie Besorgnis erfüllt, dass jeden Moment das Monster aus dem See springen würde, um mich in sein finsteres Reich zu ziehen.
„Das hätte ich mich nicht getraut“, rief einer der Jungs erstaunt.
Die Wut wich Stolz. Selbstsicher sah ich zu ihnen, obwohl in meinem Inneren die Angst ihre Finger nach mir ausstreckte. Ich wusste, dass dort nichts sein konnte, dennoch spürte ich einen Druck um mein Bein, wo das Monster aus der Legende, vielleicht seine Klaue nach mir ausstrecken würde.
„Es gibt kein Monster!“, murmelte ich leise vor mich hin. „Das ist alles ein Märchen, mehr nicht.“
Zögerlich setzte ich einen Schritt auf die Jungs am Ufer zu. Diesmal sogar mit größeren Problemen mein Gleichgewicht auf dem ungewohnten Untergrund zu halten. Ein weiterer Schritt und noch einer.
Normalerweise sanken die Füße nur bis zum Knöchel in diese weiße Masse, doch ich spürte, wie die Wolke unter mir an Festigkeit verlor und ich viel tiefer einsank.
Bis zum Knie.
Panik stieg in mir auf und ließ mich einen Schritt vorwärts hechten. Ich streckte meine Hand nach den Wolken aus, die sonst so massiv waren, jetzt aber verschwindend weich, nicht greifbar.
Mein Körper sank tiefer, bis zum Bauch.
Ich spürte das Donnern meines Herzens in der Brust. Ruderte mit den Armen, um vielleicht doch irgendetwas Rettendes greifen zu können. Mein Blick wanderte angstverzerrt auf die Anderen.
Ihre Schreie wurden zu mir getragen, dass dieses Monster doch existierte. Dann sah ich sie davon rennen.
Sie waren die wahren Feiglinge.
Langsam versank mein Körper immer weiter in den weichen Wolken, bis ich unter mir nichts spürte. Keinen Widerstand mehr, nur noch Luft.
Ich zappelte wild mit den Beinen, versuchte weiter nach irgendetwas zu greifen. Nichts half! Mein Körper sank ganz durch die Wolkendecke, bis er plötzlich von der Schwerkraft nach unten gerissen wurde. In einen unkontrollierbaren Fall.
Unter mir erstreckte sich eine Wiese in saftigem Grün. Vereinzelt konnte ich ein paar kleine Häuschen am Boden ausmachen, die sich inmitten dieser ruhigen Szene zu einem Dorf vereinten. Da waren Schafe und Pferde, die hungrig an den Grasbüscheln zupften.
Umschlossen wurde alles von einer massiven Felswand, die sich weit nach oben erstreckte. Auf einem Vorsprung lag eine goldene Sonne. Oder nein.
Ich musste die Augen zusammenkneifen, um nicht von der Helligkeit geblendet zu werden. Dabei nahm ich ein paar Umrisse in diesem Licht wahr, von dem das ganze Tal seine lebensspendende Helligkeit erhielt.
Es war ein Schloss, golden und von unglaublicher Pracht.
Meinen Blick musste ich davon abwenden, solch eine Helligkeit ging von ihm aus. Auch wurde mir jetzt mein Fall wieder begreiflich.
Ängstlich schloss ich meine Augen und kniff damit ein paar einzelne Tränen heraus. Meine Brust zog sich unter den heftigen Schlägen meines Herzens zusammen.
Ich wollte nicht sterben. Noch nicht jetzt! Ich war doch noch so jung.
Doch der erwartete Aufschlag blieb lange aus. Mit zitternden Händen betastete ich die Stelle unter mir, wo ich etwas Festes spürte, das unter meinem Griff nachgab, wie die Wolken, die auch den See erfüllten.
Blinzelnd öffnete ich zuerst mein linkes Auge. Verschwommen nahm ich die grüne Wiese war, die sich mir langsam näherte. Dann folgte das Rechte.
Unter mir hatte sich eine kleine Wolke gebildet, die meinen Sturz abbremste, bis ich den sicheren Boden erreichte.
Erst dann verschwand sie im Nichts und ich kam sanft auf dem Gras auf.
Diese kleine Wolke war ein Geschenk Gottes. Ein Wunder!
Ein helles Lachen erklang aus meiner Kehle. Vor Glück noch am Leben zu sein, schossen mir die Tränen in die Augen.
Überglücklich ließ ich mich nach vorne ins weiche Gras sinken. Mit ausgestreckten Armen, als würde ich die ganze Welt darin einschließen wollen.
Ich spürte ein Stupsen gegen meinen Oberkörper.
Eines der Pferde war zu mir gekommen und zupfte sich ein paar der Grashalme ab. Mit der Hand tätschelte ich die Stirn des Tieres.
Jetzt wandte ich meine Aufmerksamkeit der Umgebung zu.
Ich befand mich in einem Tal, das von einer gewaltigen Bergkette komplett umschlossen wurde. Der Blick auf den Himmel war von massiven Wolken verdeckt, so wie sie in unserem See sind.
Ob dies alles natürlichen Ursprungs ist, fragte ich mich. Der See war immer von einer Wiese umschlossen, die keinen Hinweis auf ein Tal gab.
Gäbe es hier nicht das Schloss, von dem eine wärmende Helligkeit ausging, würde das ganze Dorf in tiefste Dunkelheit gehüllt werden.
Ein verstecktes Dorf am Grund des Wolkensees, ging es mir damals durch den Kopf. Egal wie viele Legenden sich darum rankten, so hatte sich es sich niemand ausgemalt.
Doch was machte ich hier und wie kam ich wieder nach Hause? Meine Eltern machten sich doch sicher schon Sorgen um mich.
Meine Fragen schienen schon bald eine Antwort zu finden.
Vor mir standen plötzlich Soldaten. Ihre goldenen Rüstungen gaben ein gleißendes Licht ab, so dass ich sie nicht direkt ansehen konnte. Ich hielt mir die Hand vor Augen und konnte jetzt auch eine Waffe ausmachen, aus dem gleichen Material gefertigt. Ein Schwert, dass mir drohend entgegen gestreckt wurde.
„Wo … wo bin ich hier?“, brachte ich zögerlich heraus. Ich war noch ganz irritiert von allem, was mir passierte. Mein Versinken im Wolkensee, der Sturz, die weiche Landung, dieses Tal und das goldene Schloss. Das war doch alles unmöglich. Wie sollte das überhaupt funktionieren? Ich konnte es mir nicht erklären und wollte einfach nur zu meinen Eltern nach Hause.
„Du bist in unserem Königreich, Junge“, rief einer der Männer, mit seiner kräftigen Stimme, die viel Strenge gewohnt war. Vielleicht der Kommandant dieser Soldaten.
Mein Augen folgten ihrem Klang. Durch das helle Licht hindurch versuchte ich einen Blick auf ihn zu erhaschen, ohne dass es mir gelang. Dafür war es zu hell. Es schmerzten mir sogar nur vom Versuch die Augen.
„Wie kann das passieren? Wie kommt der Junge hierher?“, rätselten die Männer untereinander.
„Ich bin auf dem Wolkensee gelaufen und plötzlich darin versunken“, antwortete ich ihnen, ohne direkt danach gefragt worden zu sein. Was drauf erzählt wurde, half mir nicht im Geringsten, sondern verwirrte mich nur noch mehr.
„Ist denn unsere Königin wirklich schon so schwach?“, ertönte die Stimme eines der Soldaten.
„Was passiert mit unserem schönen Königreich, wenn die Barriere ganz verschwindet?“, wollte der Nächste wissen.
„Wenn unsere Königin stirbt, kann wieder jeder bei uns einfallen“, meinte ein weiter der Soldaten.
„Schämt euch solcher Worte“, ertönte erneut die kräftige Stimme, von der ich auch willkommen geheißen wurde, und verfestigte meine Meinung, ich würde ihrem Kommandanten gegenüberstehen. „Unsere Königin lebt und wir sollten alles daran setzten, sie zu retten, statt schon jetzt die Zeit nach ihrem Tod zu planen.“
„Es gibt eine Legende bei uns“, drang eine warme Frauenstimme zu mir. So sanft wie die Umarmung einer liebenden Mutter. „Es wird eine Zeit großer Not kommen, in der uns ein Held von der oberen Welt gesandt wird, um unser Königreich zu retten.“
Ich konnte eine schlanke Gestalt ausmachen, die sich mir nähert. In diesem Kranz aus Licht wirkt sie im ersten Moment wie ein Engel. Sie streckt ihre Hände den Männern entgegen, mit der deutlichen Anweisung, sie mögen ihre Waffen sinken lassen und auch damit das Licht erlosch. Doch selbst, als sie dem nachkamen, dauerte es eine Weile, bis sich meine Augen erholt hatten.
„Das ist ein kleiner Junge, wie soll er unsere Königin retten?“, verlangte ein bärtiger Mann zu erfahren, dem ich jetzt die kräftige Stimme zuordnen konnte.
„Ein passender Held für unsere kleine Königin.“ Ein zuversichtliches Lächeln lag auf den Lippen der Frau.
Genauso wie die Männer, sah auch ich mich nicht als Held. Wie sollte ich dass auch anstellen? Ich war kein Heiler oder Krieger.
Dennoch folge ich der Frau, als sie mich bat mit ihr zu kommen.
Sie führte mich in das prächtige Schloss auf dem Vorsprung in der Felswand.
„Unser Dorf und das Schloss waren schon immer etwas Besonderes“, erzählte die Frau auf unserem Weg durch dieses atemberaubende Schloss, dass ich nur staunend bewundern konnte.
Ich habe schon von vielen Schlössern Berichte gehört aber noch keines sehen oder betreten können. Und wenn ich sie mir vorstellte, dann bestimmt nicht so.
„Da es ein goldenes Licht ausstrahlt, dachten die Leute, es wäre aus purem Gold und unser Dorf würde großen Reichtum bergen. Daher mussten wir lange Zeit Kriege führen, auch wenn uns dies zuwider war. Unser damaliger König entschloss sich, eine magische Barriere um das Dorf herum zu errichten. Die Wolken über dem Dorf, die du als See kennst. Eigentlich sind sie undurchdringlich für Waffen, Menschen, sogar Magie wehren sie ab.“ Vor einer Tür bleibt sie stehen. „Solange unsere Königsfamilie lebt, existiert auch die Barriere, die uns schützt. Doch …“ Ihr Blick sank bekümmert zum Boden. „Vor einiger Zeit erkrankte unsere Königsfamilie. Der König und die Königin konnten nicht mit ansehen, wie ihre Tochter starb, also gaben sie ihr ihre letzte Kraft, in der Hoffnung, es würde sie heilen.“
Langsam zog sie die Tür auf und gab damit den Weg in ein wundervoll eingerichtetes Kinderzimmer preis. Tücher schmückten die Wände, der Boden war mit Spielzeug bedeckt. Und nahe dem Fenster stand ein Bett, in dem die junge Königin lag. Jünger sogar als ich.
Ihr Haar war goldgelockt, auf ihrer Stirn stranden Schweißperlen. Jeder Atemzug schien einen großen Kraftaufwand für das junge Mädchen zu bedeuten und dennoch rief sie in ihrem Fiebertraum mit geschwächter Stimme nach ihren Eltern.
Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, trat ich an ihr Bett. Aber es war unnötig. Sie schlief so fest, dass sie nichts wecken konnte.
Meine Hand betastete ihre heiße Stirn. Ich nahm ein Tuch und tupfte sie ihr trocken.
Mir tat das Mädchen so schrecklich Leid.
„Gibt es denn keine Möglichkeit sie zu retten?“, wollte ich von der Frau wissen.
Dieses kleine Mädchen, das vor mir im Bett lag, so schwach, dem Tode nah. Auch wenn ich nicht der Held war, den sie sich wünschten, ich hätte ihr gerne geholfen.
„Nur das heilende Quellwasser, welches in der Nähe unseres Schlosses dem Boden entspringt, könnte ihr helfen“, sprach die Frau. „Doch unsere Krieger kommen nicht in die Höhle. Sie wird von einem undurchdringlichen Dornenbusch versperrt.“
Wer weiß, wenn ich es wenigstens versuchte, vielleicht gelang es mir ja, das Wasser zu holen. Ich würde ihr gerne helfen.
Erneut tupfte ich die Schweißperlen von dem kleinen Gesicht des schlafenden Mädchens.
So wehrte ich mich auch nicht, als mir die Soldaten eine ihrer goldenen Brustpanzer holten und mich kurz in dessen Handhabung einwiesen.
Für mich war dieser viel zu groß. Mehrmals drohte ich damit vom Ross zu stürzen, wenn der Kommandant nicht solch ein Auge auf mich gehabt hätte. Ich musste einen tollen Eindruck als legendärer Held machen, spottete ich selbst in Gedanken. Auch quälte mich die ganze Zeit über die Angst, ihr nicht helfen zu können. Aber es wenigstens versuchen, das konnte ich.
Mit diesen Gedanken im Kopf erreichte ich mit dem Trupp den Eingang zur Höhle.
Wie die Frau sagte, versperrte alles ein Gebüsch aus Dornenranken.
Trotz des Lichtes, das von ihrer Rüstung ausging, konnte man in der Dunkelheit nicht ausmachen, wo der Busch seine Wurzeln hatte. Er schien sogar mit dieser Düsternis eins zu sein.
Verschreckt wich ich einen Schritt zurück.
Die Männer versuchten mit ihren Schwertern den Busch zu stutzen aber es war, als würden die Ranken sofort nachwachsen, oder sich neue zu ihnen hinaus schieben. Ein unendliches Unterfangen, das sie unermüdlich wiederholte.
Wie sollte ein kleiner Junge ihnen da helfen können?
Ich ließ mich auf einen Stein plumpsen, erschöpft vom tragen des schweren Panzers. Vielleicht würde er mir in zehn Jahren passen, jetzt wurde dieses Ding mir zur Qual. Ich war viel kleiner und schwächer als die Soldaten. So sah ich den Männern nur bei ihrem Unterfangen zu. Irgendwie mussten sie doch ihre kleine Königin retten können.
Mir kam eine Idee.
Ich richtete mich auf, nicht ohne mit dem Gleichgewicht kämpfen zu müssen. Dann ging ich mit der Bitte um das Gefäß zum Kommandanten.
Der Mann beobachtete mich, wie ich unbeachtet der Männer zum Dornenbusch schlich. Er wollte mich schon zurückrufen, da erkannte er mein Vorhaben.
Vorsichtig krabbelte ich in den Dornenbusch. Es war mühsam mit dem schweren Brustpanzer. Aber er spendete mir Licht und hielt den Großteil der Dornenranken davon ab, meinen Körper zu zerkratzen.
Ich griff die Ranken mit den Händen. Ihre Dornen stießen in mein Fleisch. Mühsam unterdrückte ich den Schrei, nach dem es mir zumute war, als ich sie von mir weg schob, um meinen Körper weiter zu drücken.
Tränen schossen mir in die Augen.
Eine kurze Pause.
Im Licht der Rüstung zog ich mir die Dornen aus meiner Hand. Es war eine schreckliche Tortur und in der Ferne machte ich noch kein Ende aus.
Immer weiter kroch ich voran, stieg sogar über die Ranken, da wo sich mir ein Weg offenbarte.
Nur noch wenige Meter, es können nur noch wenige Meter sein, machte ich mir Mut.
Dornenranken schlangen sich um mein Bein und den viel zu groß geratene Brustpanzer.
Jetzt konnte ich auch nicht mehr den Schmerzensschrei verhindern, der sich in meiner Kehle seinen Weg nach draußen bahnte. Nicht unter den Schmerz, als die Ranken meine Beine aufschnitten.
Ich krümmte mich unter Schmerzen, versuchte dabei auch die Ranken zu greifen und meinen Körper zu befreien. Es half nichts. Ich geriet nur noch mehr in dieses Gewirr aus Pein.
Nun gab es wirklich kein Vor und Zurück mehr.
Wie eine ungemochte Marionette in ihren verhedderten Strippen ihr Leben fristete, hing mein Körper in den Ranken des Dornenbusches.
Ich war am Ende!
Der schwere Panzer raubte mir jede meiner Kraftreserven. Meine Hände, Arme, Beine und Gesicht brannten, als wären die Dornen mit Höllenfeuer getränkt.
Dabei musste ich doch vorwärts und der kleinen Königin helfen.
Ich musste den Brustpanzer zurücklassen, kam es mir in den Sinn. Aber nein, dann wäre ich verloren. Selbst wenn es mir gelang die Rüstung abzustreifen, ich brauchte ihr Licht um einen Weg zum Wasser zu finden.
Plötzlich wurde mein Körper von einem warmen Wind erfasst. Er schien die Dornenranken von mir weg zu drücken, damit ich meinen Weg fortsetzten konnte. Fast schon, als würde sie mir jemand aufhalten.
Und dann sah ich ihn.
Zuerst war es nur ein Flimmern im Licht des Brustpanzers. Ich dachte an eine Sinnestäuschung. Doch nahm diese schnell Kontur an. Ein Mann von edler Statur. Ein eindrucksvoller Ritter in ähnlicher Rüstung, wie die Soldaten sie trugen. Aber er war keiner von ihnen, solch ein Mann wäre mir in Erinnerung geblieben.
Seine Rüstung war anders. Eine Mischung aus dem leuchtenden Metall und weißem Stoff mit interessanten Verzierungen.
Seine gutmütigen, braunen Augen, aus denen die Weisheit vieler Jahrzehnte sprach, schauten zu mir. Unter seinem Vollbart zeigte sich ein zuversichtliches Lächeln.
„Du bist schon so weit gekommen“, rief mir der Mann zu. „Glaub an dich. Es ist nicht mehr weit aber du solltest deine Rüstung ablegen. Sie behindert dich nur.“
Es war mir unwohl dabei aber der Panzer hatte sich so in den Ranken verhangen, dass es mir nicht möglich war, ihn zu lösen. Also befreite ich nur meinen Körper und schlüpfte dann aus dem goldenen Brustpanzer.
Meine Schritte drängten schnell voran. Eine kurze Strecke wurde erhellt, bis die Dornen um mich herum von der Schwärze verschlungen wurden. Nur noch ganz schwach konnte ich sie auf meinem Weg erkennen.
Wie schon zuvor stachen die Dornen in mein Fleisch. Ich war am verzweifeln. Diese junge Königin, ich wollte sie retten aber der Schmerz war so schlimm.
Hin und wieder machte ich Pause, um mir einen der abgebrochenen Dornen aus meinem Körper ziehen. Überall Blut, wo ich mir die Kleidung zerrissen hatte, auch darunter.
Meine Hand fuhr über meine Stirn, ich zog sie aber sofort zurück, als die Wunden begannen zu brennen.
Prüfend versuchte ich in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Nur noch schwache Funken des Lichtes wurden zu mir getragen, weiter hinten wäre ich wieder ganz in Dunkelheit gehüllt. Aber da …
Ganz am Ende, wo die Lichtstrahlen verschlungen wurden, konnte ich schwach ein paar Konturen erahnen. Dornenranken, die den harten Boden und ein Teil der Wände durchbrochen hatten. Die Wurzel dieses Gewächses.
Meine Bewegungen waren hektisch. Ehe das Licht ganz von der Dunkelheit verschluckt wurde, entkam ich meinem Gefängnis aus Dornen.
Erschöpft ließ ich mich auf meine Knie sinken, die Wangen Tränen getränkt vor Schmerz und der Angst, was denn noch vor mir liegen könnte.
Aber ich musste weiter. Ich hatte an diesem Tag schon so oft meinen Mut bewiesen, dass ich jetzt nicht einfach so aufgeben würde.
Mit der Hand wischte ich mir ein Gemisch aus Blut und heißen salzigen Tränen weg, die in meinen Wunden, einen brennenden Film hinterließen. Wegreiben machte alles schlimmer.
Auf zitternden Beinen richtete ich mich auf.
Nein, ich habe keine Angst, versuchte ich mir dabei einzureden. Mein Körper widersprach dem. Kraftlos, von einem Erzittern geschüttelt, wankte ich voran. Unter meinen Schritten knisterten Steine und Erde, meine Hände hatte ich ausgestreckt, um ein mögliches Hindernis ertasten zu können.
Blind lief ich gerade vorwärts, stolperte hin und wieder über einen Stein, ehe ich die kühle steinerne Wand der Höhle ertasten konnte.
Meine Finger gruben sich in den Stein, als mein Fuß gegen Geröll stieß. Ein leichter Fluch entstieg meiner Kehle vor Schmerz. Vorsichtig tastete ich mich auch sofort über das Hindernis.
Ich war wie blind.
Sollte ich in die Nähe der Quelle finden, wusste ich trotzdem noch immer nicht, wie ich alles schaffen sollte. Ich müsste auf dem Boden danach tasten, wenn mir mein Gehör nicht dabei half, sie zu finden.
Blind musste ich das Gefäß darin eintauchen und im Dunkeln zurück. Immer mit der Gefahr im Nacken, ich könnte etwas von dem wertvollen Nass verschwenden.
Hätte ich wenigstens nur etwas Licht.
„Gib nicht auf.“
Hatte ich mir eingebildet, dieses sanfte Flüstern zu vernehmen? Ich wandte den Blick umher, suchend in der Nacht. Letztendlich konnte ich etwas in dieser Dunkelheit entdecken.
Oder war es doch Einbildung?
Ich rieb mir die Augen. Aber nein, da ganz weit hinten war ein hellblaues Licht. Im Moment nicht größer als ein Glühwürmchen.
Es konnte nicht von meinem Brustpanzer stammen, dessen Licht golden war.
Immer noch an eine Einbildung glaubend, aber mit wachsender Hoffnung, lief ich dem Licht entgegen. Vorsichtig waren meine Schritte, darauf bedacht, mich nicht noch einmal an einem großen Stein zu stoßen oder womöglich zu fallen.
Das Licht wuchs an, je näher ich ihm in dem geraden Gang kam. Bis ich in eine Kammer gelangte, ganz von diesem hellen Schein durchflutet.
Vor mir entsprang ein plätschernder Quell aus dem Gestein. Das Wasser hatte sich einen kleinen Bachlauf in den Boden gegraben, der tiefer in die Höhle führte, vielleicht bis zu einem Fluss oder nach draußen.
Dort bei der Quelle saß eine Frau, gekleidet in dem herrlichsten Kleid und Tüchern, wie ich sie je gesehen habe. Ihr Haar war goldgelockt wie das des Mädchens. Dort hinein gewoben war eine zerbrechlich wirkende Kristallkrone, auf dessen Spitze ein großes Juwel saß. Von diesem Stein aus erstrahle das helle Licht.
Für einen Moment hielt ich inne und betrachtete die Frau, die auf mich wie eine Fee wirkte.
„Bitte Junge“, rief sie mir mit ihrer zarten Stimme zu, die so hell war, wie ein Glockenspiel. „Dir bleibt nicht mehr viel Zeit. Sonst war deine ganze Mühe umsonst.“
Ich folgte ihren Worten und eilte zu ihr, um das Gefäß mit dem kühlen Quellwasser zu füllen.
Als ich wieder aufsah, hielt sie einen Kelch in Händen.
„Für deine Mühe!“, sagte sie und reichte ihn mir an die Lippen.
Kühles Wasser rann meine Kehle hinunter. Mit jedem Schluck ließ der Schmerz in meinen Wunden nach, auch meine Kraft schien zurück zu kehren. Aber nein, ich durfte nicht nur an mich denken.
Meine Hände fassten das Gefäß fester. Ich musste gehen.
„Nimm das!“ Sie senkte den Kelch zu Boden, dafür holte sie aus ihrem Kleid einen Dolch hervor. Er war golden wie die Rüstung und wie diese, strahlte auch dieses schöne Stück ein warmes Licht aus.
Ich verneigte mich vor der Frau, bevor ich meinen Weg zurück nahm.
In den Händen das Gefäß mit dem frischen Quellwasser und der Dolch, dessen Licht für mich den Weg erhellte, bis ich die Dornenhecke erreichte.
Ich setzte dort den Dolch an, hielt aber kurz erstaunt inne.
Die Wunden an meinen Händen waren verheilt, auch an anderen Stellen. Jetzt musste ich umso schneller zum Schloss zurück, mit der Gewissheit, dass der kleinen Königin mit diesem Wasser geholfen werden konnte.
Ich verstaute das Gefäß sicher und machte mich dann daran, die Dornenranken zu zerschneiden, die mir den Weg versperrten.
So gelang es mir nach draußen zu kommen, wo ich von den Männern empfangen wurde.
Entgegen ihrer Meinung gönnte ich mir keine Ruhe, sondern reichte das Gefäß ihren Kommandanten.
Erstaunt sah er davon zu mir. Prüfend wog er es in seinen Händen. Er schien nicht zu glauben, dass mir gelungen war, woran sie so lange scheiterten.
Erst dann rief er einen der Reiter zu sich.
Ich konnte nicht so schnell reagieren, da setzte mich der Kommandant auch schon zu ihm aufs Pferd.
In einem schnellen Galopp hetzte der Reiter sein Tier zum Schloss.
Meine Finger krallten sich in die Mähne des Schimmels, während es mir vorkam, als würden wir über die Wiese fliegen. Erst nahe dem Schloss, verlangsamte er das Tier.
Sofort sprang ich herunter, in meinen Händen das Gefäß. Ich eilte an einem Teil der verwirrten Bewohner des Schlosses vorbei, zu der Frau, die mir alles berichtete. Sie hatte von allem auch am ehesten daran geglaubt, dass ich es schaffte, und nahm es mir auch sofort ab.
Sie stieß die Tür zum Zimmer des Mädchens auf. Sofort lief sie zu ihrer kleinen Königin, deren Zustand sich verschlechtert hatte. Mit einem Tuch beträufelte sie die Stirn des Kindes, erst danach hob sie ihren schwachen Körper an und gab ihr das Wasser in den Mund.
Wie sehr hoffte ich, es würde ihr helfen.
Ich hörte, wie das Mädchen hustete, kurz bevor die Tür langsam ins Schloss viel.
Jetzt konnten alle nur noch beten.
Meine Schritte führten mich auf und ab den Gang entlang. Dabei erkundete ich interessiert die Details dieses Schloss. Bis mich die Frau zu ihrer Königin rief.
Hatte das Mittel gewirkt?
Vor Nervosität entglitt meinen Griff eine der Figuren, die ich in den Händen hielt. Hektisch stellte ich den silbernen Krieger wieder zurück.
Keiner rügte mich deswegen. Nur ein Lächeln lag auf den Lippen der Frau.
Also musste es geholfen haben.
Ich trat in das Zimmer.
Das Mädchen lag in ihrem Bett. Noch immer standen ihr die Schweißerlen im Gesicht. Ihr Körper wirkte so schwach. Ob das Wasser wirklich geholfen hatte?
Sie war erwacht und sah mich aus ihren strahlend blauen Augen heraus an.
„Ist das der Junge, der mich gerettet hat?“, erkundigte sie sich bei der Frau. Man musste ganz genau hinhören, damit keines ihrer Worte entwischte. Genau wie ihr Körper, war auch Ihrer Stimme noch immer die Krankheit anzumerken.
„Ja“, antwortete die Frau. In ihren Augen standen Tränen.
„Habt dank“, hauchten ihre Lippen.
Die Hände des Mädchens falteten sich auf ihrem Bauch. Ihnen erstrahlte ein Licht und die Frau bei uns erbleichte.
„Bitte“, flehte sie. „Überanstrengt euch nicht. Ihr müsst euch schonen.“
Die Worte blieben ungehört. Von Erschöpfung wurde das Mädchen in eine tiefe Ohnmacht gerissen, in ihren Händen hielt sie ein goldenes Amulett.
Zuerst war ich erschrocken.
Sanft fuhr die Frau mit ihren Händen über die Stirn des Mädchens, bevor sie das Amulett an sich nahm.
„Sie schläft nur!“, beruhigte sie mich. „Dieses Amulett soll ab jetzt dir gehören, Junge. Ein Geschenk. Es enthält die Magie unseres Volkes und wir alle hoffen, du setzt es weise ein.“
Dankend nahm ich das Amulett an, dabei fiel mein Blick auf ein Bild.
Ein eindrucksvoller Ritter in strahlender Rüstung. Neben ihm eine wunderhübsche Frau mit goldgelocktem Haar, dass ein kleines Mädchen in den Armen hielt. Das gleiche, das ich rettete.
„Unser verstorbener König, mit Frau und Tochter“, sagte sie dazu.
„Ich bin beiden begegnet“, drang es verwundert aus meiner Kehle. Ich konnte nicht fassen, dass das wirklich passiert war. Genauso verwirrt wirkte die Frau neben mir. „In der Höhle haben sie mir geholfen.“
Die Frau nickte nur. „Dann war ihr Tod wohl nicht umsonst“, sprach sie.
Ich blieb noch zwei Tage, weil ich wissen wollte, ob das Wasser wirklich geholfen hatte. Dem war so.
Schon am nächsten Morgen ging es ihr viel besser.
Und jetzt, wo es ihr besser ging, war es mir auch möglich nach Hause zu gehen.
Ich stand auf der Wiese und blickte auf eine Masse aus Leuten, die einzig wegen mir hierher kamen. Das ganze Dorf schien sich versammelt zu haben. Ich fühlte mich richtig stolz.
„Du bist immer bei uns willkommen“, rief der Kommandant mit seiner kräftigen Stimme.
Ich sah auf das Amulett hinunter. Sicher würde ich an diesen Ort zurückkehren. Da erhob sich auch schon die Wolke.
Aus Angst herunter zu fallen, klammerte ich mich daran fest, meinen Blick auf die Leute gerichtet, für die ein kleiner Junge, der viel Mut bewiesen hatte, zum großen Helden geworden war.
Ich fragte mich, wie meine Eltern auf diese Geschichte reagieren würden? Aber als ich zu Hause war, erzählte ich lieber von einem Monster, mit dem ich gekämpft hatte. Ein, vielleicht sogar zwei Male, rutschte mir die Geschichte heraus. Aber wer würde schon glauben, dass ein Kind ein ganzes Königreich gerettet hatte? Für sie war das alles der lebhaften Fantasie eines kleinen Jungen entsprungen.
Ist diese Legende wirklich wahr, oder wie alle anderen auch ein Märchen?
Langsam sinke ich in die Wolkendecke ein und werde von einer einzelnen Wolke auf ein Blumenmeer herabgelassen, indem ich den zarten Armen einer Frau umschlungen werde. Ihr hübsches Gesicht wird von einem goldenen Schloss erhellt, auf ihren zarten Lippen liegt ein Lächeln. Zwei strahlend blaue Augen wirken glücklich mich zu sehen und mit goldenem Haar, in das ein paar Blumen geflochten sind, spielt der Wind.
Wie ein Engel sieht sie aus. Man würde sie auch für einen Engel halten, wenn die zierliche Frau nicht einen sehr dicken Bauch tragen würde.
Meine Hand wandert sanft darüber. Ihr wurde ein Junge vorausgesagt.
Nicht nur das Königreich ist es, was ich schützen will. Viel mehr ist es diese eine Frau, mein wunderschöner Engel.
Sanft fährt ihre Hand über das Amulett, das sie mir vor 15 Jahren schenkte.
Würde es nicht einen See geben, über den ich wachen muss, würde ich den ganzen Tag in ihren Armen liegen.
Langsam schließe ich meine Augen, genieße einfach nur das kurze Zusammensein mit ihr und schlafe in ihren Armen ein.
Texte: Foto: "Schlosspark Arcen" von Dieter Schütz/pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 13.12.2011
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