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Blitze zuckten am Himmel, Donner grollte, Regen benässte Hose und Hemd des Mannes, der regungslos an der Straße stand ohne einen Schutz, wie ihn so manch anderer haben würde. Er verharrte hier, den Blick starr auf eines der Häuser gerichtet. Die Kleidung ganz in Schwarz hing schwer von der Nässe an seinem Körper.
In der vergangenen Woche zog es ihn täglich zu diesem Haus.
Er harrte hier aus und dachte über das Vergangene nach. Darüber wie er sich an dieser Schlampe rächen konnte. Wie es ihm gelang ihr so viel Schmerz zu bereiten, wie sie ihm. Nun hatte er es. Endlich. Nach so langer Zeit gab sie ihm eine Möglichkeit dazu. Und er wollte sie nutzen. Was hatte er denn zu verlieren?
Langsam näherte er sich dem Haus, in dem die Frau lebte, der sein ganzer Hass gehörte. Die dunkle Gestalt kümmerte es nicht einmal, ob ihn jemand sah. Sein einziges Verlangen war ihr zu nehmen, was sie liebte.
Er hatte in den letzten Wochen viel von ihr erfahren.
Ihren Mann verlor sie bei einem Verkehrsunfall vor fünf Jahren. Zu dieser Zeit war sie hochschwanger. Wenige Wochen später kam das Kind zur Welt.
Der Fremde wusste von ihrer Lieblingsfarbe. Gerne schmückte sie sich in blauen Kleidern, mit Saphiren oder Topasen. Sie hörte Metallica. Er wusste sogar, in welchen Lokalen sie öfters verkehrte, besonders nach Dienstende mit den Kollegen. Wann sie ins Fitnessstudio ging oder ihre kleine Tochter vom Kindergarten abholte.
In den letzten Wochen hatte er die Frau ausgespäht und genossen, wie sorglos sie all diesen täglichen Betätigungen nachging, ohne ihr Wissen, ihn immer im Rücken zu haben. Einmal kam er ihr sogar so nah, dass er sie hätte berühren können. Am hellen Tag, nicht wie jetzt, im Schutz der Dunkelheit.
Dieser Augenblick hatte ihm ein Gefühl von Macht verliehen, das sich heute noch übertrumpfen sollte.
Neben diesen Dingen waren ihm auch die wichtigsten Daten bekannt. Die Geburtstage von ihr, ihrem Mann und des Kinds. Hochzeitstag und Todestag waren ihm bekannt. Genau wie ihre Kleidergröße.
Sie besaß einen guten Geschmack, was ihre Kleidung betraf. Und sogar in ihrer Uniform drehten sich die Männer nach ihr um. Am heutigen Tag trug sie darunter einen Spitzen besetzten, weißen BH mit dazugehörigen String.
Dieses Miststück konnte keinen Schritt tun, von dem er nichts wusste. Neben der Erregung bei seiner Jagd auf sie, brodelte innerlich eine unbändige Wut. Darüber, dass sie nach ihrer Tat noch so unbeschwert war, ohne Reue oder ähnliches.
Die Frau genoss ihr schönes Leben und das sichere Heim. Aber bald würde diese ganze heile Fassade tiefe Risse bekommen und er triumphierte über sie. Ein Lichtschein flatterte kurz über das Gesicht des Fremden. Ein Lächeln throne darauf. Der Verlust des Mannes war für die Frau schon längst vergangen, jetzt war es Zeit, einen neuen Schmerz zu erleiden.
Der Fremde erreichte das Haus und wie in so mancher Nacht hatte sie in ihrer Unbedarftheit eine Einladung an ihn ausgesprochen. Das Kinderzimmer lag im Erdgeschoss und eines der Fenster stand offen, um die Hitze des Tages zu entlassen. Dabei hatte er gemeint, sich mit Gewalt Einlass zu verschaffen zu müssen.
Mit der Geschmeidigkeit einer Katze hievte er seinen Körper zum Fensterbrett hinauf. Die schmutzigen Spuren seiner matschigen Solen blieben auf dem Weiß zurück.
Das Kind erwachte noch nicht einmal, nachdem der Fremde mit einem lauten Poltern in ihr Zimmer getreten war. Es schlief friedlich in seinem Bett. Auf dem Bauch ruhte ein kleines Kätzchen. Mika hatte sie es getauft. Der Name ihres Vaters.
Wie niedlich

, dachte der Mann für einen kurzen Augenblick.
Es war ein unschuldiges Ding, das noch sein ganzes Leben vor sich sah. Würde sein Hass auf die Mutter nicht in solcher Unendlichkeit in ihm schwellen, und drohen ihn zu verschlingen, wenn er diese Wut nicht endlich entließ. Ja dann hätte er dem Kind vielleicht nichts getan.
Sein Weg führt den Fremden durch das Zimmer. Viele der Möbel waren hübsch verziert, für die kleine Prinzessin, die von der Mutter so geliebt wurde. An der Tür war ein großes Poster angebracht. Der Lieblingsfilm der Kleinen.
Der Mann drückte die Klinke herunter und verließ leise das Zimmer. Mit einem leisen Klacken fiel sie in das Schloss zurück.
Interesse wurde vom restlichen Haus geweckt. Wie lebte eine Frau wie sie?
Er streifte den Flur entlang zum Wohnzimmer. Dafür, dass sie sehr lange arbeitete, herrschte hier, wie auch schon im Kinderzimmer eine einladende Ordnung. Erst gestern wurde gesaugt und Staub gewischt. Für heute hatte sich der Chef mit dessen Familie angekündigt. Noch aber ahnte sie nichts davon, dass er sie davor bewahrte.
Einige Bilder erregten seine Aufmerksamkeit.
Sie in ihrer Uniform. Sie neben ihrem Mann. Sie mit ihrer Tochter im Arm. Keines von Vater und Kind.
Seine Finger streiften ein paar davon und verweilten auf dem Bild von Mutter und Tochter.
Wie oft hatte er sich in den letzten Jahren ausgemalt, er würde es sein, der ihren geliebten Mann die Kehle durchtrennte. Wie er vor ihm lag, in seinem eigenen Blut, während das Leben langsam dahin floss. Sie sah dabei zu und der Fremde konnte das Leid in ihren Augen genießen.
Erst vor wenigen Wochen hatte er von dem Tod des Mannes erfahren.
Er würde nie das hübsche Antlitz seiner Tochter erblicken, oder sehen, wie sie aufwuchs. Noch erleben, wie der Fremde sie holte. Das war alles alleine für seine Frau bestimmt.
Vom Wohnzimmer aus führte ihn sein Streifzug weiter in die Küche.
Der Kühlschrank war reich genug für eine alleinstehende Frau mit Kind gefüllt. Viel frische Zutaten zeugten von einer sehr ernährungsbewussten Frau. Als nächstes Bad. Ein Quell der Ruhe mit vorwiegend weiß und blau gehaltenen Möbeln und Dekoration.
Jedes dieser neuen Einzelheiten sog der Fremde in sich auf, ehe er zum Schlafzimmer der Mutter vordrang.
Sie trug in dieser Nacht ein leichtes Nachthemd, unter dem man im schwachen Licht der Nacht die Konturen des Körpers erahnen konnte. Einer ihrer Träger war ein Stück am Arm hinunter gerutscht, so dass der blasse Schein des Mondes auf die entblößte rechte Brust fiel. In einem anderen Zusammenhang fände er das sicherlich erregend.
Aber nicht hier bei dieser Schlampe.
Oh, wie harmlos sie jetzt aussah.
Seine Hand strich zärtlich eine Locke ihres blonden Haares zurück. Sie erwachte nicht von der Berührung, sondern drehte sich nur auf die andere Seite.
Diese Frau würde so mancher als Engel bezeichnen. Er aber nicht. Der Fremde wusste, was sie wirklich war. Ein Monster, das für die Karriere nicht einmal vor Leichen zurückschreckte.
Seinen Blick konnte er nicht von der Schönen wenden, so verharrte er einen Moment still, wie in den letzten Tagen vor ihrem Haus.
Wie in den letzten Nächsten stieg auch heute wieder das Bild vor ihm auf. Stärker sogar. Er fand sich wieder in diesen Tag zurück versetzt.
Die röchelnden Laute seines Bruders, bei jedem Atemzug. Das Rasseln in der Lunge und dann so viel Blut. So verdammt viel Blut. Er hatte nicht gewusst, wie viel davon im menschlichen Körper war. Ein Fluss des Grauens, der sie trennte.
Ihn, der seinen sterbenden Bruder im Arm hielt und dieses Miststück mit der erhobenen Waffe.
Auf ihrem Nachttisch lag das eingeschaltete Babyphone, mit dem sie immer noch den Schlaf ihrer Tochter überwachte. Er grinste, bevor er sich wieder ins Kinderzimmer zurückzog.
Jetzt war es an der Zeit, die Tochter zu holen.
Der Fremde ging wieder zurück ins Kinderzimmer, wo das Kind noch immer friedlich schlummerte. Weder Mutter noch Tochter ahnten, wer in dieser Nacht ihr Gast war. Und selbst wenn er gegen den Drang ankämpfte, erst dieser Schlampe einen längeren Besuch abzustatten.
Wie gerne hätte er ihr in die Augen gesehen, wenn er sich ihre Tochter nahm. Doch er wollte das Schicksal nicht zu deutlich herausfordern. Mütter konnten zu Raubtieren werden, um ihre Brut zu beschützen.
Langsam griff seine Hand nach dem kleinen Mädchen.
Ein Fauchen drang neben ihr hervor, aus dem Dunkel des Kinderbetts. Grüne große Augen blickten ihn warnend an. Dann ein Schmerz, der in seine Hand fuhr.
Er musste sich beherrschen, um nicht laut aufzuschreien.
Das Katerchen mochte noch klein sein, besaß aber schon spitze Krallen, die rote Kratzer in seine Hände rissen. Die nadelfeinen Zähne bohrten sich in den Zeigefinger hinein.
In einem Sprung ließ das Tier von ihm ab, ohne seine drohende Stellung aufzugeben. Scheinbar wollte das Katerchen sein junges Frauchen tapfer vor ihm beschützen. Letzten Endes stand hier ein fauchender Fellball vor einem großen Mann.
Leise lachend griff seine Hand nach dem wehrhaften Tier. Wieder zogen sich die Krallen durch seine Haut, ohne dass es der winzigen Kreatur etwas half. Sollte dieser Quälgeist ruhig draußen weiter fauchen. Der Fremde öffnete die Tür und warf den Fellklumpen hinaus in den Flur.
Das kleine Tier heulte auf, als es an die Wand traf. Aber sofort war es wieder auf die Beine gesprungen, hin zur Tür des Kinderzimmers, die sich vor ihm schloss. Nur noch ein klägliches Maunzen war von der Kreatur zu hören, über die er gesiegt hatte.
Vor Schmerz verzog er die Lippen. Er hätte Handschuhe mitnehmen müssen. Doch der Fremde wollte seine Tat nicht verschleiern. Sie sollten seine Fingerabdrücke finden; sie sollte wissen, dass er ihre Tochter hatte. Dafür nahm er sogar in Kauf, dass sie ihn wieder in Handschellen abführten.
Ihm war am Wichtigsten zu sehen, wie sie litt.
Der Fremde entschwand mit dem Kind im Arm hinaus in die Nacht.

Melanie Liebig stand am Kinderbett ihrer Tochter, ein warmer Sommerhauch drang durch das geöffnete Fenster zu ihr. Dabei riss es die Gardine mit sich. Ihr kam in den Sinn, dass sogar der Wind sie mit ihrem Fehler quälen wollte.
Durch dieses Fenster war er gestern gekommen. Rufus Humboldt, der Mann, der vor zehn Wochen auf Bewährung rauskam und ihr blutige Rache schwor. Er hatte viel hier gelassen, dass deutlich davon sprach, er nahm ihre Tochter mit sich. Sogar die deutliche Prophezeiung hing schwer im Raum, auf eigentlich alles, dass er mit seinen dreckigen Pfoten berührte, sie würde ihr Kind nie wieder sehen.
Tränen des Schmerzes und der Verzweiflung benässten ihr Gesicht. Melanie drückte den Teddybären ihrer Tochter fest an ihre Brust. Sie fühlte sich machtlos. Dabei war sie Polizistin und hätte verhindern müssen, dass ein durchgeknallter Knasti ihre Tochter entführte.
Ein Babyphone stand auf dem Nachttischchen, dass andere in ihrem Schlafzimmer. Melanie nahm es in ihre rechte Hand, in ihrer linken den Teddy, und sah es zornig an. Dieses Ding hatte nichts genützt. Das Bett ihrer Tochter war leer, sie hatte ihre Schreie einfach nicht gehört.
Wütend schmiss sie es an die Wand, dann ging sie ins Wohnzimmer. Auf dem Wandschrank standen einige Fotos von ihr und Nicole, ihrer Tochter und einige ihres einstigen Mannes. Nicole besaß die gleichen blonden Haare wie ihre Mutter und dieselben gutmütigen braunen Augen. Sie war immer so ein liebes und lebensfrohes Mädchen gewesen. Doch jetzt …
Jetzt war sie weg. Weil Melanie nur ihre Pflicht tat, indem sie zwei Bankräuber stellte. Der eine griff sie an. Sie musste schießen. Es war Rufus Bruder, für dessen Tod er ihr seine Rache schwor. Und oh ja, seine Rache war grausam.
Das Telefon unterbrach ihr trauerndes Schweigen. Melanie stellte den Teddy zu den Fotos, erst danach folgte sie dem Laut. Sie hob den Hörer ab und lauschte, wer sie in ihrer Trauer störte.
„Mel, wir haben ihn“, drang es freudig aus dem Lautsprecher, den sie jetzt an ihr Ohr drückte, um jedes der Worte durch den Klang ihres schlagenden Herzens hindurch zu hören.
„Wie“, kam es zitternd über ihre Lippen. Sie glaubte sich verhört zu haben. Er konnte nicht so schnell gefasst worden sein.
„Wir haben Humboldt“, wurde ihr mitgeteilt. Es war Marco Rose, ihr Kollege. Melanies Herz raste vor Freude; Tränen der Trauer wichen Tränen des Glücks. Sie hatten Humboldt. Das hieß, sie mussten auch Nicole gefunden haben. Dieser Albtraum hatte ein Ende.
„Das ist großartig“, schrie sie in den Hörer hinein. Es war, als wäre für sie Geburtstag, Weihnachten und Neujahr an einem Tag. So sehr gefreut hatte sie sich nie mehr, seit Nicoles Geburt.
„Mel.“ Marcs Stimme wandelte sich plötzlich. Eben noch teilte er ihren Triumph, von dem sich nun nichts mehr erkennen ließ. Er wusste noch nicht einmal, wie er es ihr sagen konnte. „Ich …“
„Was?“, verlangte Melanie zu erfahren. „Ist irgendwas mit Nicole?“ Ihre gerade noch so berauschende Freude, war jetzt wieder Angst gewichen. Hatte dieser Mistkerl ihrer Nicole etwas angetan? Melanie wagte gar nicht darüber nachzudenken.
„Ich wollte dir keine allzu große Hoffnung geben.“ Melanies Herz ging rasend schnell. Sie wollte nicht hören, dass Nicole - ihre kleine Nicole - tot war oder was dieser kranke Typ ihr womöglich angetan hatte. „Wir haben Humboldt, aber er weigert sich uns zu sagen, wo Nicole ist.“
Melanie schluchzte erbärmlich. Aber wenigstens hatten sie Humboldt endlich geschnappt, das hieß, sie würden bald aus ihm herausbekommen, wo ihre Nicole war. „Ich komme sofort“, rief sie in den Hörer ohne alles Weitere zu beachten.
„Mel“, hörte sie Marco noch rufen, bevor der Hörer die Gabel berührte und das Gespräch beendete. Humboldt würde ihr schon sagen, wo ihre kleine Nicole war. Er konnte nicht einfach ein kleines unschuldiges Mädchen umbringen. Oder doch? Diesem Irren war alles zuzutrauen.
Melanie ging zu ihrer Garderobe. Sie zog sich eine Jacke über. Das Telefon klingelte schon wieder und zeugte über die Länge sogar an der Hartnäckigkeit des Anrufers. Es war sicher wieder Marco aber sie dachte nicht daran ran zu gehen. Er wollte ihr nur verbieten zum Revier zu fahren, um sich Humboldt vorzuknöpfen. Aber verdammt, es ging um ihre Tochter! Ihre kleine Nicole! Sie konnte nicht ruhig da hocken und warten, dass man ihre Leiche fand. Melanie brauchte Gewissheit.
Sie machte sich auf den Weg zur Tür. Sofort hatte sie einen winzig kleinen Begleiter. Mika, ihr kleiner Stubentiger – ein kleines getigertes Kätzchen, das ihre Tochter abgemagert in einem Körbchen fand – sprang von der Couch, auf der er gerade eben noch schlief, und rannte nun maunzend zur Tür.
Dort wandte sich das Katerchen um und sah Melanie an.
„Nein Mika, du kannst nicht mit“, sagte Melanie und nahm das maunzende Katerchen auf ihre Arme. Sie kraulte ihn am Ohr, er begann zu schnurren. Dann setzte sie ihn wieder auf den Boden, um die Wohnung zu verlassen.

Im Revier wurde sie schon von Marco erwartet. Er stürmte auf sie zu und nahm sie in seine Arme. Für Melanie war er ihr schon beim Tod ihres Mannes ein Trost gewesen. Sie konnte sich bei ihm ausheulen. Er kümmerte sich mit um die Beerdigung, half ihr in der ersten Zeit mit ihrer kleinen Tochter und tat noch andere Dinge für sie. Doch sie hoffte, dass er ihr nicht auch bei einer zweiten solch schlimmen Zeit helfen musste.
Melanie sah ihm flehend in die Augen. Sie wollte von ihm hören, dass Humboldt gesagt hatte, wo er Nicole gefangen hielt. Sie wollte hören, dass einige Polizisten schon auf den Weg zu Nicole waren. Wollte hören, dass es ihrer kleinen Tochter gut ging.
Marco schüttelte stumm den Kopf. Er brauchte nichts zu sagen. Humboldt wollte sie quälen, ihr das letzte nehmen, das sie am Leben hielt. Beim Tod ihres Mannes wurde ihr Leben zerstört, nur Nicole hielt sie damals davon ab ihre Waffe zunehmen. Nur Nicole hinderte sie daran, aus dem Leben zu fliehen. Sie hinderte sie daran mit den Tritten, die sie Melanie gab.
Ihre kleine Nicole gab ihr damals einen Sinn weiter zu leben, doch jetzt … Jetzt war sie weg. Melanie würde sie wahrscheinlich nie wieder in die Arme nehmen könne. Humboldt wollte sie vernichten und das gelang ihm auch.
Melanie presste ihr Gesicht an Marcos Brust, ihre Tränen begannen zu fließen.
„Ist gut Mel“, versuchte Marco sie zu trösten. „Wir finden Nicole.“
Aber würde er sein Versprechen auch einhalten können?
„Wenn Nicole etwas zustößt, dann bring ich dieses Schwein um“, drohte Melanie. „Wenn er meiner Tochter was angetan hat, dann mach ich diesen Hurensohn kalt.“
Lebte ihre kleine Tochter noch? Diese Ungewissheit ließ Melanie wahnsinnig werden.
Tiefe Trauer wich unendlichem Hass. Nicole musste leben. Humboldt wollte sie leiden lassen. Womöglich hatte er vor ihre Tochter verhungern zu lassen oder etwas ähnliches. Sie musste es herausfinden.
Melanie stieß sich von Marco los, dann rannte zum Verhörraum. Sie wollte die Antworten aus Humboldt herausprügeln, ihm, wenn möglich eine Waffe an den Kopf halten; abdrücken. Wenn Nicole starb, dann starb auch er!
Sie wünschte sich so sehr, sie hätte auch ihn damals getötet. Aber das Vergangene konnte man nicht ändern.

Er war in Handschellen und saß auf einem Stuhl. Mit geschlossenen Augen hörte er sich stumm die Fragen an, die nach Nicole gestellt wurden. Aber er hatte nicht vor, irgendeine dieser dummen Fragen jemals zu beantworten, oder gar irgendetwas zu sagen, bis nicht Melanie da war. Alles was er sagte galt Melanie, niemand anderem.
Vor dem Verhörraum standen einige Bullen, aber nicht die Hure, auf die er wartete. Doch sie würde früher oder später kommen. Dieses Treffen sehnte er so herbei.
„Humboldt, es hat doch keinen Sinn. Wir wissen, dass Sie es waren.“
Na klaro wussten die das. Er hatte ja genug seiner Fingerabdrücke dort gelassen. Im Kinderzimmer. Wohnzimmer. Bad. Küche. Sogar zum Schlafzimmer der Mutter zu.
„Sagen Sie uns, wo das Mädchen ist.“ Nein, das würde er nun gar nicht. Melanie sollte leiden, wie er all die Jahre litt. „Wollen Sie wirklich am Tod eines unschuldigen Kindes Schuld sein?“
Unschuldig, das war die Kleine, er hatte auch Mitleid mit diesem armen Mädchen, aber trotzdem. Melanie leiden zu sehen, das war es ihm wert. Er hasste die Frau und die Freude, die er empfand, wenn sie vor ihm kriechen würde, würde sicher alle Schuld wettmachen.
Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht auf. Er hörte Bestürzung. Dann war es ruhig. Er wartete. Wartete auf die Frau, die ihm den Bruder nahm. Und sie würde kommen. Dieser Junge hatte sie angerufen und gebeten, dass sie nicht kam. Das hatte er gehört, als er an dem Telefon vorbeigeführt wurde. Aber es ging um ihre Tochter, da würde sie nicht einfach fernbleiben.
Bevor er diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, hörte er schon ihre Stimme. Sie stieß etliche Flüche gegen ihn aus. Einige Polizisten versuchten sie daran zu hindern zu ihm kommen. Aber er wollte sie sehen.
„Ich will mit ihr reden“, sagte er.
Der Mann gehorchte ihm. Endlich machte mal einer, was er wollte.
Rufus öffnete die Augen und sah, wie Melanie den Verhörraum betrat. Ihr langes blondes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trug ihre Uniform, obwohl ihr die Farbe überhaupt nicht stand, im Holster trug sie ihre Waffe.
Ob sie diese heute noch benutzen wollte?

fragte er sich.
Es wäre schade, wenn er noch bevor Nicole starb, aus dem Leben treten würde.
Ihre rehbraunen Augen waren verweint. Sie hatte am heutigen Tag scheinbar schon viel geweint.
„Humboldt, wo ist meine Tochter“, ging sie ihn zornig an.
Er lachte bei ihrem Anblick. Wie sie vor ihm stand und jeden Augenblick noch mehr Verzweiflung in dieses hübsche Gesicht kroch.
„Sie ist nur ein kleines Kind“, versuchte sie an sein Herz zu appellieren. Doch sein Herz erstarb in Kälte, als der letzte Atemzug seines Bruders endete. An diesem Tag, als zwei Jungs nur ihr Portemonnaie auffüllen wollte, wurde ihm der Bruder von ihr genommen. Nun nahm er ihr die Tochter.
Rufus grinste.
„Das haben mich deine Kollegen zig Male gefragt. Denkst du, dass ich es ausgerechnet dir sage?“
Seine Worte versetzten ihr sichtlich einen Tritt in die Rippen. Tränen schossen ihr in die Augen und kullerten ihre Wange herunter.
„Nicht weinen“, rief er in höhnischem Ton. Dann lenkte er mit einer Frage vom Thema ab. Aber nur er wusste um die Bedeutung dieser Frage. Die Polizisten ließ er noch etwas im quälenden Unwissen. „Darf ich meine Uhr haben?“
Verwirrte Gesichter rings um ihn herum. Er lachte innerlich, ließ seine Freude dieses Mal aber nicht ans Licht kommen. Es gefiel ihm einfach zu sehr, seine Spielchen mit ihnen zu spielen.
Nach einer Weile und Sekunden, die für die kleine Nicole verstrichen, erfüllten sie seine Bitte, aber nicht in Form seiner Uhr. Dies war eine digitale Uhr, auf der in schwarzen Buchstaben auf dem Display die Zeit angezeigt wurde. Er brauchte seine Uhr und nicht dieses Ding.
Rufus schmiss die Uhr wieder zurück zum Besitzer, der von ihr am Kopf getroffen wurde. Zornig wurde die Hand gegen Rufus erhoben. Doch er saß nur da und lächelte. Was konnten sie ihm denn schon? Sie erwarteten ja fälschlicher Weise, dass er ihnen das Versteck von Nicole verriet.
„Wenn ich sage, meine Uhr

, dann mein ich, meine Uhr

, ihr verblödeten Bullen!“
Man, es ging um das Leben der Kleinen, und dem bösen, bösen Kidnapper wurde nicht mal ein kleiner Wunsch erfüllt, lachte er in sich hinein. Einer von ihnen, der Träger dieser Uhr, er war ein kräftiger Mann, der den schmächtigen Rufus locker ins Jenseits befördern konnte, wollte ihm schon an den Kragen. Aber ein anderer hielt ihn zurück und schickte ihn die Uhr holen.
Das war was, er schrie und sie sprangen nach seiner Pfeife. Rufus lachte auf. Nach wenigen Minuten wurde ihm seine Uhr gebracht. Eine goldene Taschenuhr, die Erinnerung an sein erstes Verbrechen, sein Glücksbringer. Er nahm sie damals einem Mädchen ab. Es war ein Geschenk von ihrem todkranken Opa.
Diese Uhr war nicht digital, sie hatte Zeiger, mit denen eine bestimmte Zeit angezeigt wurde.
„Was will der bloß mit dem Ding?“, vernahm er ein Murmeln. „Die geht doch vollkommen falsch.“
Er öffnete sie. Die Polizisten hatten nicht daran rum gespielt.
Irrtum

, jubelte er in Gedanken, während er sie in seiner Hand herumdrehte, womit er der kleinen Nicole etwas Zeit nahm. Sie ging genau richtig. Und wer weiß, vielleicht verstand sie ja auch seine Hinweise.

Nicole presste ihren zitternden Leib in eine Ecke, des Raumes, in dem sie gefangen gehalten wurde. Ein Mann brachte sie in der vergangenen Nacht hier her, seitdem war er nicht wieder gekommen. Das fand sie auch gut so, er machte ihr Angst. Sie hoffte auch, er würde nicht wieder kommen.
Oder lieber doch?
Der Raum, welcher bisher nur von einem rhythmischen Ticktack erfüllt war, wurde jetzt vom Grummeln ihres Bauches erschüttert. Nicole hatte schrecklichen Hunger.
Sie sah auf das Ding, das in der Mitte des Raumes auf einen Stuhl stand. Eine Uhr war daran befestigt. Es war ein Karton, an dem einige Drähte herausschauten. Dieses Ding machte ihr fast noch mehr Angst wie der Unbekannte.
Nicole wünschte, ihre Mutter würde schnell zu ihr kommen, um sie hier herauszuholen. Sie befreien; ihr die Stricke abnehmen, die in ihre Haut schnitten.
Der Mann hatte ihr befohlen sich nicht zu bewegen, doch sie tat es und versuchte sich zu befreien. Je mehr sie sich bewegte, umso enger wurden die Stricke. Jetzt bewegte sie sich nicht mehr. Nicole lauschte nur noch den Menschen, die draußen vorbei gingen.
„Komm her Rex!“, rief ein Junge, gefolgt von dem Bellen eines Hundes. Es waren schon so viele Menschen vorbei gekommen, aber der Knebel verhinderte, dass sie um Hilfe schreien konnte.
Nicole begann zu weinen. Wann würde ihre Mutter sie nur endlich befreien? Noch ehe dieser fremde Mann zurückkehrte?

Melanie betrachte sich Humboldt, der die Taschenuhr in seiner Hand drehte und wendete. Was wollte der mit dem Ding? Was sollte dieser Blödsinn? Was spielte er mit ihnen? Mit ihr! Wieso quälte er sie so? Wollte er wirklich am Tod eines unschuldigen Mädchens schuld sein?
Sie war verzweifelt und bekam gerade noch mit, wie die Uhr zu ihr geflogen kam. Melanie fing sie auf und sah Humboldt an. „Mein Geschenk an Sie“, rief er. Dann warf er mit einer seiner in Handschellen gelegten Hände, ein Küsschen zu ihr.
Melanie betrachtete sich das goldene Etwas in ihren Händen. Die Uhr war alt und auf der Vorderseite wurde ein aufsteigender Adler eingraviert. Es war so ein schönes Bild und je länger sie es betrachtete, desto ruhiger wurde sie innerlich. Sie konnte sich nicht begreiflich machen wieso, aber das Ticken, das aus dem Inneren dieser Uhr kam, erinnerte sie an ihren sanften Großvater. Er schenkte ihr einst eine solche Uhr, aber ein Junge nahm sie ihr weg.
Dann wendete sie die Uhr. Auf der Rückseite war etwas eingraviert. Für meinen kleinen Stern.

Mein kleiner Stern, so hatte sie ihr Großvater immer genannt. Dies war tatsächlich die Taschenuhr ihres Großvaters. Aber wieso gab Humboldt sie ihr und woher hatte er sie. War er der Junge von damals? Sie verstand das alles einfach nicht.
„Wenn die Uhr das vierte Mal die Zwölf überquert, dann ist es mit deiner Tochter aus.“ Er grinste.
Sofort öffnete Melanie die Taschenuhr. Sie zeigte 8 Uhr 23 an. Ihr blieben nicht mal mehr zwei Tage, um ihre Tochter zu retten.
„Ich habe im Knast zwei Typen kennen gelernt. Durchgedreht und noch irrer als ich.“ Noch irrer, ging das denn?

wanderte es Melanie durch den Kopf. „Sie haben früher Bomben gebastelt und mit einer das Auto ihres Vaters in die Luft gejagt. Der Alte saß natürlich am Steuer.“ Humboldt lehnte sich zurück. Er begann zu grinsen. „Die Ironie des Ganzen. Die Typen kamen wegen einer Vergewaltigung ins Gefängnis. Sie hatten mir alles erzählt und schenkten mir für meine Rache ein kleines Spielzeug.“ Sein Grinsen wurde breiter. „In nicht mal 40 Stunden geht die Bombe irgendwo in der Gegend hoch. Also beeilt Euch.“
Diese Worte ließen Melanie auf den Boden sinken. Sie hatten nur noch einige Stunden und keinen einzigen Anhaltspunkt außer dieser Uhr, auf der die Sekunden verstrichen. Wie sollten sie Nicole bloß finden?

Ticktack. Ticktack. Das Geräusch, das die Uhr von sich gab, als die Sekunden verstrichen, war eine Qual in Melanis Ohren. Es verhieß, dass ihrer Tochter weitere Sekunden genommen wurden und sie konnte dagegen nichts machen. Die zwölf wurde das erste Mal an diesem Tag schon überschritten. Zu dieser Zeit war es 15:07 Uhr.
Wieso gab Humboldt ihr diese Uhr? Wollte er ihr damit etwas sagen? War das ein Puzzelspiel, das sie zu ihrer kleinen Tochter führte?


Melanie versuchte sich zu konzentrieren aber es ging nicht. Egal was sie versuchte. Die Sorge und der Gram fraßen sie innerlich auf. Sie hätte die Uhr im Revier lassen sollen. Immerhin war sie ein Beweis, ihre Kollegen hätten sicher mehr damit anfangen können als sie. Melanie sah nur auf die Uhr. Sie wünschte sich, die Zeit anhalten zu können aber das vermochte sie nicht.
Mika streifte um ihre Beine. Er maunzte. Melanie sah ihn an. Was ihr der Kater wohl sagen wollte?

fragte sie sich. Fragte er sie, wann Nicole wieder mit ihm schmuste?

Melanie stöhnte auf, schubste den Kater mit dem Fuß leicht weg, dann lehnte sich in Sessels.
Melanie sah wieder auf die Uhr. Es war mittlerweile 20 Uhr und die Taschenuhr zeigte 4:53 Uhr an. Melanie entschloss sich den Fernseher anzustellen und zappte durch das Programm aber nichts vermochte ihr etwas Trost zu spenden. Überall liefen Nachrichten, Soaps und ein paar Spielfilme.
Doch eine Nachrichtensendung erregte ihre Aufmerksamkeit. Ein bestimmtes Foto fiel ihr sofort ins Auge. Es war das Foto ihrer Tochter. Sofort stiegen ihr Tränen in die Augen.
Seit heute Nacht wird die kleine Nicole Liebig vermisst

“, sagte die Nachrichtensprecherin. „Sie wurde von diesem Mann …

“ Ein Bild von Humboldt wurde eingeblendet. „… entführt. Es wird vermutet, dass er sie im Großraum Berlin irgendwo versteckt hält. Die Polizei bittet nun um Ihre Mithilfe. Wenn Sie uns Hinweise zum Aufenthaltsort des Mädchens nennen können, melden Sie sich bitte sofort bei dieser Nummer.

“ Eine Telefonnummer wurde eingeblendet.
So erlangte Melanie traurige Berühmtheit.
Kurz nach dem die Reportage beendet war, läutete ihre Türklingel. Unter Tränen ging Melanie zur Tür, um sie zu öffnen. Draußen stand eine ihrer Nachbarinnen, eine ältere Frau. Sie hatte den Bericht gesehen und bedauerte, was mit ihrer Tochter geschah. Die Frau redete auf Melanie ein, wie schlimm doch die Menschheit war.
„War das dieser Mann, der immer Ihr Haus beobachtet hat?“, fragte sie plötzlich. Melanie sah sie geschockt an.
Der immer ihr Haus beobachtet hatte?

ging es ihr durch den Kopf. War das möglich? Sie hatte nichts bemerkt.


„Wie?“, kam es unglaubend von ihr.
„Er stand öfters stundenlang vor ihrem Haus“, sagte sie.
„Stundenlang?“, fragte Melanie unfassend, die alte Frau nickte. „Und wieso haben sie mir nichts gesagt?“
Die Frau sah sie unwissend an. „Ich dachte er währe ein Bekannter von ihnen. Er sah so nett aus.“ Nett? Wenn es Humboldt war, war er nicht nett. Melanie war dem verzweifeln nahe. Leute hatten ihn beobachtet und ihr hatte nie jemand irgendetwas davon gesagt. Nie hatte jemand etwas unternommen, jetzt war ihre Tochter fort.
Sie verabschiedete sich, ging wieder in ihr Haus zurück. Melanie ließ sich auf ihre Couch fallen. Sie beschloss noch ein bisschen fern zu sehen, sich abzulenken.

Die Zeit des Hoffens verging in einer endlosen Zeit der Qual. Ticktack klang es in Melanies Ohren. Das Wissen, das sie dieses Geräusch zwar abstellen und die Uhr zurückdrehen konnte, aber nicht die Zeit, die für ihre kleine Tochter ablief, trieb sie fast in den Wahnsinn. Die Unwissenheit, wo ihre Tochter war, verstärkte ihren Hass auf Humboldt. Aber sie konnte nichts tun; sie konnte ihm nichts tun. Ansonsten würde sie ihre Nicole nie wieder sehen.
Melanie sah auf die Uhr. Es war 3:06 Uhr. Noch eine Minute, und ihr blieb nur noch einen Tag um Nicole zu finden. Eh Melanie sich dieser Tatsache bewusst wurde, überschritt der kleine Zeiger die Zwölf zum zweiten Mal.
Melanie begann zu weinen.
Würde sie ihre Nicole jemals wieder in ihren Armen halten können?
Marco hatte sie an diesem Tag oft angerufen und ihr berichtete, wie die Ermittlungen gerade standen. Doch seit über drei Stunden blieb ihr Telefon stumm. Er dachte wahrscheinlich, sie würde schlafen. Da irrte er.
Melanie konnte nicht schlafen, während ihre Tochter irgendwo gefangen war. Aber sie konnte auch nichts machen, was ihr geholfen hätte. Vor ihr auf dem Tisch lag die Uhr, die sie am Totenbett ihres Großvaters bekommen hatte. Vor bald zwei Jahrzehnten wurde sie ihr dann von einem Jungen gestohlen. Was bezweckte Humboldt mit ihr? Wusste er, dass es die Taschenuhr ihres Großvaters war? Unmöglich.
Melanie verwarf diesen Gedanken wieder.
Es war wichtig herauszufinden, wo sich ihre Tochter befand. Wo Humboldt sie versteckt hielt. Und sie versuchte sich darauf zu konzentrieren.
Nach einer Weile gab sie wieder auf. Es ging nicht. Sie fand keinen klaren Gedanken.
Müdigkeit hielt sie in ihrem Bann, gleichzeitig fand sie auch keine Ruhe. Immer befanden sich ihre Gedanken bei Nicole und was sie wohl durchstehen musste. Nur weil sie damals ihren verdammten Job getan hatte.
So vergingen die Stunden, bis das Klingeln des Telefons ertönte.
Melanie öffnete ihre Augen und reckte sich. Sie brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, dass sie eingeschlafen war, als ihr Telefon zum zweiten Mal klingelte. Wer mochte das sein?

frage sie sich. Marco, mit der Mitteilung, dass er ihre Nicole gefunden hatte? Oder jemand anderes?


Ein drittes Mal ertönte das Klingeln. Melanie sprang zum Telefon und nahm ab.
„Melanie Liebig“, meldete sie sich, an der anderen Leitung ertönte die Stimme einer Frau.
„Oh Melanie, ich habe es gerade in den Nachrichten gehört“, kam es von ihr, es war Melanies Schwester. „Das ist wirklich schrecklich. Habt ihr dieses Schwein schon gefasst?“
Melanie antwortete mit ja. Tränen füllten ihre Augen. Wieso konnte Marco nicht einfach vorbei kommen und ihr sagen, dass sie Nicole gefunden hatten. Musste diese Qual so lange dauern? Hätte Humboldt nicht einfach in dieser Nacht sie töten können? Wieso musste er ihre kleine Tochter holen? Sie konnte doch nichts dafür.


Das Gespräch mit ihrer Schwester wurde nach einer knappen halben Stunde vom Leuten der Türklingel unterbrochen. Es waren Leute aus der Nachbarschaft, die ihr sagen wollten, wie sehr sie hofften, dass ihre Tochter gefunden werden würde. Leute, die vorher noch nie ein Wörtchen mit ihr gesprochen hatten, bedauerten sie plötzlich. Aber niemand konnte ihr helfen. Niemand hatte ihn in dieser Nacht in ihr Haus einbrechen sehen. Oder ihr gesagt, dass er schon Tage, Wochen, Monate vorher um ihr Haus geschlichen war. Sogar stundenlang davor stand.
Und als dann alle weg waren, es war 11:13 Uhr und ihrer Tochter blieben nur noch 15 Stunden und 54 Minuten, beschloss sie auf das Revier zu gehen. Wenn Marco sich nicht bei ihr meldete, wollte sie selbst nach dem Rechten sehen.
Doch was, wenn sie Nicole gefunden hatten und die Uhr nur ein Mittel war um sie zu quälen? Was, wenn Humboldt Nicole schon getötet hatte und Marco sich nur nicht traute es ihr zu sagen? Diese Angst machte sich plötzlich in ihr breit. Sie unterdrückte die Tränen und stieg in ihr Auto. Sie musste zu Marco. Sie musste herausfinden, ob er schon irgendwas wusste. Ob Humboldt ihnen irgendetwas gesagt hatte.
Als sie am Revier ankam, fand sie Marco nirgends. Er war unterwegs. Ihre Kollegen berichteten ihr, dass er jemanden verhörte, der behauptete, er hätte Nicole gesehen. Hoffnung.
Melanie nahm ihr Handy in die Hand und wählte zitternd Marcos Nummer.
„Hi Mel“, kam es von ihm, nachdem er abgehoben hatte.
„Ist es Nicole“, fand sie direkt und hoffend zum Grund ihres Anrufes.
„Leider nein.“ Sie sah ihn nicht, konnte sich aber vorstellen, wie er in einem Impuls den Kopf schüttelte. Plötzlich verspürte Melanie in sich einen unbändigen Zorn. Sie warf ihr Handy an die gegenüber liegende Wand und ging zu dem Verhörzimmer, in dem Humboldt war. Er wurde von zwei Polizisten bewacht, die sie daran hindern wollten, hinein zu gehen, aber das vermochten sie nicht.
Sie schlug ihre Hände auf den Tisch. Der Schlag hallte im Zimmer wieder. Humboldt öffnete langsam seine Augen. Als er sie erblickte, begann er zu lachen.
„Wo ist meine Tochter!“, verlangte sie von ihm zu erfahren. Er lachte nur. „Ich warne dich, wenn du es mir nicht sagen, dann …“ Ihre Drohung wurde kaum von ihm aufgenommen, er lachte einfach weiter. Die Wut in ihr nahm überhand und sie griff automatisch nach ihrer Waffe. Während sie den Lauf ihrer Dienstwaffe auf seine Stirn presste, lachte er wie ein Irrer. Sein Lachen trieb ihr die Tränen in die Augen.
Dann verstummte sein Lachen. Er sah sie nur an. In seinen Augen spiegelte sich Freude wieder.
Melanie wurde es schlecht.
Wie konnte er sich so darüber freuen? Wie konnte er sich nur über den nahen Tod eines fünfjährigen Mädchens freuen?


„Drück ab, Schätzchen“, rief er ihr zu. Sie sah ihn verwirrt ab. „Was nützt es. Du wirst deine kleine Tochter eh nie wieder sehen.“ Erneut begann er zu lachen. Melanie kullerten die Tränen unaufhaltsam die Wange entlang. „Schieß! Schieß! Schieß!“ Melanie wollte seinen Wunsch erfüllen.
„Mel, nein!“, rief jemand von der Tür aus, es war Marco. „Wenn du das machst, bist du nicht besser als er.“
„Ob ich es mache oder nicht, es ändert nichts daran, dass ich Nicole nie wieder sehe“, weinte Melanie. Humboldt würde es ihr nie sagen, dass wusste sie.
„Tu es nicht“, bat Marco. „Setz deinen Job nicht aufs Spiel wegen dem Bastard.“
Melanies Blick war immer noch auf Humboldt gerichtet, der sie jetzt angrinste. Ihr Wunsch war es ihm das Lachen aus dem Gesicht zu prügeln. Sie wollte ihm jeden Knochen brechen, ihn leiden sehen. Ihm eine Kugel in die Stirn jagen.
„Okay, ich geb’ dir einen Tipp!“, sagte er plötzlich.
Was sollte das plötzlich?

fragte sie sich. Wollte er sie weiter quälen? War das ein Rätselspiel? Oder war das eine Finte, mit der er sie in die Irre führen wollte?


„Die Taschenuhr ist ein Andenken an meinen ersten Diebstahl.“ Und weiter?

fragte sie sich. Aber das war alles das er ihr als Puzzlestück gab.
„Heißt das, du hast mir damals die Uhr gestohlen?“, fragte sie ihn. Konnte es sein, dass sie sich wirklich damals das erste Mal begegnet waren?
„Ich hab sie einer dummen Kuh abgenommen, die mit einem einfachen Zaubertrick zu begeistern war.“
Sie erinnerte sich daran, dass der Junge, er war damals knapp zwei Jahre älter als sie, behauptete er könne zaubern. Sie gab ihm auf bitten ihre Uhr und sie verschwand. Aber er gab sie ihr nicht wieder.
Nur wie sollte sie diese Puzzlestücke deuten?
Melanie ließ die Waffe sinken. Sie ging an den verwundert schauenden Marco vorbei.
Es waren 15 Stunden, bis ihre Tochter sterben würde und sie hatte nur dies Puzzlestückchen.

Der Anblick ihres blanken Busens hatte ihn nicht erregt, aber der Blick in den Lauf der Waffe, die sie auf ihn gerichtet hielt dafür umso mehr. Er genoss ihre Wut, ihre Tränen, ihre Hoffnungslosigkeit und der Gedanke sie in 15 Stunden zu sehen. Dann, wenn sie von der Explosion hörte und erfuhr, dass Nicole tot war.
Melanie würde es bereuen, dass sie nicht abgedrückt hatte, wie sie es bereute, dass sie ihn damals nicht schon erschossen hatte.
Aber wieso gab er ihr Hinweise auf den Ort, wo er Nicole versteckt hielt. Er wollte ihr eine kleine Chance geben.
Er lachte lauthals los, während er sich schon auf Melanie freute, wenn sie ihn in 15 Stunden in seiner Zelle besuchte.

„Was ist los?“, wollte Marco wissen. „Was waren das für komische Hinweise?“
„Die Taschenuhr gehörte meinem Großvater“, begann sie. „Sie wurde mir einst von einem Jungen gestohlen und dieser Junge scheint Humboldt gewesen zu sein.“ Marco sah sie fragend an. „Das scheint ein Puzzle aber bis jetzt ist es mir nicht gelungen, die Stücke zusammenzufügen.“
Melanie ging zu der Wand, an die sie ihr Handy geschmissen hatte, sie hob es auf. Der Akku war herausgefallen, das Display hatte einen Riss. Melanie warf es in den Müll. Dann machte sie sich auf den Weg zu ihrem Auto.
Marco, der sie mit Fragen löcherte, ließ sie am Revier stehen. Sie entschloss sich alle Punkte des Lebensabschnitts vor, und nachdem sie die Taschenuhr bekommen hatte, abzufahren.
Das Haus, in dem sie mit ihrer Mutter und ihrem Vater lebte, das ihrer Großeltern, ihre ehemalige Grundschule, das Grab ihrer Großeltern und die Häuser ihrer früheren Freunde. Aber es war ihr nicht möglich damit das Puzzle zu vollenden. Sie besichtigte die Häuser. Die Besitzer hatten in den Nachrichten von ihrer Tragödie erfahren und ließen sie nach einer kurzen Bitte gerne ein. Aber alles half nichts.
Traurig fuhr sie wieder in ihr leeres Haus, in dem nur Mika wartete. Melanie schmiss die Taschenuhr auf den Tisch und nahm ein Fotoalbum in ihre Hand. Es war voll mit aufnahmen von Nicole. Von Geburtstagsfeiern, Familienfeiern, Ausflügen und Fotos, die irgendwo geschossen wurden.
Sie hoffte die Erinnerungen an die Zeit ließen sie nicht aufgeben. Beruhigten sie etwas und halfen ihr zu überlegen, was diese Puzzlestückchen bedeuteten.
Melanie erinnerte sich an Nicols Geburt. Wie glücklich sie danach war. An ihre Geburtstage und an die Zeit kurz bevor Humboldt sie entführte.
Sie erinnerte sich, wie Nicole vor ihr stand. In den Händen hielt sie ein schmutziges und nur noch aus Haut und Knochen bestehendes Fellknäuel. Melanie erkannte in dem Ding erst kein Tier. Sie wusste nicht mehr, an was sie damals dachte. Melanie nahm es damals ihrer Tochter ab. Vollkommen überrascht hatte es sie, als es plötzlich begann sich zu bewegen und zu maunzen. Es folgte für das Katerchen eine dusche, während Nicole ihm Milch einschenkte.
Jetzt stand Mika putzmunter und etwas dicker vor ihr. Nicole hatte die Idee ihm den Namen ihres Vaters zu geben. Er sprang auf Melanies Schoß, tapste im Kreis herum und ließ sich nach einer kurzen Zeit dort nieder. Melanie streichelte seinen Kopf und er begann zu.
„Vermist du Nicole auch?“, fragte sie das Katerchen aber erwartete keine Antwort. Mika schnurrte und genoss es von ihr gestreichelt zu werden.
In diesem Augenblick wusste Melanie nicht mehr, wieso sie ihn eigentlich hatte ins Tierheim geben wollen. Das Katerchen war doch ganz niedlich. Jetzt war auch ihr Vorhaben, dass sie eigentlich heute vor hatte absurd. Sie hatte vor Mika wegzugeben.
Doch jetzt war sie froh, dass sie wenigstens ihn hatte. Wie damals Nicole nach Mikas Tod, beruhigte sie nun der Kater. Das Schnurren ließ sie einen Moment nicht an Nicoles nahen Tod denken. Sie entspannte sich, während der Kater in ihrem Schoß schnurrte. Sogar ihre Tränen versiegten für einen Moment der innerlichen Ruhe.
Melanie legte das Fotoalbum weg, sie bemerkte die Uhr. In der Zeit, während ihres Streifzugs durch die Stadt, war das dritte Mal die zwölf überquert worden. Jetzt zeigte die ihre Uhr an der Wand 21:38 Uhr an. Ihrer Tochter blieben noch 8 Stunden und 29 Minuten.
Melanie betrachtete sich die Taschenuhr und versuchte sich an diese Zeit zu erinnern.
Es war kurz nach dem Tod ihres Großvaters. Sie war total niedergeschlagen und betrachtete sich dauernd die Gravierung auf der Rückseite. Er hatte dieses Ding für sie angefertigt, kurz bevor er erkrankte. Und dann lief ihr an einem schönen Frühlingsmorgen dieser Junge über den Weg. Er behauptete, er könne Zaubern und verlangte für den Trick ihre Taschenuhr. Melanie wollte sie ihm nicht geben, sie war schließlich ein Andenken an ihren Großvater. Doch eh sie sich versah, war sie in seiner Hand. Etwas später ließ er sie verschwinden. Wiederum etwas später verschwand er mit irgendeinem anderen Jungen in einer Gartenlaube.
Wo war das?
Melanie erinnerte sich wage, dass ihre Oma damals einen Garten besaß.
War das eine Möglichkeit, musste sie dort suchen? Würde sie dort ihre Nicole finden?
Melanie beschoss dorthin zu fahren.
Sie nahm Mika auf ihren Arm und legte ihn sachte auf die Couch. „Dank dir!“, hauchte sie zu ihm, dann nahm sie die Taschenuhr. Diese Gartensparte war ihre letzte Hoffnung.
Ihr Ziel war schnell erreicht. Als sie dort war erinnerte sie sich genauer. Mit einer Taschenlampe beleuchtete sie den Weg, den sie damals ging. Sie erinnerte sich an den Jungen und hielt inne, wo er ihren Weg kreuzte. Sie erinnerte sich, wie er und der andere in einen Garten rannten. Damals wurde er von einem Hund bewacht. Sie ging zu dem vermeintlichen Garten. War sie hier richtig?
Melanie richtete den Schein der Taschenlampe durchs Fenster. Im Dunkeln leuchtete eine Zahl auf. 04:47 erkannte sie in der Schwärze. Ihr Blick ging auf die Taschenuhr, die 7:13 Uhr anzeigt. Melanie durchleuchtete weiter das Zimmer, dann entdeckte sie auf dem Bett ein kleines zitterndes zusammengekauertes Etwas. Es musste Nicole sein.
Melanie versuchte sofort die Tür zu öffnen, aber sie war verschlossen. Sie entschloss sich die Tür einzutreten. An Konsequenzen, wie einen Mechanismus, der die Bombe hätte zünden können dachte sie dabei keine Sekunde. Sie wollte endlich ihre Nicole in den Armen halten, sie drücken und befreien.
Aber es war keine versteckte Falle, nur die Bombe, die auf einem Stuhl stand. Auf dem Bett wimmerte Nicole. Sie zitterte und war nur mit ihrem Nachthemd bekleidet.
Melanie stürzte zu ihrer Tochter, befreite sie von dem Knebel in ihrem Mund und von den Fesseln um ihre Hände. Dann schloss sie ihre zitternde kleine Tochter in ihre Arme.
„Mammi, Mammi“, wimmerte Nicole und weinte. Melanie weinte auch. Aber nicht aus Trauer. Sie weinte aus Freude darüber, dass sie ihre Tochter endlich wieder in den Armen halten konnte. Über die Freude vergaß sie die tickende Gefahr fast.
Melanie riss sich zusammen und nahm ihre Tochter auf den Arm. Jetzt brauchte sie ein Telefon. Ihr Handy war ja bei einem klitzekleinen Wutanfall zu Bruch gegangen.
In der Ferne hörte sie Musik. In einem der Gärten musste eine Feier sein. Sie rannte mit ihrer Tochter auf dem Arm in die Nacht und auf Musik, Licht und Leute zu.
„Hilfe!“, schrie sie zu ihnen und stürmte in den Garten. „Helfen sie mir.“
Ein kräftiger Mann kam auf sie zu. Er sah sie und Nicole verwundert an.
„Ist das nicht das Mädchen aus den Nachrichten?“, fragte er sie.
„Ich brauch ihr Telefon“, sagte sie, er sah sie weiter verwirrt an. „Geben sie mir ein Telefon oder wollen sie, dass ihr Nachbargarten zu einem kleinen Feuerwerk wird?“
Fragend gab er ihr sein Handy, sie überreichte ihm dafür Nicole. Während Melanie Marco anrief gaben die Männer ihrer Tochter zu trinken und essen.
„Melanie, wo bist du?“, wollte Marco wissen. Sie erzählte ihm alles und die Männer horchten geschockt bei dem Gespräch zu. Nachdem Marco mit einem Team der Bombenentschärfung kam, machte sich Melanie auf noch etwas zu erledigen.

Die Wache war ruhig, nur zwei Polizisten standen vor dem Untersuchungszimmer. Niemand hatte Humboldt etwas berichtetet.
Melanie ging zu ihm und lächelte. Er sah sie verwirrt an.
„Es ist vorbei“, rief sie freudig, um die Ecke spähte Nicole. Humboldt sah auf das Mädchen, seine sonst so freudige Mine wurde mit Zorn gefüllt.
„Ich dachte nicht, dass du sie wirklich findest“, gestand er. „Aber ich habe dich scheinbar unterschätzt“
Melanie machte sich auf dem Weg aus dem Zimmer und rief zu den Kollegen: „Sperrt ihn in eine Zelle.“
„Ich schwöre, wenn wir uns wieder sehen, wirst du es nicht mehr so leicht haben“, drohte Humboldt ihr. Sie warf keinen Blick zurück, während sie die Wache verließ, nur noch seine Drohung gelangte an ihre Ohren. „Und ich freu mich schon darauf.“
Sein Lachen klang noch in ihren Ohren, als sie nach Haus fuhr. Ich freu mich schon darauf

, hörte sie ihn in Gedanken und sie schwor sich, darauf vorbereitet zu sein.

Impressum

Texte: Bild: Janine (pixelio.de)
Tag der Veröffentlichung: 19.08.2011

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