Unruhig wälze ich mich von einer Seite auf die andere. Unter schweren Lidern hindurch schiele ich auf den Digitalwecker, der direkt neben meinem Bett auf einem kleinen, hübschen Tisch mit Metallgestell und Glasplatte steht. Ich konnte diesen herkömmlichen Nachtschränkchen aus Holz mit Schubladen noch nie viel abgewinnen, egal in welcher Farbe oder Form. Obwohl sie durchaus ihren Zweck erfüllen, besonders die Schubladen sind praktisch, da passt 'ne Menge rein. Da jedoch zwischen diesen Laken hier ohnehin kaum nächtliche Aktivitäten in trauter Zweisamkeit stattfinden, brauche ich auch keine... gewissen Utensilien griffbereit in der Nähe meines Bettes. Den einen Mann, den ich gerne hätte, werde ich sowieso niemals in dieses Bett bekommen – und auch in kein anderes. Das ist leider die bittere Wahrheit.
Es ist übrigens 1:35 Uhr. Scheiße.
Vielleicht hätte ich doch in die angrenzende Großstadt fahren, mir dort in einem der Clubs irgendwas Nettes aufreißen und so lange vögeln sollen, bis ich irgendwann vor Erschöpfung eingeschlafen wäre. Ja, genau das hätte ich tun sollen. Stattdessen liege ich hier, alleine, in einem viel zu breiten Bett, bei dem ich mich bis heute frage, wieso ich mir unbedingt dieses Monsterteil kaufen musste, in dem außer mir – wie bereits erwähnt - ja sowieso niemand schläft, auch nicht Constantin. Das ist der andere Mann, mit dem ich von Zeit zu Zeit, wenn uns beiden danach ist... etwas habe. Ich bin eben auch nur ein Kerl... ich kann es schlecht hochziehen und ausspucken; und es ständig unter der Hand durchgehen zu lassen, wird auf Dauer auch eher etwas eintönig. Wie auch immer, aber ausgerechnet Constantin kann ich unter keinen Umständen mit nach Hause nehmen, wo ich jede Sekunde Gefahr laufe, dass er und Rike sich zufällig im Flur begegnen. Vielleicht irgendwann, wenn sie mit der Schule fertig ist, aber im Moment ist das wirklich überhaupt keine Option und Constantin ist, zumindest was dieses Thema anbelangt, einhundert Prozent meiner Meinung.
Tja, und nun liege ich eben hier, alleine, und hänge diesen Drecksgedanken nach, die ich einfach nicht mehr aus meinem verdammten Kopf bekomme.
Mit einem weiteren Fluch auf den Lippen richte ich mich auf und fahre mit den Händen über mein Gesicht. Meine Augen brennen vor Müdigkeit und ich kneife sie einmal kurz zusammen. Ich finde und finde einfach keinen Schlaf - schon seit Stunden nicht. Immerzu denke ich an den morgigen Tag, naja, eigentlich ja an den heutigen Tag, denn Mitternacht ist längst vorbei. Ich greife frustriert nach der Schachtel Zigaretten, die neben dem Wecker liegt. Ich weiß, ich sollte mir diesen Mist endlich einmal abgewöhnen, aber ich habe es bisher einfach noch nicht geschafft – und ich brauche diese Zigarette jetzt. Ohne das Licht einzuschalten, fummle ich mir eine Kippe aus der Packung, brenne sie an und rutsche auf dem Bett ein Stück nach oben, so dass ich mehr oder minder aufrecht sitze, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Ich nehme einen tiefen Zug und blase den Rauch in die Dunkelheit.
Immerzu schwirrt mir derselbe Gedanke durch den Kopf: in einigen Stunden wird es ein für allemal vorbei sein. Wobei vorbei hier ja nicht so ganz zutreffend ist. Bevor etwas vorbei sein kann, muss es zumindest einmal begonnen haben. Hat es aber nicht. Es gab zu keiner Zeit auch nur das kleinste Anzeichen eines Beginns. Nicht mit ihm. Inzwischen weiß ich das. Ich lache bitter auf und schnippe Asche in den Aschenbecher, oder zumindest dahin, wo ich vermute, dass er steht. Was war ich – eigentlich bin ich es ja immer noch - nur für ein hirnloser, liebeskranker Idiot. Wie konnte ich auch nur für eine Sekunde annehmen, dass ich gegen einen Manuel Fischer auch nur die geringste Chance haben könnte? Ausgerechnet ich, Sven, der zu groß geratene Teddybär mit dem noch viel größeren Herzen.
2,5 Jahre sind Axel und ich nun schon Kollegen. Wir arbeiten in der gleichen Abteilung, sind beide Informatiker ... naja, ich eigentlich nur ein halber. Ich habe das Studium 2 Semester vor Ende abgebrochen, eher unfreiwillig. Nach dem Tod meiner Eltern vor etwas mehr als 3 Jahren hatte ich leider keine andere Wahl. Ich habe eine Schwester, die über 10 Jahre jünger ist als ich. Sie war damals gerade mal 13, als unsere Eltern nach einer Geburtstagsfeier einfach nicht mehr nach Hause kamen. Stattdessen standen mitten in der Nacht zwei uniformierte Männer vor unserer Tür und haben uns mit Mitleidsminen erklärt, dass ein Betrunkener Papas BMW von der Straße gedrängt hatte. Ich möchte das jetzt nicht näher ausführen, denn es tut immer noch verflucht weh. Kein Wunder, wenn man beide Elternteile, denen man trotz eines eher verunglückten Outings doch recht nahe stand, in der gleichen Nacht verloren hat, oder? Ich war 2 Tage zuvor gerade 24 geworden. Meine Schwester hatte es für einige Monate sogar komplett aus der Bahn geworfen.
Irgendwie haben Rike, eigentlich heißt sie ja Ulrike, aber so nennt sie so gut wie niemand, und ich es dann doch noch geschafft über die Runden zu kommen. Das bedeutete jedoch, dass ich exmatrikulieren und mir einen Job suchen musste. Unsere Eltern hatten uns zwar etwas Geld hinterlassen, aber es hätte nicht ausgereicht, um ein ganzes Jahr Studium zuzüglich Diplomarbeit zu überbrücken. Das elterliche Haus zu verkaufen, kam nicht wirklich in Frage, auch wenn es uns auf den ersten Blick vielleicht etwas Luft verschafft hätte. Für Rike war es ohnehin schwer genug, da wollte ich sie nicht auch noch aus ihrer gewohnten Umgebung reißen, zumal eine Menge, wenn auch nicht immer schöne, Erinnerungen in diesen vier Wänden stecken.
Glücklicherweise habe ich wenig später einen Job als Netzwerkadministrator bekommen, der sogar überraschend gut bezahlt wurde, trotz abgebrochenem Studium und im Grunde ja auch ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Ich denke mein Chef wollte mir auf Grund der Umstände einfach eine Chance geben, soll tatsächlich noch vorkommen, auch wenn man vermutlich lange danach suchen muss. Ich bin ihm dafür jedenfalls wirklich sehr, sehr dankbar.
Da habe ich dann auch Axel kennengelernt, er hat mich gewissermaßen eingelernt. Und von Anfang an hatte ich eine gewisse Schwäche für diesen Kerl. Er hat mich fasziniert, tut er heute noch. Männer wie er sind sich für gewöhnlich Ihrer Wirkung sehr deutlich bewusst, die sie auf andere Menschen haben und geben sich entsprechend arrogant – er jedoch scheint die bewundernden und teilweise sogar schmachtenden Blicke seiner Gegenüber noch nicht einmal zu bemerken, weder die seiner Kolleginnen, noch meine ... und genau das macht wahrscheinlich auch einen wesentlichen Teil seiner Anziehung aus. Diese winzige Prise Naivität macht ihn nur noch liebenswerter.
Ich habe Axel niemals gesagt, dass ich so gerne mehr für ihn wäre als nur sein Arbeitskollege. Es bestand auch gar keine Veranlassung dazu, denn Axel spielte – zumindest zur damaligen Zeit – in einem ganz anderen Team, wenn ihr versteht, was ich meine.
Dann hat er uns eines schönen Tages Manuel präsentiert. Seinen Freund. Seinen festen Freund. Sein Outing hat in der Firma eingeschlagen, wie eine Bombe. Es hat einen wahren Krater hinterlassen, besonders bei den Frauen, vor allem jedoch bei mir.
Könnt ihr euch auch nur ansatzweise vorstellen, wie ich mich gefühlt habe? Heimlich verliebt in einen Kollegen, von dem ich noch nicht einmal zu hoffen wagte, dass er sich auch nur ein kleines bisschen für Männer interessieren könnte? Und dass nicht ich es gewesen bin, der ihn dann letztendlich – im wahrsten Sinne des Wortes – wachgeküsst hatte? Wie anders wäre es vielleicht verlaufen, wenn ich die Courage gehabt hätte mich ihm zu nähern, um ihm vielleicht irgendwann meine Gefühle zu gestehen? Wäre dann vielleicht ich der Mann an Axels Seite? Wäre vielleicht nicht Manuel, sondern ich derjenige, dem Axel in wenigen Stunden im Rathaus sein Jawort geben würde?
Allein schon bei dem Gedanken krampft sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Ich nehme einen letzten Zug von meiner Zigarette und drücke sie im Aschenbecher aus. Dann hole ich tief Luft und reibe mit den Handballen zitternd über meine brennenden Augen. Auch wenn ich mir einzureden versuche, dass es nur der auf sich warten lassende Schlaf ist, der meine Lider schwer und meine Augen feucht werden lässt, so weiß ich doch insgeheim, dass die Müdigkeit dabei nur eine geringe Rolle spielt.
Es hat mich fast meine gesamte Energie gekostet den beiden gegenüberzutreten und ihnen zu ihrem bevorstehenden Bündnis zu gratulieren. Es hat weh getan, sehr weh sogar, aber ich musste es einfach tun. Irgendwie werde ich auch das Gefühl nicht los, dass ich der eigentliche Grund dafür bin, dass Manuel ausgerechnet diese Weihnachtsfeier als Showbühne für seinen Antrag gewählt hat, denn ich habe zwei Wochen zuvor mal so richtig, richtig Mist gebaut ...
Axel, zwei weitere Kollegen und ich waren für 3 Tage auf einem Fortbildungsseminar in Hamburg. Meine Gefühle waren zwiegespalten, einerseits freute ich mich wahnsinnig auf die Zeit, die ich gemeinsam mit ihm verbringen durfte, andererseits hatte ich wirklich panische Angst davor. Ihn nahezu rund um die Uhr in einer solchen Nähe zu wissen, ohne ihn anfassen zu dürfen, stellte meine Selbstbeherrschung auf eine wirklich harte Probe. Besonders die Zugfahrt war fast mehr als ich ertragen konnte. Gleich zu Anfang wurde ich eher unfreiwillig Zeuge der Abschiedsszene zwischen Axel und Manuel auf dem Bahnsteig. Obwohl es mir fast das Herz aus dem Brustkorb gerissen hat, konnte ich die Augen nicht von ihnen nehmen. Dieser Kuss symbolisierte all das, was ich niemals haben würde. Ich musste einfach weiter zusehen, um meinem dummen Herzen zu verstehen zu geben, dass es endlich loslassen, sich jemand anderem zuwenden soll, jemandem, der es samt seines hünenhaften Anhängsels ebenfalls haben wollte.
Auf der Fahrt war ich Axel dann so gut wie möglich aus dem Weg gegangen. Ich habe mich dabei so ungeschickt angestellt, dass selbst er es diesmal wohl begriffen hatte, auch wenn er sonst ja eher blind war, was meine Gefühle ihm gegenüber betraf. Wenn ich ehrlich bin, habe ich es sogar bewusst in Kauf genommen, im Grunde konnte ich einfach nicht anders. Jedes Mal, wenn er in meiner Nähe war, ich ihn sehen und sogar riechen konnte, ich nur hätte eine Hand auszustrecken brauchen, um ihn zu berühren, musste ich an diesen Abschiedskuss auf dem Bahnsteig denken und es drückte mir fast die Kehle zu.
Murphy meinte es wirklich nicht allzu gut mit mir, denn zu allem Überfluss bezog Axel im Hotel auch noch das Zimmer unmittelbar neben dem meinen und ich habe mich mehr als einmal dabei ertappt, wie ich mit Ohren, so groß wie Rhabarberblätter, an der Wand klebte und in das angrenzende Zimmer hinein horchte.
Am zweiten Abend dann, klopfte es plötzlich an meiner Tür.
„Ja?“, rief ich vom Hotelbett aus, auf das ich mich irgendwann hatte einfach fallen lassen – grübelnd, wie so oft. Ich hatte mich noch nicht einmal ausgezogen und entsprechend zerknittert waren meine Klamotten.
„Axel hier“, kam als Antwort und mein Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich. Mit einem Satz war ich aufgesprungen und zur Tür geeilt. Hektisch habe ich noch versucht die ein oder andere Falte aus meinem Hemd zu streichen. Erfolglos. Ein völlig irrationales Glücksgefühl durchströmte meinen Körper und im gleichen Moment riss ich die Tür auf – mit einem fast schon debilen Lächeln auf den Lippen.
Es war tatsächlich Axel, der da vor meiner Tür stand und er sah einfach umwerfend aus. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und aus seinen wunderschönen blauen Augen zu mir aufgesehen. Ein schüchternes Lächeln lag über seinen Zügen und mein Blick wurde wie magisch von dem kleinen Leberfleck angezogen, den Mutter Natur strategisch mehr als nur günstig unter seinen rechten Augenwinkel platziert hatte. Wer bitteschön soll denn da noch widerstehen können? Ich gewiss nicht!
Ich wusste zwar nicht genau, was sein Erscheinen hier zu bedeuten hatte, in meinem Kopf spielten sich dennoch die unterschiedlichsten Szenarien ab, die von wilder Knutscherei, bis weiß Gott wohin reichten. Im Bruchteil einer Sekunde entschied mein überquellendes Herz, dass Axel nur aus einem Grund zu mir gekommen sein konnte.
„Oh endlich ... endlich!“, seufzte ich ergeben und zog ihn an seinem Ellbogen in mein Zimmer. Ich schloss die Tür, schlang beide Arme um seinen schmalen Körper und drückte mich gegen ihn. Wie lange schon hatte ich auf genau diesen Moment gewartet. Meine Lippen suchten stürmisch seinen Mund und fanden ihn. Wie im Rausch fühlte ich seine Hände, die sich auf meine Brust legten, spürte den Druck seiner Lippen auf den meinen. Warum öffnete er sie nicht endlich für mich, damit ich ihn auch schmecken konnte?
Ich tastete mich mit einer Hand seinen perfekten Rücken hinab bis zu seinem Hosenbund. Flink schlüpften meine Finger unter den Stoff und ertasteten das feste Fleisch seiner Pobacken. Längst schon war ich hart und zeigte ihm das auch, indem ich mein Knie zwischen den seinen positionierte und ihn noch dichter an mich heranzog.
Seine Hände bewegten sich hektisch über meinen Brustkorb. Sein Atem ging fast ebenso schnell, wie mein eigener. Ich ließ von seinen Lippen ab und bewegte mich auf seinen Hals zu. Ich kostete von seiner Haut und sie schmeckte wundervoll, nach Axel, nach mehr – sehr viel mehr. Fest saugte ich daran.
Seine Hände glitten zu meinen Schultern, umfassten mich, stemmten sich fest gegen mich und jetzt erst kam mir der Gedanke, dass vielleicht irgendetwas nicht stimmen könnte.
„Verdammt Sven, hör sofort auf damit!“, schrie er und gleichzeitig drückte er mich mit aller Kraft von sich weg.
Irritiert trat ich einen Schritt zurück und blickte ihn verständnislos an. Immer noch pochte meine Erregung unangenehm gegen meinen Reißverschluss.
Seine Augen waren geweitet, aber nicht vor Lust, wie ich zuerst angenommen hatte, sondern vor Entsetzen, Ablehnung und noch etwas, das ich nicht definieren konnte. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Ihm war deutlich anzusehen, wie aufgebracht er war.
Es dauerte einige Zeit, bis ich begriff, dass ich die gesamte Situation vollkommen falsch eingeschätzt hatte. Ich wusste nicht, warum Axel zu mir gekommen war, aber offensichtlich nicht aus dem Grund, den ich angenommen hatte, den ich mir so sehr gewünscht hatte. Ich fühlte, wie sämtliches Blut aus meinem Gesicht wich ... und nicht nur von da.
„Aber ich ... ich dachte ...“, stammelte ich und irgendwie brach gerade eine Welt für mich zusammen.
Er schüttelte energisch den Kopf, dann wischte er seine Handflächen hastig an seiner Jeans ab. Er konnte mir nicht in die Augen sehen. „Nein, deswegen bin ich nicht hier, eigentlich wollte ich Dir sagen ...“, er brach ab und mir wurde fast schwarz vor Augen.
„Weshalb bist Du hier“, fragte ich heiser und ließ mich kraftlos auf die Bettkante sinken. Meine Hände zitterten, als ich sie in meinem Haar vergrub. Ich stützte die Ellbogen auf meine Knie und fixierte einen Punkt auf dem Teppichboden vor mir. Ich durfte ihn jetzt einfach nicht ansehen. Hätte ich es getan, wäre er unweigerlich Zeuge davon geworden, wie sich ein fast 2 Meter großer, sich für erwachsen haltender Mann, in ein Häufchen heulendes Elend verwandelte.
„Es tut mir leid“, brachte er zögernd hervor und ich kann mich nicht erinnern, dass ich mich in meinem ganzen bisherigen Leben jemals so sehr geschämt hätte, wie in diesem Augenblick. Fast noch schlimmer jedoch war Axels panischer Gesichtsausdruck. Seine Angst vor mir war fast mit den Händen greifbar. Er konnte gar nicht schnell genug von mir wegkommen. Er ist soweit vor mir zurückgewichen, bis ihm die Tür den weiteren Fluchtweg versperrte. Ich bin mir jedoch sicher, dass er augenblicklich diese geöffnet und hindurch gestürmt wäre, hätte ich mich auch nur einen winzigen Schritt auf ihn zu bewegt.
Ich unternahm einen letzten, wenn auch überflüssigen und noch dazu sehr ungeschickten Versuch, zu retten, was zu retten ist. „Lass mich raten, Du bist nicht hier, weil Du ... weil Du Dich in mich ...“, meine Stimme wurde immer leiser und verlor sich schließlich in einem selbst für mich unverständlichen Flüstern. Mir war in diesem Augenblick furchtbar übel und ich kämpfte verzweifelt gegen den Brechreiz an, der sich immer mehr in meiner Kehle bemerkbar machte. Ihm jetzt auch noch vor die Füße zu kotzen, war wirklich das letzte, das ich wollte. Den letzten Hauch Würde, sofern davon überhaupt noch etwas übrig war, wollte ich mir unter allen Umständen erhalten.
Langsam schüttelte er den Kopf.
Ich schloss die Augen und versuchte angestrengt gleichmäßig zu atmen. Meine Kehle war staubtrocken und ich schluckte hart. Warum tat sich nicht einfach ein großes Loch vor mir auf und verschlang mich. Ich wollte nicht mehr hier sein, hier bei ihm ... in seiner Nähe. „Es tut mir so ... oh Gott, es tut mir so leid. Ich dachte wirklich ... ich hoffte so sehr. Oh Gott“, stöhnend verbarg ich das Gesicht in meinen Händen.
„Es tut mir wirklich schrecklich leid“, erwiderte Axel leise, „Ich wollte wirklich keinen falschen Eindruck vermitteln. Ich liebe Manu ...“
Ich wollte sein Mitleid nicht. Ich wollte einfach nur noch, dass er verschwand und mich alleine ließ. Und vor allem wollte ich jetzt nicht hören, wie sehr er seinen Freund liebte. Mit einer einzigen Handbewegung brachte ich ihn zum Schweigen. „Ich denke, ich habe es jetzt begriffen“, antwortete ich gepresst. „Wenn Du mich jetzt bitte allein lassen würdest.“
Er nickte, ich konnte es aus den Augenwinkeln heraus sehen. Dann verschwand er, ohne ein weiteres Wort.
Der darauffolgende Tag war die reinste Hölle für mich. Ich hatte keine Chance mich auf der Heimfahrt irgendwie vor ihm zu verstecken. Seine Versuche mit mir zu reden, habe ich schlichtweg ignoriert. Ich konnte nicht mit ihm darüber reden, ich wollte es einfach nur vergessen. Wobei es ihm eigentlich hoch anzurechnen ist, dass er überhaupt mit mir darüber reden wollte, was da in meinem Hotelzimmer passiert war. Wäre die Situation anders herum gewesen, hätte ich wahrscheinlich jeglichen weiteren Kontakt gemieden wie die Pest.
Es ließ sich glücklicherweise einrichten, dass ich bis Weihnachten Urlaub bekommen habe. Hätte das nicht geklappt, ich denke, ich hätte mich tatsächlich krank gemeldet, das erste mal, seit ich in dieser Firma arbeite. Ich weiß nicht, ob ich es überlebt hätte, ihn nach dieser Sache noch unter die Augen zu treten, zumindest nicht, solange alles noch so frisch war. Ich brauchte einfach diese paar Tage, in denen ich ihn nicht sehen musste. Erst bei der Weihnachtsfeier waren wir uns wieder begegnet.
Ursprünglich wollte ich da ja gar nicht hin, denn ich wusste, dass Axel mit Manuel da sein würde, aber irgendwie habe ich mich dann doch von Constantin bequatschen lassen. Er hat mir irgendwas von 'Mann stehen' und 'Feigling' und 'nicht ewig davon laufen können' vorgebetet. Manchmal kann er wirklich sehr überzeugend sein, muss er wohl auch als Lehrer. Er hätte mich sogar begleitet, wenn er an diesem Abend nicht anderweitig verplant gewesen wäre.
Natürlich habe ich die beiden zusammen beobachtet und es hat mir jedes Mal einen heftigen Stich versetzt, wenn ich gesehen habe, wie glücklich sie ganz offensichtlich zusammen waren. Ich konnte dennoch nicht den Blick von ihnen nehmen. Es war wie ein Zwang ... Ich glaube es war Meryl Streep, die irgendwann einmal in einem ihrer Filme sagte: Wenn es ganz schlimm wird und ich glaube, dass ich nicht mehr weiter kann, dann versuche ich es noch schlimmer zu machen - und wenn ich sicher bin, dass ich es nicht mehr aushalten kann, dann mache ich noch einen Moment weiter. Dann weiß ich, dass ich fähig bin alles zu ertragen.
Ich denke, so ähnlich fühlte ich mich in jenem Augenblick. Ich bin nicht masochistisch veranlagt, wirklich nicht. Dies war eben meine Art, damit fertig zu werden und im Grunde konnte es jetzt ja eigentlich nur noch aufwärts gehen.
Ein weiterer Blick auf die Digitalanzeige des Weckers zeigt mir, dass es mittlerweile kurz vor 2 Uhr ist. Ich bin hellwach, ich vermute den Gedanken an Schlaf, kann ich mir für diese Nacht wirklich abschminken. Ob Constantin inzwischen von der Geburtstagsfeier seines Vaters zurück und wieder zuhause ist?
Kurz überlege ich, ob ich es wagen kann, um diese Uhrzeit noch bei ihm anzurufen, dann greife ich nach meinem Handy und schreibe eine SMS: „Hi, bist Du zuhause?“ Sicher ist sicher. So hole ich ihn zumindest nicht aus einem etwaigen Tiefschlaf.
Die Antwort kommt prompt: „Gerade nach Hause gekommen. Was gibt’s?“
„Kann ich vorbei kommen?“ Ohne Umschweife. Er kann nicht mehr als nein sagen.
Diesmal lässt die Antwort einige Zeit auf sich warten. Nach einer gefühlten Ewigkeit lese ich: „Okay.“
„Bin so gut wie auf dem Weg. Bis gleich.“
Keine Viertelstunde später stehe ich vor dem Mehrfamilienhaus, in dem Constantin wohnt. Ich tippe einmal kurz mit dem Finger auf den Knopf, über dem C. Schilling steht und höre einige Augenblicke später den Summer. Ich trete ein und husche auf leisen Sohlen die Treppen nach oben. Er wohnt in der 2. Etage. Die Tür ist nur angelehnt und ich trete ein.
Er ist wohl gerade dabei, sich umzuziehen, denn er kommt aus dem Badezimmer, sein Hemd ist aufgeknöpft und hängt ihm lose über die Hose. Er ist Barfuß. Er hat für einen Mann wirklich schöne Füße stelle ich fest, klein und feingliedrig, wie so fast alles an ihm. Lächelnd kommt er auf mich zu. „Hey Großer“, meint er und gibt mir einen flüchtigen Kuss auf den Mundwinkel.
Ich ziehe ihn an mich und vergrabe mein Gesicht in seinem weichen, blonden Haar. Ich schließe die Augen, nehme seinen Duft in mich auf. Unweigerlich stelle ich Vergleiche zu Axel an. Constantin ist kleiner als er und nicht so männlich. Seine Lippen sind voller, sein Gesicht weniger kantig, die Linien wesentlich weicher. Er ist wirklich hübsch. Ich denke, unter gewissen Umständen, also wenn Axel nicht wäre, hätte ich mich in ihn verlieben können, denn er ist eigentlich perfekt. Unkompliziert, integer, liebenswert – manchmal zwar ein klein wenig zickig, aber andererseits auch ein verdammt guter Zuhörer, er ist immer da, wenn ich ihn brauche. Und er hat, ebenso wie Axel, wunderschöne blaue Augen. Constantins sind sogar noch eine Spur strahlender.
Und genau diese blicken mich nun fragend an.
„Was ist los?“, will er wissen.
„Ich kann nicht schlafen“, seufze ich.
„Und warum kannst Du nicht schlafen?“ Er mustert prüfend mein Gesicht.
Ich zucke mit den Schultern und weiche seinem Blick aus. Eine Antwort bleibe ich ihm ebenfalls schuldig. Wenn er darüber nachdenkt, wird er schon von alleine darauf kommen.
Er scheint eine Weile zu überlegen, dann: „Tag X?“
Ich nicke.
„Möchtest Du darüber reden?“, kommt es leise von ihm. Seinen Kopf hat er etwas schief gelegt und er sieht mich aufmunternd an.
Ich schüttle den Kopf. Ich will jetzt nicht reden, denn darüber reden hieße ja auch darüber nachzudenken. Und genau das möchte ich nicht, ich will einfach vergessen, zumindest für die nächsten Stunden und irgendwann einschlafen können.
Ich schiebe beide Hände unter sein Hemd und streiche über die warme, nackte Haut an seinem Rücken. Er erschauert leicht unter meinen Berührungen. Ich weiß, dass es nicht ganz fair ihm gegenüber ist, aber ich kann einfach gerade nicht anders. Ich brauche ihn, seine Nähe, seine Wärme. In diesem Moment mehr als je zuvor. Und es ist ja auch nicht so, dass er nicht auf seine Kosten käme, er genießt das hier mindestens ebenso sehr wie ich. Wir kennen uns schon eine Weile – genau genommen seit kurz nach dem Tod meiner Eltern. Und wir mögen uns, irgendwie. Unser kleines ... Arrangement würde nicht funktionieren, wenn wir uns nicht ausstehen könnten.
Wie von selbst finden sich unsere Lippen. Ich berühre mit der Zunge leicht die weiche, kühle Haut und schiebe sie dazwischen. Bereitwillig öffnet er sich mir. Er schmeckt nach Zahnpasta und seine Zunge ist noch kühl. Alles ist so ... vertraut. Ich weiß, dass er sich die Zähne am liebsten mit kaltem Wasser putzt. Überhaupt weiß ich sehr viel über ihn, besonders wirklich triviale Dinge wie zum Beispiel, dass er salziges Popcorn hasst, dass er aus den Königsberger Klopsen immer die Kapern fischt, dass er Oliven nicht ausstehen kann, dass er Filme mit Meryl Streep liebt, vor allem Jenseits von Afrika, den er sicher schon hundert Mal gesehen hat, dass er eine Schwäche für terrakottafarbene Dinge hat, dass er schon immer Lehrer werden wollte, dass er erst mit 10 Schwimmen gelernt hat ... und noch viel mehr weiß ich über ihn.
Von Axel hingegen im Grunde fast gar nichts, außer, dass er seinen Kaffee am Liebsten schwarz trinkt, irgendwann einmal geraucht hat und Linux für das einzig wahre Betriebssystem hält. Aber woher sollte ich auch mehr wissen ... mit Axel habe ich noch nicht einmal etwas, das man auch nur ansatzweise als eine freundschaftliche Beziehung bezeichnen könnte – und meine Chancen sind nicht gerade gestiegen, im Gegenteil. Für ihn war es ohnehin zu keiner Zeit mehr als nur ein kollegiales Verhältnis.
Mühelos hebe ich Constantin hoch. Sofort schlingt er beide Beine um meine Hüften und verschränkt sie oberhalb meines Hinterns miteinander. Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, drücke ich ihn mit dem Rücken gegen die Wand. Er lässt es ohne Gegenwehr geschehen. Ich fühle seine Hände in meinem Nacken, er spielt mit meinen Haaransatz und vergräbt anschließend beide Hände in meinem Haar.
Ich mag es, ihm so nahe zu sein. Er fühlt sich gut an, riecht gut und schmeckt noch besser. Aber gleichzeitig ist er auch einer meiner engsten Freunde, wenn nicht sogar der engste Freund. Ich vertraue ihm. Ich habe ihn einfach gerne um mich.
„Schlafzimmer“, wispert er an meinen Lippen.
Ich weiß, wo es ist, ich war schon oft hier. Ich trage ihn hinüber und lasse ihn behutsam mit dem Rücken auf die Matratze sinken. Das Hemd fällt vor seiner Brust auseinander und gibt den Blick auf zwei hübsche, rosarote Nippel frei. Einen von ihnen stupse ich mit der Zunge an, sauge vorsichtig daran und beobachte zufrieden, wie er sich aufrichtet. Das Spiel wiederhole ich auf der anderen Seite. Constantin bäumt sich mir ungehalten entgegen. Ich weiß, dass seine Brustwarzen auch auf noch so kleine Berührungen ganz furchtbar empfindlich reagieren, es macht ihn an und ich mag es, wenn er mir das auch unumwunden zeigt. Ich kenne ihn nun schon einige Jahre und weiß mittlerweile sehr genau, was ich tun muss, um ihn scharf zu machen. Ebenso wie er weiß, an welchen Rädchen er bei mir drehen muss. Das ist einer der Gründe, warum ich ihn jedem unpersönlichen One-Night-Stand vorziehe. Es ist einfach schön mit ihm.
Ich stütze mich mit einem Ellbogen auf der Matratze ab, während ich die andere Hand über seinen Bauch wandern lasse. Mein Mund beschäftigt sich mittlerweile wieder mit dem seinen. Ich beiße etwas in seine Unterlippe, necke ihn und berühre seine Lippen nur ganz leicht mit meiner Zungenspitze.
Meine Hand gleitet tiefer, ich öffne geschickt Knopf und Reißverschluss und schiebe meine Finger unter den Stoff seines Slips. Er lässt ein genüssliches Brummen hören, als ich ihn berühre. Erst fahre ich nur neckend mit einem Finger über die gesamte Länge nach unten, dann wieder nach oben, lasse den Finger einmal um seine Spitze kreisen und grinse, als Constantin ein weiteres leises Knurren von sich gibt.
Ich bewege meinen Mund zu seinem Hals, küsse sein Schlüsselbein, sein Kinn entlang und schließlich wieder seine Lippen. Mein Finger behält die minimalen Berührungen bei und lässt schließlich irgendwann sogar ganz von ihm ab. Meine Hand tastet sich wieder über den Bauch nach oben.
„Falsche Richtung“, gibt er murrend von sich, „mein Schwanz ist weiter unten.“ Er klingt dabei so süß, dass ich einfach lachen muss. Ich liebe seine Ungeduld, aber noch mehr liebe ich es, ihn einfach etwas zappeln zu lassen.
Seine blauen Augen, die mich im Moment an einen Sturm auf hoher See erinnern, blitzen mir ungehalten entgegen. Ich habe Zeit und die lasse ich mir auch. Ich knabbere an seinem Ohrläppchen und hauche zarte Küsse auf seinen Hals, bevor ich mich wieder seinem Mund nähere. Ich küsse furchtbar gern, und mit ihm macht es wirklich sehr viel Spaß, Constantin kann das nämlich richtig gut, auch wenn er mich – so wie jetzt – deutlich spüren lässt, dass ihm der Sinn nach sehr viel mehr steht.
Constantin nestelt inzwischen mehr als ungeduldig an meinem Shirt herum, das ich mir vorhin in der Eile übergezogen habe. Bereitwillig hebe ich die Arme und lasse es mir über den Kopf ziehen. Er muss sich dazu aufrichten, ich bin nun einmal deutlich größer als er.
Er dreht mich auf den Rücken und setzt sich auf meine Hüften. Mit einem fast schon verruchten Grinsen auf den Lippen bewegt er sich auf mir. Ich atme zischend aus und nun ist er es, der leise auflacht. Er weiß ganz genau, was er will, und das fordert er. Aber das mag ich so an ihm. Ich musste bei ihm von Anfang an keine Angst haben, etwas falsch zu machen. Er hat mir schon immer sehr deutlich gezeigt, was er gerne möchte – und ebenso deutlich, wenn er etwas überhaupt nicht mag.
Ich gebiete ihm Einhalt, indem ich seine Hüfte festhalte, die er schon wieder über meiner inzwischen harten Mitte kreisen lässt. Ich möchte nicht, dass es vorbei ist, bevor es überhaupt richtig begonnen hat.
Er rutscht kichernd nach hinten über meine Oberschenkel und zieht gleichzeitig meine Hose samt Slip nach unten. Ich hebe kurz mein Becken und lasse es zu, dass er sie mir anschließend ganz von den Beinen streift. Seiner eigenen Kleidung entledigt er sich ebenfalls, fast schon in rekordverdächtiger Geschwindigkeit.
Dann lässt er sich der Länge nach auf mich sinken und küsst mich. Der Kuss ist nicht sanft, eher hart und fordernd. Unsere Lenden berühren sich und erneut beginnt er sich an mir zu reiben. Oh Scheiße, der Kerl weiß wirklich, wie er mich ordentlich auf Touren bringt.
Ich befördere ihn wieder unter mich, indem ich uns umdrehe. Wieder wandert meine Hand über den schmalen Körper unter mir gen Süden und diesmal belasse ich es nicht bei kleinen Berührungen. Ich nehme ihn in die Hand und genieße es, dass er vor Wonne stöhnt. Nach einem letzten Kuss folgen meine Lippen dem Weg, den meine Hand bereits genommen hat. Er holt japsend Luft, als ich mich langsam abwärts küsse und mein Körper über ihn hinweg gleitet. Er öffnet bereitwillig seine Beine, damit ich bequem dazwischen Platz habe.
Kurz mache ich noch Halt bei seinem Bauchnabel. Es ist ein süßer Bauchnabel, wie so ziemlich alles an ihm. Ich stupse mit der Zungenspitze hinein und beiße ihn anschließend neckend in das zarte Fleisch, bevor ich mein Gesicht in seinem Scham vergrabe. Ich mag seinen Geruch und auch seinen Geschmack, den ich jetzt voll und ganz auskosten darf. Zunächst berühre ich ihn nur zaghaft und muss schmunzeln, als er mir etwas ungehalten mit seinem Becken entgegen kommt. Sanft drücke ich ihn wieder zurück auf die Matratze und höre ihn im gleichen Moment frustriert aufseufzen.
Ich lache leise. Dann jedoch lasse ich ihn nicht länger warten. Ich umschließe ihn mit meinen Lippen und diesmal ist es ein genussvolles Stöhnen, das er von sich gibt. Meine Zunge umkreist seine Spitze und dann nehme ich ihn noch tiefer in mich auf. Mit einer Hand greife ich in die Nachttischschublade und taste nach einem Kondom und der Tube mit dem Gleitgel. Die Vorbereitung ist kurz und im Grunde auch fast nicht mehr nötig. Er ist vollkommen entspannt, er will das hier ebenso sehr wie ich. Seine Bewegungen werden immer hektischer und ich merke schon bevor er mir ein: „Hör endlich auf zu spielen und mach richtig“, an den Kopf knallt, dass er bereit ist.
Das ist auch in meinem Sinne, wie könnte es auch nicht, denn mich hat das 'Spielchen' auch ganz schön aufgeheizt und deswegen zittert auch meine Hand etwas, als ich mir das Kondom überziehe und das Gel verteile. Im selben Moment dreht sich Constantin auf den Bauch und präsentiert mir seine Kehrseite.
Mit beiden Händen spreize ich seine Pobacken und positioniere mich an seinem Eingang. Er kommt mir mit seinem Becken entgegen, als ich mich in ihn schiebe. Kurz verharre ich an Ort und Stelle, einfach um diese herrliche Enge zu genießen, aber auch um ihm die Möglichkeit zu geben, sich daran – an mich - zu gewöhnen. Ich möchte ihm nicht weh tun, denn entsprechend meiner Körpergröße sind auch andere Teile an mir nicht gerade... winzig. Dann bewege ich mich. Zunächst langsam, dann immer schneller, so wie wir es beide mögen. Ich greife um ihn herum und massiere ihn im Rhythmus meiner Stöße.
Ich weiß nicht warum, aber plötzlich kommt mir wieder dieser verhängnisvolle Abend in diesem Hamburger Hotel in den Sinn und wie sehr ich mir gewünscht hatte, genau so mit Axel zusammen sein zu dürfen, und auch, wie sehr ich mich dafür geschämt habe ihn so gründlich missverstanden zu haben. Axel. Fast schon verzweifelt stoße ich in den Mann vor mir und kurz darauf fühle ich, wie die Enge um mich noch enger wird, bevor auch ich explodiere.
Ich lasse mich erschöpft auf den heißen und verschwitzten Körper unter mir sinken und versuche meine Atmung wieder einigermaßen in den Griff zu bekommen, deshalb bemerke ich erst gar nicht, dass irgendwas nicht stimmt.
„Was ist los?“, frage ich irritiert, als Constantin mich wütend versucht abzuschütteln – bei meiner Größe und dem entsprechenden Gewicht kein wirklich einfaches Unterfangen.
„Du willst wissen, was los ist?“, seine Stimme überschlägt sich fast, so aufgebracht ist er. „Du verdammter Mistkerl, ich heiße Constantin. C-O-N-S-T-A-N-T-I-N, Du Arschloch!“, schreit er mich an und ich meine in seinen Augen einen feuchten Glanz erkennen zu können.
Oh Scheiße, ich habe doch nicht etwa ...? Ein Blick in Constantins Augen verrät mir, dass meine Befürchtung stimmt.
Fieberhaft überlege ich, was ich sagen könnte und stelle mich wie immer furchtbar ungeschickt an. „Süßer, es tut mir leid, es ist mir einfach so ... rausgerutscht. Ich wollte das gar ...“, weiter komme ich nicht.
„Du wirst ihn nie vergessen können, habe ich recht?“ Seine Lippen beben und seine Stimme zittert. „Du bist so auf ihn fixiert, dass Du noch nicht einmal merkst, was da direkt vor Deiner Nase ...“, er hält inne und beißt sich auf die Unterlippe.
„Constantin?“, bringe ich gepresst hervor. Ein dicker Kloß von der gefühlten Größe des Mount Everest schnürt mir beinahe die Kehle zu. Ein kaltes Kribbeln rauscht über meine Kopfhaut.
„Raus!“, befiehlt er. „Mach, dass Du aus meinem Bett und aus meiner Wohnung kommst“, fordert er nochmals mit kalter Stimme, als ich keine Anstalten mache, mich zu bewegen. Und dann fügt er verachtend hinzu: „Und lass Dich hier nie wieder blicken!“
Sven sammelt nach meinem letzten Kommentar erstaunlich schnell seine Klamotten zusammen. Ich habe mich aufgesetzt, die Arme vor der Brust verschränkt und versuche so viel Autorität, wie es mir eben in nacktem Zustand möglich ist, auszustrahlen. Von der Tür aus wirft er mir noch einen letzten, beinahe schon flehenden Blick zu und er hat in diesem Moment wirklich sehr viel Ähnlichkeit mit einem geprügelten Hund. Doch bevor ich drohe weich zu werden und mich ihm womöglich doch noch an den Hals werfe, recke ich das Kinn kampflustig in die Höhe und starre ihn düster nieder. Schließlich wendet er sich ohne ein weiteres Wort ab und tritt durch die Schlafzimmertür. Ich höre ihn noch kurz im Flur rumoren, vermutlich zieht er sich an, nackt kann er schlecht auf die Straße gehen und obwohl ich darauf vorbereitet bin, zucke ich dennoch kurz zusammen, als die Wohnungstür tatsächlich einige Augenblicke später ins Schloss fällt.
Ich kann beim besten Willen nicht sagen, welches der Gefühle, die in mir toben, im Moment überwiegt. Einerseits möchte ich Sven wehtun, und zwar so richtig! Ich möchte mit meinen Fäusten sein Gesicht bearbeiten, ihm in die Eier treten, ihm so viel körperlichen Schmerz zufügen, wie es mir nur möglich ist. Er soll die gleichen Qualen erleiden, wie ich gerade in diesem Moment. Ich bin so verdammt wütend auf ihn und gäbe wirklich mein allerletztes Hemd, um ihn hassen zu können. Funktioniert nur leider nicht, weil ich Obertrottel ja meinte, mich unbedingt in ihn verlieben zu müssen, obwohl mir doch von Anfang an klar war, dass ich von Sven niemals mehr als Freundschaft und Sex bekommen würde. Und gerade dieser nervende verliebte Teil von mir möchte nichts lieber als aufspringen und diesem Riesenbaby hinterherjagen, ihn wieder zurück in die Wohnung zerren und ihn die ganze Nacht einfach nur festhalten, seine Kraft und seine Wärme spüren, die Nase tief in seine Haut vergraben und in ihrem Duft ertrinken.
Seufzend erhebe ich mich, fische nach meiner Unterhose und ziehe sie mir über. Jede meiner Bewegungen erinnert mich daran, was wir noch vor einigen Minuten hier in diesem Zimmer, in diesem Bett, getrieben haben. Das gefüllte und zusammen geknotete Kondom liegt neben dem Bett auf dem Fußboden. Ich bücke mich, wickle es in ein Taschentuch und entsorge es im Mülleimer in der Küche. Nicht, weil ich so ein reinlicher Mensch bin, sondern weil ich den Anblick einfach nicht ertragen kann. Ich stütze mich mit beiden Armen auf der Spüle ab und starre in die Nacht hinaus. Durch das gekippte Fenster dringt der angenehme Duft des blühenden Flieders herein, der direkt vor dem Küchenfenster steht. Ich hole tief Luft und schließe traurig die Augen.
Das wirklich Schlimme ist, dass ich selbst schuld daran bin. Niemand zwingt mich dazu, ihm immer und immer wieder die Wange hinzuhalten. Es ist ja nicht so, dass er das mit Absicht tut, er bekommt davon höchstwahrscheinlich überhaupt nichts mit … ich selbst bin der Depp, weil ich es eigentlich besser wissen müsste und dennoch mit offenen Augen und Armen in mein Unglück stürze, sogar mit Anlauf. Nehmen wir den heutigen Abend als Beispiel: ich hätte einfach nur 'Nein' zu sagen brauchen, als diese SMS eingetrudelt ist, dann wäre all das erst gar nicht passiert. Aber nö, ich Idiot musste ihm ja erlauben zu mir zu kommen, obwohl ich ganz genau wusste, dass Sven nur auf eine schnelle Trostnummer aus war, um sich abzulenken. Natürlich weiß ich, was morgen für ein Tag ist. Sven heult mir deswegen ja bereits seit Weihnachten die Ohren voll. Allerdings ist es weniger geworden die letzten Wochen und ich hatte tatsächlich die leise Hoffnung, dass er langsam über Axel hinweggekommen sein könnte. Tja, da habe ich wohl falsch gedacht. Ich kann wirklich von Glück sagen, dass ich nicht zu Heulkrämpfen neige, sonst wäre ich mittlerweile wohl schon in meinem eigenen Tränenmeer ersoffen.
Fröstelnd schließe ich das Fenster und gehe die wenigen Schritte zu meinem Kühlschrank hinüber. Im Seitenfach der Tür steht eine angebrochene Flasche Wodka. Ich greife nach ihr und halte sie gegen das Kühlschranklicht. Keine Ahnung, ob das Zeugs überhaupt noch halbwegs genießbar ist, die Flasche steht bestimmt schon seit 3 Jahren oder sogar noch länger da drin. Sie stammt noch aus einer Zeit, als die Welt noch in Ordnung war, ich Sven nur flüchtig kannte und noch nicht wusste, wie er sich anfühlt, wie er schmeckt und welche Geräusche er macht, wenn er ganz tief in mir versunken ist.
Ich versuche erfolglos die Gedanken abzuschütteln, klemme mir die Flasche unter den Arm, gebe der Kühlschranktür einen unsanften Tritt mit dem Fuß und tapse in das angrenzende Wohnzimmer hinüber. Schwerfällig lasse ich mich auf mein Sofa fallen und bereue es in der nächsten Sekunde. Es dauert einige Momente, bis der Schmerz nachlässt und ich mich wieder einigermaßen entspannen kann. Ich hätte vorhin nicht so ungeduldig sein sollten. Wenn ich 1-2 Wochen keinen Sex mehr hatte, brauche ich normalerweise etwas länger, um mich an Svens Riesending zu gewöhnen. Man erwartet bei seiner Statur zwar nicht gerade etwas Kleines und Handliches, aber als ich ihn das erste Mal gesehen habe, kam ich doch zunächst arg ins Schlucken. Wenn er im erregten Zustand auf dem Rücken liegt, reicht seine Eichel bis zu seinem Bauchnabel. Ein solches Mordsgerät 'steckt' man nicht so einfach weg. Ich auch nicht. In der Anfangszeit kam ich mir jedes Mal vor wie aufgespießt. Mit der Zeit lernten unsere Körper sich natürlich immer besser kennen und inzwischen ist der Sex mit Sven einfach nur noch geil. Mit ein Grund, warum ich so gerne mit ihm zusammen bin - nein, war. Nun muss ich ihn mir nur noch aus dem Kopf schlagen und genau deswegen sitze ich ja hier … zusammen mit meinem russischen Kumpel, nicht wahr? Ich ziehe meine Beine zu einem Schneidersitz auf das Sofa, schraube entschlossen den Verschluss des Wodkas auf und nehme einen vorsichtigen Schluck direkt aus der Flasche. Angewidert verziehe ich das Gesicht, als mir das Zeug die Kehle hinabrinnt. Wer so was säuft, frisst doch auch kleine Kinder, oder? Gott, ist das ekelig. Der zweite Schluck ist kein Deut besser, im Gegenteil. Ich schüttle mich leicht und presse eine Hand vor den Mund, um der Versuchung zu widerstehen, das Gesöff einfach wieder auszuspucken. Zum dritten Schluck muss ich mich geradezu zwingen. Ich hasse das Zeug … eigentlich mag ich generell keinen Alkohol. Ob ihr es nun glaubt oder nicht, aber ich war noch niemals wirklich betrunken, aber genau das gedenke ich heute zu ändern. Meine mangelnde Trinkfestigkeit dürfte mich meinem Ziel vermutlich wesentlich schneller näher bringen, als manch anderen, der sich regelmäßig diversen Besäufnissen hingibt.
Beim 4ten Schluck proste ich einem imaginären Gast zu und auch den 5ten schaffe ich, ohne mich übergeben zu müssen. Der 6te Schluck schließlich, schmeckt schon gar nicht mehr so übel. Das ersehnte Vergessen bleibt jedoch aus. Mir kommt es sogar fast so vor, als würde mein Zustand durch den Alkohol noch begünstigt werden, denn mein Kopf ist vollgestopft mit Sven. Selbst die Momente unseres Kennenlernens schieben sich als ungewollte Erinnerung in den Vordergrund …
Es ist knapp 3 Jahre her, als ich Sven das erste Mal begegnet bin. Es war in der Schule … damals war ich Rikes Klassenlehrer. Es war einige Wochen, nachdem die Eltern der beiden bei diesem furchtbaren Verkehrsunfall ums Leben gekommen sind. Es hat beide sehr getroffen, aber für Rike war es ganz besonders schlimm. Ich habe das Mädchen nicht wiedererkannt. Aus einem aufmerksamen, wissbegierigen Teenager war praktisch über Nacht eine geradezu bösartige Göre geworden, die mit einer Gossensprache daher kam, die selbst unseren abgebrühtesten Lehrern die Schamesröte ins Gesicht trieb. Sie störte den Unterricht, piesackte ihre Mitschüler und setzte sich so ziemlich über jede Regel hinweg, die es gab. In dieser Zeit war Sven, als einziger verbliebener Verwandte, so etwas wie ein Dauergast in der Schule. Nur mit Hilfe eines fähigen Therapeuten gelang es Rike irgendwann sich wieder zu fangen. Das hat sie wohl letztendlich vor dem drohenden Schulverweis bewahrt. Sie musste das Schuljahr zwar wiederholen, aber das war der vergleichsweise geringste Preis, den sie zu zahlen hatte.
Sven und ich sind uns damals näher gekommen. Zunächst nur auf freundschaftlicher Ebene. Wir haben uns einfach gut verstanden und unsere gemeinsame Sorge um Rike hat uns irgendwie verbunden. Unsere Beziehung wurde erst zu einem späteren Zeitpunkt intimer, nämlich als wir uns zufällig in einem Club über den Weg gelaufen sind. Unsere Freundschaft hielt weiterhin an, wurde nur durch den amourösen Teil ergänzt. Wenn es mich gejuckt hat, kam Sven zum Kratzen … und umgekehrt. Das hat zunächst auch wunderbar funktioniert, solange keine Gefühle im Spiel waren. Ich kann noch nicht einmal genau sagen, wann diese ganze Situation dann umgeschwenkt ist. Es ist ganz schleichend passiert und als ich es schließlich gemerkt habe, war es längst zu spät, um noch die Notbremse ziehen zu können.
Ich habe Sven nie etwas von meinen Gefühlen erzählt. Es bestand auch gar keine Veranlassung dazu. Was hätte sich schon groß geändert? Dadurch hätte er mich auch nicht mehr gemocht. Warum also schlafende Hunde wecken? Mag sein, dass ich auch einfach nur Angst davor hatte, dass er sich aus irgendwelchen hehren Gründen von mir zurückziehen könnte. Nun – darüber muss ich mir wohl keine Gedanken mehr machen, das dürfte sich mit dieser Nacht endgültig erledigt haben, zumindest von meiner Seite aus.
Ich werfe einen Blick auf die Wodkaflasche, die ich immer noch in einem eisernen Griff halte. Sie ist mittlerweile nicht einmal mehr halbvoll und ich merke, wie meine Sicht zusehends verschwommener wird. Auch hat sich ein gewisser Zustand der Vernebelung eingestellt. Mein Hirn fühlt sich ein bisschen an, als ob es mit Watte vollgestopft wäre. Etwas unkoordiniert greife ich nach der Fernbedienung und schalte den Fernseher ein.
*
Ein Geräusch lässt mich aufschrecken und augenblicklich fährt ein stechender Schmerz durch meinen Kopf. Leise stöhnend presse ich beide Handballen in die Augenhöhlen und versuche verzweifelt die Übelkeit zurückzudrängen, die der Presslufthammer in meinem Kopf verursacht.
„Guten Morgen Dornröschen. Da bist Du ja wieder, ich habe mir schon Sorgen um Dich gemacht“, erklingt eine leise Stimme neben mir. Eine Sekunde später fühle ich eine kühle Hand auf meiner Stirn.
Es dauert eine Weile, bis mein benebeltes Hirn erkennt, wessen Stimme das ist. „Moritz?“, flüstere ich.
„Ich bin hier“, antwortet er und streicht liebevoll über meine Wange.
Was macht er denn hier? Nicht, dass es mich stören würde, im Gegenteil, doch wie zum Geier ist er in meine Wohnung gekommen? Und warum liege ich in meinem Bett? Ich runzle meine Stirn und versuche mich angestrengt an den gestrigen Abend zu erinnern.
„Wie … was“, setze ich an. Meine Stimme krächzt und ich habe einen fürchterlichen Geschmack im Mund. Die Übelkeit nimmt zu.
„Was ist das Letzte, woran Du Dich erinnern kannst?“, interpretiert Moritz meine Verwirrung richtig.
„Sofa … Fernseher“, antworte ich schleppend. Mein Hals fühlt sich furchtbar rau an. Ich muss kurz husten und mein Kopf scheint zu explodieren.
„Weia“, antwortet er. Ich öffne meine Augen einen Spaltbreit und treffe auf seinen besorgten Blick. Er nagt auf seiner Unterlippe herum. „Erst mal Kaffee und Kopfschmerztabletten?“, schlägt er vor.
Ich schließe die Augen wieder und nicke vorsichtig. Moritz erhebt sich und ich höre ihn kurz darauf in der Küche hantieren. Irgendwo klingelt mein Handy und wenige Sekunden später steht Moritz wieder im Türrahmen. Er hält mein iPhone zwischen Daumen und Zeigefinger und wackelt damit hin und her. „Es ist Sven, möchtest Du mit ihm reden?“
„Nein“, antworte ich so entschieden, wie es mir in meinem gegenwärtigen Zustand möglich ist. Selbst wenn ich könnte, würde ich nicht mit ihm reden wollen, nicht nach dem gestrigen Abend. Im Augenblick wäre es mir sogar am liebsten, wenn er sich nie wieder bei mir melden würde.
„Okay“, meint er, drückt eine Taste und das Klingeln verstummt. Ich stelle mir vor, wie Sven ungläubig sein Telefon anstarrt und erkennt, dass er einfach weggedrückt wurde und trotz der ganzen Situation amüsiert es mich tatsächlich ein wenig. Tja Sven, gewöhn Dich schon einmal dran. Die Zeiten sind vorbei, in denen Du nur mit den Fingern schnippen musstest und ich angerannt kam.
Ich richte mich langsam auf und sofort schaltet der Presslufthammer in meinem Kopf eine Stufe höher. Im Zeitlupentempo schiebe ich meine Beine aus dem Bett und bleibe zunächst für einen Moment benommen auf der Bettkante sitzen. Was für ein genialer Einfall, mich volllaufen zu lassen. Es hätte mich ja mal ruhig jemand warnen können, dass man sich am nächsten Morgen fühlt, als hätte man mit einer Dampfwalze geschmust. Keine Ahnung, wie ich es schließlich geschafft habe aufzustehen, mich blind wie ein Maulwurf über den Flur in mein Badezimmer zu schleppen und mich mit heruntergelassener Unterhose auf die Klobrille zu setzen. Erschöpft lehne ich meinen Kopf nach hinten an die kalten Wandfliesen. Es dauert eine Weile, bis der Raum aufhört sich zu drehen und ich es wage, die Augen einen Spalt zu öffnen.
So schnell es mir möglich ist, entleere ich meine übervolle Blase. Das Rauschen der Klospülung dröhnt in meinen Ohren und ich kneife für einen kurzen Moment gequält die Augen zu. Anschließend stütze ich mich auf dem Waschbecken ab und blicke in den Spiegel. Ich erkenne mich selbst kaum wieder. Meine geröteten Augen liegen tief in ihren Höhlen und es haben sich ungesunde Ringe darunter gebildet. Die Hautfarbe konkurriert mit den weißen Badezimmerfliesen und mein Haar … tja, würde man mich umdrehen, könnte man mich als Straßenfeger benutzen. Kurz: ich sehe aus wie ausgekotzt und genauso fühle ich mich auch.
Nachdem ich mir mehr schlecht als recht die Zähne geputzt habe, um zumindest diesen widerlichen Geschmack loszuwerden, mache ich einen kurzen Umweg in mein Schlafzimmer, um mir ein Shirt über zu ziehen und geselle mich anschließend zu Moritz in die Küche. Eigentlich bräuchte ich noch dringend eine Dusche, ich stinke so sehr, dass mir vor mir selbst graut, aber ich fühle mich im Moment noch außer Stande, mich länger als 2 Minuten auf den Beinen zu halten. Auf dem Tisch steht bereits ein Becher mit Kaffee, daneben liegen zwei Tabletten.
„Danke“, murmle ich, lege mir die beiden Tabletten auf die Zunge und spüle sie mit einem großen Schluck Kaffee hinunter.
„Schon gut“, winkt er ab und setzt sich mir gegenüber. Danach betrachtet er mich prüfend. Eine Spur Mitgefühl lese ich ebenso darin, wie echte Besorgnis. „Also, nochmal … woran kannst Du Dich noch erinnern?“
Ich denke angestrengt nach und schüttle den Kopf. „Noch immer nicht an mehr. Ich saß auf dem Sofa und habe den Fernseher eingeschaltet“, erwidere ich tonlos.
Er nickt langsam und zieht die Augenbrauen nach oben. „Ich habe befürchtet, dass Du von nichts mehr weißt.“
Alarmiert blicke ich ihn an. „Was weiß ich nicht mehr?“
“Du hast heute Nacht, so um die halb vier herum, bei mir angerufen und mir irgendwelches unverständliche Zeugs ins Ohr gebrabbelt. Meine Güte, hattest Du vielleicht geladen. Was außer dem Wodka hast Du denn noch in Dich hineingeschüttet?“, will er wissen.
Erneut versuche ich relativ erfolglos, dass sich die Nebelschwaden in meinem Hirn etwas lichten. „Ich kann mich nicht daran erinnern'“ Müde reibe ich über meine Stirn. „Es tut mir leid, dass ich Dich aus dem Bett geholt habe“, ergänze ich.
„Ach Quatsch, das muss Dir doch nicht leid tun. Ich bin froh, dass Du mich angerufen hast, so konnte ich mich wenigstens um Dich kümmern. Aber ich denke, bei Deiner Nachbarin solltest Du Dich entschuldigen.“ Er deutet mit dem Kopf in Richtung der Wohnung, die rechts an die meine angrenzt, beißt sich auf die Unterlippe und verzieht das Gesicht zu einer Grimasse.
„Oh Gott, was habe ich angestellt?“, frage ich entsetzt. Meine Ohren klingeln und ich habe das Gefühl, dass sämtliches Blut sich aus meinem Gesicht zurückzieht.
„Keine Ahnung, was Du veranstaltet hast, bevor ich gekommen bin. Es muss aber tierisch laut gewesen sein. Sie hat bei Dir geklingelt, weil sie durch den Krach nicht mehr schlafen konnte. Ich bin gerade die Treppe hochgekommen, als Du ihr… öhm… den ein oder anderen Mode Tipp verpasst hast. Besonders an ihren Haaren hattest Du wohl einiges auszusetzen. Ich denke, Du kannst froh sein, dass Sie Dir keine geklebt hat“, er hustet kurz.
Ich starre ihn einfach nur an und kann nicht glauben, was er mir gerade erzählt hat. „Sag, dass das nicht wahr ist“, bitte ich leise. Oh Gott, bitte mach, dass ich nicht ausfallend geworden bin. Ich mag meine Wohnung und auch die Nachbarn sind in Ordnung hier. Besonders mit besagter Frau Müller verstehe ich mich ziemlich gut. Die Dame ist 60, wohlbemerkt!
„Es stimmt leider. Ich denke, Dein Aufzug dürfte sie auch nicht gerade milde gestimmt haben. Eine Unterhose und ein großer Spermafleck oberhalb des Bauchnabels ist nicht wirklich die ideale Garderobe, um seiner erbosten Nachbarin gegenüberzutreten.“
Ich stöhne laut auf und lasse meinen Kopf auf meine Arme sinken. Ich kann meine Sachen packen und ausziehen!
„Sie wird Dir schon nicht den Kopf abreißen. Ich habe ihr erzählt, dass etwas geschehen sei, dass Dich aus der Bahn geworfen hat und ihr versprochen, dass ich mich um Dich kümmern werde. Danach war sie fast schon verständnisvoll und ist mit einem besorgten Blick in ihrer Wohnung verschwunden“, erzählt er.
„Sonst noch was?“, murmle ich. Dabei bin ich mir allerdings nicht sicher, ob ich es auch wirklich wissen möchte.
„Nein, zumindest nichts, wofür Du Dich schämen müsstest“, versucht er zu scherzen. Ich gebe ein kurzes Schnauben von mir. Das beruhigt mich jetzt wirklich ungemein.
„Was ist denn gestern Abend wirklich passiert? Ich habe mir zwar inzwischen einiges zusammengereimt, aber das wäre selbst für Sven unterirdisch.“ Moritz kneift ärgerlich seine Augenbrauen zusammen.
Ich gebe ihm in wenigen Sätzen das wieder, was sich vor meinem Totalabsturz ereignet hat. Moritz Kiefer mahlen aufeinander, als ich mit meiner Erzählung fertig bin. Ihm ist deutlich anzusehen, dass er kurz vorm Explodieren ist.
„Dieser … Wichser“, stößt er gepresst durch die Zähne hervor.
„Moritz“, bitte ich hilflos.
„Nix Moritz, genau das ist er. Ich begreife sowieso nicht, was Du an ihm findest. Das habe ich noch nie verstanden. An seinem ach so geilen Schwanz alleine kann es ja wohl hoffentlich nicht liegen. Verdammt Constantin, Du hast wirklich etwas Besseres als ihn verdient … er ist es einfach nicht wert“, der letzte Satz klingt fast schon ein bisschen verzweifelt.
Ich hole tief Luft und stoße sie heftig wieder aus. „Hätte ich nur nein gesagt gestern, dann wäre es erst gar nicht so weit gekommen.“
„Ja klar, dann wäre es eben ein andermal passiert“, entgegnet er etwas gereizt.
Ich schüttle langsam den Kopf. „Das glaube ich nicht. Axel und Manuel … sie heiraten heute.“
„Und wenn schon. Es wäre ihm vielleicht nicht rausgerutscht, aber an der Situation hätte sich doch nichts geändert. Ach Con … sieh Dich doch mal im Spiegel an. Du bist einer der hübschesten Männer, die ich kenne und Du könntest locker an jedem Finger 10 Kerle haben, warum ausgerechnet ihn? Bist Du Dir dafür nicht zu schade? Kannst Du wirklich mit jemandem ins Bett springen, der an einen anderen denkt, sobald sein Schwanz in Deinem Arsch steckt?“
Ich presse die Lippen fest aufeinander und muss gegen die Übelkeit ankämpfen, die sich schon wieder nach oben arbeitet. Es zu denken ist eins, es aber so unverblümt vor den Latz geknallt zu bekommen, etwas ganz anderes. „Nein“, gebe ich irgendwann aber doch zu. „Das gestern Nacht... war selbst für mich zu viel. Ich kann einfach nicht mehr. Die ganze Zeit über hatte ich immer noch die Hoffnung, dass er Axel vergessen könnte“, ich seufze leise. „Aber wie sagt man so schön? Die Hoffnung stirbt zuletzt … und die ist jetzt definitiv tot, mausetot!"
„Heute Nacht hat sie aber noch ziemlich lebendig gezappelt. Ich musste Dich mehr als einmal davon abhalten, ihn anzurufen“, erwidert er ruhig.
„Das vergangene Nacht war ein Ausnahmezustand … und ich schwöre Dir, das war mein erstes und gleichzeitig letztes Besäufnis.“ Und das meine ich absolut ernst.
„So schlimm?“, mitfühlend streicht er mit einer Hand über mein Haar.
„Geht schon wieder. Der Presslufthammer ist Dank der Tabletten nur noch ein etwas energischeres Klopfen und das flaue Gefühl im Magen lässt hoffentlich auch bald nach.“
„Okay“, antwortet er. „Soll ich Dir etwas zu Essen machen?“
Ich schüttle den Kopf und starre in meinen Kaffee. „Wusstest Du eigentlich, dass ich mal was mit Manuel hatte?“, frage ich irgendwann, als die Stille zwischen uns anfängt unangenehm zu werden.
Moritz sieht mich überrascht an. „Mit Svens Axel-Manuel?“
Ich nicke. „Ewig her, bestimmt um die 5 Jahre.“
„Hast Du mir nie erzählt. Wie lange ward ihr zusammen?“
„Als 'zusammen sein' kann man das kaum bezeichnen. Wir haben beide schnell gemerkt, dass da nichts draus wird. Wir waren nur ein paarmal zusammen im Bett“, ich zucke mit den Schultern. „Ich mag ihn, er ist ein echt netter Kerl.“
„Ja, das ist er. Und auch wenn Du das vielleicht nicht hören willst, aber Axel ist auch ziemlich in Ordnung“, pflichtet er mir bei.
„Du hast recht“, seufze ich, „ich will das wirklich nicht hören. Allein, wenn ich den Namen höre, möchte ich noch das Essen von vor zwei Wochen von mir geben.“
„Ich weiß …“, flüstert Moritz.
„Ich habe versucht ihn zu hassen“, gebe ich irgendwann leise zu.
„Wen, Sven?“ Moritz stützt mit der rechten Hand seinen Kopf ab und betrachtet mich aufmerksam.
„Nein, Axel“, antworte ich. „Eine Zeitlang hat das auch richtig gut funktioniert. Klar kann er nicht wirklich etwas dafür. Aber hassen wollte ich ihn trotzdem, alleine dafür, dass er einfach nur … da ist. Gott, warum habe ich Sven nur jemals so nah an mich herangelassen? Ich habe es doch sonst immer verstanden, mir die Typen emotional auf Abstand zu halten, warum ist mir das bei ihm nicht gelungen?“ Ich stütze mich mit den Ellbogen auf dem Küchentisch ab und grabe beide Hände in meine Haare.
Erneut klingelt mein iPhone und auch ohne auf das Display schauen zu müssen, weiß ich, wer dran ist.
„Wieder Sven, willst Du?“, bestätigt Moritz meinen Verdacht.
Ich schüttle den Kopf. Ich weiß ja, dass ich irgendwann mit ihm werde reden müssen, aber nicht jetzt, nicht heute und auch nicht die nächsten Tage. Irgendwann, wenn es vielleicht nicht mehr ganz so weh tut.
Wenige Augenblicke später trudelt eine SMS ein. Seine Hartnäckigkeit überrascht mich etwas. Insgeheim habe ich gehofft, dass er nicht so schnell aufgibt, ja … aber wirklich erwartet habe ich es nicht.
„Soll ich nachsehen, was er geschrieben hat?“ Moritz hat mein Handy bereits in der Hand und sieht mich fragend an.
„Nein, schalt das Scheißding einfach aus“, bitte ich ihn und erhebe mich vom Stuhl. „Ich geh mal unter die Dusche. Bist Du noch da, wenn ich im Bad fertig bin?“
„Natürlich bleib ich da. Ich lass Dich doch nicht alleine“, antwortet er mit einer Überzeugung, die mich trotz allem zum Schmunzeln bringt.
„Komm mal her, Süßer“, erwidere ich und strecke einen Arm nach ihm aus. Er steht auf und schlingt beide Arme um mich. Fest drückt er mich an sich. „Danke“, murmle ich an seinem Hals.
„Nicht dafür. Ich bin jederzeit für Dich da, das weißt Du, ja?“ Als Antwort drücke ich ihn nur noch etwas fester. Irgendwann löst er sich grinsend von mir. „Und jetzt Abmarsch mit Dir ins Bad, Du stinkst wie ein Iltis, der einen ziemlich üblen Unfall mit einer Wanne voll Hochprozentigem hatte.“
Moritz blieb tatsächlich noch den gesamten Nachmittag bei mir. Er hat mich wie eine Glucke umsorgt, mich bekocht und selbst sein Freund Nick konnte ihn nicht von mir weglocken. Und auch wenn ich es nicht gerne zugebe, aber es hat mir gut getan, dass sich jemand so fürsorglich um mich gekümmert hat.
Irgendwann hatte ich jedoch genug davon, so bemuttert zu werden. Ich war von der ganzen Situation total geschafft und wollte mich einfach nur noch in mein Bett legen, die Decke über mich ziehen und schlafen. Moritz zeigte sich verständnisvoll, aber auch immer noch besorgt.
„Bist Du Dir wirklich sicher, dass ich Dich allein lassen kann?“, fragt er zum gefühlt hundertsten Mal.
„Keine Angst, Süßer, ich komme schon zurecht“, antworte ich lächelnd.
„Du meldest Dich aber sofort, wenn irgendwas ist, ja?“ Er macht sich immer noch Sorgen. Ich verstehe ihn ja. Ich kann selbst kaum glauben, dass ich mich habe so sehr gehen lassen.
„Ja doch“, verspreche ich.
„Okay“, er atmet laut aus. „Dann schlaf gut und melde Dich Morgen kurz, damit ich weiß, dass es Dir gut geht, ja?“
Ich öffne die Tür und muss ihn fast dazu zwingen, meine Wohnung zu verlassen. „Ich ruf an, versprochen!“, antworte ich müde und ziehe ihn in eine kurze Umarmung. „Und jetzt ab mit Dir, Dein Nick wartet.“ Mit einem letzten Winken wendet er mir den Rücken zu und steigt die Treppenstufen hinab.
Zurück in meinem Wohnzimmer fällt mein Blick auf das Handy. Ich hatte es am Nachmittag wieder eingeschaltet und etwa ein halbes Dutzend SMS vorgefunden. Noch einmal so viel trudelten im Laufe des Tages ein. Sie reichten von: „Es tut mir wahnsinnig leid. Ich bin so ein Idiot“, über „Bitte glaub mir doch, dass Du mir sehr viel bedeutest“, bis hin zu: „Rede mit mir, bitte“.
Keine dieser Mitteilungen stimmte mich auch nur im Geringsten milde, im Gegenteil, ich wurde von Mal zu Mal wütender. Schließlich ließ ich mich zu einem: „LASS MICH IN RUHE!“ hinreißen. Danach klingelte noch einige Male das Telefon, aber irgendwann hat auch das aufgehört und obwohl es das eigentlich nicht sollte, bin ich darüber enttäuscht. Ich hätte eigentlich etwas mehr Durchhaltevermögen von ihm erhofft, wenn ich ihm angeblich doch so viel bedeute.
Kurze Zeit später liege ich tatsächlich zusammen gekauert in meinem Bett und drifte ab ins Land der Träume.
Es ist taghell, als ich am nächsten Tag aufwache. Die Kopfschmerzen und die Übelkeit sind zum Glück verschwunden, ich fühle mich dennoch wie durch den Fleischwolf gedreht. Wirklich erholsam scheint der Schlaf nicht gewesen zu sein. Immer wieder bin ich nachts wach geworden und habe mich von einer Seite auf die andere gewälzt. Gegen 3 Uhr in der Früh habe ich sogar mein Bett neu bezogen, weil ich mir eingebildet habe, dass das Bettzeug immer noch nach Sven riecht. Danach ging es einigermaßen, ich bin trotzdem ziemlich froh, dass heute Sonntag ist und ich mich nicht mit einer Schar Jugendlicher auseinandersetzen muss. Ich weiß nicht, ob ich das überlebt hätte. Unmotiviert schwinge ich meine Beine aus dem Bett und trotte ins Bad. Ein kurzer Blick in den Spiegel zeigt mir, dass ich zwar nicht mehr ganz so zombiemäßig aussehe, wie das blühende Leben komme ich allerdings auch nicht gerade rüber. Schnell erledige ich meine Morgentoilette, ziehe mir etwas über und gehe anschließend in die Küche, in der Hoffnung, dass ausreichend Koffein meine Lebensgeister vielleicht wieder etwas auf Vordermann bringen kann.
Ich bin gerade dabei, mir einen Kaffee aus dem Automaten zu lassen, als es an der Tür klingelt. Stirnrunzelnd blicke ich auf mein Handy, es ist kurz vor 12. Schnell wähle ich Moritz Nummer. Er nimmt nach dem zweiten Klingeln ab. „Constantin?“, meldet er sich, als ob er bereits auf meinen Anruf gewartet hätte.
„Stehst Du in diesem Moment bei mir unten vor der Haustür?“, will ich wissen.
„Nein, ich bin zuhause, Nick ist hier und wir frühstücken noch. Warum fragst Du?“
„Okay, dann ist es wohl Sven“, seufze ich.
„Bist Du okay?“, fragt er und ich höre Besorgnis heraus.
„Mach Dir keine Gedanken, mir geht’s gut, ich bin vorhin aufgestanden“, antworte ich.
„Sollen Nick und ich vorbei kommen und Sven in den Arsch treten?“, schlägt er vor.
Ich lache kurz auf. „Nein, geht schon. Ich lass ihn einfach nicht rein.“
„Irgendwann wirst Du mit ihm reden müssen“, gibt Moritz zu bedenken.
„Ich weiß“, seufze ich, „aber nicht heute und auch nicht morgen. Ich möchte ihn einfach noch nicht sehen, zumal ich ohnehin nicht weiß, was ich eigentlich zu ihm sagen soll. Ich fürchte zu etwas anderem als wüsten Beschimpfungen bin ich gegenwärtig einfach nicht fähig.“
„Sven zu beschimpfen hat etwas sehr reizvolles an sich“, erwidert er eine Spur amüsiert.
„Jaja“, antworte ich ironisch. „Du brauchst Dir keine Sorgen machen, ich bin wirklich okay“, wiederhole ich noch einmal. „Ich melde mich, wenn was ist, ja? Hab Dich lieb!“
„Ich hab Dich auch lieb, Süßer. Halt die Ohren steif.“
„Werd ich machen. Richte Deinem Nick schöne Grüße aus.“
Ich höre, wie er mit Nick spricht und dieser ihm auch antwortet. „Danke und Grüße zurück, meint Nick“, kommt es dann auch wenige Augenblicke später wieder an mich gerichtet durch das Telefon.
„Auch danke und Bye“, antworte ich.
Ich warte noch sein „Tschüss“ ab und lege schließlich auf. In der Zwischenzeit hatte es ein weiteres Mal geklingelt, dieses Mal etwas energischer. Ich lege das Handy beiseite und lasse mich auf einen der Küchenstühle sinken. Als es schließlich einige Momente später verhalten am meiner Wohnungstür klopft, halte ich unwillkürlich die Luft an. Das darf doch nicht wahr sein, wer hat den denn reingelassen? Einerseits ärgere ich mich natürlich darüber, andererseits bin ich jedoch erleichtert, dass er doch nicht so schnell aufgegeben hat. Ich werde dennoch nicht mit ihm reden.
Noch einmal das Klopfen, diesmal etwas lauter. „Constantin“, kommt es dumpf von der anderen Seite der Wohnungstür. Es ist eindeutig Svens Stimme. „Ich weiß, dass Du zuhause bist, sei nicht albern und mach die Tür auf. Lass uns reden … bitte!“, fleht er.
Ich schließe die Augen und versuche mucksmäuschenstill zu sein. Ich zwinge mich dazu leise und gleichmäßig zu atmen. Ich schrecke zusammen, als mein Handy zu läuten beginnt. Mist verdammter. Ich gehe niemals ohne Handy aus dem Haus und Sven weiß das. Hektisch werfe ich einen Blick auf das Display, es ist Sven, natürlich und er wird das Klingeln ganz sicher auf der anderen Seite der Tür hören können.
„Verdammt Constantin, mach diese Scheiß-Tür auf, bevor ich sie eintrete!“, kommt es auch tatsächlich kurz danach von jenseits der Tür.
Ich atme ergeben aus, es hilft ja doch nichts, wie Moritz schon sagte, ich muss früher oder später ohnehin mit ihm reden. Und ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob er seine Drohung wahr macht, wenn ich ihn jetzt nicht reinlasse. Körperlich dazu in der Lage ist er allemal. Also erhebe ich mich von meinem Stuhl, trete in den Flur, hole noch einmal tief Luft und öffne schließlich die Wohnungstür.
Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber ein Blick in Svens Gesicht genügt, um zu wissen, dass er genauso aussieht, wie ich mich fühle. Er ist unrasiert, die Augen liegen tief in ihren Höhlen und das Haar, das ihm wirr vom Kopf absteht, verdient noch nicht einmal ansatzweise den Begriff Frisur. Ich schiebe die Tür weiter auf und lasse ihn eintreten. Ich verharre einige Momente mit dem Rücken zu ihm, um mich zu sammeln, bevor ich mich zu ihm umdrehe.
Er steht vor mir und macht den Eindruck, als ob er selbst nicht so richtig weiß, was er nun sagen soll. Beschämt weicht er meinem Blick aus.
„Nun?“, frage ich. Das Herz klopft mir bis zum Hals und ich muss mich daran hindern etwas vollkommen Blödsinniges zu tun, wie ihn zum Beispiel in die Arme zu nehmen, mein Hände tief in seinen Haaren zu vergraben, ihn zu mir herunter zu ziehen und ihn so lange zu küssen, bis ihm und mir schwindelig wird. Ich balle meine Hände zu Fäusten und vergrabe sie tief in meinen Hosentaschen.
Sven ist weniger beherrscht, tritt einen Schritt auf mich zu und streckt die Arme aus. Ich weiche vor ihm zurück und schüttle gleichzeitig den Kopf. „Nein, nicht“, bringe ich krächzend hervor. Ich weiß nicht, ob ich ihm noch widerstehen kann, wenn er erst einmal auf Tuchfühlung gegangen ist.
Sven hält in der Bewegung inne und lässt seine Arme einfach fallen, so dass sie rechts und links an seinem mächtigen Körper herunter baumeln. „Es tut mir so schrecklich leid, Constantin … ich bin ja so ein Idiot“, kommt es leise von ihm. Seine Augen blicken mir traurig entgegen.
Ich presse meine Lippen fest aufeinander, bevor ich antworte: „Tja, Selbsterkenntnis und so …“
„Gibt es eine Chance, dass Du mir jemals verzeihst?“ Er betrachtet eingehend seine Schuhspitzen.
Ich schüttle langsam den Kopf. „Ich weiß es nicht“, gebe ich zu.
„Glaubst Du mir wenigstens, dass es mir wahnsinnig Leid tut und dass ich alles tun würde, um es ungeschehen zu machen?“
Natürlich glaube ich ihm das, aber … „Es spielt keine Rolle, Sven. Natürlich glaube ich Dir, dass es keine Absicht war, aber das ändert doch nichts. Du hast mir wehgetan“, ich zucke mit den Schultern. „Was war ich denn die ganze Zeit für Dich? Deine Hure, bei der Du Dich austoben konntest, während Du die ganze Zeit nur an Deinen Axel gedacht hast?“
Sven zuckt unter meinen Worten merklich zusammen. Er überlegt einige Momente, dann hebt er den Kopf und sieht mich mit gerunzelter Stirn an. „Sei nicht unfair, Con … Du weißt genau, dass es nicht so ist. Außerdem kann man ja nicht gerade behaupten, dass Du nicht auch Deinen Spaß dabei hattest.“
Ich schnaube verächtlich aus. Auch wenn er nicht ganz Unrecht hat, ist es doch nicht das, was ich hören wollte. „Ja sicher“, erwidere ich bitter.
„Oder etwa nicht?“, will er wissen. „Ich weiß nicht, was Du jetzt von mir erwartest, Constantin. Ich mag Dich sehr, das weißt Du. Ich habe mich bei Dir entschuldigt, weil es mir wirklich, wirklich sehr Leid tut. Aber ich weiß nicht, was ich sonst noch tun oder sagen soll. Warum können wir die ganze Geschichte nicht einfach vergessen und so weiter machen, wie bisher?“
Weil ich Dich liebe, Du gottverdammtes Arschloch.
Das möchte ich ihm am liebsten vor den Latz knallen. Ich tue es natürlich nicht, ich bin doch nicht bescheuert und gebe ihm auch noch die Waffe in die Hand, mit der er mich binnen eines Wimpernschlages niederstrecken könnte. Ich schüttle den Kopf. „Das geht nicht, Sven … Du stellst Dir das wirklich ziemlich einfach vor. Wir können nicht einfach weitermachen, als ob nichts gewesen wäre.“
„Aber warum denn nicht? Wir mögen uns doch und das … dieser Ausrutscher, kam doch auch nur zustande, weil ich mich immer noch so schäme für das, was da in Hamburg passiert ist. Ich habe Axel wirklich abgehakt. Ich weiß, dass ich niemals mit ihm zusammen sein kann“, in seiner Stimme klingt eine Spur Verzweiflung mit.
„Du kannst vielleicht nie mit ihm zusammen sein, aber Du bist immer noch in ihn verliebt“, antworte ich leise.
„Nein!“, er wirft seine Arme in die Luft. „Ich … ich weiß es nicht … ich glaube nicht“, stammelt er.
„Dann würde ich vorschlagen, dass Du Dir Gewissheit verschaffst. Und nimm es mir bitte nicht übel, aber ich möchte Dich vorerst nicht mehr sehen“, ich straffe meine Schultern und sehe ihn entschlossen an. Was würde ich dafür geben, wenn ich mich auch tatsächlich so fühlen würde.
„Constantin … nicht, bitte“, fleht er.
Ich schließe schnell meine Augen. Ich ertrage es kaum, ihn so betteln zu sehen und merke, dass meine ohnehin kaum vorhandene Entschlossenheit bedrohlich zu bröckeln beginnt. „Es geht nicht, Sven“, erkläre ich kopfschüttelnd.
„Kannst Du, oder willst Du mir nicht verzeihen?“, fragt er irgendwann und sieht mich mit diesem Ausdruck in den Augen an, dem ich noch nie widerstehen konnte.
„Das hat nichts mit verzeihen zu tun … es geht einfach nicht“, langsam gehen mir die Argumente aus und wenn er mich weiterhin mit diesem treuen Dackelblick ansieht, fürchte ich, werde ich kippen.
Er kommt langsam auf mich zu. Panisch weiche ich nach hinten aus.
„Warum?“, flüstert er.
„Weil“, mein Kopf ist wie leer gefegt, mir mag einfach nichts mehr einfallen. Wie denn auch, wenn er mir derart auf die Pelle rückt. „Weil“, wiederhole ich und dann habe ich plötzlich diese Idee. Eine Idee, die ebenso bestechend einfach wie einleuchtend ist und bei der ich einfach weiß, dass sie mir Sven auch längerfristig wird vom Hals halten können. Obendrein ist sie natürlich auch eine fette Lüge, aber das weiß er ja nicht: „Weil ich jemanden kennengelernt habe!“
Habe ich das richtig verstanden? Hat Constantin mir gerade wirklich erzählt, dass er jemanden kennengelernt hätte? Ich fühle mich, als hätte mir ein Brauereigaul einen heftigen Tritt in den Magen verpasst.
„Du“, ich räuspere mich kurz, „Du hast einen Freund?“, ungläubig blicke ich ihm entgegen.
„Und wenn?“, fast schon trotzig reckt er sein Kinn in die Höhe.
„Wie und wenn? Warum hast Du mir nichts davon gesagt?“ Ich fasse es einfach nicht. Was soll der Scheiß?
„Wir kennen uns eben noch nicht so lange. Ich habe ihn erst vor ein paar Wochen kennengelernt. Und um ihn meinen Freund nennen zu können, ist alles noch viel zu frisch“, erklärt er. „Und überhaupt, seit wann bin ich Dir gegenüber Rechenschaft schuldig, mit wem ich ficke?“
Das Atmen fällt mir plötzlich unendlich schwer. Es ist gerade so, als ob mir irgendetwas den Brustkorb umklammert und kräftig zudrückt. Der Raum beginnt sich zu drehen, mir wird kotzschlecht und ich kneife für einen kurzen Moment ganz fest meine brennenden Augen zu. Andernfalls würde ich vermutlich umkippen, wie ein gefällter Baum.
„Kenne ich ihn?“, frage ich irgendwann, als ich wieder einigermaßen normal atmen kann. Ich muss mich anstrengen, um möglichst unbeteiligt zu wirken.
Constantin schüttelt den Kopf. „Nein, ich denke nicht.“
„Wie heißt er denn?“, will ich wissen.
„Sven, es ist doch völlig egal wie er heißt“, erwidert er ausweichend.
„Ich möchte es trotzdem gerne wissen“, beharre ich. Vielleicht kann ich es ja besser akzeptieren, wenn ich erst mal weiß, wer der Kerl überhaupt ist.
Constantin schüttelt den Kopf und richtet seinen Blick auf seine Schuhspitzen. Dann zieht er die Schultern hoch, als ob er frieren würde, wippt einmal kurz mit den Füßen nach vorn und meint: „Also gut. Nick, sein Name ist Nick.“
„Und wo habt ihr euch kennengelernt?“ Verdammt, muss ich ihm denn wirklich jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen?
„Im … im alten Schlachthof“, antwortet er.
„Du warst in nem Hetenschuppen?“, will ich erstaunt wissen.
„Naja, eigentlich habe ich Moritz begleitet“, er zuckt mit dem Schultern.
„Und was hatte dieser … Nick dort zu suchen?“ Ich muss mich wirklich sehr beherrschen, um ihm den Namen nicht einfach vor die Füße zu spucken. Ich hasse den Kerl jetzt schon, obwohl ich ihn noch nicht einmal gesehen habe.
Wieder zuckt Constantin nur mit den Schultern. „Er ist da aufgetreten.“
„Aufgetreten?“, echoe ich.
Er rollt ungeduldig mit den Augen. „Ja verdammt, aufgetreten. Er spielt als Schlagzeuger in ner Band, zufrieden?“
Nein, ich bin ganz und gar nicht zufrieden. Ich bin … was weiß ich, wütend? Enttäuscht? Verletzt? Alles zusammen? Ich will einfach nicht, dass Constantin mit einem anderen Kerl zusammen ist. Zumal ich mir die ganze Zeit den Kopf darüber zermartere, wie ich wieder gut machen kann, was ich getan habe. Und dann knallt er mir einfach so vor den Latz, dass er zwar verletzt ist, das aber gar nicht der Grund sei, warum er mich nicht mehr sehen will. Hallo?
„Ich krieche hier zu Kreuze und breche mir fast einen ab dabei, weil ich es nicht ertragen kann, dass Du böse mit mir bist wegen dieser Geschichte und das ist gar nicht der Grund, warum Du mich nicht mehr sehen möchtest? Warum zum Geier hast Du überhaupt so einen Terz drum gemacht?“ Meine Stimme wird immer lauter und ich weiß im Moment wirklich nicht, ob ich lachen oder heulen soll.
„Sag mal geht’s noch? Du hast ja wohl kaum einen Grund, sauer auf mich zu sein“, blafft er mir entgegen. „Weißt Du was Sven? Geh einfach. Halte Dich zukünftig aus meinem Leben raus. Ruf mich nicht mehr an, komm nicht mehr her. Du findest sicher von alleine raus!“, kopfschüttelnd wendet er sich von mir ab, geht in sein Schlafzimmer und wirft die Tür hinter sich zu. Und ich … ich stehe wie ein begossener Pudel mitten in seiner Diele und habe die allergrößte Mühe nicht heulend zusammenzubrechen. Ich habe keine Ahnung, was hier gerade wirklich passiert ist, aber mich lässt das furchtbare Gefühl nicht los, dass ich nicht nur einen sehr guten Freund und Geliebten, sondern noch sehr viel mehr verloren habe.
*
Mir fällt die Decke auf den Kopf. Seit geschlagenen zwei Wochen kann ich an nichts anderes mehr denken, als an Constantin und daran, wie sehr ich ihn vermisse. Es gab zwar auch vorher schon größere Abstände zwischen unseren Treffen, einmal sogar fast zwei Monate, aber das lässt sich in keinster Weise mit meinem jetzigen Zustand vergleichen. Früher wusste ich ja, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis ich Constantin wieder sehen würde. Heute muss ich befürchten, dass ich ihm niemals wieder so nahe kommen werde, wie ich es eigentlich möchte … und damit meine ich noch nicht einmal den Sex. Natürlich fehlt mir das auch, aber vor allem fehlt mir Constantin … alles an ihm, am allermeisten jedoch sein Lachen. Ich vermisse es sogar, mit ihm seinen Lieblingsfilm zu schauen, obwohl ich ‚Jenseits von Afrika‘ schon so viele Male mit ihm angucken musste, dass er mir zum Hals heraus hängt. Im Moment könnte ich mir allerdings nichts Schöneres vorstellen, als mit ihm zusammen auf seinem Sofa zu Kuscheln und zum bestimmt 20. Mal genau diesen Film anzuschauen.
Auch wenn es mir unendlich schwer gefallen ist, habe ich ihn die vergangenen Tage in Ruhe gelassen … naja, fast zumindest, die 2-3 SMS, die ich ihm geschrieben habe, sind kaum erwähnenswert. Eine Antwort darauf habe ich nicht erhalten. Ich habe es auch nicht wirklich erwartet … gehofft natürlich, aber nicht erwartet. Auch wenn ihr mich für einen Idioten haltet, was ich vermutlich auch bin, weiß ich doch, wann ich verloren habe. Jetzt muss das nur noch mein Herz kapieren. Ich hoffe, es lässt sich nicht so lange Zeit damit. Mein Kopf ist sich zumindest mit meinem Körper einig: eine Ablenkung muss her. Und genau diese hoffe ich hier, an diesem Ort zu finden. Ich gehe auf die Menschenansammlung zu, die sich direkt vor dem Eingang vom Pure gebildet hat. Vor etlichen Jahren war das hier eine ganz normale Heten-Disco, die sich von den Hitech-Clubs dadurch positiv hervorhob, dass sie sich ihr fast schon ländliches Flair erhalten hat. Davon ist heutzutage allerdings kaum mehr etwas übrig. Lediglich die Fassade erinnert noch an die alten Zeiten. Selbst der Pächter ist nicht mehr der gleiche. Vor gut 5 Jahren hat eine stadtbekannte Größe in der Szene den Laden übernommen. Seither ist man hier eher unter sich, wenn ihr versteht, was ich meine. Dann und wann verirren sich ein paar Ortsfremde hierher, sind jedoch bald schon wie die geölten Blitze verschwunden, wenn sie erkennen, dass sie hier willige Frauen vergeblich suchen.
Obwohl ich eher selten hierher komme, man mich also nicht unbedingt gut kennt, winkt mich einer der Türsteher weiter, ohne auch nur einen Blick auf meinen Ausweis zu werfen. Man sieht mir an, dass ich schon lange keine 21 mehr bin und heute ganz besonders. Ich bezahle meinen Eintritt und lasse mir einen Stempel auf den Handrücken drücken, dann trete ich ins Heiligtum.
Rechts vom Eingang um die Ecke, befindet sich eine riesige runde Bar, an der um diese Uhrzeit kaum noch ein freies Plätzchen auszumachen ist. Geradeaus erstreckt sich eine weitläufige Tanzfläche, die vollgestopft ist mit sich im Stroboskoplicht wabernden, teils bis zur Hüfte unbekleideten Männerleibern. Dahinter das Mischpult des DJs, der für die entsprechende akustische Unterhaltung sorgt: laut, schnell, aufpeitschend ... daneben eine unscheinbare Tür, hinter der es allerdings alles andere als unschuldig zugeht. Der Geruch von Alkohol, Schweiß und Sex liegt in der Luft, der mir fast den Atem verschlägt. Dennoch schließe ich meine Augen und sauge ihn tief ein. Irgendjemand umschlingt mein Handgelenk und zieht mich in die tanzende Menge. Ich mache mir nicht die Mühe, mich zu wehren, oder gar zu schauen, wessen Hand mich unermüdlich mit sich zieht. Ich folge, einer Marionette gleich, und lasse mich tatsächlich von der ganzen Atmosphäre anstecken. Ich beginne mich im Rhythmus des lauten Beats zu bewegen. Hände stehlen sich unter mein Shirt und streichen meinen Bauch entlang, weiter nach oben zu meiner Brust. Ich höre eine genüssliches „Hmmm“, hebe die Arme und lasse mir das Shirt über den Kopf ziehen. Sekunden oder auch Lichtjahre später … ich habe jegliches Zeitgefühl verloren, presst sich von hinten ein Körper gegen mich. Ob versehentlich oder absichtlich, kann ich nicht ausmachen. Ich blicke auf die Rückansicht des Kerls, der mich auf die Tanzfläche gezogen hat. Sein Hintern reibt lasziv über meinen Schritt und ich keuche kurz auf. Ich lege meine Hände auf seine Hüften und drücke ihn noch etwas fester an mich. Ich bin zwar nicht wirklich hart, aber zumindest ein winziger Teil meines Blutes hat sich schon in meinem Erdgeschoss gesammelt. Himmel ja, ich bin schließlich auch nur ein Kerl … und wenn mir jemand so auf dem Schwanz rumrutscht, wie der Kleine da gerade ... Außerdem bin ich doch genau deswegen hier, nicht wahr? Zu vergessen … und meiner Libido, vor allem jedoch meinem Herzen beizubringen, dass auch noch andere Mütter hübsche Söhne haben.
Er dreht den Kopf nach hinten und sieht mich über die Schulter hinweg grinsend an. Er ist hübsch, mit dunklen, kurzen Haaren, frech ins Gesicht frisiert … und mit einem kleinen Kinnbärtchen. Seine grünen Augen funkeln verschmitzt. Man sieht ihm deutlich an, dass ihm der Schalk im Nacken sitzt, und auch, dass er für gewöhnlich bekommt, was er möchte. Und das wäre wohl heute ich. Mir soll es recht sein, je eher, je besser. Dann deutet er mit dem Kopf auf jene unscheinbare Tür am Rande der Tanzfläche. Ein wissender Blick, dann ein kurzes Nicken und wir setzen uns in Bewegung.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich einen Darkroom betrete, mir bleibt dennoch im ersten Moment die Spucke weg. Der Geruch von Schweiß und Sex ist so intensiv, dass mir beinahe schwindelig wird. Es ist gerade hell genug, um nicht über seine eigenen Füße zu stolpern. Auf Mobiliar wurde weitestgehend verzichtet. Wände und Fußboden scheinen aus einem abwaschbaren Material zu bestehen, ich kann jedoch in der Dunkelheit nicht genau erkennen, worum es sich dabei handelt … Paneelen, Fliesen, oder irgendwas dergleichen, was weiß ich, ist ja auch vollkommen egal. Der Raum ist gut besucht und aus allen Ecken vernehme ich verhaltene und weniger verhaltene Geräusche. Mein Begleiter bugsiert mich an eine freie Stelle an der Wand, drückt mich dagegen und verschwindet sofort eine Etage tiefer. In der gleichen Sekunde fühle ich seine Hände an meinem Hosenbund. Er öffnet den Reißverschluss, schiebt meinen Slip nach unten und befreit meine Körpermitte.
Ich vernehme einen zischenden Laut und die Frage: „Gott, wird der etwa noch größer?“
„Mhm“, bestätige ich, schließe die Augen und lehne meinen Hinterkopf an die Wand.
Der Kleine gibt sich wirklich große Mühe. Er leckt, saugt, knabbert … aber nichts davon scheint mich der erhofften Erlösung näher zu bringen. Alleine der Gedanke daran, dass das da unten nicht Constantin ist, reicht aus, dass ich trotz der wirklich guten Behandlung, noch nicht einmal richtig steif werde.
Oh Gott, ich vermisse Constantin so sehr, dass es beinahe körperlich weh tut. Was habe ich Vollpfosten nur getan … Constantin ist das Beste, das mir in meinem Leben passiert ist und was treibe ich? Ich jage einem Gehirngespinst hinterher ohne das zu erkennen, was da die ganze Zeit direkt vor meiner Nase war. Und jetzt ist es zu spät. Oh Constantin. Constantin. Constantin … Es war die ganze Zeit nur Constantin und ich war zu blind, um es zu erkennen.
„Heilige Scheiße“, vernehme ich es wage von weiter unten … alles krampft sich in mir zusammen und dann kommt die Erlösung.
Schwer atmend kneife ich die Augen zusammen und drücke meinen Hinterkopf an die Wand. Es dauert eine Weile, bis ich registriere, wo ich gerade bin. Das erlösende Gefühl, das ich eben noch hatte, ist schlagartig vorbei und ich fühle mich mieser als vorher. Meine Augen beginnen zu brennen und ich habe Mühe meine Tränen zurückzuhalten. Ich fahre einmal mit beiden Händen über mein Gesicht und wage einen kurzen Blick auf meinen Begleiter. Er rupft ein Papierhandtuch aus einem der Papierspender und wischt seine Hände ab. Dann sieht er mich mit gerunzelter Stirn an. Irgendwie schäme ich mich gerade in Grund und Boden. Nicht nur wegen dem Kerl vor mir, ich habe gleichzeitig auch das völlig bescheuerte Gefühl, Constantin betrogen zu haben.
Ich bin wenigstens noch so geistesgegenwärtig, um zu erkennen, dass mein heutiger Gegenpart noch nicht auf seine Kosten gekommen ist. „Soll ich …?“, frage ich dümmlich.
Er winkt jedoch ab: „Ne Du, lass mal“, er rückt noch schnell seine Hose etwas zurecht, drückt mir mein Shirt in die Hand und dreht mir nach einem kurzen Abschiedsgruß den Rücken zu. Dann hält er aber noch einmal inne und dreht sich zu mir um. „Ehmm … eins vielleicht noch, falls wir je wieder das … Vergnügung miteinander haben sollten, was ich allerdings stark bezweifle. Mein Name ist André, nicht Constantin, Kumpel“, meint er mit einem schiefen Grinsen um die Mundwinkel, klopft mir noch einmal kurz auf die Schulter und ist dann verschwunden.
*
Ich habe die vergangene Nacht kaum ein Auge zugebracht. Es ist mir schon wieder passiert. Dieser André hat zwar erstaunlich gelassen reagiert, aber dadurch habe ich mich nur noch mieser gefühlt. Was ist denn nur los mit mir? Warum mache ich so einen Scheiß? Am besten, ich lasse das Ficken in Zukunft einfach bleiben. Selbst dafür scheine ich im Moment ja zu dämlich zu sein. Ich bin so wütend auf mich selbst, dass die Vorstellung mit dem Kopf voraus auf eine Wand zuzurennen, erstaunlich reizvoll erscheint. Ich setze mich auf und starre auf den Wecker. 9 Uhr in der Früh … an Schlaf ist ohnehin nicht mehr zu denken, also stehe ich auf und verlasse mein Zimmer. Gähnend greife ich nach der Klinke der Badezimmertür. Bevor ich die Tür jedoch öffnen kann, wird sie von Innen aufgerissen und ich sehe mich einem unbekannten Jugendlichen gegenüber. Einem männlichen Jugendlichen, wohlbemerkt! Hochgewachsen mit dürftig sprießendem Bart, langen Haaren und einem Piercing in der Augenbraue.
„Moin“, schmettert er mir munter und gut gelaunt entgegen. „Bin schon weg, kannst rein“, ergänzt er noch und ist im nächsten Augenblick an der Haustür. Wie im Trickfilm gaffe ich ihm ungläubig hinterher, nehme wie durch einen Schleier wahr, dass er Rike in eine enge Umarmung zieht. Sie reckt sich ihm auch noch entgegen und frisst ihn fast auf dabei! Er drück ihr noch einen Kuss auf den kirschroten Mund und verabschiedet sich mit den Worten: „Bis später, Schnecke.“ Sie steht da übrigens nur im knappen Höschen und kurzen Hemdchen, hat also quasi ein nichts am Leib.
„Mach den Mund wieder zu, Sven“, spottet mir meine kleine Schwester entgegen und bewegt sich Richtung Küche. Ich folge ihr, bleibe dann allerdings im Türrahmen stehen und sehe ihr zu, wie sie nach der Kaffeekanne greift.
„Wer war das denn? Hat der etwa hier geschlafen?“, will ich mit zusammengekniffenen Augen wissen.
„Es geht Dich zwar nichts an, aber das war Ali und ja, er hat hier geschlafen!“, erwidert sie amüsiert.
„Aber doch wohl nicht in Deinem Bett?“, ich habe die größte Mühe meine Stimme nicht allzu hysterisch klingen zu lassen.
„Wo denn sonst? Und da das Deine nächste Frage sein wird: ja, wir hatten Sex, sogar mehrmals!“, sie streckt kampflustig ihr Kinn nach oben und sieht mich herausfordernd an.
Ich schnappe nach Luft und schüttle den Kopf. Dieser Typ hat meine Schwester … Meine Miene verfinstert sich und die Kiefer mahlen aufeinander. „Dieser Scheißer hat Dich doch zu nichts gezwungen, oder? Mensch Rike, bist Du dafür nicht noch etwas … zu jung?“
„Jetzt piss Dir mal nicht gleich ins Hemd … ich kann ganz gut auf mich alleine aufpassen. Und er musste mich wirklich zu nichts zwingen … eher umgekehrt“, sie nagt auf ihrer Unterlippe herum. „Und außerdem … ich werde ja bald 17! Und eine Jungfrau bin ich übrigens schon seit über einem Jahr nicht mehr.“
„Wie bitte?“, meinte Stimme überschlägt sich fast. „Dein 17. Geburtstag ist ja wohl noch ein paar Monate hin! Und Du hast schon … mit 15. Himmel Rike!“ Was denkt die denn? Sie ist immer noch meine kleine Schwester.
„Oh Mann, jetzt sei mal nicht so furchtbar kleinlich. Ich bin alt genug, ich weiß schon, was ich tue, klar?“
Ich soll nicht kleinlich sein? Ich wusste ja die ganze Zeit über, dass irgendwann mal dieser Zeitpunkt kommen würde … aber ich dachte, so in 3 oder 4 … oder 10 Jahren. Es gibt einige Dinge, über die möchte man einfach nicht nachdenken und dazu gehört, dass sich die eigene Schwester, die man immer noch als ein kleines Mädchen ansieht, zu einer jungen Frau gemausert hat. Zu einer wunderschönen obendrein. Ich wische mit beiden Händen über mein Gesicht, atme laut aus und wende mich wieder Rike zu. „Habt ihr wenigstens verhütet?“, frage ich. Ich glaube von dem Schock erhole ich mich nicht so schnell wieder.
„Gott Sven, was für eine dämlich Frage. Ich habe einen schwulen Bruder, für den zählen Gummis zur Grundausstattung … also ja, wir haben natürlich verhütet!“, antwortet sie schon fast ein wenig patzig. Sie holt Luft und stößt sie seufzend wieder aus. „Ehrlich, mach Dir mal keine Gedanken um mein Liebesleben. Kehr lieber mal vor Deiner eigenen Tür“, sie hebt eine Augenbraue und sieht mich abschätzend an.
„Was? Wieso? Bei mir ist alles in Butter, keine Sorge“, antworte ich.
„Japp, klar … deswegen rennst Du auch seit Tagen mit diesem verkniffenen Gesichtsausdruck herum … und … Herr Schilling wirkt auch nicht gerade wie das blühende Leben.“ Sie hat im Moment sehr viel Ähnlichkeit mit einem Raubtier, sie lauert geradezu.
Mir wird abwechselnd kalt und heiß. Wie um Himmels Willen kann Sie denn überhaupt davon wissen? Wir waren doch immer diskret, Constantin hat niemals hier angerufen, es sei denn, es hatte etwas mit der Schule zu tun. Wenn wir uns getroffen haben, dann immer nur bei ihm, um eben genau das hier zu vermeiden. Ich habe keinen Schimmer, womit wir uns verraten haben könnten.
„Was“, ich muss mich kurz räuspern. „Was hat denn Dein Lehrer mit meinem Liebesleben zu tun?“, stelle ich mich dumm.
Rike rollt übertrieben mit ihren Augen. „Pft“, macht sie. „Oh man Sven, Du musst mich ja für komplett dämlich halten. Ich bin doch nicht auf der Fischsuppe dahergeschwommen. Zwischen euch läuft was und zwar schon ganz schön lange.“
„Wie kommst Du denn auf einen solchen Schwachsinn?“
„Hallo? Also ich müsste schon blind wie ein Maulwurf sein, um es nicht zu merken. Du bist mein Bruder … ich kenne Dich nicht erst seit gestern. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ihr euch regelmäßig trefft und ihr werdet da auch hundert pro nicht nur keusch Händchenhalten.“
„Rike!“, rufe ich entsetzt aus.
„Was denn? Habe ich etwa unrecht? Jetzt guck mich nicht so entgeistert an … ich bin kein kleines Kind mehr, ich weiß durchaus, wie Sex funktioniert … auch bei schwulen Paaren, zumindest in der Theorie. Und keine Angst, ich bekomm bei dem Gedanken daran, dass mein Bruder mit 'nem anderen Kerl Spaß hat, schon keinen Dachschaden.“
Das Gespräch geht in eine Richtung, die mir so überhaupt nicht gefällt. Ich hätte niemals gedacht, dass sie es weiß. Constantin ist zwar nicht mehr Rikes Klassenlehrer, aber sie laufen sich dennoch oft genug in der Schule über den Weg. Ich lasse mich seufzend auf einen Küchenstuhl fallen. „Genau das wollten wir eigentlich immer vermeiden. Zumindest solange Du noch zur Schule gehst.“
„Jetzt scheiß Dich mal nicht ein, ich gehe schon nicht damit hausieren. Außerdem ahnt doch eh die halbe Schule, dass Constantin schwul ist.“
„Für Dich immer noch Herr Schilling! Ich warne Dich, Du nennst ihn unter keinen Umständen bei seinem Vornamen. Verdammt Rike, Du sollst ihn als Deinen Lehrer sehen, nicht als meinen … was auch immer. Es könnte unter Umständen recht unangenehm für ihn werden, wenn das rauskommt.“
„Ach Sven, hältst Du mich denn wirklich für eine derartige Klatschtante? Ich mag ihn doch, egal, ob ihr was miteinander habt oder nicht. Alle mögen ihn, er ist nicht umsonst seit zwei Jahren unser Vertrauenslehrer“, sie wirkt fast ein wenig beleidigt.
„Es tut mir leid, natürlich weiß ich, dass Du niemals etwas sagen würdest“, entschuldigend sehe ich sie an.
Sie grummelt etwas, das ich nicht verstehe und setzt dann deutlicher nach: „Okay, angenommen … Aber was immer da gerade schief läuft bei euch beiden: bring es wieder in Ordnung!“
„Da ist nichts“, antworte ich. „Wir hatten nur eine kleine Meinungsverschiedenheit.“
„Ja, ne, is klar … deswegen läufst Du auch seit Tagen rum, als hätte es Dir die Ernte verhagelt und mit ihm stimmt auch irgendwas nicht. Eine kleine Meinungsverschiedenheit war das garantiert nicht!“
„Und selbst wenn, wie kannst Du Dir so sicher sein, dass ich der Grund dafür bin?“
„Ahm, weil ich Dich kenne? Du lässt doch kein Fettnäpfchen aus. Zielsicher findest Du jedes, und sei es noch so gut versteckt!“
Damit liegt sie wohl nicht wirklich daneben. Allerdings beschäftigt mich gerade etwas ganz anderes: „Was ist mit ihm?“
„Weiß nicht …“, sie zuckt mit den Schultern. „Uns gegenüber benimmt er sich eigentlich wie immer, aber … er sieht erschöpft und abgeschlagen aus. Bei jedem anderen würde ich sagen, dass er einfach mal wieder eine Mütze voll Schlaf vertragen könnte, aber er wirkt auf mich eher, als … ja, als ob er Kummer hätte. Und Sven, ich werde das Gefühl nicht los, dass es etwas mit Dir zu tun hat.“
Ich schüttle langsam den Kopf. „Ja, wir haben uns gestritten und ja es ist meine Schuld … aber Constantin hat mir ziemlich unmissverständlich klar gemacht, dass er mich nicht mehr sehen möchte, weil … weil er jemanden kennengelernt hat.“
*
Unschlüssig stehe ich im geöffneten Türrahmen. Ich denke schon seit geraumer Zeit darüber nach, dieses Gespräch zu führen. Ich habe einfach das Gefühl es tun zu müssen, um ein für alle Mal damit abschließen zu können. Axel hat mich noch nicht bemerkt. Er beugt sich über ein Mainboard und schraubt an der Halterung für einen Prozessor herum. Die drei Wochen Urlaub haben ihm wirklich gut getan. Er sieht frisch und erholt aus, und braungebrannt … und … wie immer absolut umwerfend. Das Haar trägt er seit Weihnachten länger und erst jetzt bemerkt man, dass er eigentlich ziemlich süße Locken hat. Im Nacken, da wo das Haar durch die neue Länge jetzt leicht aufsteht, ringelt es sich sogar ein bisschen. Er hat es sich zwar aus dem Gesicht gekämmt, eine vorwitzige Strähne hängt ihm dennoch in der Stirn. Auch die Koteletten sind länger. Neu ist auch der Bart an Kinn und Oberlippe. Alles in allem erscheint er mir irgendwie männlicher, vielleicht gerade durch den Bart. Vor einigen Wochen noch, wäre ich von dem Anblick überwältigt gewesen. Kalt lässt er mich auch heute nicht, jedoch auf eine ganz andere Weise. Ich straffe meine Schultern und klopfe kurz an die geöffnete Tür, um ihn nicht zu erschrecken, dann trete ich ein.
„Hi Axel“, begrüße ich ihn.
Er schaut auf und ein feines Lächeln umspielt seine Lippen. „Sven, hallo“, antwortet er.
„Na, wie schmeckt Dir die Arbeit nach drei Wochen flittern wieder.“ Innerlich verdrehe ich über mich selbst die Augen, ich bin heute ja mal wieder wahnsinnig geistreich.
Er lacht leise. „Ich konnte es kaum erwarten! Was ist schon ein Sandstrand im Sonnenstaat Florida gegen einen Rechner, der zusammen gebaut werden möchte?“, das Lachen wird zu einem Grinsen, dann ergänzt er: „Ich hätte nichts dagegen gehabt, noch 2-3 Wochen dran zu hängen.“
„Dann erübrigt sich wohl die Frage, ob es schön war?“
„Es war sehr schön“, antwortet er, „auch wenn wir eigentlich doch recht ungünstig gestartet sind“, er lacht kurz auf.
„Was ist passiert?“, will ich wissen.
„Naja, wir mussten auf dem Hinflug in Chicago in einen anderen Flieger steigen. Beim Verladen des Gepäcks ist dem Flughafen aber ein kleines Malheur passiert, denn als wir in Miami ankamen, waren unsere Koffer in Denver. Den ersten Tag unserer Flitterwochen haben wir also nicht am Strand in der Sonne verbracht, sondern in verschiedenem Malls, um uns neu einzukleiden“, Axel zieht eine leichte Grimasse, grinst jedoch kurz darauf wieder. „Rat mal, wann wir unsere Koffer zurückbekommen haben.“
Ich zucke mit den Schultern: „Keine Ahnung.“
„Zwei Tage, bevor wir zurück geflogen sind. Wir hatten schon die Hoffnung aufgegeben, dass wir sie jemals wiedersehen würden.“
„Na dann hat sich das Shopping ja wenigstens gelohnt“, grinse ich. „Habt ihr denn wenigstens etwas unternommen, oder seid ihr den ganzen Urlaub über nicht mehr aus dem Hotelzimmer gekommen?“
„Ich gebe zu, der Gedanke an 3 Wochen Manuel und ich alleine in einem Hotelzimmer war sehr verlockend“, antwortet er verschmitzt, „aber wir haben natürlich Florida unsicher gemacht. Es war wirklich sehr schön … aber auch etwas seltsam, an Orten zu stehen, die man bisher nur aus Film und Fernsehen kannte. Wenn Du irgendwann einmal in Erwägung ziehen solltest, dort Urlaub zu machen, musst Du Dich unbedingt in eines dieser Airboats setzen und durch die Everglades düsen. Du bist anschließend zwar taub, aber es lohnt sich“, er strahlt wie ein kleiner Junge an Weihnachten, dem sein größter Wunsch erfüllt worden war.
„Gibt’s da nicht Krokodile?“, frage ich.
„Alligatoren sind das. Die schmecken übrigens gar nicht schlecht. Ein bisschen wie Hühnchen“, erklärt er.
„Ihr habt die gegessen?“ Ich sehe ihn entsetzt an.
„Naja, mal probiert eben. Wenn ich schon einmal in einem fremden Land unterwegs bin, möchte ich auch die einheimische Küche kennenlernen. Schnitzel mit Pommes und Salat kann ich auch zuhause haben“, antwortet er amüsiert.
„Trotzdem, ausgerechnet Krokodil?“ Ich schüttle mich.
„Alligator“, verbessert er mich.
„Dann eben Alligator, ich könnte mir aber trotzdem nicht vorstellen, so etwas zu essen“, angeekelt verziehe ich das Gesicht.
„Musst Du ja auch nicht“, er zuckt mit den Achseln.
„Zum Glück“, grinse ich. Es entsteht eine Pause und ich trete von einem Bein auf das andere. „Wie heißt Du jetzt eigentlich?“, frage ich schließlich. Wenn ich mich recht entsinne, waren sich Axel und Manuel selbst kurz vor der Hochzeit noch nicht so richtig einig, wie ihr zukünftiger Nachname lauten sollte.
„Fischer“, antwortet er. „Erst hatten wir uns überlegt, ob einfach jeder seinen Namen behält, es wäre einfacher gewesen, nichts hätte umgeschrieben werden müssen. Aber …“, er lächelt versonnen, „aber wir wollten einen gemeinsamen Nachnamen haben. Und da wir uns nicht entscheiden konnten, ob wir nun Fischer oder Becker heißen wollen, haben wir eine Münze geworfen.“
„Das muss wahre Liebe sein“, witzle ich.
„Ja, das ist es“, antwortet er leise. Er lächelt, wie nur er es kann und insgeheim warte ich auf den Schmerz, doch da ist keiner. Ich fühle noch nicht einmal ein leises Stechen. Im Gegenteil, ich freue mich für Axel … und auch für Manuel.
Axel räuspert sich kurz und meint dann: „Und wie geht es Dir?“
Ich ziehe meine Schultern nach oben. „Könnte besser gehen, aber ich komm schon klar“, gebe ich zu.
„Aber doch nicht immer noch wegen …“ Auch wenn er es nicht ausspricht, weiß ich, worauf er hinaus möchte.
„Nein“, ich lächle ihn beruhigend an. „Es ist wegen …“ Ich stutze … was tue ich hier eigentlich gerade? Ich bin doch nicht etwa dabei, Axel mein Herz auszuschütten. „Hör mal, mir tut das alles wirklich wahnsinnig leid. Ich habe tierisch Mist gebaut … nicht nur die Sache mit Dir …“
„Ich könnte mir zwar vorstellen, dass ich einer der letzten bin, mit denen Du über irgendwelchen Gefühlskram reden möchtest … aber ich höre Dir gerne zu, wenn Du es möchtest. Und ich kann Dir versprechen, dass ich es nicht gleich im ganzen Betrieb herumtratschen werde.“
Ich lächle. „Weiß ich doch, und ich bin Dir sehr dankbar dafür. Aber …“, ich halte kurz inne und überlege … vielleicht: „ach verdammt, vielleicht täte es mir doch ganz gut, wenn ich mit jemand darüber reden könnte, der Constantin nicht kennt. Ich denke, ich bräuchte einfach mal eine objektive Meinung“, seufze ich.
„Okay, folgender Vorschlag: ich wollte eh in einer halben Stunde Pause machen. Was hältst Du davon, wenn ich die Pause vorziehe und wir uns runter in die Kantine setzen?“
Ich musste nicht lange überlegen und habe sofort zugesagt. Und nun sitzen wir hier. Axel hat mir geduldig zugehört. Ich habe ihm die Wahrheit erzählt, wirklich die ganze Wahrheit. Und es hat mir tatsächlich ziemlich gut getan, auch wenn es mir zwischendurch hochnotpeinlich war. „Und jetzt will er mich nicht mehr sehen. Wer will es ihm verdenken.“
„Dass Du nicht gerade ein Glanzstück abgeliefert hast, wirst Du selbst wissen. Aber ich höre auch heraus, dass er Dir sehr viel bedeutet, oder?“ Axel hat seinen Kopf auf eine Hand gestützt und mustert mich.
Ich nicke. „Ja, das tut er. Ich fasse es einfach nicht, dass ich die ganze Zeit über … ich bin so ein Idiot … und ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich jetzt tun soll“, verzweifelt fahre ich mir mit beiden Händen über das Gesicht.
„Das weiß ich zwar auch nicht, aber ich könnte Dir sagen, was ich tun würde“, sagt er eine Weile später.
„Nur zu, ich bin für alles offen“, ich deute mit beiden Händen in seine Richtung.
„Beobachte“, schlägt er vor.
„Wie?“ Verständnislos schüttle ich leicht den Kopf.
„Zuerst einmal finde heraus, wann Du Constantin und diesen Nick zusammen antreffen könntest. Man findet sehr viel über jemanden heraus, wenn man seine Körpersprache studiert“, erklärt er mir.
„Ist das irgend so ein Psychoscheiß?“, frage ich skeptisch.
Axel lacht leise. „Nein, ich würde es einfach … hm“, er zuckt kurz mit den Achseln, „Beobachtungsgabe nennen. Wenn Du siehst, wie sie miteinander umgehen, weißt Du auch, wie sie zueinander stehen und ob Du vielleicht doch noch eine Chance bei Constantin haben könntest.“
„Auf meine Beobachtungsgabe gebe ich einen Hundefurz. Sieh, was sie mir bisher eingebracht hat“, ich sehe ihn entschuldigend an.
„Ach Sven, in mir hast Du gesehen, was Du sehen wolltest“, meint er.
Wahrscheinlich hat er damit gar nicht mal so unrecht. Vielleicht lag es bisher ja tatsächlich daran, dass ich nicht genau genug hingesehen habe. Dass ich einfach nur die Oberfläche betrachtet und mir nicht die Mühe gemacht habe, tiefer zu blicken. Ich sehe Axel eine Weile an, dann lächle ich. „Du bist wundervoll, Axel, weißt Du das? Ein richtiger Pfundskerl. Du bist so verdammt nett und liebenswert, sogar zu mir … und das, obwohl Dir meine dämliche Aktion damals in Hamburg gewiss jede Menge Ärger mit Manuel eingehandelt hat.“
Er errötet und sieht beschämt in seine Tasse. „Mach Dir keine Gedanken, es ist ja nichts passiert …“
„Hey Axel, das muss Dir nicht peinlich sein, ich meine das wirklich völlig … unverliebt. Im Nachhinein bin ich mir sogar gar nicht mehr so sicher, ob ich wirklich in Dich verliebt war oder ob es einfach das war, was Manuel und Du zusammen habt. Ich … ich hätte das auch so gerne, und zwar …. mit Constantin.“
*
Ich habe Axels Rat tatsächlich befolgt. Dazu musste ich allerdings erst einmal in Erfahrung bringen, wie die Band heißt, in der dieser Nick spielt und auch, wann sie das nächste Mal wo auftreten würde. Dabei geholfen hat mir ein Schulfreund von früher, Niels. Wir wurden bereits in der Grundschule in eine gemeinsame Klasse gesteckt … und das hielt an, bis wir mit dem Abitur fertig waren. Danach trennten sich unsere Wege – er hat Journalismus studiert und ich Informatik. Der Kontakt brach zwar nicht vollständig ab, aber unsere Freundschaft ist seither bei weitem nicht mehr so eng, wie sie einmal war. Aber das ist wohl einfach der Lauf der Zeit. Aus den Augen, aus dem Sinn … leider. Jedenfalls war Niels schon immer ein absolutes Recherchegenie, und das kam mir auch dieses Mal wieder zugute. Er hat alles herausgefunden, was ich wissen wollte: Nikolaus Fuchs heißt der Typ, was für ein bescheuerter Name. Die Gruppe schimpft sich ‚Shooting Five‘ und der nächste Auftritt ist heute Abend, im alten Schlachthof. Perfekt.
Als ich so gegen 23 Uhr ankomme, ist das Ding proppenvoll. Ich gehe zunächst an die Bar und hole mir ein Bier, dann quäle ich mich langsam zwischen all den Menschenmassen hindurch zu der Stelle, an der die Band spielt. Immer wieder sehe ich mich um, ob nicht Constantins Schopf irgendwo auftaucht. Fehlanzeige, bislang habe ich ihn noch nicht entdeckt. Ich weiß nicht, ob ich darüber enttäuscht sein soll, oder doch erleichtert. Einerseits bin ich ja hier, um die beiden zusammen zu beobachten, andererseits habe ich aber auch Horror davor. Ich war ja damals schon gebeutelt, als ich Axel und Manuel auf dem Bahnsteig zusammen sehen musste … ich möchte gar nicht darüber nachdenken, wie ich mich fühlen könnte, wenn Constantin und Nick mir deutlich vor Augen führen, wie glücklich sie zusammen sind. Eigentlich ist es doch ausgesprochen dämlich, sich das mit ansehen zu wollen, das ist ja fast so, als würde ich mir selbst in die Eier treten. Ich bleibe dennoch da … und mittlerweile habe ich sogar das niedere Podest erreicht, auf dem die Band ihr ganzes Equipment aufgebaut hat.
Auch wenn ich es nicht gerne zugebe, aber die Jungs sind nicht übel. Und vielseitig scheinen sie auch zu sein. Der Sänger hat sogar eine ziemlich geile Stimme und schmettert im Moment einen Song ins Mikrofon, der ein wenig in Richtung Metal geht. Das hört sich verdammt gut an. Mein Blick allerdings saugt sich am Schlagzeuger fest. Wenn das hier wirklich dieser Nick ist, hab ich ausgeschissen. Schon alleine vom Aussehen her kann ich einpacken, gegen diesen Typ hier, komme ich niemals an.
Auch während der Pause, lasse ich ihn nicht aus den Augen. Nach wie vor fehlt von Constantin jede Spur. Nick scheint bekannt und auch sehr beliebt zu sein. Von allen Seiten wird er angesprochen, von Frauen und Männern gleichermaßen. Ganz Mutige unter ihnen versuchen es sogar mit einem Flirt, doch Nick schenkt ihnen lediglich ein unverbindliches Lächeln und lässt sie ansonsten eiskalt abblitzen. Entweder, es ist einfach nicht seine Art, jemanden bei einem Auftritt abzuschleppen, oder er hat einfach kein Interesse mit jemand anderem zusammen zu sein, weil er … verliebt ist? Wohl ein weiterer Pluspunkt für ihn.
Nach der Pause geht es ebenso weiter, Constantin ist immer noch nirgends und so bleibe auch ich nicht mehr lange, nachdem die Band Feierabend gemacht hat. Ich habe auch keinen Bock mehr. Meine Stimmung war ohnehin nicht die allerbeste, als ich hier angekommen bin, aber jetzt ist sie endgültig im Keller … und mit ihr auch die kleinste Hoffnung, Constantin jemals wieder für mich gewinnen zu können. Dieser Nick – so ungern ich es zugebe – ist ein verflucht attraktiver Kerl. Ich kann es verstehen, dass Constantin lieber mit ihm zusammen ist. Wenn er Nick haben kann, was will er dann mit einer Lusche wie mir. Die Erkenntnis tut verdammt weh und sorgt dafür, dass ich mich noch elender fühle.
Ich trotte antriebslos über den Parkplatz zu meinem Auto, steige ein, lege meine Arme über das Lenkrad und bette mein Gesicht darauf. Mir ist zum Heulen zumute. Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr. Ich vermisse Constantin so sehr, dass es körperlich weh tut. Die ersten Tränen kullern aus meinen Augen. Ich fühle sie auf meinen Unterarmen. Ein gequälter Laut verlässt meine Kehle und ich wische mit beiden Händen über mein Gesicht. Super, Constantin würde sich darüber totlachen, wenn er mitbekäme, wie ich mich hier in meinem Selbstmitleid suhle.
Ich sehe auf und just in diesem Augenblick öffnet sich ein Rolltor und ein schwarzer Transporter verlässt den abgesperrten Innenhof des ehemaligen Schlachthauses. Eine dunkle Gestalt zieht das Tor wieder zu und winkt dem Fahrer zu. Dieser hupt einmal kurz und fährt anschließend gemächlich vom Parkplatz. Ich kneife die Augen zusammen und versuche angestrengt in der Dunkelheit etwas erkennen zu können. Wenn ich mich nicht sehr täusche, ist es dieser Nick, der über den Parkplatz eilt. Mit Argusaugen verfolge ich jede seiner Bewegungen … ja, er ist es tatsächlich. Als ich jedoch sehe, dass er auf einem anderen Mann zugeht, ihn in eine enge Umarmung zeiht, ihn hochhebt und stürmisch küsst, wird mir regelrecht schlecht. Als ich vor Monaten bei dieser Weihnachtsfeier Axel und Manuel zwangsläufig beim Turteln zuschauen musste, war das ein Klacks gegen die Verzweiflung, die jetzt in mir aufsteigt. Ich schließe die Augen und versuche dieses Bild auszublenden, das sich unbarmherzig auf meiner Netzhaut einbrennt. Constantin muss bereits seit einigen Minuten hier auf seinen Freund gewartet haben und ich habe ihn noch nicht einmal bemerkt. Ich hole zitternd Luft und blicke doch wieder zu dem Paar hinüber, das sich immer noch küsst, als ob es kein Morgen mehr gäbe.
Sehnsüchtig verschlingen meine Augen Constantin … es ist über zwei Wochen her, seit ich ihm das letzte Mal gegenüber gestanden bin. Es tut höllisch weh, ihn mit einem anderen Mann zu sehen, dennoch kann ich den Blick nicht abwenden. Meine Gefühle überrollen mich wie eine Flutwelle und ich wimmere gequält. Hilflos muss ich mit ansehen, wie die beiden sich beinahe auffressen und ich kann nicht das Geringste dagegen tun. Ich hatte meine Chance und habe sie vertan. Ich weiß ja, dass ich es selbst verbockt habe und genau diese Erkenntnis ist fast das Schmerzlichste an der ganzen Situation.
Ich starre immer noch auf das Paar. Dann jedoch fällt mir etwas auf und ich stutze. Moment, da stimmt irgendwas nicht. Ich setze mich kerzengerade auf und kneife erneut die Augen zu Schlitzen zusammen. Das … das ist gar nicht Constantin. Keine Ahnung, mit wem dieser Clown da rummacht, aber es ist definitiv nicht Constantin. Das Gesicht kann ich zwar nicht erkennen, aber er kann es einfach nicht sein. Der Typ da vorne ist größer und auch kräftiger … die Haare stimmen auch nicht. Keine Ahnung, warum ich das erst jetzt bemerke. Meine Sehnsucht weicht und hinterlässt eine geradezu blinde Wut, die siedend durch meine Adern strömt. Wegen dieses Penners will Constantin mich nicht mehr sehen, sein Freund jedoch versucht hier gerade auf einem öffentlichen Parkplatz einen anderen Kerl flachzulegen. Na warte Bürschchen, Dir werde ich zeigen, wo der Hammer hängt!
Ich steige aus meinem Auto aus und werfe die Tür wütend hinter mir zu. Die beiden lassen sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Mit weitausholenden Schritten gehe ich auf sie zu. Würden wir uns in einem Comic befinden, käme mir heißer Dampf aus den Ohren und Nasenlöchern. Wenige Zentimeter vor ihnen bleibe ich stehen, greife nach der Schulter von diesem Nick, wirble ihn zu mir herum und im nächsten Augenblick trifft meine geballte Faust sein Kinn. Danach geht alles furchtbar schnell: Nick torkelt, mit einem derben Fluch auf den Lippen und der andere stößt einen spitzen Schrei aus. Bevor ich ein zweites Mal ausholen kann, werde ich mit dem Rücken gegen das Auto gedrückt und ich habe einen muskulösen Unterarm an der Kehle. Nick ist zwar einige Zentimeter kleiner als ich, kräftemäßig scheint er mir jedoch überlegen zu sein. Es sind jedenfalls stahlharte Muskeln, die ich an meinem Hals fühle, dabei kam mir der Typ auf den ersten Blick gar nicht wie ein Bodybuilder vor.
„Bist Du denn total bescheuert geworden?“, höre ich eine bekannte Stimme mir fast schon hysterisch zurufen. Moritz? Was zum Teufel geht hier vor?
„Was hast Du für ein Problem, Alter?“, werde ich grimmig von Nick gefragt. Seine Augenbrauen sind zornig zusammengezogen. Die Stelle, an der ihn meine Faust getroffen hat, ist leicht gerötet. Ich fühle so etwas wie Triumpf in mir aufsteigen.
„Du verfluchter Dreckskerl“, presse ich zwischen zusammengekniffenen Zähnen hervor. Und damit meine ich beide, meine Augen fliegen zwischen Nick und Moritz hin und her.
„Kannst Du mir mal sagen, was mit Dir los ist?“, will Moritz wissen. Seine Augen sind immer noch vor Schreck geweitet und sein Brustkorb hebt und senkt sich hektisch.
Ich versuche mich aus Nicks Griff zu befreien und schnaube sarkastisch aus. „Was mit mir los ist, willst Du wissen? Weiß Constantin, was Du hier mit seinem Lover treibst?“, spucke ich ihm entgegen. „Und so etwas nennt sich ‚Bester Freund‘, dass ich nicht lache!“
„Scheiße“, entfährt es Moritz. Er hebt die Augenbrauen an, bläht seine Backen auf und lässt die Luft geräuschvoll aus seinem Mund, dann fährt er sich mit beiden Händen durch das Haar und lässt anschließend die Schultern hängen.
„Lass mich raten: diese Witzfigur hier ist Sven?“ Nick hebt eine Augenbraue und seine Mundwinkel zucken spöttisch.
Meine Kiefer mahlen aufeinander. Diesem Wichser werde ich gleich zeigen, wer hier eine Witzfigur ist. „Lass mich los, sofort“, knurre ich bedrohlich und stemme mich mit beiden Armen fest gegen Nicks Ellbogen. Ich schaffe es sogar, ihn etwas auf Abstand zu bringen.
„Sonst was, eh?“, antwortet er und ich sehe rot. Ich verpasse ihm einen harten Stoß, er torkelt nach hinten und ich stürme auf ihn los. Von hinten greift Moritz nach meinem Arm und versucht mich zurück zu ziehen. Mit einem kräftigen Ruck befreie ich mich von ihm und dann bin ich nicht mehr zu bremsen. Meine Hand schnellt nach vorn, trifft Nick jedoch nicht wie beabsichtigt im Magen, sondern wird geistesgegenwärtig von seinem Arm abgeblockt.
„Verdammt, jetzt reicht es mir aber“, brummt er, greift nach mir und in der nächsten Sekunde finde ich mich mit der Vorderseite an ein Auto gepresst wieder, den Arm hat er mir auf den Rücken gedreht und drückt ihn kräftig nach oben. Der plötzliche Schmerz in der Schulter und im Ellbogen lässt mich blinzeln und ich stöhne gequält auf. Ich versuche mich seinem eisernen Griff zu entwinden, aber diesmal habe keine Chance. Je mehr ich mich wehre, desto stärker wird der Schmerz. Irgendwann gebe ich einfach auf und lasse heftig atmend meine Stirn auf das Autodach fallen.
„Bist Du jetzt wieder klar im Kopf? Benimmst Du Dich, wie ein erwachsener Mann, wenn ich Dich jetzt los lasse?“, zischt mir Nick gefährlich leise ins Ohr.
Ich bin immer noch wütend, ich möchte ihn eigentlich immer noch verprügeln, so langsam dämmert mir allerdings auch, wie lächerlich ich mich benehme, zumal ich gegen ihn ohnehin keine Chance habe. Deshalb nicke ich schließlich auch nur und tatsächlich lässt er mich los und tritt einige Schritte zurück. Es ist eine Wohltat, als ich endlich meinen Arm wieder ausstrecken kann. Erleichtert schüttle ich ihn einige Male aus und massiere meine malträtierte Schulter. Dann drehe ich mich langsam um. Ich wage es nicht in Nicks Gesicht zu blicken, ich kann mir dieses selbstgefällige Grinsen beinahe bildlich vorstellen und mir möchte schon wieder die Galle überkochen. Stattdessen blicke ich zu Moritz und schüttle ungläubig den Kopf. „Schämst Du Dich denn überhaupt nicht?“, will ich wissen.
„Hey, rede nicht so mit ihm“, werde ich von Nick angefaucht. Moritz wirft Nick einen kurzen Blick zu und schüttelt kaum merklich den Kopf. „Okay, ich halt mich ja schon raus“, erwidert er daraufhin, zuckt mit den Schultern, lehnt sich mit dem Hintern an das Auto und verschränkt die Arme vor seiner Brust.
Moritz holt tief Luft, scharrt einmal kurz mit dem Fuß über den Asphalt, dann blickt er mir ins Gesicht. „Sven“, beginnt er. „Auch wenn es für Dich vielleicht so aussieht, aber wir betrügen Constantin nicht, er weiß von Nick und mir“, er steckt beide Hände in seine Hosentaschen und zieht anschließend die Schultern nach oben.
Ich lache ungläubig auf und schüttle den Kopf. „Ja klar, ihr teilt euch den da“, ich deute mit dem Kopf in Nicks Richtung. „Lass Dir was Besseres einfallen Moritz, verarschen kann ich mich alleine.“ Ich fass es nicht, für wie dämlich hält der Knilch mich eigentlich?
Er atmet frustriert aus. „Okay, also anders“, er blickt für mehrere Sekunden auf seine Schuhspitzen, dann hebt er den Kopf wieder. „Was ist Constantin für Dich? Was fühlst Du für ihn?“
„Was soll der Scheiß?“, antworte ich. „Hier geht es doch nicht um meine Gefühle, sondern darum, dass Du mit seinem Freund rummachst!“ Ich kann nicht verhindern, dass ich lauter werde.
„Das ist der Punkt, Sven. Es geht um nichts anderes, als darum, was Du für Constantin fühlst … und er für Dich.“
Ich verstehe kein Wort, von dem Mist, den er mir da verzapft. „Wärst Du bitte so freundlich und würdest mir erklären, wovon zum Teufel Du redest?“ Langsam kocht meine Wut wieder hoch.
„Himmelherrgott Sven“, tut er genervt, „so begriffsstutzig kannst doch noch nicht einmal Du sein. Ist Dir vielleicht schon einmal in den Sinn gekommen, dass Constantin Nick als Vorwand genommen haben könnte, damit Du ihn endlich in Ruhe lässt?“ Ich sehe ihn verwirrt an. „Ja, da guckst Du blöd, was?“, giftet er mir entgegen. „Nick ist mein Freund, hast Du gehört? Meiner! Und würdest Du in Constantin auch einmal etwas anderes sehen, als nur einen Arsch, den man ficken kann, hätte er Dir sicherlich längst erzählt, dass Nick und ich seit einigen Wochen ein Paar sind!“ Er sieht so aus, als würde er sich am liebsten schon wieder die Haare raufen.
„Aber …“, weiter komme ich nicht. Dann schüttle ich den Kopf. Ich verstehe es immer noch nicht. Okay, dieser Nick ist der Freund von Moritz und Constantin hat überhaupt nichts mit ihm. Das meine ich begriffen zu haben. Was ich allerdings nicht verstehe: Was soll das Theater? „Warum zum Teufel erfindet Constantin denn so einen Schwachsinn?“
„Weil Du ihm so sehr auf die Pelle gerückt bist, dass er sich nicht mehr anders zu helfen wusste?“, erwidert Moritz.
„Warum sagt er mir dann nicht einfach, dass ich mich verpissen soll?“
„Sag mal Sven, hörst Du Dir gelegentlich auch mal zu? Oder auch anderen? Genau das hat er doch versucht. Er hat Dir wieder und wieder gesagt, dass Du ihn zufrieden lassen sollst, aber das hat Dich doch nicht die Bohne interessiert. Du wolltest einfach so tun, als ob nichts passiert wäre!“
„Also ist es wegen der Geschichte, die vor zwei Wochen passiert ist?“ Eigentlich hätte ich es mir ja denken können.
„Natürlich ist es deswegen. Was dachtest Du denn? Dass Constantin das so einfach wegsteckt? Du hast ihm damit verdammt weh getan!“
„Aber ich habe mich doch bei ihm entschuldigt, wieder und wieder. Ich will doch einfach nur, dass er mir verzeiht und es wieder so sein kann wie vorher!“ Jetzt bin ich es, der sich die Haare rauft.
„Siehst Du Sven, genau das ist der springende Punkt. Es wird nicht mehr so sein wie vorher. Niemals wieder.“ Moritz Stimme wird immer leiser und schließlich schüttelt er den Kopf. „Bevor Du das nicht verstanden hast, hat es einfach keinen Sinn, weiter darüber zu reden“, er wendet sich ab und tritt auf Nick zu.
„Moritz“, bettle ich, „bitte warte“, er dreht sich noch einmal zu mir um. „Ich … ich kann einfach nicht mehr. Die beiden letzten Wochen waren die Hölle. Ich vermisse ihn so sehr … ich“, Tränen sammeln sich in meinen Augen und ich versuche sie verzweifelt wegzublinzeln.
Moritz sieht mich eine ganze Weile an, dann wird sein Gesichtsausdruck plötzlich weicher. „Sag mir eines, Sven. Liebst Du ihn?“
Ich muss keine Sekunde darüber nachdenken, dementsprechend kommt die Antwort auch, wie aus der Pistole geschossen: „Wie verrückt“, flüstere ich. Und es stimmt. Es wurde mir in dem Moment klar, als ich es ausgesprochen habe.
Ein Lächeln breitet sich auf Moritz Gesicht aus. „Dann sag ihm das“, es klingt fast wie ein Befehl. Dann öffnet er die Fahrertür und steigt ein. Nick hat bereits auf dem Beifahrersitz Platz genommen. Moritz steckt den Schlüssel ins Zündschloss und greift nach der Tür. Bevor er sie jedoch zuzieht, sieht er mich noch einmal an. „Und Sven“, erwartungsvoll erwidere ich seinen Blick. „Vermassel es nicht wieder, klar?“ Dann schließt er die Tür, startet den Motor und rollt vom Parkplatz. Ich blicke lange hinter ihnen her. Erst als ich die Rücklichter nicht mehr erkennen kann, wende ich mich ab.
Plötzlich liegt alles glasklar vor mir, ich weiß ganz genau, was ich die kommenden Tage zu tun habe. Beschwingten Schrittes gehe ich zu meinem Auto zurück. Ich werde nicht eine Minute der kostbaren Zeit mehr verschwenden und sofort mit den Vorbereitungen beginnen.
Erleichtert trete ich durch die Glastür und verlasse das Schulgebäude. Dem Himmel sei Dank ist heute Freitag und es liegen zwei freie Tage vor mir. Keine Ahnung, was diese Woche mit meinen Schülern los war, sie waren einfach außer Rand und Band. Vielleicht, weil der Sommer in greifbare Nähe gerückt ist und somit bald die großen Ferien beginnen. Was auch immer, ich bin jedenfalls total im Eimer und werde dieses Wochenende garantiert nichts anderes tun, als mich auf meinem Sofa breitzumachen, bis ich daran festgewachsen bin und mich von Zeit zu Zeit mit Pizzen, Burgern oder sonstigem Fastfood vollstopfen. Unter keinen Umständen werde ich auch nur an die Aufsätze denken, die in meiner Tasche stecken und korrigiert werden möchten. Und das Haus werde ich auch nicht verlassen!
Zielstrebig schreite ich in Richtung Parkplatz und steuere auf meinen kleinen Renault zu. In Gedanken schlage ich meine Zähne bereits in einen saftigen, vor Fett triefenden Hamburger Royal, als ich eine Gestalt in der Nähe meines Wagens wahrnehme. Überrascht erkenne ich Rike, die neben der Fahrertür steht. Ihren Rucksack hat sie vor sich auf den Asphalt gestellt. Ich brauche keine Kristallkugel, um zu wissen, auf wen sie wartet. Das da vorn ist mein Auto.
Als auch sie mich bemerkt, winkt sie mir ganz kurz etwas unsicher zu. „Hallo Rike“, sage ich, als ich bei ihr angekommen bin. „Kann ich etwas für Dich tun?“
„Hallo Herr Schilling“, begrüßt sie mich lächelnd. „Ich … also eigentlich … ich weiß nicht …“, stammelt sie.
Ich blicke ihr amüsiert entgegen. So schüchtern habe ich sie nicht mehr erlebt, seit ihrem ersten Schultag bei uns. „Ganze Sätze würden die Sache beträchtlich erleichtern.“ Ich lächle ihr gutmütig zu.
„Also eigentlich geht mich das ja gar nichts an, aber …“, wieder stockt sie und plötzlich glaube ich zu wissen, was sie von mir will. Jegliches Lächeln auf meinem Gesicht verschwindet sofort.
„Hat Dein Bruder Dich zu mir geschickt?“, frage ich harscher, als ich eigentlich wollte.
Sie blickt mir entsetzt entgegen. „Himmel nein! Mein letztes Stündlein hätte geschlagen, wenn er das hier wüsste“, antwortet sie leicht panisch. Das glaube ich ihr sogar. Sven dürfte darüber ebenso wenig erfreut sein, wie ich.
„Aber es hat etwas mit ihm zu tun, richtig?“ Sie nickt und blickt schließlich verlegen zu Boden. „Na los, spuck‘s schon aus, ich reiß Dir schon nicht den Kopf ab“, verspreche ich, obwohl mir durchaus danach wäre.
Sie scharrt erst noch einmal kurz mit den Füßen und sagt dann seufzend: „Es hat mich wirklich tierisch Überwindung gekostet, aber ich finde, sie sollten wissen, dass es Sven ziemlich scheiße geht.“
„Und Du erzählst mir das, weil …?“ Ich kann kaum glauben, dass Sven ihr von uns erzählt hat. Wir waren uns eigentlich einig, dass wir Rike aus diesem Arrangement heraushalten.
„Naja, Sie und er sind doch … recht gut befreundet, und …“, murmelt sie.
„Du hast recht“, erwidere ich stirnrunzelnd, „das geht Dich wirklich nichts an.“ Hierrüber werden Sven und ich noch ein ernstes Wörtchen zu reden haben.
„Ja, ich weiß“, gibt sie kleinlaut zu. „Es ist nur … ach verdammt, das ganze hier wäre total überflüssig, wenn mein Bruder nicht so ein furchtbarer … Trampel wäre, was seine Gefühle anbelangt. Ich will auch gar nicht wissen, was er angestellt hat, ich würd mich vermutlich eh nur drüber aufregen.“ Trotz der eher unangemessenen Situation muss ich insgeheim schmunzeln. Sie kennt ihren Bruder, ganz ohne Frage. „Ich mache mir einfach Sorgen, um Sie beide.“ Entschuldigend blickt sie mir entgegen.
Ich weiß im ersten Moment gar nicht, was ich darauf sagen soll. Ich räuspere mich kurz und fahre mit der Hand durch mein Haar. „Das ist lieb gemeint, Du musst Dir aber wirklich keine Sorgen machen, schon gar nicht um mich. Und Dein Bruder ist doch alt genug, er kommt schon klar …“ Ich versuche mich in einem Lächeln. Besonders wohl fühle ich mich nicht und ich fürchte, man sieht es mir auch an.
„Das mag auf Sie sicher zutreffen, bei Sven bin ich mir da nicht so sicher.“ Sie lacht trocken auf. „Eines weiß ich aber ganz genau: es tut ihm wahnsinnig leid und er vermisst Sie schrecklich.“
„Hat er das gesagt?“ Unüberlegt purzeln die Worte einfach aus meinem Mund.
„Das musste er gar nicht, ich habe schließlich Augen im Kopf“, antwortet sie eine Grimasse schneidend, bückt sich und greift nach ihrem Rucksack. „Das wollte ich einfach nur loswerden“, ergänzt sie, als sie sich wieder erhoben hat.
„Okay“, sage ich und nicke gleichzeitig. Jedes weitere Wort spare ich mir. Ich werde ganz bestimmt nicht meine Gefühle für ihren Bruder mit ihr erörtern. Es missfällt mir sehr, dass sich eine meiner Schülerinnen in mein Privatleben einmischt. Allerdings wäre es glatt gelogen, wenn ich behaupten würde, ihre Worte würden mich kalt lassen. Ich liebe Sven nach wie vor, daran haben auch die vergangenen Wochen nichts geändert.
*
Das Gespräch mit Rike geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ich bin schon seit einer halben Stunde zuhause und ich denke immer noch pausenlos daran – und natürlich zwangsläufig auch an Sven. Ich greife nach meinem Handy und rufe die letzte SMS auf, die ich von Sven erhalten habe. Das ist mittlerweile fast zwei Wochen her. Ich denke, er hat es nun endgültig aufgegeben. Erleichtert bin ich darüber nicht, dabei sollte ich es doch eigentlich sein, denn es ist doch genau das, was ich von ihm verlangt habe, oder nicht? Versonnen blicke ich auf die wenigen Worte auf dem Display. ‚Ich vermisse Dich so sehr‘ steht da und ich schlucke erneut gegen den Kloß an, der sich jedes Mal beim Anblick dieser Nachricht in meiner Kehle bildet.
Der innere Drang jetzt einfach Svens Nummer aus dem Adressbuch auszuwählen und auf den grünen Hörer zu drücken, wird fast übermächtig. Ich weiß selbst nicht so genau, warum ich die SMS überhaupt aufgehoben habe. Irgendwie habe ich es einfach nicht übers Herz gebracht, sie zu löschen. Seufzend lege ich das Handy auf den Esstisch und wende mich meinem Kühlschrank zu. Die Auswahl kann man bestenfalls als traurig bezeichnen. Ich sollte dringend einkaufen gehen. Selbst der kreativste Koch wird es kaum schaffen, aus einer Scheibe vertrocknetem Käse und einer Handvoll Cocktail-Tomaten, eine einigermaßen nahrhafte Mahlzeit zu zaubern, zumal ich heute außer einem Marmeladebrötchen zum Frühstück noch nichts Vernünftiges gegessen habe.
Mein Blick fällt auf die Karte des hiesigen Heimservice. Gerade, als ich daran denke, dass ich schon seit einer halben Ewigkeit keine Lasagne mehr gegessen habe, klingelt mein Telefon. Mit klopfendem Herzen blicke ich auf das Display. Es ist allerdings nur Moritz und ich bin darüber tatsächlich ein wenig enttäuscht.
„Hey Süßer“, begrüße ich ihn.
„Selber Süßer“, antwortet er lachend. „Egal, was Du für heute noch geplant haben solltest: vergiss es!“, meint er gutgelaunt.
Ich seufze. „Ich wollte mir eigentlich gerade eine Lasagne bestellen“, informiere ich ihn.
„Negativ, das tust Du nicht. Heute steht ganz groß ‚wohlfühlen‘ auf dem Programm. Anschließend gibt es noch was Leckeres zu essen“, teilt er mir mit.
„Aha?“, antworte ich wenig begeistert.
„Nick und ich holen Dich in etwa einer halben Stunde ab.“ Es klingt danach, als ob er keine Widerrede dulden würde.
„Eigentlich wollte ich heute nicht mehr aus dem Haus …“, werfe ich ein.
„Sieh zu, dass Du fertig bist, wenn wir kommen.“ Meinen Einwand übergeht er einfach.
„Was habt ihr denn vor?“, frage ich vorsichtig, wehre mich allerdings nicht mehr, es hat ja ohnehin keinen Zweck, außerdem bin ich nun doch etwas neugierig geworden.
„Lass Dich überraschen. Es wird Dir gefallen“, behauptet er und ich höre ihn noch kurz lachen, bevor er auflegt.
Fast schon überpünktlich stehen Moritz und Nick eine Weile später vor meiner Tür. Moritz nimmt mich fest in die Arme und Nick hält mir grinsend seine Hand hin. „Was ist denn mit Dir passiert?“, will ich erstaunt wissen, als ich einen bereits wieder abklingenden Bluterguss an seinem Kinn bemerke.
Nick zuckt nur mit den Schultern. „Nichts Besonderes. Ich habe nur nicht aufgepasst und bin gegen etwas gerannt.“ Sein Grinsen wird noch eine Spur breiter und ich bin mir ziemlich sicher, dass er mir nicht die Wahrheit sagt, zumindest nicht die ganze.
„Bist Du soweit?“, will Moritz in meine Richtung gewandt wissen. Seinem Freund wirft er über meine Schulter hinweg einen warnenden Blick zu. Irgendwie wirkt er ziemlich gehetzt.
„Stimmt was nicht?“, frage ich misstrauisch.
„Alles okay“, kommt es viel zu schnell von Moritz. „Wir sollten uns nur etwas beeilen.“ Mit diesen Worten schiebt er mich einfach aus der Wohnungstür.
Die Fahrt verläuft zum größten Teil schweigsam, zumindest von meiner Seite aus. Moritz hingegen schnattert wie eine Horde Gänse und allein diese Tatsache lässt mich noch misstrauischer werden. Irgendwas ist hier im Busch.
„Was ist eigentlich heute mit Dir los? Hast Du Drogen genommen oder warum bist Du so aufgedreht?“, will ich nach einer Weile wissen.
Nick lacht laut auf und erntet einen missbilligenden Blick von seinem Freund.
„Ich will doch einfach nur, dass es Dir gut geht, was ist daran denn so schlimm?“ Er schiebt seine Unterlippe etwas nach vorn und verschränkt die Arme vor der Brust.
Beschwichtigend greife ich zwischen der Nackenstütze hindurch und kraule kurz Moritz Nacken. „Schlimm ist daran nichts“, erwidere ich. „Aber ich habe Dich schon lange nicht mehr so aufgekratzt erlebt.“
Nick befördert den Wagen auf den Parkplatz der alten Schauburg. Überrascht blicke ich mich um. Das betagte Kino hatte vor einigen Monaten seine Tore geschlossen und erfreut sich derzeit an einer Verjüngungskur. Früher wurden hier immer wieder alte Klassiker aufgeführt, wie 'Spiel mir das Lied vom Tod', 'Der Pate' oder auch Hitchcocks 'Die Vögel' und viele andere. Das Publikum wurde jedoch immer weniger und irgendwann fiel der alte Kasten einem Auktionshammer zum Opfer. Zwangsversteigerung. Ich war nicht alleine mit meiner Trauer, denn ich habe die Schauburg immer dem topmodernen Multiplex-Kino in der nahen Großstadt vorgezogen.
„Was wollen wir denn hier?“, frage ich und folge Moritz langsam über den Parkplatz. Einige Baucontainer zeigen, dass der Bau zwar vorangeschritten, aber noch nicht beendet ist.
„Frag nicht, komm einfach“, kichert Moritz und zieht mich hinter sich her zur rückwärtigen Seite des Gebäudes.
Am Hintereingang werden wir von einem Kerl in etwa meinem Alter empfangen. Er kommt mir merkwürdig bekannt vor, mir mag aber einfach nicht einfallen, woher ich ihn kenne.
„Hallo, da ist ja unser Ehrengast endlich.“ Er hält mir grinsend die Hand entgegen. Ich schlage zwar ein, aber an meinem verwirrten Gesichtsausdruck scheint er zu erkennen, dass ich keinen Schimmer davon habe, wer er ist. „Du kennst mich nicht mehr, oder?“, lacht er.
Ich verziehe das Gesicht zu einer Grimasse. „Sorry, ich weiß einfach nicht, wo ich Dich hinstecken soll“, antworte ich schuldbewusst.
„Ach, mach Dir keine Gedanken, ich bin Sebastian. Wir sind uns erst einmal über den Weg gelaufen“, grinst er. „Na kommt erst mal rein.“ Er hält die Tür weit auf und lässt uns in das Gebäude.
Als wir alle eingetreten sind, schließt er die Tür ab und führt uns durch einen längeren, recht dunklen Gang entlang. Mehrere Türen gehen davon ab und durch eine werden wir hindurchgelotst. Danach stehen wir in einem halbfertigen Thekenbereich. In einer Ecke befinden sich noch eingepackt, einige bequem aussehende Sitzelemente.
„Wow, da hat sich ja ganz schön was verändert“, meint Nick. „Wann wird es denn fertig sein?“
„Die Wiedereröffnung ist für den ersten Juli geplant. Es sieht sogar so aus, als ob wir rechtzeitig fertig werden würden. Die Theken fehlen noch, wie ihr seht. Letzte Woche sind die Toiletten fertig geworden. Wenn ihr aufs Klo müsst, dann geht bitte nach oben. Hier unten ist abgeschlossen, da stimmt noch irgendwas nicht. Im Eingangsbereich fehlen noch die Kassen und in einem der beiden Kinosäle muss noch der Teppichboden verlegt und die Wände verkleidet werden. Die Bestuhlung fehlt leider noch komplett, aber wir haben ein paar Polster und Kissen für euch bereit gelegt. Euch stört es doch nicht, auf dem Boden zu sitzen, oder? Der Teppichboden ist ganz neu.“
Wie in Trance schüttle ich den Kopf. „Wer ist 'wir'?“, will ich wissen, „Ihr beiden?“ Ich wende mich an Moritz und Nick.
Sebastian lacht und gibt mir einen Klaps auf die Schulter. „Ich geh mal zu den Filmen, bis später.“ Er eilt davon und ich bin genauso schlau wie vorher.
„Jetzt aber mal raus mit der Sprache, was läuft hier?“, frage ich bestimmt.
„Wir gehen ins Kino, sieht man das nicht?“, fragt Moritz verschmitzt.
„Dass das hier keine Bowlingbahn ist, habe ich selbst schon begriffen, danke“, erwidere ich eine Spur sarkastisch.
„Hey, nicht so negativ“, werde ich von Moritz belehrt. Er öffnet eine Tür und schiebt mich hindurch.
Eine mit LEDs beleuchtete Treppe führt den Saal hinab. Das Licht ist gerade hell genug, damit man die Umgebung einigermaßen erkennen kann. Es riecht nach frisch verlegtem Teppichboden und Farbe. Ein dicker, dunkelroter Samt-Vorhang verdeckt die Sicht auf die Leinwand.
„Wow“, kommt es von Moritz. „Das sieht ja super aus. Kein Vergleich mehr zu dem abgewrackten Saal noch vor ein paar Monaten“, schwärmt er.
„Ah, ich glaube, wir sollen dort hin“, meint Nick und deutet in den Saal hinein. Es sieht schon irgendwie recht seltsam aus, ohne die Bänke und Stühle, die man normalerweise von einem Kinosaal gewohnt ist. Jetzt ist es einfach ein riesiger, terrassenförmiger, mit dunklem Industrieteppich ausgestatteter Raum mit je einem Treppengeländer auf jeder Seite.
In der Richtung, die Nick angedeutet hatte, liegen getürmt einige Polster, Kissen und Decken für uns bereit. Ich habe zwar keine Ahnung, was ich hier gleich geboten bekomme, aber der ganzen Atmosphäre haftet ein Hauch von Abenteuer an und ich befinde mich in einer Stimmung, die man am ehesten als aufgeregte Vorfreude bezeichnen könnte.
„Olala!“, ruft Moritz. „Er hat sogar an Getränke gedacht.“ Neben dem Turm aus Kissen steht eine Kunststoffbox mit verschiedenen wiederverschließbaren Flaschen. Moritz schnappt sich einige von den Kissen und Polstern, sowie eine Decke und richtet für sich und Nick eine kleine, gemütliche Insel her. Ich stehe daneben und sehe ihm zu, wie er sich schließlich grinsend darauf ausstreckt und auffordernd neben sich klopft. „Nick“, schnurrt er, „komm her zu mir. Wusstest Du eigentlich, dass Fummeln in nem Kino eine meiner größten Fantasien ist?“
„So? Ist es das?“, krächzt Nick heiser und lässt sich neben seinem Freund nieder. Beide liegen da wie hingegossen und himmeln sich an. Ein Bild für Götter!
„Hinterlasst ihr auch nur die kleinsten Sportflecken, werdet ihr schrubben, bis ihr schwarz werdet“, tönt Sebastians Stimme drohend aus den Lautsprechern. Spätestens jetzt ist es soweit, ich breche in schallendes Gelächter aus. Nach Luft japsend wende ich mich Moritz zu, der schmollend und mit hochrotem Kopf neben Nick sitzt und sich kaum traut, sich zu rühren.
„Ladies und Gentlemen“, ertönt abermals Sebastians Stimme. „Okay, streicht die Ladies, es ist ja gar kein Weibsvolk anwesend. Gentlemen! Sebastian proudly presents:“ Der Vorhang öffnet sich und gleichzeitig erklingt der Jingle der Universal Studios. Die Show beginnt …
Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber ganz sicher nicht das, was danach über die Leinwand flimmert. Ich bin wirklich niemand, der nah am Wasser gebaut hat, noch nie gewesen, aber jetzt wäre es beinahe soweit gewesen. Absolut gerührt wende ich mich Moritz und Nick zu.
„Danke“, ist alles, was ich über die Lippen bringe. Zu mehr bin ich einfach im Moment nicht fähig. Meine Freunde haben mir das schönste Geschenk auf Erden gemacht, ich bin vollkommen von den Socken.
„Wir haben nichts damit zu tun, Süßer.“ Moritz lächelt mir zu. „Unsere einzige Beteiligung bestand daran, Dich herzubringen.“
Irritiert sehe ich von Moritz zu Nick und wieder zurück zu Moritz. „Aber …“, stammle ich. Moritz sieht an mir vorbei und deutet auf einen Punkt links hinter mir. Ich wende mich langsam in die gezeigte Richtung und erstarre.
„Sven?“, flüstere ich ungläubig.
„Hallo Constantin“, sagt er lächelnd, schnappt sich ein paar Kissen und setzt sich neben mich.
„Du hast das alles hier organisiert?“, frage ich hilflos.
„Schuldig im Sinne der Anklage, schätze ich.“ Er zuckt mit den Schultern.
„Aber … warum?“
„Weil es Dein Lieblingsfilm ist“, erklärt er einfach, als hätte er mir soeben ein popeliges Softeis spendiert. „Und jetzt genieß es einfach, okay?“
„Er nahm sogar sein Grammophon mit auf die Safari, drei Gewehre, Proviant für einen Monat ... und Mozart
", beginnt Karen Blixen soeben mit ihrer Geschichte und ich blicke immer noch fassungslos auf die riesige Leinwand.
Ich bin mir Svens Anwesenheit überdeutlich bewusst. Er – zusammen mit den großformatigen Bildern des Filmes, lassen meinen Brustkorb so eng werden, dass ich für einen Moment sogar fürchte vor Freude zu ersticken.
„Danke“, sage ich diesmal in Svens Richtung gewandt.
„Gern geschehen“, antwortet er lächelnd.
Daraufhin tue ich es den anderen gleich und mache es mir gemütlich. Ich breite eine Decke auf dem Fußboden aus und verteile die Kissen so darauf, dass ich halb sitzend, halb liegend eine ideale Position gefunden habe, ohne mir das Genick zu verrenken. Ich achte jedoch darauf, Sven nicht zu berühren. Das Gespräch mit Rike, Svens SMS und der heutige Abend haben mich so matschig gemacht, dass ich mir selbst nicht mehr über den Weg traue.
Von Zeit zu Zeit wandert mein Blick zu Sven, ich kann es einfach nicht verhindern. Seine Miene verrät mir allerdings überhaupt nichts über seine Gedanken. Scheinbar konzentriert, verfolgt er die Geschehnisse auf der Leinwand. Von Moritz und Nick ist die ganze Zeit über kaum etwas zu hören. Zwischendurch hatte ich sogar den Verdacht, dass sie eingeschlafen sein könnten, doch nach einem kurzen Blick nach hinten ist mir schnell klar, dass sie sehr intensiv mit einander beschäftigt sind. Es sieht danach aus, als ob sie tatsächlich eine lang gehegte Fantasie ausleben würden, zumindest ansatzweise.
„... das wird Denys gefallen, ich darf nicht vergessen, es ihm zu erzählen
“, beendet Karen Blixen ihre Erzählung. Ich kann kaum glauben, dass der Film schon zu Ende ist, die Zeit verging wie im Flug. Sebastian lässt sogar noch den Abspann bis zum Ende durchlaufen und gesellt sich dann zu uns. Ich starre immer noch strahlend auf die Leinwand, obwohl sich der Vorhang schon längst wieder geschlossen hat. Gleichzeitig wird mir aber auch zunehmend mulmig zumute, denn ich bin mir sicher, dass Sven noch weitere Pläne für den heutigen Abend hat.
„Na, hattet ihr Spaß?“, will Sebastian wissen.
„Oh ja“, erwidert Nick vielsagend und erntet einen Boxhieb von Moritz.
„Es war … wow“, schwärme ich. „Vielen Dank, dass wir hier sein durften.“
„Bedankt euch bei unserem Großen hier“, lacht Sebastian und klopft Sven kurz auf die Schulter.
Gemeinsam falten wir die Decken zusammen und stapeln alles wieder fein säuberlich auf einen Haufen.
Sven zieht Sebastian ein Stück von uns weg und die beiden unterhalten sich leise. Ich spitze zwar die Ohren, ich kann dennoch nicht verstehen, worüber sie reden. Kurze Zeit später verlassen wir alle zusammen das Kino. Auf dem Parkplatz stehen wir noch zusammen und unterhalten uns mit Sebastian, vor allem Nick bombardiert ihn mit einer Frage nach der anderen. Ich könnte allerdings nicht sagen, worüber sie reden, denn all meine Sinne sind auf den Mann neben mir gerichtet. Ich habe keine Ahnung, wie es nun weitergehen soll.
„Constantin?“ Sven berührt mich am Unterarm und ich zucke leicht zusammen.
„Hm?“, antworte ich und wende mich ihm zu.
„Können wir … reden?“, fragt er vorsichtig.
Ich muss wirklich ziemlich matschig im Kopf sein, denn ich denke, dass es tatsächlich an der Zeit ist, dass wir uns unterhalten. Vielleicht kann ich dann auch mit der ganzen Geschichte endlich abschließen.
„Okay“, sagte ich deshalb. „Jetzt? Hier?“
„Hast Du schon gegessen? Ich habe einen Tisch bei Paolo bestellt“, schlägt er vor. „Natürlich nur, wenn Du willst“, fügt er hastig hinzu.
„Du musst Dir Deiner Sache ja ziemlich sicher sein“, antworte ich, meine es jedoch nicht so ernst, wie es sich vielleicht angehört haben mag.
„Nein!“ Er schüttelt erschrocken den Kopf. „Ich wollte doch nur … ich habe gehofft...“
„Schon gut“, beruhige ich ihn. „Paolo klingt toll. Und ja, ich habe Hunger.“
„Warte hier, ich hole schnell mein Auto“, meint er. Ich sehe ihn überrascht an. „Naja, ich wollte verhindern, dass Du den Wagen siehst. Ich hatte Angst, dass Du gleich wieder abhaust, wenn Du ihn erkennst“, erklärt er.
Ich schüttle lachend den Kopf … allerdings muss ich auch zugeben, dass seine Angst nicht ganz unbegründet ist. Sven ist zwei Minuten später wieder da, er muss den Wagen irgendwo in einer Seitenstraße geparkt haben.
„Wir hauen dann auch mal ab“, sagt Moritz, nachdem Sven wieder bei uns ist.
„Kommt ihr nicht mit zum Italiener?“, frage ich.
„Lass mal Süßer, ihr müsst reden … und dabei würden wir nur stören.“
Wir verabschieden uns von allen, bedanken uns nochmals bei Sebastian und steigen dann in Svens Wagen. Wir sagen nicht viel auf der Fahrt. Sven muss sich auf den Verkehr konzentrieren und mir mag irgendwie kein unverfängliches Thema einfallen. Das Schweigen fühlt sich unangenehm an, deshalb seufze ich innerlich erleichtert auf, als wir beim Restaurant ankommen.
Ein Kellner kommt auf uns zu und bringt uns an einen Zweier-Tisch direkt am Fenster. Er zündet die Kerze auf dem Tisch an, nimmt die Getränkebestellung entgegen und verschwindet anschließend wieder. Etwas nervös rutsche ich von einer Pobacke auf die andere. Sven beobachtet mich die ganze Zeit über, ohne etwas zu sagen. Das erste Mal an diesem Abend mustere ich ihn eingehender. Es ist einige Wochen her und er sieht tatsächlich nicht besonders gut aus. Er scheint abgenommen zu haben und irgendwie wirkt er, als ob er schon lange keine Nacht mehr richtig durchgeschlafen hätte.
„Wie geht es Dir?“, bricht er als Erster das Schweigen.
Ich zucke mit den Schultern. „Ganz okay, ich habe Wochenende“, antworte ich und versuche mich in einem selbstbewussten Lächeln, keine Ahnung, ob es gelingt.
„Und sonst?“, will er wissen.
„Geht so“, sage ich vage. Ich werde einen Teufel tun und ihm die Wahrheit sagen. „Und Dir?“
„Nicht so besonders“, seufzt er.
Ich senke betreten den Blick auf meine Finger. „Wie kommt es eigentlich, dass wir da heute einfach so reindurften?“, will ich wissen.
„Sebastian und ich sind zusammen zur Schule gegangen. Du müsstest ihn eigentlich auch kennen … ihr seid euch mal bei mir über den Weg gelaufen“, antwortet Sven.
„Ah, daher kam er mir so bekannt vor. Ich wusste nur nicht so recht, wo ich ihn hinstecken sollte. Gehört ihm die Schauburg?“
„Gewissermaßen... Sebastians Vater hat das Teil gekauft, als es unter den Hammer kam. Er ist auch einer der Miteigentümer vom Cineplex“, erklärt er.
„Darf ich fragen, was so ein Spaß kostet? Also so eine Privatvorstellung …“ Natürlich wird er sich eher die Zunge abbeißen, als es mir zu sagen, einen Versuch ist es dennoch wert.
Sven lacht leise. „Darüber werde ich ganz sicher nicht mit Dir reden. Aber...“ Plötzlich wird Sven etwas unsicher, „war es denn wirklich okay für Dich?“
Ich sehe Sven lange an, bevor ich antworte: „Es war das schönste Geschenk, das mir je gemacht wurde“, erwidere ich ehrlich. „Obwohl“, überlege ich, „die Holzeisenbahn, die ich zu meinem fünften Geburtstag von meinen Eltern bekommen habe...“ Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen und auch Sven lächelt gelöst. „Es war wirklich wunderschön... aber eines erkläre mir noch bitte: wie hast Du Moritz dazu gebracht, Dir zu helfen?“ Das ist mir nach wie vor noch ein Rätsel.
Svens Wangen färben sich rosa und er blickt mir unsicher entgegen. „Ich … naja, ich habe mich mit Nick geprügelt“, murmelt er.
„Du hast bitte WAS?“, rufe ich entsetzt aus. Mehrere Köpfe wenden sich in unsere Richtung. „Aber wieso, warum?“, fahre ich leiser fort.
Das Gespräch ist Sven sichtlich unangenehm. „Ich dachte eben, er betrügt Dich“, kommt es fast schon ein wenig trotzig. „Dass er mit Moritz zusammen ist, habe ich erst erfahren, als ich Nick den Kinnhaken bereits verpasst hatte“, meint er kleinlaut.
„Ich fasse es nicht, wie bist Du denn auf die Schnappsidee gekommen, dass …“ Ich halte inne. Oh ich Trottel. Natürlich … ich selbst habe Sven doch diese Lüge aufgetischt. Ich hätte allerdings niemals damit gerechnet, dass Sven auf Nick losgehen könnte. Das schlechte Gewissen übermannt mich und ich schließe gequält die Augen. Von wegen Nick ist gegen etwas gerannt. Ja, gegen Svens Faust! Himmel, was habe ich nur angerichtet. Zum Glück erscheint in diesem Moment der Kellner mit unseren Getränken und den Speisekarten. Er lässt auch noch ein Körbchen mit geröstetem Ciabatta und ein Schälchen helle Creme da. Aioli, wenn ich raten müsste. Ich greife nach einem Stück Brot und tunke es in die Soße. „Es tut mir leid“, sage ich, als ich das erste Stück vertilgt habe. „Ich hätte Dich nicht anlügen dürfen.“
„Ja“, antwortet er lapidar. „Warum hast Du es denn überhaupt getan?“
Tolle Frage, was antworte ich denn darauf? Die Wahrheit kann ich ihm schlecht erzählen. Ich schweige, wieder einmal. Das scheint heute eine meiner Lieblingsbeschäftigungen zu sein. Erneut erscheint der Kellner und nimmt unsere Essenswünsche entgegen.
Und wieder ist es Sven, der das Schweigen bricht: „Da gibt es so eine Geschichte, in der Menschen existierten mit 2 Gesichtern, 4 Armen und 4 Beinen. Mir fällt gerade nicht mehr der Name des Typen ein, der sie erzählt hat. Jedenfalls haben sie es so heftig getrieben, dass selbst die Götter vor ihnen Schiss bekommen haben. Daraufhin wurden sie in zwei Hälften gespalten und waren von da an auf der Suche nach ihrer anderen Hälfte“, er lässt mich keinen Augenblick aus den Augen und scheint jede meiner Regungen geradezu in sich aufzusaugen. Trotz seiner Größe wirkt er fast wie ein kleiner übereifriger Junge, der voller Stolz das Bild präsentiert, das er im Kindergarten gemalt hat und jetzt ungeduldig auf das Urteil seiner Eltern wartet.
„Platon“, erwidere ich leise und kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.
„Was?“, antwortet Sven irritiert.
„Der Typ hieß Platon, die Geschichte stammt aus seinem Symposion. Man nannte sie Kugelmenschen“, erkläre ich immer noch lächelnd.
„Ja, das kann sein“, er lächelt versonnen und fährt dann fort. „Was ich eigentlich damit sagen wollte: manche suchen ihr ganzes Leben lang nach ihrer anderen, besseren Hälfte. Ich hatte das Glück sie die ganze Zeit vor meiner Nase zu haben und war einfach zu blind, um sie zu erkennen“, er sieht mir direkt in die Augen und legt eine seiner riesigen Pranken auf die Hand, mit der ich nervös das Tischset malträtiere.
„Sven … ich“, ich entziehe ihm meine Finger und verschränke beide Hände in meinem Schoß. Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. Natürlich bin ich gerührt, aber es ist einfach viel zu viel geschehen, als dass ich ihm einfach so vergeben könnte, nur weil er sich vielleicht einmal nicht wie ein kompletter Vollidiot verhält.
Seine Schultern sacken in sich zusammen und er senkt betreten seinen Blick. „Ich weiß schon“, erwidert er mit belegter Stimme. „Ich an Deiner Stelle würde vermutlich auch nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Eines möchte ich aber trotzdem noch loswerden; die vergangenen Wochen waren die schlimmsten in meinem ganzen bisherigen Leben und dabei ist mir eines ganz deutlich klar geworden: ich möchte keinen Tag meines Lebens mehr ohne Dich sein“, seine Stimme wird immer leiser, ich verstehe dennoch jedes einzelne Wort.
Ich schlucke hart, ich habe keine Ahnung, was ich darauf antworten soll. Dieser Kellner scheint ein absolutes Gespür dafür zu haben, wann genau der richtige Zeitpunkt ist, um an unseren Tisch zu treten. Diesmal stellt er einen Teller Tagliatelle mit Gorgonzolasoße vor meine und eine Lasagne vor Svens Nase. Er wünscht uns noch freundlich einen guten Appetit und verschwindet wieder.
Natürlich möchte ich Sven verzeihen, natürlich könnte ich mir nichts Schöneres vorstellen, als ihn zurück in meinem Leben zu haben … aber natürlich kann ich es ihm auch nicht so einfach machen. Das, was er mir erzählt ist, ist wunderschön, der ganze Abend war wunderschön und ich kann nicht leugnen, dass es seine Wirkung auf mich hat, aber bin ich wirklich schon bereit dafür? Kann ich mir denn seiner Gefühle sicher sein? Oder kann er es? Was fühlt er überhaupt für mich? Er mag mich, ja … das ist nicht von der Hand zu weisen, sonst hätte er diesen Wahnsinnsaufwand heute sicher nicht betrieben, aber er hat mit keiner Silbe erwähnt, dass er mich liebt. Und was ist mit Axel? Der Name hängt wie ein riesiges Damoklesschwert über uns und ich traue mich nicht, Sven danach zu fragen. Plötzlich habe ich keinen Appetit mehr, dementsprechend lustlos stochere ich in meinen Nudeln herum.
„Constantin?“, ich hebe den Kopf und blicke direkt in Svens fragendes Gesicht. „Stimmt was nicht mit Deinem Essen?“, will er wissen.
Ich schüttle den Kopf und beiße auf meine Unterlippe. „Nein, alles in Ordnung, ich habe nur irgendwie meinen Hunger überschätzt“, erwidere ich und zucke kurz mit den Achseln.
Ich fühle mich unbehaglich. Ich möchte plötzlich nicht mehr hier sein, denn ich traue mir selbst nicht über den Weg. Ich merke, wie ich von Minute zu Minute schwächer werde, es mir immer schwerer fällt, Sven zu widerstehen. Ich muss einfach weg hier. „Sven … es tut mir leid, aber ich sollte nach Hause. Ich habe eine anstrengende Woche hinter mir und ich bin müde.“
„Okay, ich fahr Dich“, bietet er sofort an.
„Quatsch, das ist doch nicht nötig, ich kann mir auch ein Taxi rufen“, wehre ich ab. Der Gedanke erneut mit ihm zusammen auf engstem Raum sitzen zu müssen, und seien es auch nur ein paar Minuten, erschreckt mich im Moment fast zu Tode.
„Constantin, jetzt sei nicht albern. Ich fahre Dich heim. Punkt!“ Die Augenbrauen hat er grimmig zusammengezogen.
Ich befinde mich in einer Art Zwickmühle. Einerseits möchte ich unter keinen Umständen erneut mit ihm zusammen in einem Auto sitzen. Andererseits – wenn ich mich weiterhin so vehement dagegen wehre, dann könnte er Verdacht schöpfen und davor habe ich ehrlichgesagt noch viel mehr Angst.
„Also gut“, gebe ich seufzend nach.
Sichtlich zufrieden begleicht Sven die Rechnung und begibt sich mit mir im Schlepptau zu seinem Auto. Die Autofahrt geht ebenso schweigsam vonstatten, wie die Fahrt vorhin. Die Minuten scheinen sich zu ziehen wie Kaugummi und ich bin einfach nur erleichtert, als wir in die Straße einbiegen, in der ich wohne. Sven hält jedoch nicht vor dem Eingang an, damit ich einfach nur rausspringen müsste, sondern sucht sich einen Parkplatz. Irritiert sehe ich ihn an. „Was machst Du?“
„Ich suche mir einen Parkplatz“, antwortet er scheinbar ruhig.
„Du hättest mich auch einfach am Eingang rauslassen können“, antworte ich.
„Du hast noch eine DVD, die eigentlich Rike gehört. Die könnte ich doch gleich mitnehmen … wo ich schon mal da bin.“
Ich seufze. „Also gut, aber warte hier, ich bring sie runter“, sage ich schnell.
„Das ist doch nicht nötig, ich komme einfach kurz mit hoch“, beharrt er.
„Sven, Du bleibst hier, ich bringe sie runter!“
„Ich komme doch nur bis zur Wohnungstür. Wovor hast Du denn eine solche Angst? Ich falle schon nicht über Dich her.“ Ich mache mir keine Sorgen, dass er über mich herfallen könnte, ich habe eher Angst davor, dass ich meine Finger nicht von ihm lassen kann.
Innerlich fluche ich, äußerlich setze ich mein unverbindlichstes Lächeln auf. „Okay, dann komm halt mit.“ Ich möchte Sven in diesem Moment am Liebsten das zufriedene Grinsen aus dem Gesicht schlagen. Oben angekommen, schließe ich schnell die Wohnungstür auf und schlüpfe hindurch. „Warte hier“, befehle ich und schließe die Tür wieder hinter mir, bevor Sven überhaupt reagieren kann. Mit klopfendem Herzen lehne ich mich für einen Augenblick von Innen dagegen und atme mehrmals tief ein und aus. Ich laufe ins Wohnzimmer, ziehe mit zitternden Fingern wahllos eine DVD aus dem Regal und gehe zurück in den Flur.
Ich würde nun gerne einfach die Tür einen Spalt aufmachen, Sven das Ding in die Hand drücken und die Tür dann schnell wieder schließen … so zumindest ist der Plan … dabei herausgekommen ist Sven, der jetzt plötzlich in voller Größe in meinem Flur steht.
„Queer as folk“, grinst er. „Schöne Serie, aber Rike würde ihre Box niemals verleihen, noch nicht einmal an Dich.“
Irritiert sehe ich auf das Cover und stöhne innerlich auf. ich reiße sie ihm aus der Hand und renne wieder zurück ins Wohnzimmer. Diesmal jedoch ist Sven dicht hinter mir. Ich stecke die Box wieder zurück ins Regal und scanne hektisch die Reihen durch. Ich habe keine Ahnung, welches Rikes DVD sein soll. Es wäre vielleicht von Vorteil gewesen, einfach danach zu fragen. Das hätte jedoch logisches Denken vorausgesetzt, aber genau das scheint mir irgendwie abhandengekommen zu sein. Sven ist zu nah, viel zu nah! „Welche …“, beginne ich, als Svens Arm an mir vorbei greift und einen der Filme heraus zieht.
„Drachenzähmen leicht gemacht“, antwortet er schmunzelnd. Sein Atem streift meinen Nacken und ich bekomme weiche Knie.
Weg, weg … er muss weg hier. Ich kann nicht mehr … raus, nur raus. Ich entferne mich von ihm und bringe mein Sofa zwischen uns. „Sven, geh jetzt bitte.“ Ich erkenne meine Stimme selbst kaum wieder.
„Nein“, sagt er energisch und schüttelt gleichzeitig den Kopf.
So muss sich ein Tier fühlen, das in die Ecke gedrängt wurde. Ich bin noch nicht einmal in der Lage wütend zu werden. „Bitte“, bettle ich, doch Sven schüttelt abermals den Kopf und kommt auf mich zu.
„Ich kann jetzt nicht gehen“, flüstert er mittlerweile ganz nah.
„Warum nicht?“, bringe ich leise hervor.
„Weil ich Dich liebe“, antwortet er und nimmt mein Gesicht zwischen seine riesigen Hände. Ich fürchte, ich sehe aus wie ein Kaninchen, das kurz vor dem Kollaps steht.
Es dauert eine ganz Weile, bis die Worte in mein Gehirn sickern. „Was?“, keuche ich atemlos. Ich muss mich verhört haben. Sven hat mir doch nicht wirklich gesagt, dass er mich liebt, oder?
„Ich liebe Dich und ich werde einen Teufel tun, mich jetzt von Dir wegschicken zu lassen. Wenn Du willst, dass ich gehe, musst Du mich schon eigenhändig aus Deiner Wohnung befördern. Und ich schwöre Dir, ich gebe garantiert nicht noch einmal kampflos auf!“, er setzt ein fast schon grimmiges Gesicht auf.
„Du liebst mich?“, frage ich atemlos.
„Oh ja, das tue ich“, antwortet er bestimmt.
„Wie einen Kumpel, nehme ich an, richtig?“ Das wird es sein. Für einen ganz kurzen Moment hatte ich tatsächlich die aberwitzige Hoffnung, dass er die richtige Liebe meinen könnte.
Er schließt für einen Moment die Augen und ich sehe, wie seine Kiefer aufeinander mahlen. „Für einen Lehrer bist du ganz schön schwer von Begriff“, seufzt er. „Nein, nicht wie einen Kumpel. Eher wie einen Partner, einen Geliebten, wie einen Menschen, mit dem ich mein Leben verbringen möchte“, sein Gesicht ist nun ganz nah. „Constantin … Ich. Liebe. Dich! Ich möchte mit Dir zusammen sein, mein Leben mit Dir teilen … abends mit Dir einschlafen und morgens neben Dir aufwachen. Ich möchte alle Meryl Streep Filme mit Dir ansehen, mit Dir Lachen, mit Dir …“ Weiter lasse ich ihn nicht kommen. Ein gigantisches Glücksgefühl strömt durch meinen Körper und ich fürchte, ich werde platzen, wenn ich ihn jetzt nicht sofort küsse. Meine Hände greifen nach seinem Gesicht und zerren es zu mir herunter. Er gibt einen überraschten Laut von sich, als ich meine Lippen auf die seinen presse. Es ist so furchtbar lange her, seit wir uns berührt oder geküsst haben … und ich habe ihn so sehr vermisst.
Er erwidert den Kuss, fast schon verzweifelt. Er schlingt seine Arme um mich herum und drückt mich fest an sich. Er beugt etwas seine Knie, so dass ich mich nicht ganz so strecken muss, um meinerseits die Arme in seinem Nacken zu verschränken. Ich öffne meinen Mund und höre sein zufriedenes Brummen, als sich unsere Zungen treffen. Ich kann nicht anders, ich grinse glücklich in den Kuss hinein.
„Lachst Du mich etwa aus?“, flüstert er an meinen Lippen. Auch er lächelt.
„Würde ich nie tun“, necke ich ihn und beiße leicht in seine Unterlippe. Ich grabe meine Finger tief in sein Haar und ziehe ihn noch enger an mich. Sven richtet sich auf und für einen Moment hänge ich mit den Füßen in der Luft. Dann jedoch schlinge ich meine Beine um seine Hüften und kurze Zeit später fühle ich die Wand in meinem Rücken. Ich weiß, dass wir alle Zeit der Welt haben und es ganz sicher sehr viel besser wäre, einen Gang zurückzuschalten, es dieses Mal langsamer angehen zu lassen, aber ich schaffe es einfach nicht. Das konnte ich bei Sven noch nie. Sobald unsere Lippen sich berühren, knallen bei mir sämtliche Sicherungen durch und ich kann nur noch denken: mehr, mehr, mehr. Und jetzt, nach all der Zeit, die ich auf ihn verzichten musste, ist es besonders schlimm. Ich möchte ihn am liebsten mit Haut und Haaren verschlingen. Ungeduldig schnellt mein Becken vor und reibt sich an Sven. Er quittiert meine Bemühungen, indem er mit beiden Händen meinen Hintern umfasst und mir entgegen kommt.
„Du machst mich fertig“, keucht er erregt. „Eigentlich wollte ich es langsam angehen lassen, aber …“, er bricht ab. Dann lasse ich eine Hand nach unten wandern und greife einfach von oben in seine noch geschlossene Hose. „Oh Gott, Constantin“, stöhnt er und zieht den Bauch ein, um mir besseren Zugang zu ermöglichen. Sven entweicht ein kurzer zischender Laut, als ich meinen Daumen einmal um seine Eichel kreisen lasse. Dann ziehe ich meine Hand wieder zurück. Mit wenigen Handgriffen habe ich seine Hose geöffnet und dann liegt sein Schwanz prall und warm in meiner Hand. Seine Beine zittern und scheinen unter ihm nachzugeben, denn wir gleiten gemeinsam Stück für Stück nach unten. Wenige Momente später kniet Sven auf dem Fußboden und ich sitze rittlings auf seinen Schenkeln. Ich vergrabe mein Gesicht in seiner Halsbeuge, während meine Hand Svens Schaft umfasst und langsam auf und ab gleitet.
„Constantin“, haucht er an meinem Ohr. „Ich will Dich so sehr, mach langsam, sonst saue ich Dich in spätestens 10 Sekunden ein“, warnt er mich und saugt anschließend mein Ohrläppchen in seinen Mund.
Ich weiß nicht welcher Teufel mich reitet, aber ich will, dass er kommt, auch wenn ich hinterher aussehen sollte, als käme ich frisch von einer wilden Orgie. Ich beginne zu zählen: „Eins“, flüstere ich und mein Daumen drückt auf den kleinen Schlitz in seiner Spitze. „Zwei“, ich verreibe die ausgetretene Flüssigkeit mit meinen Fingern und gleite mit meiner Faust nach unten bis zur Wurzel. Ich habe eine geradezu diebische Freude daran, mit seiner Beherrschung zu spielen. „Drei.“ Meine Hand gleitet wieder nach oben und ich beiße gleichzeitig ganz leicht in seinen Hals. „Vier“, hauche ich hinterher und drücke mit Daumen und Zeigefinger seine Eichel zusammen. „Fünf.“ Mit festem Griff schiebe ich die Vorhaut wieder nach unten. Noch bevor ich bis 6 zählen kann, verspannt sich Svens Körper. Dann stöhnt er ungehalten und die warme Flüssigkeit spritzt schubweise aus ihm heraus. Diesmal ist es mein
Name, der seine Lippen verlässt, begleitet von einem Wonnelaut, der mich selbst fast an den Rand des Wahnsinns katapultiert. Einige Momente später löse ich mich von seinem Hals und sehe zwischen uns … er hat mich tatsächlich ziemlich eingesaut, mein komplettes Hemd ist voll, sogar der Kragen hat etwas abbekommen. Ich beiße mir grinsend auf die Unterlippe und werfe einen Blick in Svens Gesicht. Er scheint immer noch ziemlich weggetreten zu sein. Er hat die Augen geschlossen, der Mund steht ein wenig offen und sein Atem geht hektisch. Sven mag für viele vielleicht nicht dem Bild des gutaussehenden Mannes entsprechen, für mich ist er jedoch perfekt. Seine Haarfarbe liegt irgendwo zwischen dunkelblond und hellbraun. Das Haar selbst steht auch heute in alle Himmelsrichtungen ab. Ich weiß, dass er es abgrundtief hasst, weil es fast nicht zu bändigen ist, ich jedoch liebe es. Er hat recht hohe Wangenknochen und ich vermute, dass seine Ahnenreihe irgendwann einmal mit slawischem Blut vermischt worden ist. Ganz wild jedoch bin ich auf seine Sommersprossen, die sich unregelmäßig auf Nase und Wangen verteilen, sobald die ersten wärmeren Sonnenstrahlen den Sommer ankündigen. Und dann gibt es da auch noch dieses wahnsinnig niedliche Kinngrübchen, auf das ich ganz versessen bin. Seinen Körper hält er selbst für plump und viel zu groß. Irgendwann werde ich ihm wohl beichten, dass ich seinen Waschbärbauch wahnsinnig sexy finde. Nie habe ich Sven mehr geliebt als in genau diesem Moment und ich möchte tatsächlich Heulen vor Freude.
Irgendwann öffnet er die Augen einen Spalt und unsere Blicke treffen sich. „Du kleiner Teufel“, murmelt er und seine Stimme klingt ein wenig rau.
„Bin ich das?“, grinse ich.
„Ja“, erwidert er, „und ziemlich verrückt.“
„Das ganz sicher … und zwar nach Dir“, antworte ich diesmal ohne jeglichen Schalk.
„Ich liebe Dich!“ Er sieht mich erwartungsvoll an und instinktiv weiß ich, was er hören möchte, aber kann ich ihm wirklich die mächtigste Waffe, die es gegen mich gibt, freiwillig in die Hand drücken? Ich sehe ihn nachdenklich an … ich möchte es ihm wirklich gerne sagen, aber nicht solange noch diese eine Sache ungeklärt zwischen uns steht. Ich habe Schiss davor, aber schließlich rücke ich doch damit raus. Ich brauche diese Gewissheit einfach.
„Was ist mit Axel?“, will ich wissen.
„Nichts“, antwortet er ohne die geringste Spur von schlechtem Gewissen.
„Wie, nichts?!“, erwidere ich und runzle die Stirn.
„Wie ich sagte: nichts! Ich weiß im Nachhinein noch nicht einmal, ob ich wirklich in ihn verliebt war“, erzählt er.
„Ich verstehe nicht …“, meine ich irritiert.
„Ich verstehe es doch selbst nicht so richtig. Ich habe vor ein paar Tagen mit ihm gesprochen. Natürlich gefällt er mir, er ist nett, sieht gut aus, aber da regte sich nichts in mir, noch nicht einmal das kleinste Herzklopfen. Er wirkte so glücklich und ich freue mich aufrichtig für ihn. Wenn ich so zurückblicke, dann war ich wahrscheinlich nur deshalb so fixiert auf ihn, weil er und Manuel für mich der Inbegriff eines Traumpaares sind. Die beiden haben so etwas Besonderes zusammen. Ich glaube, ich war einfach verliebt in die Liebe. Klingt irgendwie total bescheuert, oder?“ Er zuckt mit den Achseln.
„Irgendwie schon“, gebe ich schmunzelnd zu. „Und was ist mit mir?“, hake ich nach.
„Du warst einfach da. Wahrscheinlich habe ich Dich die ganze Zeit geliebt, ohne dass es mir bewusst gewesen wäre. Vielleicht habe ich es aber insgeheim auch gemerkt und es einfach ignoriert. Eines weiß ich aber: nachdem Du mich weggeschickt hattest, bin ich fast wahnsinnig geworden vor Sehnsucht.“ Er hält kurz inne und seufzt laut. „Ich habe den Tritt nicht nur verdient, sondern auch gebraucht, was?“ Er legt seine Stirn gegen die meine.
„Sieht ganz so aus“, bestätige ich unbarmherzig. Kurz überlege ich noch, dann jedoch kann ich es nicht länger zurückhalten. Die Worte purzeln regelrecht aus meinem Mund: „Ich liebe Dich auch, weißt Du?“, murmle ich.
Sven seufzt leise, aber es ist ein glücklicher Laut. „Ich wusste es nicht, aber ich habe es gehofft“, wispert er. „Hast Du mich schon geliebt, als ich …“, will er wissen. Sein Blick scheint mich geradezu zu durchbohren.
Ich nicke und senke verlegen den Blick. Der Schmerz wird immer noch in meinen Augen zu sehen sein.
Sven schiebt einen Finger unter mein Kinn und drückt es leicht nach oben, so dass ich ihm wieder ins Gesicht schauen muss. „Ich kann gar nicht ausdrücken, wie leid es mir tut“, haucht er. „Was bin ich nur für ein Idiot. Kann ich überhaupt jemals wieder gut machen, was ich Dir angetan habe?“ Seine Stimme klingt gequält. Und dann bekomme ich den wahrscheinlich schönsten, ehrlichsten, liebevollsten und zugleich sinnlichsten Kuss meines Lebens. Sven legt all seine Liebe, Ängste … aber auch Hoffnungen in diesen einen Kuss und ich schmelze regelrecht dahin.
„Na der Anfang war doch schon einmal sehr vielversprechend“, flüstere ich etwas atemlos an seinen Lippen. „Jetzt zeig mir doch mal, was Du sonst noch so drauf hast, um es mich vergessen zu lassen.“
Und das tut er dann auch … und verdammt, er macht es richtig gut!
~Ende~
Texte: Jule Fischer
Tag der Veröffentlichung: 23.07.2012
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