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Die Mädchen führten Anita etwas außerhalb der Stadt, in einen kleinen Hain.
Sie erinnerte sich noch, dass sie hier als Kind mit ihren Eltern spazieren ging. Ein kleiner Funken Glück durchflutete sie bei den Erinnerungen daran, der ihr einst abhanden gekommen schien.
Damals in ihrer Kindheit meinte sie, kurz nach dem Tod ihrer Eltern, sie würde nie wieder glücklich sein. Ein Irrtum, wie ihr kurz darauf Suse und Martin zeigten.
„Was wollt ihr nun?“, wollte Anita wissen und blieb stehen, genau wie die Mädchen vor ihr.
Freundinnen, wie sie meinte.
Eine Grimasse, der Vorfreude offenbarte sich auf den Gesichtern aller vier.
Die dunkelhaarige Mara, jung aber die Anführerin. Julia. Mann konnte sie für einen Engel halten, wenn sie nicht die Grimasse eines Dämons offenbarte. Michelle, hübsch und meist in schrillen Farben gehüllt. Zuletzt die Jüngste der Clique. Sofie.
Alle drei näherten sich mit ihren Schritten Anita, die jetzt ängstlich zurück wich.

Für einen Moment hatte Mara das Mädchen wirklich gemocht. So sehr, dass sie an ihrem Vorhaben zweifelte.
Aber nicht nach diesem Abend.
Nachdem sich dieses Flittchen schamlos an Jamie heran gemacht hatte. Das würde ihr noch teuer zu stehen kommen.
Ein einziges Zeichen in die Nacht, schon traten die beiden Jungs hervor. Und noch ehe Anita sich dem entziehen konnte, fand sie in ihrem festen Griff gefangen.
Wie die Jungs, so stülpten sich auch die Mädchen eine Maske über das hübsche Gesicht.
Ihr Spiel konnte beginnen.

Sie wusste nicht, wer die beiden Jungs waren, die plötzlich von Links und Rechts kamen, um ihre Arme zu packen.
Ihr Griff war so fest. Anita versuchte sie abzuschütteln, aber ohne Erfolg.
„Was soll das?“, verlangte sie von dem Mädchen zu erfahrne, dessen Gesicht unter der schaurigen Maske einer entstellten Hexe lag.
Mara lachte, genau wie ihre drei Freundinnen.
„Dachtest du etwa, wir seien Freunde?“, höhnte sie. „Wir kommst du überhaupt auf die Idee? Nur weil wir die letzten Tage nett zu dir waren?“
„Genau!“, kreischte Sofie auf. „Wie kommt die überhaupt darauf? Sehen wir so aus, als würden wir einen Trampel wie dir überhaupt eine Chance geben.“
Anitas Blick senkte sich.
Da hatte Suse mit ihrer Besorgnis wohl Recht, musste sie sich eingestehen.
Sie wäre es nicht, der Suse das auf die Nase binden würde. Eher ihrem viel zu gutgläubigen Ehemann.
„Was tun wir jetzt mit ihr?“, wollte Michelle wissen, deren Augen gefährlich aufblitzten. Wie ein Raubtier, kurz vor dem Sprung auf seine Beute.
Sie trat vor Anita. Ihre Finger tätschelten das Kinn des anderen Mädchens und fuhren von dort aus zum kurzen Haar.
„Der neue Schnitt sieht genauso scheußlich aus, wie der alte. Also wer hat das versaut?“
Am liebsten…


Anita sprang nach vorne, wurde aber weiter von den älteren Jungs gehalten.
Julia zückte ihr Handy. Erst für ein paar Fotos des gefangenen Mädchen, später stellte sie auf Kamerafunktion um, ganz wie ihre Anführerin befahl.
Sie sollte es nicht tun. Verdammt, immerhin hatte Mara einiges drauf, wovon deutlich Anitas Haare zeugten. Aber… Ach verdammt… Das hatte sie wirklich verdient.
Außerdem, was hatte sie schon groß zu verlieren?
Anita musste mit einem der Mädchen die ganze Zeit in einer Klasse verbringen, ob sie wollte oder nicht. Was änderte es schon daran, das sie sich hier brav in der Gefangenschaft hängen ließ, still wie ein Kaninchen auf der Schlachtbank, stumm wartend, bis der Metzger das Beil schwang.
„Hey Mara!“, rief Anita und konnte ihre Stimme selbst nicht wieder erkennen. Voller Stärke und ohne einen Funken Angst. Auch wenn sich in ihrem Magen ein warmer Klumpen verfestigte und sie bald übernehmen würde.
Dem Mädchen vor ihr sah Anita mit einem Funken Neugier an.
Anita hob ihren Kopf. Kurz drauf verfestigte sich ein Lächeln.
„Ich habe doch mit Jamie geredet. Er sagte, dass er nicht auf solche Zicken wie dich steht. Kleine Mädchen, die ihn anhimmeln sind ihm viel zu lästig, also vergiss ihn einfach.“
Ihre Stimme erzitterte unter dem letzten Wort, auf dem auch ein Schlag von Mara folgte.
Ihre flache Hand schlug in einem im Hain verhallenden Schlag auf die Wange des anderen Mädchens auf.
Da hatte Anita einen deutlichen Nerv getroffen.
Und noch ehe ein anderer etwas tun konnte griff das Mädchen nach rechts, in die Tasche des einen Jungen. Daraus hervor holte sie ein Messer.
Die Klinge blitzte im Mondlicht silbern auf. Klebrige Reste zeugten davon, dass er zuvor einen Apfel geschnitten hatte. Wohl beim Warten auf die Mädchen.
Er war der einzige, dessen Augen nicht vor Schockierung aufblitzten, eher amüsiert von dem Geschehen, genau wie sein Lächeln.
Anitas Kopf sank auf die Brust. Schlaff hing sie im Griff der beiden Jungs. Rechts steckte ihr Arm in einer fast unauslöschlichen Fesselung, links erschlaffte der Griff.
„Was hast du vor?“, wollte Sofie wissen, die ängstlich ein Schritt zurück trat.
Mara wollte ihr nicht wehtun. Noch nicht jetzt.
Die Hände des Mädchens griffen in Anitas kurzes braunes Haar.
Oh verdammt, es war so schon viel zur kurz, jetzt wurden die Spitzen um einen weiteren entscheidenden Zentimeter gekürzt. Dabei hatte Anita nie vor jemals mit solch einer Kürze das Haus zu verlassen. Ob ein Hairstylist ihre Frisur retten würde können, selbst nachdem Mara zwei weitere Male das Messer an ihrem Haar ansetzte?
Ihre Bestrafung fand noch kein Ende.
Die Klinge legte sich an Anitas Kinn. Mit etwas Druck zwang Mara die andere, sie anzusehen. Auf in das unter der Hexenmaske versteckt liegende Gesicht. Anita konnte an den Augen erkennen, dass die andere ein breites Grinsen offenbarte.
„Ob er sich noch für dich interessiert, wenn ich mit dir fertig bin?“, fragte Mara, in einer heißen Verkündung, auf die Anita einen Schritt zurück getreten wäre, wenn die Jungs ihre Fesslung abgenommen hätten.
So spürte sie nur den Griff, der sich noch schmerzlicher um sie legte, je mehr sie sich bewegte.
Die Klinge wanderte über die Wange des Mädchens. Zuerst in einer zarten Berührung, die keine Spur hinterließ.
„Nein!“, kreischte sogar Julia jetzt auf. „Wir wollten ihr etwas Angst einjagen. Jetzt komm, lass uns aufhören.“
Mara hörte nicht auf die Freundin.
Anitas Schrei erfüllte den Wald aber niemand anderes, als die vier Mädchen und die beiden Jungs würden ihn hören. Sie waren alleine und keiner von ihnen würde sich gegen das Mädchen stellen. Egal, was sie tat.
Eine rote Spur zeichnete sich über Anitas Wange. Heiß und klaffend.
Die Fesselung um ihren linken Arm löste sich.
„Nein!“, kreischte der Junge. „Ich mach da nicht mit, ihr seid durchgedreht! Psychos! Ihr habt sie nicht mehr alle.“
Er trat einen Schritt wankend nach hinten.
Kurz drauf löste sich auch die rechte Fesslung. Anita sank auf ihre Knie nieder. Heiße tränen brannten in der Wunde und benässten den Waldboten unter ihr.
„Jetzt reiß dich zusammen!“, ging der eine Jungen seinen Kumpel an. „Egal was hier passiert, wir sind alle dran und ich schwör dir, ich bring dich um, wenn du dich jetzt nicht zusammenreißt!“
Dieselbe Drohung richtete sich auch an die anderen drei Mädchen, die sich vorsichtig entfernten.
Anita schloss ihre Arme um sich. Sie wollte nicht vor der Feindin in Zittern losbrechen, ihr nicht diese Befriedigung geben. Nicht, nachdem ihr Plan so gut aufging.
„Verdammt!“, schrie Anita auf. „Mich interessiert keiner von beiden. Weder Andrew noch Jamie. Wir haben nur geredet, mehr nicht. Keine Ahnung, wieso er ausgerechnet mich ausgewählt hat.“
Die falschen Worte.
Wieder flog Maras Hand ihr entgegen. Mit einer solchen Wucht, die Anita nach hinten umstieß.
Kurz drauf flog die Maske vom Gesicht. Mara lag auf ihr. Mit einem so vor Wut entstellten Grinsen, das den Wahnsinn in Person enthüllte.
Jetzt begann Anita wirklich zu zittern. Das Messer erhob sich.
Sie waren alle zu weit gegangen, um jetzt noch umzukehren, wusste selbst die etwas beschränkte Sofie. Diese Nacht würde für alle kein Happy End haben. Nicht wenn sie zu sechst den Hain verließen und schon gar nicht, wenn Anita nach Hause kam.
Wärme breitete sich in dem Mädchen aus, dessen Körper unaufhörlich zitterte.
„Happy Birthday!“, rief Mara. Die Klinge näherte sich schnell dem finalen Schlag.
„Falsch!“, rief Anita mit ungewöhnlich fester Stimme.
Die Klinge stoppte kurz über ihrem Herzen und auch das Zittern verebbte.
Anita lag da, regungslos. Ihre Brust hob und senkte sich unter ihren schnellen Atemzügen.
In der Ferne vernahm man den Glockenschlag der Kirchenuhr.
Es war Suses Idee. Schon am ersten Jahrestag des Todes ihrer Eltern dachte sie sich, diesen Tag als einen Tag der Feier zu begehen. Damit sich das Kind nicht in Trauer verlor und ihren Geburtstag zu hassen begann.
Ihre Eltern wollten an diesem Tag zurück sein. Ihr Vater fuhr einen Tick zu schnell. Auf der regennassen Fahrbahn kam der Wagen von der Straße ab und zerschellte an einem Baum.
Anita bekam die Nachricht erst am nachfolgenden Tag. Ein Tag, an dem sie schon zurück sein wollten, um ihre Tochter, mit einem Happy Birthday zu begrüßen.
Und es klappte. Anita vergaß den traurigen Umstand nie aber sie lernte auch den Tag zu feinern, egal was für eine Tragödie sich wieder einmal jährt. Ihre Mitschüler bemerkten es und benannten ihren Geburtstag immer falsch.
Einen letzten Schlag tat die Uhr.
Anitas Körper wurde ganz ruhig.
„Mein Geburtstag ist erst heute“, sagte sie. Nicht am 31., sondern am ersten Tag des nächst folgenden Monats.
Ein einzelner Tropfen Regen beträufelte die Wange des Mädchens. Kurz drauf trommelte ein plötzlicher Regenschauer auf sie ein.
„Und was soll mich das interessieren?“, fragte das Mädchen, in dessen Hand das Messer immer noch über dem Herz der anderen schwebte. „Tja, schade für dich.“
Ihre Stimme war gehässig.
„Mara, hör bitte auf“, flehte Julia. „Es ist genug.“
„Nein!“, rief das Mädchen streng. „Ich lass nicht zu, dass dieses Flittchen mein Leben ruiniert. Oder meint ihr, sie rennt nicht sofort zur Polizei? Dann sind wir alle dran!“
Wieder erhob sich das Messer.
„Nein“, rief sie erneut. Diesmal mit einem Gesicht voll blanker Freude. „Sie wird schweigen. Für immer. Dafür sorge ich schon!“
Anita schloss ihre Augen.
Das bis eben sich nähernde Messer zögert unter dem Aufkeuchen eines Mädchens.
Es war nicht Anita, die ihre Hand von der Wunde wegzog und diese im Mondlicht betrachtete. Wie das Wasser das Blut wegspülte. Sondern Mara. Sie sank blutend neben der anderen zu Boden.
„Was?“, keuchte sie unfassend auf.
Anita erhob ihre Hand. Ein Pfeil aus purem Wasser, lag in ihren Fingern. Nur eine einzelne Bewegung, schon schoss das Geschoss auf die am Boden liegende Feindin zu. Unerbittlich bohrte es sich in voller Härte durch ihre Brust.
Ein letztes Keuchen verließ die Lippen des Mädchens, ehe Mara reglos am Boden liegen blieb. Die Augen starrten Anita weiter an. Mit all dem Hass, den sie ihr auch schon vorher zuwarfen.
Nur dass sie ihr jetzt nichts mehr antun konnte.
Ängstlich sahen die anderen drei Mädchen auf Anita.
Ihre Hexenmasken sanken zu Boden, schockierte Blicke wurden darunter offenbart und auch die beiden Jungs legten ihre Masken ab.
Einen davon erkannte Anita jetzt. Julias Bruder. Der andere war ihr unbekannt und mehr ein Anhängsel des Unruhestifters.
„Du verdammtes Miststück“, schrie der große Junge auf. „Was hast du getan? Ich werde dafür sorgen, dass du dein Maul hältst!“
Ehe Anita sich umgedreht hatte, lag die feste Hand des Jungen um ihren Hals.
Unerbittlich drückte seine große Hand die Kehle des 14-jährigen – seit dieser Nacht eigentlich 15-jährigen Mädchens zusammen.
Angst brandete in Anita auf, drohte sie fort zu reisen. Hinaus aus der Welt, ganz in die Hand der Wärme, die sich in ihr ausbreitete, fast wie eine andere Person, die sich ihr bemachtet. Mit der Angst kam auch die Wut.
Sie wollte nicht sterben und würde alles tun um am Leben zu bleiben.
Anitas Körper verkrampfte sich im Flehen um Luft, das von jedem unerhört blieb.
Der andere Junge floh. Sofie stand zitternd in Tränen da. Michelle schrie, er solle es lassen und Julia kreischte auf.
Hinter dem Jungen hob sich eine Gestalt im Regen ab. Eine zweite Anita. Ein Spiegel ihrer, der nicht zitterte, sondern grinste, während sie ein Messer geformt aus Wasser dem Jungen in den Rücken rammte.
Der Spiegel fiel zusammen, kaum das der Junge keuchend zurück trat. Ein weiterer Stich brach aus der Dunkelheit hervor.
Die echte Anita sog die kühle Luft dieser ersten Novembernacht ein.
Sie hatten es verdient, stand für sie fest.
„Nein!“, rief Julia.
Sie rannte zu ihrem Bruder, der sterbend zu Boden gesunken war.
„Was hast du getan?“, verlangte das Mädchen zu erfahren, die den Kopf ihres Bruders an ihre Brust drückte. „Du Hexe! Du Monster! Du solltest sterben, nicht er!“
Eine Hexe, das war wohl wahr. Die dünnen Lippen des Mädchens verzogen sich zu einem vergnügten Lächeln.
Die Wärme nahm nun ganz Besitz von ihr an. Diese süße Kraft, die ihr so viel Macht verlieh.
Egal was es war, oder wozu sie ihr an diesem Tag verliehen wurde, jetzt wollte sie nur noch eines. Rache.
Für alles, was ihr diese Mädchen antaten.
Anita hockte sich zu Boden. Wie ein Kind im Spiel mit einem Käfer, wollte sie Julia ganz genau beobachten. Jede ihrer Gesten, während sich die Hand des wässrigen Spiegelbilds um den schlanken Hals des hübschen Mädchens legte. Dabei konnte noch nicht einmal das von Regen und Tränen verwaschene Make-up etwas von den hübschen Zügen nehmen.
Sofie sank weinend zu Boden.
Sie flehte immer wieder, dieses Grauen möge ein Ende haben. Für sie erschien es in einem Alptraum. Und keiner von den verbliebenen Mädchen wusste etwas zu tun.
Julias Fingernägel rissen die Haut an ihrem Hals auf, ohne dass sie etwas zu fassen bekam. Nur das Wasser strömte über ihre Finger, wusch das Blut aus ihren Wunden, bis ihr Körper erschlaffte.
Nicht einmal da ließ Anitas Spiegelbild von dem Mädchen ab, deren Augen sich kraftlos schlossen.
Sie alle sollten Leiden.
Mara, Julia, Michelle und Sofie. Für all das, was sie in ihrem Leben taten.
Ein scharfer Wind zog an ihr vorbei. Sie sah nicht, was es war, das dieses wässrige Spiegelbild mit einer einzigen Bewegung zerschlug.
Anitas Augen weiteten sich.
Gab es etwas oder jemand, der sich gegen diese neu gewonnene Kraft behaupten konnte? Nein, das war nicht möglich!
Sie sah nach Rechts, wo im Schatten der Bäume ein Junge stand. Dunkle Kleidung, zu einem selbst gestalteten Kostüm gebracht, wie er ihr selbst berichtete.
Jamie.
Sein Haar klebte Nass auf der Stirn. Die Züge in seinem hübschen Gesicht wirkten ungerührt, so dass Anita nicht sagen konnte, ob ihn dieses Schauspiel abstieß oder was er womöglich darüber dachte.
Und auch wenn Anita ihn mochte, so war er hier doch fehl am Plazt.
Ein Pfeil aus Wasser sauste auf den Jungen zu, der gekonnt hinter dem Baum entkam.
Als er wieder vortrat, lag etwas in seiner Hand. Ein Fußball, auf dem ersten Blick. Aber nein, es war etwas anderes. Eine Kugel aus Wind, auf die Größe eines Fußballs gebracht, drehte sich auf seinem Finger.
Anita zog eine schützende Wand vor sich auf. Aus der erhob sich ein weiterer Pfeil für den Besucher. Und auch die Mädchen sollten einen von ihnen geschenkt bekommen. Ein allerletztes Geschenk.
Der Ball stürzte von seinem Finger hinab, kurz darauf gab ihm ein schneller Kick Schwung.
Wie zuvor zerschlug dieser die Gestalt des Wassers. Zuerst den Pfeil, der auf ihn selbst zuraste. Nicht aber die Wand. Kurz davor kam er zum Stehen und sauste dann links an ihr vorbei in einem großen Schwung, um die anderen beiden Geschosse zu zerschlagen.
Sein Flug endete erst am Hinderkopf des Mädchens, deren Wasserwand in sich zusammenfiel.
Kein heftiger Schlag, wie wohl anzunehmen wäre, nur eine schwache Berührung, einer Rüge gleich.
„Man, hier ist ja was los!“, rief der Junge. Erst jetzt trat er auf die Lichtung.
Aufgeputscht vom Kampf schrie das Mädchen auf, bereit zum Angriff.
„Verschwindet!“, wies Jamie den anderen beiden Mädchen streng an. „Und vergesst am Besten, was hier passiert ist.“
„Nein!“, schrie Anita auf, drohend sich selbst an dieser unbändige Wut zu verlieren.
Dabei war sie nicht so. Ein kühles Wesen vom Durst nach Rache schreiend. Doch in dieser Nacht war alles anders.
In ihr brannte diese Hitze. Die lockende Macht ihres wässrigen Spiegelbilds, das sich vor Jamie aufbaute.
„Lass dich nicht von dieser Macht kontrollieren“, rief ihr der Junge zu, ehe er getragen von Schwingen aus Wind, zu einem weiten Sprung, aus der Reichweite des Spiegelbilds floh. „Du bist stärker als diese Gabe.“
Anita achtete nicht auf ihn, wandte den Blick nur ab, hin zu den fliehenden Mädchen.
Ein weiteres ihrer Spiegel-Ichs hob sich aus dem Regen ab, versperrte ihnen den Weg. Drohte mit ihren Händen nach Sofie zu greifen.
Dem kleinen Dummerchen, das auf Maras Befehl hin so vieles getan hatte, um Anita zu schaden. Genau das sah sie vor sich. Die vielen Male voller Qual, in der Schule oder außerhalb. Ihre Späße

, die oft viel zu weit gingen. Bis hin zum Verlust ihres langen Haars.
Tränen flossen über ihre Wangen.
„Sie sollen Leiden“, drang es in einem wilden Fauchen aus ihrer Kehle. „Sie sollen mich anflehen! Ihr Blut soll die Erde tränken“
Dieser Zorn verdrängte alles.
Anitas eigentlich sanften, gütigen Charakter. Ihre Besonnenheit. Einfach alles, was sie ausmachte, bis nur noch das Feuer übrig blieb, von dem sie drohte verschlungen zu werden.
Ein Bumerang aus Wind sauste vorbei, bis es das Spiegelbild in der Nähe beider Mädchen zerschlagen hatte.
Wütende Hände griffen aus dem Regen nach dem Jungen.
Wind und Wasser, im unbarmherzigen Kampf.
Die Schwingen aus Wind zerschlugen Anitas Spiegelbild. Ehe sich ein weiteres erhoben hatte, trugen sie ihn im schnellen Sturzflug zu dem Mädchen.
Sie spürte seinen festen Griff um ihre schmalen Schultern. Wie er auf ihr landete und sie in dem Sturz mit sich riss. Der feste Boden scheuerte ihre Haut auf und zerriss das Kleid, ehe sie zum Stehen kamen.
„Wach auf!“, befahl er ihr mit aller Strenge, die er aufbieten konnte. „Verdammt Anita, komm zu dir!“
Die Flügel aus Wind erloschen, unter dem Schlag zweier weiterer Spiegelbilder links und rechts von ihnen.
Jamie hob ihren Körper an, nur um ihn dann hart zur Erde zu Schlagen.
„Mädchen, das bist nicht du!“, rief er.
Anita blinzelte. Regen benässte ihre Wangen. Dann kippte ein Schwall Wasser von den zerfallenden Spiegelbildern über sie.
„Jamie!“, rief sie mit zitternder Stimme. Die Wärme in ihr kühlte ab, ohne zu verschwinden. „Was passiert mit mir?“
„Habe ich nicht gesagt, mein Kostüm würde das eines Hexers darstellen?“, fragte er, als können alleine diese Worte alles erklären. Dabei warfen sie noch mehr Fragen auf.
Bekümmert hob Anita den Kopf, noch ehe der große Junge von ihr stieg.
All die toten Leiber. Ihre Schuld, klagte sie sich an.
„Kümmere dich nicht darum“, meinte der Junge, mit einem aufmunternden Lächeln. „Jeder von uns macht diese Zeit unterschiedlich durch. Ich hatte damals niemand, bis meine jetzige Cheffin mich bei einem Fußballspiel entdeckte.“
Er stellte sich vor ihr auf.
In seiner Hand erhob sich wieder ein Ball aus Luft. Ganz nach seinem Wunsch konnte der die Kugel aus Wind leiten.
„Die Jungs im Team hatten mir einen passenden Spitznamen gegeben. Magical Talent. Sie ahnten nicht, wie wahr doch alles war. Ich besaß Talent, erleichterte mir aber viel durch diese Gabe.“
Er reichte ihr seine Hand.
„Sie ist nett, kann aber auch sehr streng sein. Zeigte mir aber einen neuen Weg auf. Ich konnte gar nicht erwähnen wer meine Vorgesetzte ist.“
„Suse.“ Es war rein aus Instinkt heraus. Dabei dachte sie noch nicht einmal daran, richtig zu liegen.
Ihre Hand näherte sich vorsichtig seiner, schwang aber bei seinem Nicken sofort zurück, als hätte sie sich an seiner Haut verbrannt.
Das konnte nicht sein!
„Deine Mutter sorgt sich sehr um dich.“
Wieder wollte Anita ansetzen, dass Suse nicht ihre Mutter war. Diesmal schwieg sie und griff nach dem Jungen, der ihr mit festem Griff half aufzustehen.
Kein Blut verband sie mit den beiden Menschen und doch mochte sie beide wirklich. Sie wollte beide nicht missen oder so verlieren wie ihre Eltern, auch wenn diese nie deren Platz einnehmen konnten.
„In jedem von uns erwachen diese Kräfte mit Beginn des 15. Lebensjahres.“
„Jeder von uns?“, plapperte Anita mechanisch nach.
„Hexen, Magier, Zauberer, wie man es nennen will.“ Er zuckte mit den Schultern. „Zuhause erfährst du mehr, von deiner wahren Familie.“
Der Regen versiegte langsam. Was er zurückließ, war ein durchnässtes Mädchen, das sich zitternd im kalten Wind, die Arme rieb. Eine stumme Geste, auf die Jamie seine Jacke auszog, um sie ihr über die Schultern zu legen.
Noch einmal wollte Anita einen Blick zurück werfen. Auf das Bild, was sie angerichtet hatte. Jamie wusste es zu verhindern.
„Kümmere dich nicht darum“, wies er an. „Dafür haben wir unsere Familie.“

Ihre Familie. Menschen mit besonderem Talent wie sie, die das Wasser rufen konnte, oder Jamie, dem die Macht über den Wind innewohnte.
Nach ihrem Heimkommen sah Suse sie kurz an, mit ihrem typisch besorgten Blick. Sie sagte nichts, schloss ihre Adoptivtochter nur in ihre Arme. Martin verschwand kurz darauf, um dem Mädchen ein Bad einzulassen. Jamie durfte nicht bleiben, was Anita etwas später sogar recht war.
Mit einem Bademantel bekleidet trat sie eine halbe Stunde später nach unten zu Suse und Martin.
Beide saßen bei einer Tasse heißer Schokolade auf der Couch, einen Platz zwischen sich für Anita frei haltend.
Sie mussten reden. Über das, was in der Nacht passiert. Über diese Fähigkeit, die nicht nur ihr innewohnte, auch ihre Mutter konnte über das Wasser herrschen. Ihr Vater besaß eine eigene Gabe. So erfuhr sie auch, dass das Feuer, was ihr Haus fast zur Gänze zerstörte einem hitzigen Gespräch ihrer Eltern, oder eher dem Zorn ihre Vaters entsprang.
Niemand von dieser Familie verurteilte Anita wegen dem Geschehenen. Ob sie nun richtig dazu gehörten wie Suse und Martin oder einfach dem kleinen Kreis aus Menschen bildeten, die sie genauso aufnahmen wie ihre Adoptiveltern. Ein paar der Jugendlichen kannte sie.
Schüler aus den oberen Klassen. Eine von den Mädchen sprach beruhigend auf Anita ein. In ihr erwachten die Kräfte erst vor wenigen Monaten. Sie wusste noch ganz genau, welche Ängste sie quälten. Wie verstörend die Macht auf sie wirkte.
Und auch in der Schule waren nun sie an ihrer Seite. Jamie bot sich sogar an, ihr die Kontrolle darüber zu lehren. Auch wenn Suse ungern mit ansah, wie nah sich beide kamen. Bei Besuchen im Kino oder Treffen in der Stadt.
Anita mochte den Jungen.
Beim ersten Schultag nach all dem Geschehenen wechselte Anita sofort den Platz. Andrew war nett aber verdammt, sollten er und seine heimliche Verehrerin sich ruhig selbst Zettelchen zustecken. Sie würde ganz sicher nicht mehr die Vermittlerin spielen.
Was Sofie und Michelle betraf, sowie den Jungen, die heil aus der Sache heraus kamen.
Auch wenn Anita dank einem Mitglied ihrer neuen, großen Familie nicht mehr die deutliche Zeichnung dieser Nacht im Gesicht trug, so erinnerten sich beide Mädchen noch deutlich daran. Kurz nachdem sie wieder in der Schule waren, trat Anita zu ihnen, sowie ein paar der anderen aus der Familie. Die deutlichen Worte, wie fantastisch es doch klang, wenn sie etwas von dem Passierten erzählten, schworen sie in Angst den Mund zu halten.
Mara, Julia und der Junge blieben verschwunden. Anita wollte auch nicht wissen, was mit ihnen passierte. Die Mitglieder der Familie besaßen einige Möglichkeiten der Vertuschung.
Eigentlich gewann nur Anita. Eingehüllt in das feste Band dieser außergewöhnlichen Familie. Tief verbunden in der neu gewonnenen Freundschaft. Erfüllt von einer ungewöhnlichen Gabe und in Liebe zu einem wundervollen Jungen entbrannt.
Noch wenige Tage zuvor konnte sie sich nicht vorstellen, wie ein einziger Geburtstag ihr Leben verändern konnte. Und dieses neue Leben aufgeben, hatte sie auch nicht vor.

Impressum

Texte: Bild von moonchild-ljilja (deviantart.com)
Tag der Veröffentlichung: 31.10.2010

Alle Rechte vorbehalten

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