Cover

1


Noch bevor ich um die Ecke biege, ahne ich, welcher Anblick sich mir gleich bieten wird. Und ich behalte recht. Dort kauert er und es tut mir in der Seele weh, ihn so zu sehen. Sein Kopf ist nach vorn gebeugt und die Knie stecken im Schnee. Die Hose dürfte längst schon völlig durchnässt sein, aber ich denke, er spürt es noch nicht einmal. Die Kälte in seinem Innern überdeckt alles andere. Immer noch.

Ich bleibe direkt hinter ihm stehen. Mein Blick fällt auf den Grabstein. Stefan Mayer steht da in den Schieferstein gemeißelt – darunter Geburts- und Todestag, sonst nichts. Hilflos starre ich auf den Mann vor mir. Seine Schultern beben. Man muss kein großer Beobachter sein um zu erkennen, dass er weint.

Auch in mir steigen die ersten Tränen hoch. Nicht weil ich den Verstorbenen so sehr vermisse, sondern weil Timo es tut. Ich würde alles dafür geben, um ihm helfen zu können, doch die Lücke, die Stefan hinterlassen hat, kann niemand schließen, ich vermutlich am Allerwenigsten. Auf den Tag genau ist es nun ein Jahr her, seit Stefans Leben durch einen völlig übermüdeten LKW-Fahrer ein jähes Ende gefunden hat. Für Timo ist an diesem Tag eine Welt zusammen gebrochen. Einen Monat zuvor hatten sie ihr Fünfjähriges gefeiert. Ich kenne keine zwei Menschen, die so sehr zusammen gehörten wie diese beiden … außer vielleicht das Vorzeigepaar schlechthin – Axel und Manuel. Irgendwann musste auch ich akzeptieren, dass Timo allenfalls ein guter Freund, jedoch niemals mehr sein würde.

Wir kennen uns, seit wir Teenager waren. Die Szene in unserer Gegend ist recht überschaubar, so dass man sich als experimentierfreudiger Jugendlicher zwangsläufig über den Weg laufen muss. All die Jahre hatte ich vergeblich gehofft, dass aus Timo und mir etwas werden könnte, doch dann kam Stefan und hat meine Hoffnungen wie eine Seifenblase zerplatzen lassen. Ich habe Timo nie gesagt, was ich für ihn fühle. Wenn ich eine Chance gesehen hätte vielleicht … so aber blieb mir nur für ihn da zu sein, wenn er mich brauchte – und als Stefan nicht mehr war, hat er mich gebraucht.

Ich strecke eine Hand aus, lege sie Timo auf die Schulter und drücke leicht zu.

„Woher wusstest du, wo ich bin?“ Seine Stimme klingt erstickt.

„Ich wusste es nicht, aber ich habe es vermutet.“ Ich nestle in meiner Jackentasche, ziehe ein Päckchen Papiertaschentücher hervor und reiche es ihm.

Er nickt, nimmt ein Tempo aus der Packung und schnäuzt seine Nase.

„Komm“, ich wische ihm eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht, „ich bring dich nach Hause.“ Nahezu willenlos erhebt er sich und lässt sich von mir zum Auto führen.

Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis wir endlich in Timos Straße ankommen. Vielleicht kam mir die Fahrt auch nur deswegen so lange vor, weil er die ganze Zeit über keinen einzigen Ton von sich gegeben hat. Die ganze Strecke über saß er auf dem Beifahrersitz, die Hände im Schoß verschränkt und hat aus dem Seitenfenster gestarrt.

Ich bugsiere meinen Renault in eine Parklücke, schalte den Motor ab und sehe zu ihm hinüber. Endlich wendet er sich vom Fenster ab und blickt mich an. „Danke“, sagt er mit einem etwas missratenen Lächeln im Gesicht.

Ich winke schnell ab. „Schon okay.“

„Nein, lass mich bitte ausreden. Ich bedanke mich nicht fürs Herbringen, sondern dafür, dass du für mich da bist, wenn ich dich brauche, aber vor allem, dass du mich in Ruhe lässt, wenn ich nicht reden möchte. Ich weiß nicht, wie ich die letzten Monate überlebt hätte, wenn du nicht gewesen wärst. Danke, dass du mein Freund bist, Bene.“

„Dafür sind Freunde doch da, oder?“, erwidere ich lächelnd, weil mir nichts Besseres einfällt. Ich war noch nie ein Mann großer Worte. Timo ist derjenige, der mit Worten umzugehen weiß, mit einer solchen Ansprache hätte ich allerdings nicht gerechnet. Nicht hier und nicht ausgerechnet heute.

„Kommst du noch mit hoch?“, fragt er plötzlich, als er mit einem Bein schon aus dem Auto gestiegen ist.

Was für eine Frage, natürlich komme ich mit hoch. Ich nicke nur und versuche mir meine Freude nicht allzu sehr anmerken zu lassen.

Timo wohnt in einem Mehrfamilienhaus, das viel Gemütlichkeit ausstrahlt. Außer ihm, bevölkern fünf weitere Familien das Haus. Er teilt sich das Stockwerk mit einem älteren Ehepaar. Überrascht halte ich inne, als ich die beiden üppig geschmückten Eingangsbereiche sehe.

„Wann …?“

Er zuckt mit den Schultern. „Heute Morgen. Mir war einfach danach … und da ich ohnehin gerade dabei war …“ Er deutet mit dem Kopf auf den Eingangsbereich der gegenüber liegenden Tür. „Frau Müller hat sich gefreut“, ergänzt er.

Innerlich jubiliere ich. Seit ich Timo kenne, ‚lebt‘ er Weihnachten. Sobald der St. Martins Tag vorüber ist, ist er normalerweise nicht mehr zu halten. Er hat mich und auch Stefan regelmäßig in schiere Verzweiflung getrieben mit seiner fast schon übertriebenen Schmück-Wut. Jetzt jedoch ist mir vor lauter Freude fast zum Heulen zumute. Als Stefan letztes Jahr ums Leben kam, hat Timo sämtliche weihnachtliche Dekoration in einen riesigen Müllsack gepackt und entsorgt. Dass er nun in sein altes Verhaltensmuster zurückfällt, kann im Grunde nur bedeuten, dass er langsam wieder auf die Beine kommt.

Er schließt die Wohnungstür auf, drückt die Tür nach Innen und lässt mich eintreten. Wie immer schlägt mir eine Hitzewelle entgegen. Timos Wohnung würde problemlos als Biosauna durchgehen. Ich schäle mich schnell aus meiner Jacke, während Timo der Tür einen leichten Stoß verpasst, damit sie ins Schloss fällt. Dann wendet er sich ab.

„Ich muss dringend aus der nassen Hose raus“, erklärt er.

„Soll ich derweil Kaffee aufsetzen?“, biete ich an.

Timo dreht sich noch einmal zu mir um. Ein schwaches Lächeln liegt auf seinem Gesicht. „Das wäre lieb, danke“, antwortet er und verschwindet in seinem Schlafzimmer.

Ich zwinge mich dazu, nicht die Tür anzustarren, hinter der Timo verschwunden ist und betrete die Küche. Ich finde mich in Timos Wohnung gut zurecht, dementsprechend gurgelt schon kurze Zeit später der Kaffee durch die Maschine. In den vergangenen Monaten war ich oft hier. Nach Stefans Tod musste Timo die gemeinsame Wohnung auflösen, da er sie alleine nicht mehr halten konnte. Es erschien mir wie eine Fügung des Schicksals, dass er recht schnell diese Wohnung hier gefunden hat. Sie ist sogar ganz in meiner Nähe, so dass ich im Notfall schnell bei ihm sein kann.

Während ich noch auf Timo warte, nehme ich zwei Kaffeebecher aus einem der Hängeschränke und stelle sie neben der Maschine ab. Ich gebe in meine Tasse etwas Milch und fülle beide mit Kaffee auf. Ich betrachte den Dampf und nehme einen Schluck. Mein Kopf ist wie leergefegt. Ich versuche immer noch die Tatsache zu verdauen, dass es Timo langsam besser zu gehen scheint, ohne dass sich gleich wieder größere Hoffnungen breit machen. Einen Moment später bemerke ich Timo im Türrahmen. Keine Ahnung, wie lange er da schon steht. Er sagt kein Wort, starrt mich nur an. Er hat nicht nur die Hose gewechselt, sondern auch das Hemd. Die Ärmel sind bis zu den Ellbogen hochgekrempelt und es ist … rosa. An jedem anderen Mann würde diese Farbe vermutlich furchtbar aussehen, aber ihm steht es verdammt gut. Er wirkt wie immer geradezu unverschämt männlich mit diesen pechschwarzen Haaren und den ebenso dunklen Bartstoppeln. Er überragt mich um gut einen halben Kopf.

„Was ist?“, frage ich unsicher.

Er zuckt mit den Schultern. „Ich habe nachgedacht …“ Plötzlich geht alles furchtbar schnell. Timo nimmt mir die Kaffeetasse aus der Hand und drängt mich mit dem Rücken gegen den Kühlschrank. Eine Leichtigkeit für ihn, er ist wesentlich kräftiger als ich. Der Türgriff drückt sich unangenehm gegen meine Rippen, aber ich sehe mich außer Stande, mich zu wehren. Dann nimmt er mein Gesicht in beide Hände und küsst mich. Ich schließe die Augen und genieße. Diese Lippen sind um ein Vielfaches besser, als in meinen kühnsten Vorstellungen, besser als alles, das ich jemals erlebt habe. Sekunden oder auch Lichtjahre später fühle ich seine Zunge, die sich langsam zwischen meinen Lippen hindurch schiebt. Einladend öffne ich meinen Mund und ignoriere diese leise Stimme in meinem Innern, die mir weismachen will, dass hier etwas verdammt falsch läuft. Mit beiden Armen umschlinge ich ihn und ziehe ihn noch näher zu mir heran. Ich ertrinke regelrecht in dieser Nähe, die ich mir so lange schon wünsche. Ich weiß nicht wohin mit meinen ganzen Gefühlen und kann einfach nicht genug von ihm bekommen. Meine Hände schlüpfen unter sein Hemd und berühren die nackte Haut darunter. Sie ist warm und weich und ich streichle mit meinen Fingerspitzen jeden einzeln Millimeter, den ich erreichen kann. Timo brummt genüsslich in unseren Kuss hinein und ich werde mutiger. Ich taste mich zu seinem Hintern vor und gleite darüber. Ich fühle deutlich die Gänsehaut, die sich dort gebildet hat. Seine Hände sind indes auch nicht untätig. Mit klopfendem Herzen nehme ich zur Kenntnis, dass er meine Hose aufknöpft und den Reißverschluss nach unten zieht. In Erwartung dessen, was nun kommen wird, halte ich die Luft an. Und dann berührt er mich. Es bedarf nur weniger Handgriffe, damit ich steinhart werde. Ein lautes Stöhnen verlässt meinen Mund. Und dann ist plötzlich alles vorbei. Es dauert einige Sekunden, bis mein benebeltes Hirn registriert, dass sich etwas verändert hat. Timo ist von mir abgerückt und seine Augen blicken mir entsetzt entgegen.

„Timo …“, beginne ich.

Er schüttelt energisch den Kopf. „Nein … nicht!“ Als ob er sich verbrannt hätte, nimmt er beide Hände von mir. Als ich einen Schritt auf ihn zugehen möchte, weicht er so panisch zurück, als würde er erwarten, dass ich ihm im nächsten Augenblick einen Holzpflock durchs Herz treibe.

Tränen steigen in mir hoch und bilden einen Kloß in meinem Hals. „Was soll ich tun, Timo?“, frage ich verzweifelter, als ich es eigentlich wollte.

Er schüttelt den Kopf und vergräbt anschließend beide Hände in seinem dunklen Haarschopf. „Weiß nicht“, nuschelt er. „Es tut mir leid, es ist nur …“

Als er auch nach einer gefühlten Ewigkeit nicht weiterspricht, frage ich nach: „Timo?“

Er wendet sich von mir ab und starrt aus dem Fenster. „Ich möchte bitte alleine sein“, antwortet er leise.

„Du willst, dass ich gehe?“, vergewissere ich mich. Ich bin nicht sicher, ob ich ihn auch wirklich richtig verstanden habe. Im Moment verstehe ich irgendwie überhaupt nichts mehr. Was zum Teufel passiert hier gerade?

Nach kurzem Zögern nickt er. Meine Erregung ist mittlerweile vollständig verschwunden. Das erleichtert zumindest das Schließen meiner Hose. Betont leise verlasse ich die Wohnung, auch wenn mir eher danach zumute ist, laut zu schreien und die Tür so kräftig zuzuknallen, dass die Wände wackeln. Wie ich nach Hause gekommen bin, weiß ich nicht. Ich bin wütend auf Timo, vor allem aber auf mich selbst. Was bin ich nur für ein lausiger Freund. Natürlich hat Timo den Anfang gemacht, aber ich hätte doch wissen müssen, dass er noch nicht soweit ist. Aber ich musste ja wie ein liebeshungriger Idiot darauf eingehen.

Auch am nächsten Tag ist meine Laune nicht nennenswert besser. Timo ignoriert sowohl meine Anrufe, als auch die beiden SMS, die ich ihm geschrieben habe. Daraufhin beschließe ich, ihn zunächst in Ruhe zu lassen. Ich kenne ihn gut genug um zu wissen, dass Beharrlichkeit es nur noch verschlimmern würde. Auch wenn ich ihn wohl nie als Partner haben werde, als Freund möchte ich ihn unter keinen Umständen verlieren. Am darauffolgenden Tag erreicht mich eine Nachricht von ihm. „Muss nachdenken“ lautet der Inhalt.

*

In den nächsten Tagen lade ich mir selbst so viel Arbeit auf, dass ich gar keine Zeit habe, über Timo nachzudenken oder gar bei ihm aufzutauchen. Das funktioniert überraschend gut, denn abends bin ich so müde, dass ich wie ein nasser Sack ins Bett falle. Mittlerweile ist es Heilig Abend und es herrscht immer noch Funkstille. Wie in den vergangenen Jahren, werde ich den 24.12. bei meiner Schwester verbringen. Das handhaben wir bereits seit Jahren so. Einmal war sogar Timo dabei, das war allerdings, bevor er Stefan kennengelernt hat. Große Lust habe ich offen gestanden nicht aber meinen Versuch abzusagen, hat Miri sofort im Keim erstickt: „Du kommst her, basta. Deine Ausreden kannst du dir sonst wohin schieben“, war ihre Antwort gewesen. Im Nachhinein betrachtet bin ich froh darüber, dass Miri so resolut war. Sie und ihre Familie haben mich Timo für ein paar Stunden vergessen lassen. Allerdings hat sie mir zum Abschied auch einige Dinge in meinem Kopf zurecht gerückt, die ich insgeheim eh schon ahnte. Ich wollte sie zwar nicht hören, aber das hat Miri noch nie abgehalten. Mir tönen immer noch ihre Worte im Ohr. Vielleicht hat sie recht. Vielleicht sollte ich mir Timo wirklich aus dem Kopf schlagen. Wie soll denn jemals ein anderer Mann eine Chance haben, wenn er ständig einem Vergleich mit Timo standhalten muss? Dementsprechend deprimiert bin ich, als ich die Stufen zu meiner Wohnung hinauf steige. Mit dem, was mich allerdings auf dem obersten Treppenabsatz erwartet, hätte ich nicht gerechnet. Überrascht und besorgt zugleich halte ich inne.

„Timo? Ist etwas passiert?“, frage ich zögernd nach.

Er schüttelt den Kopf. „Nein … vielleicht doch. Können wir drin reden? Ich friere mir hier draußen nämlich langsam die Eier ab.“

Trotz meiner Sorge um ihn schmunzle ich insgeheim. Solche Dinge habe ich ihn schon sehr lange nicht mehr sagen hören. Die aufkeimende Hoffnung lässt sich nur leidlich wieder niederringen. Alles, was meine Schwester zu mir gesagt hat, ist wie weggefegt. Wenn es um Timo geht, scheint mein Herz lernresistent zu sein.

Ich schließe die Wohnungstür auf und lasse ihn eintreten.

„Kaffee?“, frage ich und fühle mich augenblicklich in der Zeit um einige Tage zurückversetzt.

„Gerne“, antwortet er und peilt das Wohnzimmer an. Als ich ihm einige Minuten später mit zwei Bechern Kaffee folge, sitzt er auf dem Sofa. Er hat meine Wolldecke fest um sich geschlungen und starrt auf einen imaginären Punkt vor sich. Nachdem er seine Hände aus der Decke geschält hat, drücke ich ihm den heißen Kaffee in die Hand. Er umfasst ihn mit beiden Händen und schließt genüsslich die Augen. Nachdem er einen kleinen Schluck genommen hat, sieht er mir direkt in die Augen. Ich habe mich inzwischen neben ihn auf das Sofa gesetzt. Mit gebührendem Abstand.

„Es tut mir leid“, sagt er lapidar.

Ohne nachfragen zu müssen weiß ich, dass er den Tag seines Friedhofbesuches meint, beziehungsweise das, was danach geschehen ist.

„Das was ich getan habe, war ein Fehler“, beginnt er. Ich schließe die Augen und schüttle den Kopf. Er soll nicht weitersprechen, ich möchte nicht hören, wie falsch es war, mich zu küssen. In meinem Innern wächst ein Brocken, der mir tonnenschwer im Magen liegt. Ich öffne den Mund, um zum Widerspruch anzusetzen.

„Nein!“, bestimmt er. „Lass mich ausreden.“

Ich seufze leise, tue jedoch, wie mir geheißen.

„Ich habe Stefan wahnsinnig geliebt – das tue ich noch. Und ich werde es noch tun, wenn ich meinen letzten Atemzug mache.“ Ich hatte schon zu Lebzeiten nicht die geringste Chance gegen ihn. Aber wie soll ich jemals gegen einen Toten ankommen? Mein Mund wird staubtrocken. Miri hatte recht, mit jedem einzelnen, verdammten Wort.

„Als ich … als wir … ich habe mich schuldig gefühlt, als ob ich Stefan betrügen würde, verstehst du?“

Nein, ich verstehe nicht. Und ich glaube, dass ich es auch gar nicht verstehen möchte.

„Diese beiden Wochen … ich hatte eine Menge Zeit zum Nachdenken und dabei ist mir etwas klar geworden.“

Ich klammere mich an meiner Tasse fest und sehe ihn an.

„Ich muss Stefan los lassen. Bis vor ein paar Wochen war allein der Gedanke daran unerträglich. Bei all meiner Trauer, habe ich vergessen zu leben. Habe ich dir je gesagt, dass ich am Anfang immer noch mit ihm geredet habe? Er saß beim Frühstück neben mir, ist mit mir zusammen in den Supermarkt. Ich habe mich so sehr an ihn geklammert, dass ich mir sogar eingebildet habe, ihn zu riechen. Das Schlimmste aber war, dass ich mich nie richtig von ihm verabschieden konnte. Sie haben nicht zugelassen, dass ich ihn mir noch einmal anschaue. Ich solle ihn so in Erinnerung behalten, wie er war, haben sie gesagt.“

„Sie wollten dich schützen“, verteidige ich Stefans Familie.

„Ich weiß, aber es hätte nicht ihre Entscheidung sein dürfen, sondern meine“, erwidert er. „Aber okay, daran lässt sich jetzt ohnehin nichts mehr ändern. Was ich jedenfalls damit sagen wollte: ich hätte dich nicht so überfallen dürfen, aber vor allem hätte ich dich anschließend nicht wegschicken dürfen. Ich mag dich nämlich. Ich mochte dich schon immer.“

Moment, jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr. Bei ‚ich liebe Stefan‘ ist mein Herz irgendwie ausgestiegen.

„Wie du magst mich?“, will ich irritiert wissen.

„Naja mögen eben … im Sinne von mit dir zusammen sein wollen“, erklärt er mit einem fast schon ungeduldigen Unterton.

„Aber … warum hast du denn nie etwas gesagt?“, japse ich. Ich stehe kurz davor zu hyperventilieren und vermutlich werde ich gleich platzen.

„Benedict, kannst du dich auch nur an eine Situation erinnern, in der ich von mir aus auf einen anderen Mann zugegangen wäre?“, erklärt er mir.

Stimmt, das hat er noch nie getan. Er sieht fantastisch aus, er könnte an jedem Finger fünf Männer haben – aber er ist im Grunde seines Herzens furchtbar schüchtern.

„Bene?“

„Was?“, piepse ich. Meine Stimme klingt viel zu hoch.

„Es wäre gut, wenn du jetzt dazu etwas sagen würdest, bevor ich mich komplett zum Trottel mache.“ Seine Wangen sind gerötet.

Ich hole einige Male tief Luft. Die ganze Zeit über hat meine Angst vor einer Zurückweisung mich davon abgehalten Farbe zu bekennen, doch damit ist jetzt Schluss. Und dann sage ich, was ich hätte längst schon aussprechen sollen: „Ich war in dich verliebt von der ersten Sekunde an. Und heute – heute liebe ich dich mehr denn je.“

Ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. Genau das Lächeln, das ich so sehr vermisst habe. Seine Nase kräuselt sich ein klein wenig und man sieht diese kleine sexy Lücke zwischen seinen Schneidezähnen. Und plötzlich ist sie da … diese Gewissheit, dass alles gut werden wird.

2

 Nervös sehe ich auf meine Armbanduhr. Es sind keine zwei Minuten vergangen, seit Timo den Friedhof betreten hat. Er hat mich darum gebeten, ihn alleine zu Stefans Grab gehen zu lassen. »Komm in 10 Minuten nach», hat er gesagt. Obwohl ... oder gerade weil ich dafür Verständnis habe, ist mir mulmig zumute. Es ist ein Jahr her, seit ich ihn völlig aufgelöst und weinend an Stefans Grab aufgelesen habe. Seither ist eine Menge passiert, wir sind jetzt ein Paar, dennoch ist Stefan allgegenwärtig, auch wenn Timo sich bemüht, es mich nicht spüren zu lassen. Ich merke es trotzdem und das ist bis zu einem gewissen Grad gut und richtig so. Ich möchte nicht, dass er nicht von Stefan redet oder ihn womöglich vergisst, das würde ohnehin niemals passieren. Aber ich würde mir wünschen von Timo geliebt zu werden. Er mag mich, das steht ohne jeden Zweifel fest, doch wie weit gehen seine Gefühle mir gegenüber? Er redet nicht darüber - mit keiner Silbe.

 

Der nächste Blick auf die Uhr zeigt mir, dass ich immer noch vier Minuten warten muss. Weitere zwei schleppend lange Minuten später halte ich es nicht mehr aus. Ich öffne die Beifahrertür und bleibe zunächst unschlüssig sitzen, dann schwinge ich die Beine über den Schweller und steige aus. Die Temperaturen sind in den vergangenen Tagen etwas milder geworden. Es ist zwar immer noch frisch, aber diese beißende Kälte, die den Süden Deutschlands Ende November noch fest im Griff hatte, ist vorüber. Ich atme noch einmal tief durch, schließe meine Jacke und setze mich langsam in Bewegung. Die winzigen Kieselsteine knirschen unter meinen Sohlen, ansonsten ist es ruhig - noch nicht einmal einen Vogel hört man zwitschern, als ob selbst die Tiere ganz genau wüssten, dass wir uns an einem Ort der Stille befinden. Als ich um eine weitere Ecke biege, sehe ich Timo aufrecht an Stefans Grab stehen. Die anfängliche Angst, macht purer Erleichterung platz. Insgeheim habe ich ein ähnliches Bild erwartet wie im vergangenen Jahr. Timo kniete damals im Schnee und hat so geschluchzt, dass seine Schultern bebten. Keine Ahnung, ob ich diesen Anblick ein weiteres Mal verkraftet hätte. Ich nähere mich dem Grab, bleibe aber mit etwas Abstand zu Timo stehen. Er wendet sich mir zu und ein leichtes Lächeln liegt auf seinen Zügen. »Du bist zu früh«, sagt er.

 

Ich grabe meine Fäuste noch tiefer in die Hosentaschen und ziehe die Schultern nach oben. Mein Blick huscht über sein Gesicht und sucht nach Anzeichen von Trauer. Doch da ist nichts. Seine Augen sind trocken. Mein Herz beginnt vor Freude zu klopfen und ich senke den Kopf.

 

»Ich bin okay«, antwortet er auf meine nicht gestellte Frage. »Jetzt komm schon her«, setzt er hinterher und streckt einen Arm nach mir aus. Ich lasse mich kein zweites Mal bitten, ich gehe zu ihm und schlinge einen Arm um seine Taille. Er legt mir einen seiner Arme um die Schultern, zieht mich näher zu sich heran und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Danach legt er eine Wange auf mein Haar. Ich gestatte es meinem Herzen nicht, sich übermäßig zu freuen. Die vergangenen Monate waren nicht einfach, für uns beide nicht. Immer wenn ich geglaubt habe, dass wir es endgültig geschafft haben könnten, wurden meine Hoffnungen jäh zunichtegemacht. Dadurch habe ich gelernt, den Moment zu schätzen, das anzunehmen, was mir freiwillig gegeben wurde und nicht länger über unsere Zukunft nachzudenken.

 

Wir bleiben noch einige Minuten, schweigend ... dann verlassen wir ebenso wortlos den Friedhof wieder. Timo ergreift meine Hand und lässt sie nicht mehr los, bis wir das Auto erreicht haben.

 

»Ich hätte Appetit auf Langos. Gehen wir auf den Weihnachtsmarkt?«, fragt Timo, nachdem er sich hinters Lenkrad geschwungen hat.

 

Ich habe nichts dagegen, im Gegenteil, ich habe Hunger. Mir kommt die Szene vor genau einem Jahr wieder in Erinnerung ... und auch die Zeit danach. Zu gerne wüsste ich allerdings, wie es tatsächlich in ihm aussieht. Geht es ihm so gut, wie er es mich glauben lassen möchte? Ich blicke ihn von der Seite an. Nichts deutet auf diesen tiefen Schmerz hin, der letztes Jahr bei ihm überdeutlich erkennbar war.

 

»Ich höre dich denken.« Timo schmunzelt. »Mir geht es wirklich gut«, schiebt er hinterher. Die Anspannung lässt langsam nach und ich nicke erleichtert. »Okay«, erwidere ich.

 

»Also Weihnachtsmarkt?«

 

»Weihnachtsmarkt!«, entgegne ich lächelnd.

 

Die milderen Temperaturen haben viele Besucher aus den Häusern gelockt, denn der Markt ist brechend voll. Dementsprechend halten wir uns nicht lange auf, sondern holen je einen Langos und verlassen danach das Gedränge.

 

»Wir haben kein Brot mehr«, fällt mir ein, als wir auf dem Weg zum Parkplatz sind. Meinen Imbiss habe ich bereits bis auf den letzten Krümel verputzt, während Timo noch nicht einmal die Hälfte geschafft hat. »Ich geh kurz zum Bäcker, holst du das Auto und sammelst mich danach auf?«, bitte ich ihn.

 

»Okay, bis gleich.« Er lächelt, streicht mit einer Hand über meine Wange und gibt mir einen flüchtigen Kuss. Danach macht er sich in die entgegengesetzte Richtung auf. Ich sehe ihm einige Momente hinterher. Irgendetwas ist heute anders. Obwohl sich Stefans Todestag das zweite Mal jährt, wirkt Timo viel gelöster als sonst, glücklicher, vor allem aber ... nahbarer, ja, ich glaube, das ist der richtige Ausdruck.

 

Die Bäckerei ist gerade um die Ecke. Keine fünf Minuten später verlasse ich sie wieder, vollbeladen. Es ist wie immer nicht bei einem einzigen Brot geblieben. Timo steht schon auf der anderen Straßenseite und wartet auf mich. Lächelnd setze ich einen Fuß auf die Straße und plötzlich geht alles furchtbar schnell.

 

Ich sehe noch Timos entsetzten Gesichtsausdruck, bevor ich ein lautes Quietschen vernehme, etwas Hartes mich heftig trifft und ich anschließend das Gleichgewicht verliere und unsanft mit dem Hinterkopf auf den Asphalt knalle. Mir bleibt zunächst die Luft weg vor Schreck, dann blinzle ich ungläubig, richte mich auf und fasse mir an den Hinterkopf. Verdammt tut das weh! Es fühlt sich dort warm, feucht und klebrig an. In der nächsten Sekunde ist Timo an meiner Seite und redet auf mich ein. Auch der Autofahrer ist ausgestiegen und kommt aufgeregt auf uns zu.

 

»Benedict«, haucht Timo besorgt, »bist du in Ordnung?«

 

»Weiß nicht«, gebe ich zu und taste nach seiner Hand.

 

Er wird blass, danach küsst er mich auf die Stirn, kramt sein Handy aus der Hosentasche und telefoniert.

 

»Mein Name ist Timo Schuler. Mein Freund Benedict Jung wurde angefahren ... Neue Straße ... direkt vor der Bäckerei Müller ... ja ... ja, er spricht mit mir ... ich weiß nicht, aber er blutet am Kopf ... nein ... okay ... bitte beeilen Sie sich.« Danach beendet er das Gespräch und legt mir eine Hand auf die Wange. Gleichzeitig gibt er dem Typen, der mich angefahren hat, klare Anweisungen, wie er die Unfallstelle abzusichern hat. Mir erscheint das viel zu viel Aufhebens dafür, dass mir nur ein wenig der Kopf weh tut und ich versuche aufzustehen, doch Timo hält mich davon ab. »Bleib ganz ruhig sitzen, ein Rettungswagen ist unterwegs.« Seine Stimme klingt viel zu hoch.

 

»Glaub mir fehlt nix«, versuche ich mich zu wehren. Wie zur Bestätigung wackle ich mit den Füßen und versuche mich in einem Grinsen. So wie Timo mich allerdings ansieht, ist es gänzlich misslungen.

 

»Die Dame vom Notruf hat mir gesagt, dass du dich nicht bewegen sollst, also bleib einfach da hocken, okay?«, bittet er mich leise.

 

»Sei nicht albern«, antworte ich und versuche erneut aufzustehen. Als das Klopfen in meinen Kopf allerdings stärker wird und sich eine leichte Übelkeit dazu gesellt, gebe ich meine Bemühungen auf. Ich kann von Glück sagen, dass es trocken ist, sonst würde ich mir vermutlich den Arsch abfrieren.

 

Immer wieder blickt Timo sich nach beiden Richtungen um, dabei murmelt er in regelmäßigen Abständen: »Wo bleiben die nur.« Zwischendurch stellt er mir irgendwelche bescheuerten Fragen. Irgendwann entweicht ihm ein erleichtertes »Endlich« und kurze Zeit später treten zwei Männer im Sanitäroutfit zu mir heran. Einer davon trägt eine Tasche bei sich.

 

»Hallo, ich bin Doktor Kau, können Sie mich verstehen?«

 

Unwillkürlich beginne ich zu grinsen. Keine Ahnung warum, aber ich finde den Namen saukomisch. »Sind Sie Zahnarzt?«, kichere ich albern.

 

Er stutzt kurz, doch dann nickt er sichtlich zufrieden. »Wie heißen Sie?«

 

»Benedict Jung«, erwidere ich.

 

»Gut Benedict, wissen Sie, welcher Tag heute ist?«

 

»Elfte Dezember.« Ich habe natürlich nicht vergessen, dass heute Stefans Todestag ist, doch so direkt daran erinnert zu werden und noch dazu in einer solchen Situation, ist noch einmal eine ganz andere Hausnummer. Die Übelkeit nimmt zu. Besorgt blicke ich zu Timo, der mit Argusaugen jede meiner Regungen überwacht. »Es tut mir leid«, flüstere ich, taste nach ihm und kralle meine Finger in seine Hand.

 

»Ich bin okay«, antwortet er, als wisse er ganz genau, was gerade in mir vorgeht.

 

»Haben Sie Schmerzen?«, werde ich erneut von Dr. Kau gefragt.

 

»Kopfschmerzen, aber sie sind zum Aushalten«, antworte ich brav.

 

»Sonst nichts?« Ich fühle seine behandschuhten Finger an meinem Hinterkopf.

 

»Bisschen flaues Gefühl im Magen, sonst glaube ich nichts.«

 

»Okay.« Dr. Kau runzelt die Stirn und fühlt gleichzeitig meinen Puls. »Wir bringen Sie jetzt in Städtische Krankenhaus. Dort werden Sie genau untersucht. Sollen wir jemanden für Sie anrufen?«

 

»Nicht nötig«, antworte ich, »Timo ist mein Freund. Darf er mitfahren?«

 

»Klar, könnte aber etwas eng werden da drin«, erwidert er an Timo gewandt.

 

»Egal«, erwidert er einsilbig. Seine Lippen sind aufeinander gepresst und die Farbe ist noch nicht in sein Gesicht zurückgekehrt.

 

Timo lässt mich die komplette Fahrt über nicht aus den Augen. Er hält meine Hand zwischen den seinen und verteilt zarte Küsse darauf. Keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist, bis wir im Krankenhaus ankommen. Am Rande bekomme ich noch eine hitzige Diskussion zwischen Timo und einem Arzt oder Pfleger mit, die Timo offensichtlich verliert, denn ich finde mich in der nächsten Minute in einem steril wirkenden Raum wieder - allein.

 

Es folgen eine Reihe Untersuchungen, die ich über mich ergehen lassen muss, dann wird mir von einer jungen Ärztin mitgeteilt, dass ich eine leichte Gehirnerschütterung hätte und ich eine Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben sollte.

 

»Ist mein Freund noch irgendwo?«, möchte ich wissen.

 

»Ist das der hübsche Bursche, der seit zwei Stunden die komplette Belegschaft verrückt macht?« Ein amüsiertes Schmunzeln zuckt um ihre Mundwinkel.

 

»Klingt nach Timo«, erwidere ich lächelnd.

 

»Ich schicke ihn gleich rein. Es wird jetzt noch ein Bett für Sie hergerichtet, danach bringt man Sie auf ihr Zimmer.«

 

Nachdem sich die Ärztin verabschiedet hat, dauert es keine Minute, bis Timo in das Behandlungszimmer gestürmt kommt.

 

»Ist alles okay mit dir? Darfst du nach Hause?« Auf seinem Gesicht haben sich hektische, rote Flecken gebildet.

 

»Sie möchten mich eine Nacht hier behalten ...«

 

Timo wird erneut blass und ich beeile mich zu ergänzen: »Keine Sorge, das ist nur zur Vorsicht. Die Ärztin meinte, ich hätte nochmal Glück gehabt, es sei nur eine leichte Gehirnerschütterung. Morgen darf ich nach Hause. Es ist wirklich nur zur Beobachtung, mir fehlt sonst nichts.«

 

Es dauert einige Zeit, bis Timo sich endlich beruhigen lässt. Er weicht mir nur einmal für eine halbe Stunde von der Seite, als ich ihn bitte, nach Hause zu fahren, um mir ein paar Dinge zu besorgen. Danach wacht er wie eine Glucke über mich, bis zu dem Zeitpunkt, als ihn eine Schwester spät abends energisch aus dem Zimmer befördert. Und ja, ich leugne es nicht ... ich mag es, dass er so übervorsorglich ist, ich genieße es. Es zeigt mir, dass ich ihm etwas bedeute, und es macht mich glücklich.

 

Am nächsten Tag ist er bereits um acht Uhr morgens bei mir. Er sieht schlecht aus, völlig übermüdet mit dunkeln Ringen unter den Augen. So wie er aussieht, hat der die vergangene Nacht sicher keine Stunde am Stück geschlafen. Wir müssen noch einige Zeit ausharren, bis ich offiziell aus dem Krankenhaus entlassen werde. Auf der Fahrt nach Hause wirft er mir immer wieder besorgte Seitenblicke zu.

 

Er bringt mich in meine Wohnung, die derzeit kaum wiederzuerkennen ist. Timo hat seine Schmückwut einfach auf meine eigenen vier Wände übertragen. Wir halten uns ohnehin die meiste Zeit bei mir auf. An die völlig überheizten Räume habe ich mich mittlerweile ebenso gewöhnt wie er an mein kaltes Schlafzimmer, zumindest hier konnte ich mich durchsetzen.

 

Er öffnet die Wohnungstür und ein Schwall Wärme kommt uns entgegen. Kaum dass die Tür hinter uns ins Schloss gefallen ist, wirft Timo meine Tasche achtlos in den Flur und reißt mich in seine Arme. Er bedeckt mein Gesicht mit unzähligen Küssen und murmelt dabei immer wieder meinen Namen. Seine Hände sind überall, fast so, als müsse er sich davon überzeugen, dass ich wirklich noch an einem Stück bin.

 

»Benedict, mein Liebling«, haucht er.

 

Mein Liebling? Das habe ich ihn noch nie sagen hören, zumindest nicht zu mir. Was passiert hier gerade? Ich kann nicht verhindern, dass mein Herzschlag sich beschleunigt.

 

»Hey, alles ist gut«, versuche ich ihn zu beruhigen. »Ich bin okay. Das bisschen Gehirnerschütterung geht schnell vorüber. Hast doch gehört, was der Doc gesagt hat ... in ein paar Tagen bin ich wie neu!«

 

»Scheiße Bene, kannst du dir vorstellen, was ich für eine Scheißangst um dich gehabt habe? Da kam dieser Spinner angerast und nietet dich einfach um. Ich dachte ... ich dachte ... dachte ...« Dann schluchzt er auf und bedeckt sein Gesicht mit beiden Händen.

 

»Hey«, sage ich zärtlich, »mir geht‘s gut, ich bin hier ... bei dir.« Ich schiebe seine Hände vom Gesicht und suche seine Lippen. Der Kuss hat nichts Erotisches, er dient eher dazu mich, aber vor allem ihn, zu beruhigen. Er scheint seine Wirkung nicht zu verfehlen, denn Timos Atem geht kurze Zeit später etwas regelmäßiger.

 

Er nimmt mein Gesicht zwischen seine Hände und sieht mir tief in die Augen. »Dich auch noch zu verlieren, das hätte ich nicht überlebt, Bene. Dass Stefan gestorben ist, war furchtbar ... aber da warst immer noch du, der mich aufgefangen hat, du warst für mich da, jederzeit. Doch als ich da am Straßenrand gestanden bin und mit ansehen musste, wie du direkt vor meinen Augen angefahren wurdest ... und das kurz nachdem ich erkannt hatte, wie sehr ich dich liebe ... ich weiß nicht, ob ich es überlebt hätte, wenn du ...«

 

Was hat er da eben gesagt? »Was?«, hauche ich und bin mir nicht sicher, ob ich mich womöglich doch verhört habe.

 

»Wenn du gestorben wärst ... verdammt!«, beendet er den Satz.

 

»Ich meinte das davor.« Unwillkürlich halte ich die Luft an.

 

»Ach so ...« Er lächelt versonnen. »Ich weiß, ich habe dir das bisher nie gesagt ... so deutlich wie gestern ist mir das auch noch nie zuvor klar gewesen. Es hatte einen Grund, warum ich alleine zu Stefan wollte. Ich musste für mich selbst herausfinden, wie meine Gefühle sind. Und dann stand ich da ... und ich war traurig, weil ich einen Menschen verloren habe, der mir viel bedeutet hat ... aber ... aber ... der Schmerz war weg, verstehst du? Ich stand an diesem Grab und habe darauf gewartet, dass er mich in die Knie zwingt, aber er kam nicht. Stattdessen war da der Gedanke an dich und dass ich dich alleine im Auto zurückgelassen habe. Ich habe mich geschämt für all die Monate, in denen ich nicht fähig war, dir das zu geben, was du verdienst. In genau diesem Moment ist mir klar geworden, dass Stefan und ich eine wunderschöne Zeit hatten, an die ich mich gerne zurückerinnern werde ... aber dass du derjenige bist, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen will, weil ich dich über alles liebe!«

 

Ich muss ihm nicht sagen, wie tief meine Gefühle für ihn gehen und wie überwältigt ich von seinen Worten bin, er weiß es. Dann schlinge ich beide Arme um seinen Nacken, drücke ihn fest an mich und gebe mir Mühe nicht vor Glück zu platzen. Wir haben es geschafft, wir haben es endlich geschafft.



Ende

Impressum

Texte: Jule Becker
Bildmaterialien: www.Bilderkiste.de
Tag der Veröffentlichung: 24.12.2012

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