~FOREIGN~
Am I like a stranger to you?
What you so see,
when you look at me?
You don't think the way I do!
But I can change,
or even try.
But please, give me a chance
and if you don't, tell me why!
I feel deceived, defrauded and all this shit.
I can't take this,
just don't get along with it!
Kapitel 1
„Kannst du nicht mal still sitzen?“ „Musst du die ganze Zeit so zappeln?“ Das sind Sätze, die Kinder mit ADHS häufig zu hören kriegen. Und wenn sie dann nicht ruhig auf ihrem Platz beim Essen oder auf dem Stuhl im Klassenraum sitzen bleiben, werden sie mit Hänseleien und Foppereien gestraft. Was die meisten Gleichaltrigen leider nicht wissen: Kinder mit dem Aufmerksamkeits-Defizits-Hyperaktiviäts-Syndrom können für ihr Verhalten die meiste Zeit nichts. Das Zappeln geschieht unbewusst, oft merken die Betroffenen überhaupt es nicht selbst, bis sie mehr oder weniger freundlich drauf hin gewiesen werden. Und selbst nach mehrmaligen Hinweisen können viele betroffene Kinder oft nicht ruhig verweilen.
Kapitel 2
Aber nur, weil ein Kind besonders zappelig ist, heißt es nicht direkt, dass es ADHS hat. Es kann auch einfach nur unausgelastet oder gelangweilt sein.
Im Alter wird dieses Zappelphilippverhalten oft schwächer oder verschwindet manchmal sogar ganz. Meistens werden dann auch die Medikamente abgesetzt, wenn sie nicht mehr gebraucht werden.
Nach meiner Erfahrung kann es aber sehr hilfreich sein, wenn die Arzneimittel nicht von jetzt auch gleich, sondern Schritt für Schritt niedriger dosiert werden. Genauso sollte es auch bei der Erhöhung gemacht werden. Bei mir wurde mit einem Schlag die Dosis rapide erhöht und andauernde Kopfschmerzen waren die Folge. Meine Konzentrationsfähigkeit wurde dadurch noch mehr beeinträchtigt und den Großteil der Schulstunden habe ich damit verbracht, meine Trinkflasche aus dem Rucksack zu holen, etwas zu trinken, sie wieder wegzupacken und das nur, um sie 10 Minuten später wieder rauszuholen. Diese Prozedur ging meinen Lehrern – und natürlich auch Mitschülern – irgendwann derartig auf die Nerven, dass ich im Sekretariat Schmerztabletten abgegeben hatte, so, dass ich mich bei Bedarf melden konnte. Aber auch dies war keine Dauerlösung, weil ein Körper irgendwann immun gegen Schmerzmittel wird. Soweit ist es in meinem Fall aber nicht gekommen.
Viele denken, dass Menschen, die sagen sie haben ADHS, sich nur aufspielen und damit die Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen. Dieses Vorurteil kann ich ohne schlechtes Gewissen abstreiten, weil das Aufmerksamkeits-Defizits-Hyperaktivitäts-Syndrom meines Wissens nach eine anerkannte Krankheit ist. Bei mir wurde sie mit 13 Jahren festgestellt, nachdem man mich zu einer Kinder- und Jugendtherapeutin überwiesen hatte. Vorher waren Mama und ich bei einer Psychologin in Behandlung, weil wir Schwierigkeiten miteinander hatten. Diese hat uns dann die Adresse von der Kinder- und Jugendtherapeutin gegeben, weil ihre Methode keine sichtlichen Erfolge hatte. Nachdem Frau Dirks (Name geändert) ihre Diagnose gestellt hat, verschrieb sie mir Medikamente und gab mir die Anschrift von einer Therapeutin, die sich auf Behandlung in Gruppen spezialisiert hat. Seit 2006 bin ich dort in Behandlung und habe sichtliche Erfolge gemacht, die ich im weiteren Verlauf nennen werde.
Kapitel 3
Mit 18 Jahren habe ich bereits einige Stationen meines Lebens durchlaufen, 5 Jahre davon mit „ADHS“ auf die Stirn tätowiert. Anders vermag ich es nicht auszudrücken, weil es meine gesamte Schullaufbahn ungewollt über im Vordergrund stand. In der Grundschule war nie von einer Krankheit die Rede, trotz meines auffälligen Verhaltens.
Die Erinnerungen an das 5. und 6. Schuljahr sind verblasst, nur grobe Bildfetzen erscheinen in meinem Kopf, wenn ich versuche, mich zu erinnern. Als im 7. Schuljahr eine damalige Freundin vom Gymnasium zu uns auf die Realschule – in meine Klasse – wechselte, war die erste Reaktion Freude.
Unser damaliger Klassenlehrer verließ die Schule und somit wurde unsere 7. Klasse an eine andere Lehrperson übergeben. Frau Banner (Name geändert) ist eine vergleichsweise junge, kompetente und sehr autoritäre Person, mit der nicht jeder Schüler klar kommt. Ihre strenge Art war aber genau richtig für mich, weil sie nichts durchgehen ließ und die Grenzen klar machte. „Diese Frau ist das Beste, was uns passieren konnte“, so hat meine Mutter es ausgedrückt und ich stimme ihr voll zu.
Wie bereits erwähnt, bekam unsere Klasse im 7. Schuljahr Zuwachs. Sofort fand das Mädchen in der „Gruppe“ Anschluss, mit der ich ebenfalls die größte Zeit verbrachte. Ich weiß nicht mehr, wie lange es genau dauerte, aber kaum hatte das Mädchen sich integriert, fingen die Anderen an, mich systematisch zu ignorieren, nicht auf meine Fragen zu antworten und gegen Ende komplett auszuschließen. Meine Versuche, mich wieder einzugliedern, waren erfolglos und wurden mit missbilligenden Seitenblicken angenommen. Nachdem alles Streben um Aufmerksamkeit umsonst war, stellte ich meine Mitschüler zur Rede, weil ich es nicht ertrug, wie Luft behandelt zu werden. Als am nächsten Tag ein gefalteter Zettel bei mir auf dem Platz lag, hoffte ich noch, hier die Erklärung für ihr Verhalten zu finden. Stattdessen eröffnete sich mir eine Liste mit dem vielsagendem Titel „does and dont’s“. Ich tat es als schlechten Witz ab, obwohl ich mich im Inneren schon wunderte. In der Pause sprach ich meine Mitschüler an und fragte, ob das wortwörtlich „ihr Ernst sei“. Die Antwort kam von meiner Freundin, die neu in die Klasse gekommen war. Mit einem teilnahmslosen Blick, den ich nie vergessen werde, antwortete sie „Würden wir uns sonst die Mühe machen und das schreiben?“ Daraufhin zeriss ich das Blatt. Mit einem mehr als mulmigen Gefühl kam ich am nächsten Tag wieder in die Schule und fand erneut einen Zettel vor, dieses Mal aber maschinengetippt. Noch heute zieht sich alles krampfhaft in mir zusammen, wenn ich an das „Dokument“ denke. Erneut zeriss ich es vor den Augen meiner Mitschüler, nahm aber dieses Mal den Ernst der Lage war und zog mich zurück.
Die Pausen verbrachte ich von da an alleine, bei gutem Wetter unbemerkt in einem Baum auf dem Schulgelände, bei Regen oder unzumutbarer Kälte irgendwo in einer Ecke. Mehrere Male war ich krank, weil ich bei nassem Wetter mit dünner Jacke im Baum saß und vor mich hin starrte. Natürlich blieb mein Verhalten in der Klasse nicht unbemerkt und die Jungen machten sich einen Spaß daraus, mich in den Pausen aufzuspüren und zu hänseln. Ein ganzen Jahr lang hielt ich den Psychoterror aus, ein Jahr lang zog ich mich mehr und mehr zurück und fand den gesuchten Anschluss in diversen Internetchats und zwar nur dort. Meine Noten waren trotz alledem passabel. Die ganze Zeit über habe ich – trotz gegebenen Anlasses – nie geweint, immer alles in mich hinein gefressen und heruntergewürgt.
Das Ergebnis nach einem Jahr: ich war ein innerliches Wrack ohne äußerlich sichtbare Schäden. Den größten Teil meiner Freizeit verbrachte ich im Internet, ging nur nach draußen wenn nötig. „Irgendwann bekommt auch die dickste Fassade ihre ersten Risse“ pflegt eine Tante immer zu sagen. Bei mir aber kam es nicht zu Rissen, sondern die Mauer aus äußerlicher Gleichgültigkeit zersprang mit einem Schlag; und zwar kurz nach dem Anfang des 8. Schuljahres im Musikunterricht. Die Jungen schmissen meine Sachen vom Stuhl herunter, traten gegen meinen Rucksack. Unser Lehrer war zeitweise etwas kopieren. Während dieser fünf Minuten trieben meine Mitschüler es auf Spitze. Die Mauer brach und meine Wut kam heraus. Die vor mir her tanzenden Jungen bekamen meinen Fuß an ihrem Schienbein zu spüren, milde ausgedrückt. (A/N: Ich bin kein gewalttätiger Mensch und verabscheue es, anderen Schmerzen zuzufügen!) „Was habe ich euch getan, ihr hirnlosen Arschlöcher??!“, schrie ich durch die Klasse und sacke zusammen. Alles, was sich innerhalb von einem Jahr angestaut hatte, kam hoch und ich konnte es nicht aufhalten. Keiner achtete drauf. Erst unser Lehrer nahm sich meiner an und begleitete mich zum Sekretariat, von wo aus ich alle fünf Minuten verzweifelt versuchte, meine Mutter zu erreichen, die mir die Erlaubnis zum früheren Gehen geben sollte.
Nachdem ich der Sekretärin vom Vorgefallenen erzählt hatte, musste ich auch meiner Klassenlehrerin Frau Banner und der Rektorin berichten. Frau Banner knöpfte sich sofort meine Mitschüler vor, ich hatte das Gefühl sie durch das komplette Gebäude brüllen zu hören. Nachdem die Sekretärin meine Mutter erreicht hatte, durfte ich fahren. Vor der Tür zum Verwaltungsflur erwarteten mich die Jungen. Sie entschuldigten sich, aber ich wollte sie weder sehen noch ihre daher gefaselten Entschuldigungen hören. „Spart euch euer Gesülze für sonst wen auf“, erwiderte ich. Mir war klar, dass sie auf Anweisung von Frau Banner abgefangen hatten und ihr auch von meinem Abgang berichten würden. Das war mir zu dem Zeitpunkt aber herzlich egal, weil ich zu aufgewühlt war. Am nächsten Tag erwartet sie mich erneut – und dieses Mal nahm ich die Entschuldigung an. Auch mit meinen Mitschülerinnen sprach ich mich aus.
Und falls sich einige von euch jetzt fragen, warum ich nicht eher zum Lehrer gegangen bin. Für mich liegt die Antwort glasklar auf der Hand: Ich hatte Angst, dass es dadurch nur noch schlimmer werden würde, dass ich noch mehr gemobbt werden würde oder dass mein Verhalten dann mit meiner Krankheit erklärt werden könnte und meine Mitschüler somit noch einen Grund mehr gehabt hätten, mich zu mobben
Kapitel 4
Nachdem ich euch von meinen Erfahrungen in der Schule berichtet habe, möchte ich in diesem Kapitel von Erkenntnissen aus dem Berufsleben berichten. Genau wie Erfahrungen aus der Schule sind die aus den absolvierten Praktika meistens alles Andere als positiv.
Wie bereits erwähnt, habe ich im Sommer 2009 meinen Realschulabschluss mit einem Durchschnitt von 3,1 abgelegt. Auch bei mir stellte sich die Frage „Wohin jetzt?“ Weiter zur Schule? In eine Ausbildung? Durch mehrere Praktika hatte ich Einblicke in verschiedene Berufsfelder gewonnen. Mein erstes Praktikum, welches wir im 9. Schuljahr absolvierten, verbrachte ich im Billerbecker Anzeiger, einem Zeitungsverlag. Den Vorschlag bekam ich von meiner Mutter, alleine wäre ich nie auf die Idee gekommen. Zwei Wochen lang bekam ich die Chance, mir den Beruf des Redakteurs näher anzugucken. Meine Aufgaben bestanden zum größten Teil daraus, Berichte zu verfassen. Mir machte das Ganze sehr viel Spaß, daran kann ich mich gut erinnern. Aber auch das Fazit nach den zwei Wochen kann ich mir ohne Probleme ins Gedächtnis rufen: Motiviert, interessiert, aber leider zu unsicher und zu unselbstständig. Wobei die negativen Punkte überwogen. Da man für diesen Beruf zudem Abitur braucht und meine Schulleistungen immer passabel aber nie herausragend waren, schloss ich mit dem Kapitel Redakteur ab.
Nach dem Fehltritt im Bereich Journalismus versuchte ich mich im Einzelhandel, weil ich schon immer gerne mit Menschen gearbeitet habe und noch nie irgendwelche Probleme hatte, auf sie zuzugehen. Die Wahl des Platzes fiel auf ein kleines Reitsportgeschäft in der nächsten größeren Stadt. Da ich fünf Jahre freizeitmäßig geritten habe und auch heute noch eine große Begeisterung für Pferde und Tiere allgemein hege, versuchte ich dort mein Glück. An die Inhalte des zweiwöchigen Praktikums kann ich mich leider nicht mehr gut zurück erinnern. Obwohl ich wie auch im vorherigen Praktikum mein bestes gab, lautete auch hier das Urteil: zwar interessiert und motiviert, aber zu unsicher, zu unselbstständig und zu langsam. Trotz der Erkenntnis, dass ich auch in diesem Bereich falsch war, ging ein Großteil meiner Bewerbungen an Einzelhandelsketten. Ein Ansturm von Absagen war das Ergebnis. Entgegen der Ratschläge vieler Freunde sendete ich weiterhin Bewerbungen, speziell an Buchhandlungen, weil ich schon immer gerne und viel gelesen habe. Leider bekam ich nie die Chance, in den Beruf des Buchhändlers zu gucken, weil meine schulischen Leistungen nicht ausreichend waren.
Nach mehreren Rückschlägen versuchte ich, im Bereich Pädagogik Fuß zu fassen und bewarb mich bei mehreren Kindergärten, die ein sogenanntes FSJ, ein Freiwilliges Soziales Jahr, anbieten. Auch an mehrere Behinderteneinrichtungen gingen Bewerbungen raus. Schließlich bekam ich ein Vorstellungsgespräch und die Chance, mich bei dem vereinbarten Probearbeiten zu beweisen. Ich wurde hauptsächlich in der Küche eingesetzt, wo meine Aufgaben daraus bestanden, das Essen für die Bewohner zu verteilen und mitzuhelfen, die Servierwagen für die Gruppen herzurichten. Die Mitarbeiter in der Küche waren mit Ausnahme von drei Angestellten allesamt Bewohner des Stiftes und somit behindert. (A/N: Ich hoffe nicht, dass es abwertend rüberkommt, das will ich auf keinen Fall bezwecken! Wenn ich von „Bewohnern“ spreche, meine ich die Menschen, die in der Einrichtung wohnen und betreut werden.) Leider schaffte ich es auch hier nicht, mich an die Arbeitsvorgänge zu gewöhnen, obwohl es immer die Gleichen waren. Schnell wurde klar, dass ich auch hier überfordert gewesen wäre.
Dieser Misserfolg schlug mich soweit zurück, dass ich es fast aufgab, überhaupt eine Stelle zu finden. Ohne die Unterstützung von meinen Freunden hätte ich es nicht geschafft, mich wieder aufzuraffen. Ohne große Hoffnungen begann ich wieder, Bewerbungen abzusenden; um eine Absage nach der Anderen zu kriegen – bis mein Vater mir den Tipp gab, es doch mal in einer Einrichtung in seiner Nähe zu versuchen, ein integrativer Kindergarten, der Sozialpraktikanten für ein Jahr nimmt. Kurz nach der Bewerbung wurde ich zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen und einen Abend später war eine E-Mail in meinem Postfach, gesendet von der Leiterin der Einrichtung. Ich musste sie zweimal lesen, bis ich realisierte, dass sie mir die Stelle zusicherte! Glücklich durch das Haus hüpfend klebte ich die ausgedruckte Mail an die Wohnungstür, so dass Mama sie sofort lesen konnte. Einige Tage später unterschrieb ich den Vertrag.
Leider währte das Glück nicht lange an; mit meinem unsicheren Verhalten gefährdete ich die Sicherheit der Kinder und brachte den kompletten Arbeitsablauf durcheinander. Man gab mir mehrere Hilfen, wie zum Beispiel einen Tischplan, welcher mir genau zeigte, welches Besteck auf welchen Platz gehörte. Trotz dieser Hilfe warf ich alles durcheinander. Nach zwei Wochen, die meine Nerven bis auf das Äußerste strapazierten, wurde mir auch hier mitgeteilt, dass ich das Sozialpraktikum zu meinem eigenen Besten vorzeitig beenden sollte. Auch hier wieder aus den Gründen zu unsicher, zu unselbstständig, eher eine Belastung als eine Hilfe. Während die anderen Praktikanten bereits mit den Kindern in den Waschraum gingen, quälte ich mich noch mit Tischdecken ab. Es hatte beim besten Willen keinen Zweck und die Leiterin entließ mich schweren Herzens, weil sie sah, wie sehr ich mich abmühte.
Nach nur zwei Wochen saß ich wieder mit dem Stempel „ungeeignet“ auf der Straße – wortwörtlich, weil dies meine einzige Chance und die Bewerbungsphase längst vorbei war. Ich stand da, ohne Aussicht auf Schule oder gar Ausbildung; wobei sich bereits da bei mir Zweifel hegten, ob ich je eine solche halbwegs erfolgreich absolvieren könnte.
Ich war an dem Punkt angekommen, wo ich sagte „Ach, hat doch alles keinen Sinn mehr. Ich finde nie einen Platz, wo ich klar komme. Warum unnötig Energie ins Kämpfen verschwenden, wenn man eh immer nur auf die Nase fällt?“ Kurz: Ich war in einem tiefen Loch, aus dem mich keiner mehr hochziehen konnte. Zu der Zeit wohnte ich bei meinem Vater, weil meine Mutter nicht damit umgehen konnte, dass ich nur herumsaß und nichts tat. Sie konnte nicht nachvollziehen, dass ich die Kraft verloren hatte, mich aufzuraffen und weiterzumachen. Auch meine Freunde konnten mir nicht helfen, das gute Zureden und die Umarmungen brachten nichts.
Da all meine Freunde in der Umgebung wohnen, wo ich auch wohne, zog es mich bald zurück zu meiner Mutter. Durch einen glücklichen Zufall bekam ich einen Job auf 400¤ Basis in einer Pommesbude, die man innerhalb von fünf Minuten mit dem Rad erreichen kann. Stück für Stück kam mein verlorenes Selbstbewusstsein zurück, weil ich bis zuletzt das Gefühl hatte, dass es vergleichsweise gut lief. Nach einer Woche bekam ich einen Korb: Ich wurde aufgrund meines Verhaltens auch hier schweren Herzens entlassen, weil es auch hier keinen Zweck hatte. Ich war einfach total überfordert mit der Situation.
Binnen weniger Minuten sank mein Selbstwertgefühl auf den Nullpunkt und es sah danach aus, dass ich dieses Mal endgültig den Kopf in den Sand gesteckt hatte. Wieder kam mir der Zufall zu Hilfe; auf dem Rückweg von der Arbeit traf ich die Rektorin der Realschule, zu der ich schon immer einen guten Draht hatte. Sie fragte mich, was ich im Moment machen würde. Ich erzählte ihr von meinen Fehltritten und dass ich praktisch ohne alles dastand. Die gute Frau fragte mich, ob ich an Blumen interessiert sei und lud mich nach Bejahung der Frage für den nächsten Tag in ihr Büro ein. Als ich dort eintraf, hinterfragte sie genau, was geschehen war, dass aus der kämpferischen Judith, die sie kannte, so ein unsicheres Mädchen geworden war. Also berichtete ich ihr, was geschehen war. „Also, ich kann dir vorschlagen, bei einem Gärtnerbetrieb nachzufragen, ob sie dir ein vierwöchiges Praktikum anbieten könnten. Sie sind mit Fällen wie dir vertraut und wissen mit deiner Schwäche umzugehen.“ Ohne große Hoffnung erklärte ich mich als einverstanden und Frau Schöller (Name geändert) machte ein Vorstellungsgespräch klar. „Während dieser vier Wochen möchte ich, dass du dir selber sagst ‚Ich bin eine Gärtnerin’ und du dein Bestes gibst – für dich selber!“, sagte sie mir noch zum Abschied. „Ich kann’s versuchen“, erwiderte ich darauf. „Nicht versuchen, du sagst dir genau das und nichts Anderes!“ Daraufhin wollte ich nicht widersprechen und einige Tage später fuhren meine Mutter und ich zu dem Betrieb. Sofort fiel mir das große Verständnis der Chefin auf und sie war mir sofort sympathisch. Frau Brüning (Name geändert) sicherte mir ein vierwöchiges Praktikum zu, welches im November beginnen sollte.
Am ersten Arbeitstag wurde ich von zwei Kollegen mitgenommen, die mich am Bahnhof auflasen. Wie bereits beim Vorstellungsgespräch vorweggenommen, machte ich mich durch meine Unsicherheit aus, aber meine Kollegen wussten damit umzugehen, ich fühlte mich verstanden, gut aufgenommen und auf Anhieb wohl. Meine Aufgabe bestand daraus, mit Blumen beladene Container von einem Gewächshaus ins Nächste zu fahren, wo eine Kollegin damit beschäftigt war, diese auszustellen. (A/N: Mittlerweile weiß ich, dass diese Prozedur als ‚rücken’ bezeichnet wird und das Ganze soll bewirken, dass die Pflanzen genug Platz zum Wachsen haben. Unten eine genauere Erklärung.) Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Arbeit, die ich verrichtete, körperlich dermaßen anstrengend sei. Bevor ich in der Gärtnerei anfing zu arbeiten, war mein Körper fast gar keine Belastung gewöhnt und somit bekam ich auch nach einer Woche erste Reaktionen: Meine linke Hand zog sich bei jeder Art von Belastung zusammen, die Schmerzen steigerten sich teilweise ins Unerträgliche und dementsprechend brauchte ich mehr Zeit, um die Container zu beladen und zu ziehen. Nach 1 ½ Wochen hielt ich es nicht mehr aus und ging zu meiner Hausärztin, die mich für den Rest der Woche krankschrieb, Diagnose Sehnenscheidenentzündung im linken Handgelenk. Schmerztabletten und eine abnehmbare Schiene waren meine ständigen Begleiter.
Nachdem ich mein Praktikum beendet hatte, kam wie immer eine Auswertung. Und oh – wie durch ein Wunder wurde mir hier die Chance auf eine Verlängerung gegeben! Sehr interessiert, motiviert, fragt viel nach. Ausnahmsweise standen einmal die positiven Punkte im Vordergrund. Allerdings blieb ich auf Anweisung von Frau Brüning vier Wochen zu Hause, weil es aufgrund der Schmerzen einfach keinen Sinn gehabt hätte. In einer dieser vier Wochen trug ich sogar einen Gips, damit mein Handgelenk komplett ruhig gestellt war.
Am 6. Januar ging’s dann auch direkt wieder los. Ich ging wieder arbeiten, meine Hand meldete sich kein einziges Mal. Während der ganzen Zeit wurde ich von einer Sozialpädagogin begleitet, dir mir half, meine Unsicherheit etwas in den Hintergrund zu stellen. Sie hatte mich auch schon vorher betreut. Nach einem Gespräch mit Frau Brüning, der Sozialpädagogin und mir stellte sich heraus, dass sich meine Chefin durchaus vorstellen könnte, mich auszubilden, allerdings unter der Bedingung, dass ich weiterhin unter den Fittichen der Begleitung stand. Inzwischen hatte sich auch das Arbeitsamt eingeschaltet und mir die Option einer berufsvorbereitenden Maßnahme angeboten. Bei einem Gespräch mit Frau Brüning, der Sozialpädagogin, dem Zuständigen des Arbeitsamtes und mir stellte meine Chefin klar, dass sie es für nicht nötig ansieht, mich in ein Internat tz schicken, wenn mir doch die Möglichkeit einer normalen Ausbildung geboten werden würde. Leider konnte das Arbeitsamt eine solche Hilfe, wie Frau Brüning sie forderte, nicht gewährleisten. Die Sozialpädagogin sprach mit ihrem Chef und der machte klar, dass er die Hilfe nicht über drei Jahre gewährleisten könne. Deswegen schlug er die Übergabe an eine Stiftung vor, die sich auf ausbildungsbegleitende Hilfen spezialisiert hat. Allerdings erst vier Monate nach dem Termin beim Arbeitsamt kam dieser Vorschlag.
Während dieser vier Monate habe ich durchgehend gearbeitet, immer mit der Angst, dass gleich die Ansage kommt „Tut mir Leid, aber die Hilfe wird nicht gewährleistet“. Aber nichts dergleichen kam, was für mich persönlich noch schlimmer war, weil ich keine Ahnung hatte, an was ich jetzt genau war.
Jetzt steht mittlerweile fest, dass ich die Ausbildung sicher habe, nur der Vertrag fehlt noch. Aber der wird auch bald kommen, da bin ich mir 100%ig sicher.
Viele von euch fragen sich jetzt bestimmt „Warum tut man nichts gegen diese Unsicherheit und gegen die Unbeholfenheit?“ Die Antwort ist so einfach wie kompliziert zu erklären. Einige von euch kennen das Phänomen bestimmt: man wird gefordert, man will es richtig machen, man macht sich selber Druck, aufgrund des Druckes macht man Fehler, die einem nicht unterlaufen sollen, deswegen macht man sich noch mehr Druck… Ein Teufelskreis, aus dem für mich persönlich fast unmöglich ist, auszubrechen. Gerade weil ich so oft auf die Nase gefallen bin, will ich mir selber beweisen, dass ich das kann, dass ich keine Hilfe brauche und es alleine schaffe. Und das immer und immer wieder.
Es ist verdammt schwer zu beschreiben, ich bezeichne es als innerliche Unruhe, die einen zu stark vorantreibt. Stellt es euch vor wie einen starken Motor, der in ein zu schwaches Auto gesetzt wird. Auf die Dauer hält das Auto den Druck des Motors nicht stand; meines Wissens nach. Das Ergebnis: Das Auto geht kaputt. Und genauso ist es nun mal bei mir, die innerliche Unruhe macht mich kaputt! Oder ein besseres Beispiel: Ein Ball, in den zu viel Luft gepumpt wird, damit er besser springt, besser ‚funktioniert’; er platzt und kann nicht mehr geflickt werden. So ist es auch bei mir, mit der Ausnahme, dass ich geflickt werden kann – wenn man sich die nötige Zeit dafür nimmt. Diese Unruhe bringt mich dazu, Sachen zu fragen, die ich eigentlich weiß, aber ich will auf Nummer sicher gehen, um Fehler zu vermeiden.
Könnt ihr ungefähr nachvollziehen, was ich meine?
Kapitel 5
Mittlerweile habe ich den Vertrag seit einigen Wochen unterschrieben und bin glücklich wie noch nie zuvor. Endlich, nach jahrelangem Suchen, nach unzähligen Fehlschlägen, Misserfolgen und Tiefphasen habe ich meinen Platz gefunden.
Ich fühle mich so wohl, verstanden und ernst genommen wie bis jetzt nirgendwo. Nirgendwo hat man mir dieses Gefühl des Verständnisses, der Sicherheit und vor allem des Willkommens so vermittelt wie bei meiner jetzigen Stelle.
Innerhalb der letzten Monate bin ich richtig aufgeblüht, langsam aber sich merke ich, dass ich die richtige Wahl getroffen habe. Es war mir nicht von Anfang an klar, es ist wie mit einer kleinen Rispe. Sie wächst und wächst, bis die ersten Knospen das Tageslicht sehen. Und diese blühen dann schließlich auf, so wie ich. Vor einem halben Jahr hätte man mir sagen können „Hilf mir mal bitte, den Tisch tragen“, mir wären alleine bei dem Anblick die Arme abgefallen. Mittlerweile ist es ist selbstverständlich für mich, 20kg über den Kopf zu stemmen, Kisten mit bis zu 16 Pflanzen herumzutragen, als seien es Säcke mit Federn.
Der einzige Unterschied zu einer Rispe ist bei mir, dass ich nie verblühen werde. Im Gegenteil: Mit jedem Fortschritt blühe ich auf, jeder noch so kleiner, von außen gesehener, vielleicht nicht groß nennenswerter Erfolg lässt mein Selbstbewusstsein wachsen und mich mutiger werden. Langsam, aber sicher werde ich wieder die alte Judith, die die Rektorin von meiner ehemaligen Schule kannte.
Von außen gesehen mag ich wie ein kleines, unbeholfenes Mädchen wirken und teilweise bin ich es auch noch. Aber dieses Verhalten lege ich nicht mit Absicht an den Tag. Ich hab es mir „angewohnt“, immer auf Nummer sicher zu gehen, damit ich ja keinen Fehler mache, der mich zurückschlagen könnte. Inzwischen habe ich es akzeptiert, dass ich mal eine Rispe abbreche, dass man mich mal zur Eile antreibt. Früher hätte ich mich selber verrückt gemacht und dadurch noch mehr Fehler gebaut. Aber ich lasse mich von niemandem mehr verrückt machen, dass habe ich definitiv zu lange zugelassen!
Tag der Veröffentlichung: 23.07.2010
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