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ERSTES KAPITEL

 

Eine der typischen Eigenschaften des deutschen Normalbürgers ist unbestritten sein Fernweh. Im Zeitalter des Tourismus, wo auch der entlegenste Winkel unserer schönen Erde und das ausgefallenste Urlaubsunternehmen von Reiseexperten bis drei Stellen hinter dem Komma verorganisiert werden, bleibt der aussterbenden Spezies des echten Globetrotters nur noch Flucht in nostalgische Rückerinnerungen. Wohin ist die aufregende Zeit individuell entdeckender Reiseabenteuer bloß entschwunden? Als ich eine viermonatige Weltumrundung mit einem Flug von den melanesischen Fidschi-Inseln auf das polynesische Südseeparadies Rarotonga krönen wollte, tobte rings um mich herum lautstark ungeahnte sprachliche Vielfalt: Von Sächsisch, über Berlinerisch, Bayerisch, Schwäbisch bis zu Ostfriesisch war alles zu vernehmen, was nimmermüde Förderer deutscher Dialekte aus tiefster Seele entzückt. Zwischen lärmenden in unvermeidliche Shorts und Sandalen gekleideten Menschenmassen schien keine andere sprachliche Kommunikationsmöglichkeit zu bestehen, sodass ich peinlich berührt fortan nur noch Englisch sprach, um nicht dazuzugehören. Diese Konstellation wäre mir einem nach Abenteuern dürstenden 21-jährigen DDR- Bürger namens Hans-Georg Kaethner, der von seinen Freunden nur Hänschen genannt wurde, im Jahre 1956 wie ein nie zu erreichender Traum erschienen. Im eingeschlossenen Staat des mit sächselnder Kastratenstimme den Sozialismus aufbauen wollenden Walter Ulbricht gehörte schon ein Ferienplatz auf der begehrten Insel Rügen zum Gipfel der Seligkeit, an Auslandsreisen war für einen Normalbürger erst recht nicht zu denken.

Meine individuelle Reiselust sprengte den üblichen Rahmen bei Weitem. Wollte ich doch unbedingt erfolgreicher Sportjournalist werden. Ein ersehntes Berufsziel, dessen Verwirklichung nichts im Wege zu stehen schien. Den leiblichen Vater habe ich kaum kennengelernt. Nur als Soldat ganz selten auf kurzem Urlaub im furchtbaren 2. Weltkrieg. Bei der Invasion an der Westfront starb er den sogenannten Heldentod. Meine Mutter hatte wieder geheiratet. Einen wahren Traummann, den Staatstrainer der DDR für Wintersport Wilhelm Jahn. Durch seine Protektion erhielt ich die große Chance, mich im Zeitungsmilieu zu bewähren. Ich wurde als Volontär für die Berliner Lokalredaktion der größten Sportzeitung der Republik „ Deutsches Sportecho“ eingestellt. Was für ein Job! Ich fühlte mich nicht nur voll ausgefüllt, sondern Reisen durch die DDR, um auf Großereignissen eingesetzt zu werden, dämpften sogar mein ständiges Fernweh. Unvergesslich blieb das grandios aufgezogene 2. Deutsche-und Sportfest 1956 in Leipzig. Von mannigfachen Erlebnissen gesättigt, war ich voller Tatendrang an meinen Berliner Schreibtisch zurückgekehrt. Innerlich fest überzeugt, ihn sobald nicht wieder zu räumen. Nach Möglichkeit überhaupt nicht mehr, denn ist Praxis nicht besser als jedes theoretische Studium, um ein guter Journalist zu werden? Augenblicklich erschien mir die berechtigte Möglichkeit, zum gut situierten Redakteur für die Sportart Handball aufzusteigen, als das Traumziel schlechthin.

Jedoch mein Schicksal verfolgte völlig andere Pläne. Nachdem ich mich mühsam durchs Abitur gewürgt hatte, wäre es der höchste Gipfel der Seligkeit gewesen, zum Journalistikstudium an der Leipziger Karl-Marx-Universität zugelassen zu werden. Damals aber wurde meine Bewerbung hochnäsig abgelehnt. Nicht einmal ein unverbindliches Eignungsgespräch billigte man dem Abiturienten mit der Note 3 zu. Jetzt aber, wo ich gerade begann, in der Zeitungsarbeit Erfüllung zu finden, sodass es mich überhaupt nicht dorthin zog, wurde ein äußerst unwilliger Aspirant förmlich dazu gezwungen. Das lag an einem fest gelegten Ritual, nachdem eine renommierte Zeitung geeignete Bewerber aus ihrer Redaktion zum Journalistikstudium delegieren durfte, ja eigentlich unbedingt musste. Für das kommende im September 1957 beginnende erste Semester waren zwei andere junge Kollegen vorgesehen. Jedoch aus persönlichen akzeptierten Gründen sagten beide, sowohl die Frau als auch der Mann, ab. Für unser Blatt ein Gesichtsverlust, praktisch mit leeren Händen dazustehen und überhaupt keinen hoffnungsvollen Kommilitonen schicken zu können. Darum wurde ich unvorbereitet zum Notnagel erkoren und durfte einspringen.

Ehe der neue Student sich dessen versah, saß er verblüfft in Leipzig. Ein Wechsel, der in Windeseile vor sich ging, weshalb nicht einmal Zeit für ein Bewerbungsgespräch geblieben war und auch nicht für notwendig erachtet wurde. Letztendlich hatte ich die einschneidende Änderung meines Lebens gar nicht richtig mitbekommen und noch weniger verdaut. Ein Zustand, der sich in den nächsten Monaten nicht änderte, sondern noch deprimierend verschlechterte. Das lag an der staatlich festgelegten Ausrichtung des Studiums mit einem Lehrstoff, der mich zum größten Teil anwiderte. Zwar kannte jeder der sich für Medien interessierte das Grundprinzip, wie wahre sozialistische Journalisten zu funktionieren hatten, aber speziell in der Praxis einer Sportzeitung gestaltete sich die Arbeit doch wesentlich entspannter und weniger verbohrt als in einer Theorie, die wenig Spielraum ließ. Presse bedeutete in erster Linie Kaderpolitik. Um von vornherein die Linientreue von Journalisten zu gewährleisten, erfolgte die Ausbildung zentral an einer einzigen Hochschule in der DDR. Das Studium in der Sektion Journalistik der Karl-Marx-Universität, bot somit die ausschließliche Möglichkeit, den ehrenvollen Beruf eines staatlich geprüften sozialistischen Journalisten zu ergreifen. Die gezielte Vorauswahl von vorwiegend Absolventen, deren Eltern zur Arbeiter-und Bauernklasse zählten, und während des Studiums eine permanente „Rotlichtbestrahlung“ sollte nach erfolgreichem Abschluss ein hohes Maß an Übereinstimmung zum System gewährleisten. Von Beginn bis Ende war das Fach Marxismus-Leninismus nicht nur Pflichtfach, sondern jede andere Wissenschaft wurde danach interpretiert und seinen Lehrsätzen untergeordnet, was nicht nur in der Philosophie zu kurioser Denkakrobatik von Professoren und Dozenten führte. Daraus ergab sich, dass ein Journalist in erster Linie Funktionär der Partei der Arbeiterklasse sein musste, ob er eingetragenes Mitglied der SED war oder nicht.

Um den Boden für eine sozialistische Medienlandschaft nach ihrer Ideologie vorzubereiten, richtete die sowjetische Militäradministration nach dem Ende des 2.Weltkrieges und der Wiedereröffnung der Universitäten allein nur in Leipzig eine akademische Ausbildung für Journalisten ein. Im August 1951 wurde Wilhelm Eildermann, vor 1933 Chefredakteur in KPD-Zeitungen, zum Professor an der Uni Leipzig und Direktor des neu geschaffenen Instituts für Journalistik und Zeitungswissenschaft berufen. Als 1954 aus dem Provisorium offiziell die „Fakultät für Journalistik“ wurde, übernahm der international bekannte Hermann Budzislawski als Dekan diese Position, die er bis 1962 behielt.

 

 

1951 bezog die Fakultät für Journalistik eine Villa mit Verkleidungen aus Rochlitzer Porphyrtuff (vulkanisches Gestein) in der Tieckstraße 2-6, südöstlich der Galopprennbahn Scheibenholz. Auf dem Areal zwischen Tieckstraße, Fockestraße und Kurt-Eisner-Straße befanden sich auch Wohnunterkünfte für weibliche Studenten. Damit lag die Journalistik mehr als drei Kilometer vom Campus der Universität Leipzig entfernt. Diese Einrichtung wurde im Volksmund als Rotes Kloster bezeichnet. Zwar fand ich hier nicht mein Domizil, aber dafür erlebte und erlitt ich in diesen Mauern unsagbar frustrierende Tage in vielerlei Hinsicht. Sei es auf öden Vorlesungen, bei sinnlosen Diskussionen und selbstkritischen Zerfleischungen in unserer aus knapp zwanzig Neuankömmlingen bestehenden Seminargruppe und zu allem Überfluss auch noch in der Mensa durch ungenießbares Essen.

Mein müdes Haupt bettete ich dagegen nicht in diesem schönen Gebäude, sondern in einem hässlichen Kastenbau. Das mehrstöckige graue Studentenheim lag etliche Kilometer von der Fakultätsvilla entfernt, unweit des Bayrischen Bahnhofs in der Nürnberger Straße. Hier wohnten sozialistischer Ethik entsprechend nur mehr oder weniger linientreue Knaben. Seltsamerweise gebärdete sich die SED-Führung teilweise noch prüder als die von blasenkranken Greisen beherrschte katholische Kirche. Keine Menschenseele kam unentdeckt ins Innere des Gebäudes, denn der Eingang wurde von argwöhnischen Pförtnern mit Parteibuch bewacht, überwiegend weiblichen Geschlechts. Besonders misstrauisch wurde der Besuch von Mädchen beäugt und verweisend kommentiert. Mehr als einmal bekam ich tadelnd zu hören: „Schon wieder eine andere?!“ Vermutlich mit einer Stoppuhr in der Hand achteten die Tugendwächterinnen peinlichst genau auf das vorgeschriebene Zeitlimit. Jeder Gast hatte pünktlich um 22 Uhr das Haus zu verlassen und keine Minute später.

Dabei boten für die überwiegende Anzahl der hier wohnenden Studenten auf allen Etagen gleichartig schlicht eingerichtete Gemeinschaftsräume ohnehin kaum Gelegenheit für verfemtes Sexvergnügen. Es gab lediglich Gemeinschaftszimmer, die jeweils von drei Kommilitonen geteilt werden mussten. Eine von oben angeordnete Belegung, auf die man keinerlei Einfluss hatte. Ob sich das zusammengestopfte Trio mochte oder nicht ausstehen konnte, spielte überhaupt keine Rolle. Um ein perfektes Kontrollsystem zu gewährleisten, gehörte zu jeder Wohngemeinschaft soweit der Vorrat reichte stets ein SED-Genosse. Er fungierte als Stubenältester und wurde für alles, was gegen die Regeln verstieß, verantwortlich gemacht. Das wichtigste Gebot aber lautete, dass tagsüber, wenn keine Vorlesungen oder Seminargruppen anstanden, in der engen studentischen Behausung ungestört für das Studium gelernt werden konnte. Da während der gesamten Besuchszeit bestimmt wenigsten einer des Trios Lerneifer an den Tag legte, wurde der ohnehin wenig anregende Raum erotisches Sperrgebiet. Zum Glück bestätigen Ausnahmen die Regel. Ausgerechnet in unserem Dreibettzimmer wurde der denkbar Ungeeignetste zum Stubenältesten auserkoren. Kurioserweise war aufgrund seines Parteibuches der Jüngste und am leichtesten zu Beeinflussende zum Aufpasser bestimmt. Der niedliche, rotbäckige Dieter Altmann, aus dem im Bezirk Brandenburg am schönen Scharmützelsee gelegenen Storkow, besaß eine derart naiv- sympathische Ausstrahlung, dass er nicht nur bei weiblichen Wesen, sondern auch in uns Beschützerinstinkte weckte. Von Anfang an redeten wir ihn statt mit dem Vornamen nur als „Kleiner“ an. Nicht unbedingt Respekt einflößend oder gar Gehorsam erweckend. Wie von selbst bestimmten deshalb von Anfang an wir beiden anderen, wie die Dinge in unserem Zimmer zu laufen hatten. Der dritte Beischläfer hieß Günter Koch und war der Längste des Trios. Ein stets gut gelaunter Brillenträger mit trockenem Humor, dessen schmunzelndes Lächeln mir unvergessen geblieben ist. Ihm war es nicht besser ergangen als mir, denn auf seine Bewerbung nach dem Abitur hatte er ebenfalls den genormten Ablehnungsbescheid erhalten. Ein einjähriges Volontariat beim Betriebsfunk des Chemiekombinats Bitterfeld wurde der Schlüssel für eine Delegierung nach Leipzig. Aus dieser Konstellation heraus herrschte in unserer Behausung selten die arbeitsintensive Atmosphäre eines Studierzimmers, wo mit Faustscher Besessenheit geforscht wird, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Erwartete einer der drei schnell zu guten Kumpeln gewordenen Neuankömmlinge charmanten Besuch, dann verdrückten sich die beiden anderen, ohne zu zögern, sofort dezent. Das Heim war spartanisch einfach eingerichtet. Auf unendlich langen Fluren lagen zu beiden Seiten nur nummerierte Dreibettzimmer ohne Bad oder Kochmöglichkeit nebeneinander. Großer Duschraum und Gemeinschaftsküche ohne Kühlschrank befanden sich am Ende des Ganges. Mitte der 50er Jahre besaß noch kaum jemand ein transportables Radio, von Fernsehgeräten erst gar nicht zu reden. Deshalb blieb ein vom Morgen bis zum Abend nervender Lautsprecher an der Wand für Heimbewohner die einzige akustische Informationsmöglichkeit, aus der nur das Programm des stets gleichen linientreuen nicht abzustellenden DDR-Senders ins Ohr drang. Zumindest ließ er sich auf fast unhörbar einstellen, um nicht beim Lernen zu stören.

Für gemeinhin nicht übermäßig mit finanziellen Gütern gesegnete Studenten sprach zumindest die kulante Miete. Unterschlupf unters Dach in der Nürnberger Straße kostete monatlich unglaublich anmutende 10 Mark, was allerdings in Vergleich zu den Wohnungsmieten des ersten Nachkriegsjahrzehntes in der DDR relativiert werden muss. An die Einschränkungen im Wohnheim gewöhnte ich mich schnell, weil in unserem Gemeinschaftszimmer der zum Leitwolf auserkorene Dieter, wie ein artiges Hündchen an der Leine geführt werden konnte. Auch mit den Nachbarn auf unserem Flur, ob Genossen oder Parteilose, wurde schnell Freundschaft geschlossen. Die Anknüpfungspunkte für vertraute Gespräche und gemeinsame Aktivitäten in Bezug auf Ausgehen, Sport und natürlich Mädchen trugen automatisch dazu bei.

In Sachen Studium dagegen kam ich von Anfang an nicht richtig in die Gänge. Zahlreiche Enttäuschungen und Frustrationen gehörten in der Folgezeit zur Tagesordnung. Lehrstoff und der gesamte Ablauf muteten zu abstrakt und wirklichkeitsfremd an. Es regte mich nicht im Geringsten zum Schreiben an. Ich begann immer mehr zu fürchten, dass meine Fähigkeiten allmählich verdorren würden wie ein zartes Pflänzchen in der Wüstensonne. Fast alle Dozenten und erst recht die wissenschaftlichen Assistenten verfügten nicht über Persönlichkeit oder Ausstrahlung genug, Thesen und Lehrstoff überzeugend zu vermitteln. Vieles, was sie uns an den Kopf warfen, wirkte unreif, gestelzt und wenig überzeugend. Praktisch verwertbare Anregungen für den späteren Beruf bekam man kaum, denn ausgerechnet das Basisfach Theorie und Praxis der Pressearbeit wurde von Kräften gelehrt, die noch weniger Erfahrung in einer Zeitung als ich hatten, weil sie nach dem Diplom an der Uni hängen geblieben waren. Die einzige Ausnahme bildete Reiner Kunze, den wir in dem ansonsten öden Seminar aber nur ganz selten genießen durften. Später ein Dichter von Format, der zahlreiche Stiftungen und Initiativen ins Leben rief und in der Bundesrepublik mit literarischen Auszeichnungen geradezu überhäuft wurde. Nur er trug eigene kleine Werke in Lyrik und Prosa vor und ermahnte uns, immer das zu tun, weswegen wir eigentlich nach Leipzig gekommen waren: Schreiben, schreiben, schreiben! Einiges von dem, was er zum Besten gab, fand ich schlichtweg hervorragend. Weniger gelungen waren andere Gedichte, in denen er das SED-Regime entgegen innerer Einstellung über den Klee lobte. Geriet er doch wegen kritischer Einwände immer mehr in Opposition und verließ 1959 ohne Promotion die Uni, um sich als Hilfsschlosser in der Produktion zu bewähren. 1977 kam er einer drohenden Verhaftung zuvor und beantragte für sich und seine Ehefrau die Ausreise in die Bundesrepublik, was auch bewilligt wurde.

Die meisten anderen Lehrkräfte hängten den Deckmantel der Wissenschaftlichkeit mit Vorliebe über eigene Unzulänglichkeiten. Eine Quacksalberei, die mir fürchterlich auf die Nerven ging. Umso mehr, weil auch die Mehrzahl der Vorlesungen von Professoren öde Langeweile erzeugten. In vielen Vorlesungen befiel mich Schläfrigkeit und schon in der ersten halben Stunde verlor ich jegliche Konzentration. Statt sorgfältiger Notizen kritzelte ich gedankenabwesend Strichmännlein aufs Papier. Noch weitaus penetranter gestalteten sich die täglichen Sitzungen einer 16-köpfigen Seminargruppe, in die ich eingeteilt wurde. Dort herrschte noch schlimmere Kontrolle als früher auf der Oberschule. Hatte ich mich deshalb durch die leidige Penne gequält? Eigentlich sollte das doch eine längst überwundene Periode sein, über die selbstständig denkende Studenten nachsichtig lächeln konnten. An dieser Fakultät allerdings waren unabhängiges Denken, individuelle Eigenverantwortung und freie Entscheidungsmöglichkeit glatte Fehlanzeige. Das Kontrollsystem eines Netzes von Seminargruppen in allen Jahrgängen drang nach und nach bis in private Bereiche hinein, denn das bestimmende Kollektiv wurde allgegenwärtig. Es dauerte keine vier Wochen, da wurde die Teilnahme an Vorlesungen und Seminaren peinlichst genau überprüft. Eine von den Gruppenmitgliedern gewählte Seminargruppen-Sekretärin, ostdeutschem Abkürzungswahn gemäß kurz „Semsek“ genannt, hatte tatsächlich eine Anwesenheitsliste zu führen.

Anfangs konnte ich den ganzen aufgebauschten Zirkus von künstlich geschaffenen Problemchen, die in sich ständig wiederholenden Sitzungen Kritik und Selbstkritik provozierten, lediglich als Kaspertheater empfinden. Von den 16 Kommilitonen beiderlei Geschlechts unserer Gruppe hatten bald nur noch meine beiden Zimmergenossen Günter und Dieter sowie selbstredend ich keine wohltönende Funktion. Obwohl es mich anekelte, musste ich widerwillig bewundern, dass jede einzelne, der wie in einem Geflecht verbundenen Seminargruppen ohne Anweisung von Lehrkräften mit gut geöltem Mechanismus abspulte. Aus ansonsten harmlosen Einzelindividuen wurde eine fauchende, vielköpfige Hydra, die als Richtschnur gemeinsamen Handelns nur absolute Loyalität und ergebene Treue zum Arbeiter-und Bauernstaat akzeptierte, der uns großzügig die Möglichkeit zum Studium ermöglicht hatte. Zwar war jeder einzelne Student automatisch ein kleines Rädchen in dieser makellos funktionierenden ideologischen Maschinerie, trotzdem misstraute ihm das Kollektiv, ob er auch mit restlosem Einsatz für die gerechte Sache kämpfen würde und dem SED-Staat total ergeben sei. Die Methodik, welche bei solchen Zerfleischungen angewendet wurde, wurzelte noch im tiefsten Stalinismus. Dabei hatte Chruschtschow nach dessen Tod auf dem 20.Parteitag der sowjetischen Kommunistischen Partei bereits begonnen, die verstorbene Legende von ihrem Denkmalsockel zu stürzen.

Man unterschied drei Arten von Sitzungen: Für alle Gruppenmitglieder, für FDJ-Freunde und für Genossen der SED mit Parteibuch. In der Praxis existierten allerdings nur zwei, denn welcher spätere Meinungsmacher, wäre selbstmörderisch genug gewesen, nicht schon längst in die einzige Jugendorganisation der Republik eingetreten zu sein? Um den Schein zu wahren, bestand wenigstens ein optischer Unterschied. Auf als FDJ-Versammlungen bestimmte Zusammenkünfte mussten einheitlich Blauhemden mit dem gelben Symbol der Sonne getragen werde. Von der dritten Kategorie blieb die Mehrheit ausgeschlossen. In diesen Sitzungen trafen sich einzig und allein die 6 Parteigenossen der Seminargruppe. Hier wurde bindend festgelegt, welche einstimmige Meinung die gesamte Gruppe bei möglichen Streitpunkten zu vertreten habe, was auch stets kompromisslos durchgeboxt wurde. Eine andere Ansicht, als die von den sechs Parteigenossen zu vertreten, galt als reaktionär und republikfeindlich. Von der Parteileitung der Fakultät gefordert und vermutlich sogar geschult, lief das in allen Seminargruppen der vier verschiedenen Jahrgänge genauso ab. Deshalb wucherte diese unsichtbare Gesinnungskontrolle derart umfassend, dass ihr sogar Bemerkungen über alltägliche Begebenheiten und ganz unpolitische Themen unterlagen. Selbst zaghaftester Widerspruch wurde nie vergessen, sondern hämisch hervorgekramt, wenn es galt Widerspenstigen eine neue offene Rechnung zu präsentieren. Rituale, welche sich in den Seminargruppen-Sitzungen mit unerbittlicher Präzision wiederholten.

Ausgerechnet der einzige Nachmittag mit der Seminargruppe, den ich als hochinteressant empfunden hatte, brachte mir einen dicken Minuspunkt. Ausnahmsweise hechelte man keine persönlichen Verfehlungen durch. Es wurden auch nicht einmal Pläne für peinliche gesellschaftspolitische Aktivitäten gemacht oder ein Gähnen erregender Rechenschaftsbericht verlesen. Selbst keine der stets einstimmig verlaufenden Funktionärswahlen stand an, weil schon alle Posten vergeben waren. Stattdessen wurde mit erstaunlicher Offenheit über das Finale des sehr gut gemachten sowjetischen Filmes „Der letzte Schuss“ gestritten. Mit hervorragender Kameraführung bildschön in Szene gesetzte Robinsonade von Mann und Frau aus feindlichen Lagern während der Oktoberrevolution. Die zweite Verfilmung der berühmten Novelle von Boris Lawrentjew erhielt 1957 einen Spezialpreis während der Filmfestspiele in Cannes. Ein sensibler, stimmungsvoll bebilderter Film, das Regiedebüt von Grigori Tschuchrai. Tragische Romanze, die durch den politischen Konflikt zum Scheitern verurteilt ist.

Scharfschützin der sowjetischen Revolutionsarmee verliebt sich in einen von ihr gefangenen zaristischen Offizier. Die Bewacherin aus dem roten und ihr Gefangener aus dem weißen Lager geraten nach einem Schiffbruch als einzig Überlebende auf eine unbewohnte Insel. Von aller Welt abgetrennt, scheinbar völlig vergessen und als verschollen aufgegeben, leben sie wochenlang als Partner zusammen und müssen sich, obwohl eigentlich erbitterte Klassenfeinde notgedrungen arrangieren. Unausbleiblich ergibt sich ausreichend Gelegenheit, um über Himmel und die Welt, Mütterchen Russland sowie den Sinn des Daseins endlos lang zu streiten. Unüberwindliche Meinungsunterschiede prallen zunächst heftig aufeinander. Trotz des eigentlich unüberbrückbaren Weltbildes nimmt jeder der beiden Kontrahenten unbewusst Gedankengut des anderen auf. Umso eindringlicher, weil in der völligen Isolation die Stimme des Blutes immer stärker wird. Wie ein Orkan befällt sie leidenschaftliche Liebe. Im Taumel heißer Küsse und Umarmungen sind ideologische Unterschiede scheinbar bedeutungslos.

Nach wochenlanger Idylle aber holt sie die raue Wirklichkeit wieder ein. Am Horizont taucht ein Schiff auf und nimmt Kurs auf die Insel. Man hat die zwei Schiffsbrüchigen entdeckt. Noch ist nicht auszumachen, ob sich jetzt Rote oder Weiße nähern, da werden die Liebenden erneut unversöhnliche Feinde. Dann lässt sich deutlich erkennen, dass es unter zaristischer Flagge fährt. Während der Mann vor Freude außer sich gerät und jubelnd ins flache Wasser springt, um den Befreiern zuzuwinken, erstarrt die an Land zurückgebliebene Frau zur Salzsäule. Der während seliger Tage verdrängte Befehl ihres Kommandanten beherrscht das Denken einer überzeugten Revolutionärin: „Den gefangenen Offizier unter allen Umständen zum Verhör in den nächsten Ortssowjet bringen. Sollte es einen Befreiungsversuch geben, darf er auf keinem Fall lebend entkommen.“ Warnend ruft die aufgebrachte Frau mit schriller bebender Stimme: „Bleib’ stehen, dreh’ dich um und komm zu mir. Du bist mein Gefangener!“ Wie unter einem unsichtbaren Zwang hält sie ihr fast vergessenes Gewehr in Anschlag, mit dem die Rotgardistin unfehlbar trifft. Trotz knapper Munition zieren bereits vierzig Feinde der Revolution ihre Abschussliste und eine letzte Kugel lauert noch verhängnisvoll im Lauf. Der übermütig im Meer herumhüpfende Mann hört den verzweifelten Aufschrei nicht einmal. Für den idealistischen Träumer ist die Zeit eines privaten Glücks mit der Liebe seines Lebens fern blutig-fanatischen Aufruhrs ganz nahe gerückt. Mitten in diese unrealistische Vision glücklicher Harmonie hinein peitscht ein trockener Knall durch die Luft. Der letzte Schuss trifft unerbittlich tödlich! Dann erwacht die Frau aus ihrem Trancezustand. Fest fundierte, eingeimpfte Parteidisziplin bricht zusammen wie ein Kartenhaus. Ein weinendes Dorfmädchen wirft sich über dem im seichten Gewässer hingestreckten Körper des toten Geliebten. Nicht begreifend schüttelte sie ihn an den Schultern und jammert herzzerreißend: „Du Schöner, du Liebster, warum stehst du nicht auf?! Öffne doch deine blauen Augen!“

Anno 1956 in einer noch längst nicht vom stalinistischen Denken befreiten Zeit mutete der Schluss des Filmes sensationell an. Ermöglichte er doch unterschiedliche Deutungen und ethische Beurteilungen. Folglich tobte während der Diskussion ein noch nie erlebter Meinungsstreit. Ketzerhafterweise wurde sogar der bisher einzig denkbare Bewertungsmaßstab infrage gestellt. Demnach galt um jeden Preis für die Sowjetmacht zu stehen nicht allein als heiliges Sakrileg, sondern aus menschlicher Zuneigung dagegen zu verstoßen, musste nicht unbedingt als verwerflich eingestuft und verteufelt werden. Umso ernüchternder wirkte für mich das vorprogrammierte Ende der erregten Debatte. Rechtzeitig formierte sich der Kopf der Gruppenhydra in Form unseres Parteisekretärs in der alarmierenden Feststellung, dass Zweifel an der Sache aus persönlichen Motiven bei zukünftigen sozialistischen Journalisten total untolerierbar wären. Schließlich gaben diejenigen, welche mehr gefühlsmäßig argumentiert hatten, kleinlaut bei und bedauerten selbstkritisch ihren reaktionären Irrtum. Nur ich hielt halsstarrig und undiplomatisch an meiner abweichlerischen These fest. Im hitzigen Eifer entschlüpfte mir sogar ein empörter Ausruf, der nie vergessen wurde:  „Ich persönlich finde es unmenschlich, einen Menschen, den man innig liebt, hinterrücks wie ein Stück Beute abzuknallen. Sollte sozialistische Ethik das tatsächlich verlangen, dann hätten in letzter Konsequenz auch die schlimmsten Nazis nur ihre Pflicht getan!“

Die ersten Monate meines einst heiß ersehnten Studiums erfüllten mich mit totalem Frust. Irgendwie schien ich, nicht richtig in Leipzig angekommen zu sein. Waren die tristen Stunden auf dem Unigelände endlich überstanden, hatte ich keine Lust, den ganzen Mist, mit dem wir tagsüber gepeinigt wurden, auch noch büffelnd im stillen Kämmerlein zu vertiefen. Abends schien mir regelmäßig die Decke auf den Kopf zu fallen. Es zog mich mit magischer Gewalt ins Leipziger Nachtleben, wozu ich auch meine Zimmerkollegen und den einen oder anderen Flurnachbarn fast immer mühelos mitlocken konnte, was für ein erfolgreiches Studium nicht gerade förderlich gewesen sein dürfte. Allerdings ist der Begriff Nachtleben ein wenig hochstaplerisch gewählt. Wir zogen meist auf ein Bierchen und falls passende Objekte der Begierde aufkreuzten für das eine oder andere eng umschlungene Tänzchen in unser Stammlokal, wo ein musikalisches Trio strikt auf die Polizeistunde achtete und schon gegen 22,30 Uhr „Auf Wiedersehen“ intonierte.

Dabei handelte es sich nicht um irgendeinen beliebigen Tanzschuppen, sondern um das Sinnbild gastronomischer Tradition schlechthin. Der Burgkeller wurde bereits im Jahre 1421 erstmalig urkundlich erwähnt. Dieses älteste Restaurant der Stadt liegt im Zentrum Leipzigs am Naschmarkt in einer Umgebung, wo der Geist des großen Goethes aus dem Gemäuer zu dringen scheint. Als prunkvolles Denkmal blickt er gemeinsam mit seinem zu Lebzeiten verarmten Dichterkollegen Schiller auf das Treiben zu ihren Füßen herab. Gegenüber vom Burgkeller liegt die bekannteste Passage der Stadt mit dem legendären Restaurant Auerbachs Keller, wo der junge Goethe als Student regelmäßig versumpfte. Eine beruhigende Entschuldigung für meine abendlichen Eskapaden. Schließlich wandelte ich nur auf den Pfaden des größten Vorbilds für jeden Deutschen, der glaubt, zum Schreiben berufen zu sein. Meine abendlichen Ausflüge beschränkten sich nicht ausschließlich auf den Burgkeller, wobei diverse Streiche ausgeheckt wurden, die in der humorlosen DDR für einen sozialistischen Studenten eigentlich tabu waren, an denen sich aber hin und wieder auch SED-Genossen beteiligten. In den folgenden Wochen nach der heftigen Filmdebatte rutschte ich wie von selbst in einen Strudel, der mich nach offizieller Lesart zum bedenklichen, ständig von Exmatrikulation bedrohten Außenseiter abstempelte.

Eine gefährliche Entwicklung, die ich aber noch nicht ernst nehmen konnte. Dann rückte das erste Großereignis heran. Alle vier Jahrgänge versammelten sich im zirkusartigen Kuppelbau der Anatomie zur FDJ-Versammlung der Journalistischen Fakultät. Die Neueingänge des ersten Studienjahres sollten gebührend eingestimmt werden, auf das, was sie im Roten Kloster erwartete. Ein wichtiger Schritt zur Integration. Ganz unten im Zentrum, wo ansonsten vor künftigen Medizinern Leichen seziert wurden, war eine kleine Tribüne aufgebaut. Dem üblichen Ritual entsprechend hatte zuerst der FDJ-Sekretär der gesamten Fakultät das Wort. Im Grunde genommen eine langweilige Angelegenheit, der niemand besondere Beachtung schenkte. Darum hatte ich in der letzten Reihe der riesigen Arena neben meinen beiden Zimmerkollegen Platz genommen und harrte entspannt aus der Vogelperspektive der Dinge, die sich unten tun würden. Ich vermochte mir nicht verkneifen, zu witzeln: „Hoffentlich sabbert der Parteiheini nicht zu lange. Muss nämlich noch unbedingt einkaufen, ehe die Läden zumachen, sonst verfallen ein paar Lebensmittelmarken, die morgen ungültig sind.“ Da mich die vielen kleinen Reibereien und persönlichen Angriffe durch die Gruppe noch nicht sonderlich bedrückten, sondern mehr amüsierten, fühlte ich keinerlei Beunruhigung. Endlich durfte ich wieder nur ein anonym in der Menge sein. Wenigstens heute schiebt mir kein Schwein Dreck in die Schuhe. Außer den komischen Typen aus meiner Gruppe kennt hier im Hohen Haus bestimmt niemand den schlichten Namen Kaethner. Glaubte ich ahnungslos naiv und lauschte mit der hämischen Vorfreude eines völlig Unbetroffenen. Wusste ich doch aus schulischen Erfahrungen, dass bestimmte Passagen solcher Rechenschaftsberichte immer persönlicher Mohrenwäsche dienten. Mal hören, was die älteren Jahrgänge in dieser Beziehung zu bieten hatten? Gleich würden einige abschreckende Beispiele namentlich genannt werden, um für die fortschrittliche Studentenschaft kritisiert zu werden. Menschlich verständlich waren derartige Angriffe nicht nur für mich das einzig Interessante an dem Schwall hohler Phrasen, der sich über die Zuhörerschaft ergoss. Ansonsten langweilten, breit ausgewalzt die Aufzählungen bombastischer Selbstverpflichtungen für die Zukunft, untermalt von pauschaler Verurteilung westlicher Kriegstreiber, was man ohnehin täglich in der Zeitung lesen musste. Selbst die führenden FDJ-Funktionäre unten am Präsidiumstisch konnten dabei gelegentliches Gähnen nicht unterdrücken.

Da ich heute bestimmt noch nicht dazu verdammt sein dürfte, öffentlich zerrissen zu werden, war ich voll ahnungsloser Erwartung. Endlich betätigte der Redner energisch ein schrilles Glöckchen. Das Zeichen zum Beginn seiner Ausführungen. Prompt verebbte das Stimmengewirr im Rund. Ich hatte mich noch gar nicht auf konzentriertes Zuhören eingestellt, weil die persönlichen Attacken schwerlich bereits in der Einleitung den Grundtenor des Referates bestimmen würden. Doch dann glaubte ich, meinen eigenen Ohren nicht trauen zu können. Vor Aufregung stockte mir förmlich der Atem. Im vertrauten, insgeheim oft bespöttelten Tonfall des Funktionärsjargons a la Ulbricht oder Honecker mit den charakteristischen unnatürlichen Hebungen und Senkungen der Stimme verpasste er mir einen völlig unerwarteten Schock: „Liebe Freunde, ich möchte meinen Rechenschaftsbericht über das vergangene Jahr und die damit verbundene informierende Begrüßung der neuen Kommilitonen einmal ungewöhnlich mit der Nennung eines Namens beginnen. Leider gibt es schon im neuen Studienjahr auf unserer Journalistischen Fakultät bedenkliche negative Beispiele wie den Freund ...“

Tatsächlich ertönte nun mein eigener vollständiger Name, der wie ein Fanal der Verdammnis überdeutlich artikuliert den Aufhänger für seinen weiteren Vortrag abgab. Die folgenden Sätze putzten mich nach allen Regeln der Kunst herunter. Einen Jünger künftiger öffentlicher Meinungsmacher, der erst vor einigen Wochen immatrikuliert wurde, griff man als Ersten und Einzigen wegen abweichender Meinungen und unpassender Verhaltensweise persönlich an. Wie Schuppen fiel mir von den Augen, dass die FDJ-Sekretäre aller Gruppen gemeinsam den Rechenschaftsbericht erarbeitet haben müssten. „Da hat unser FDJ-Macker einen tollen Einstand gehabt. Gerade erst auf der Uni und gleich den Aufhänger zu liefern.“ Brummelte ich verwundert vor mich hin und ergänzte laut ohne auf weitere Details des gehässigen Ergusses zu achten: „Wenn das so weitergeht, bin ich schon bald eine Uniberühmtheit.“

Diese spöttische an Günter Koch gerichtete beiläufige Bemerkung wurde zunächst ungewollt, allmählich immer verbissener zum trotzigen Motto meines Studiums. Einerseits fiel es mir schwer, dem unsagbar lächerlichen Kleinkrieg in der Gruppe ernsthaft Gewicht beizumessen, andererseits begann ich, das perfekt funktionierende System aus Bezichtigungen und Selbstanklagen als Bedrohung zu empfinden. Denunziation galt nicht als solche, weil sie angeblich der guten Sache und damit der Mehrheit unseres Volkes dienen würde. Unterbewusst ahnte ich bald, dass ein einsamer Rufer in der Wüste gegen die ungemein fest gefügte Gruppendynamik am Schluss bombensicher auf der Strecke bleiben müsse. Jedoch obwohl meine Verteidigung mit flapsigem Humor sich in bitteren Sarkasmus wandelte und schließlich ganz versiegte, vermochte ich mich narzisstisch nicht mehr von der Rolle des bösen Buben zu lösen. Bei Auseinandersetzungen um Personen oder in langweiligen Seminaren hüllte ich mich in abwesendes Schweigen und dachte halsstarrig: Schließlich darf ich mein Publikum nicht enttäuschen.

Folglich riss die Kette zermürbender Konfrontationen nicht mehr ab. Dauernde gegen mich gerichtete Sticheleien uferten in offene Anfeindungen aus. Permanente Aufforderungen zur selbstkritischen Umkehr gipfelten in der unverhüllten Drohung, mich zur Bewährung in die Produktion zu schicken. Also bald ab ins Zementwerk Rüdersdorf. Sollte ich allerdings nicht von der Uni entfernt werden und in 4 Jahren das Examen schaffen, könnte meine kleinbürgerliche Hoffnung, wieder als Redakteur ins gemachte Nest des Sportechos unterzuschlüpfen, abgeschrieben werden. Die realistische Zukunft eines derart umstrittenen Absolventen läge bestenfalls bei einem internen LPG-Blatt (LPG = Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) im dörflichen Mecklenburg. Dafür würde man schon sorgen! Eigentlich begann sich bereits jetzt das unvermeidliche Ende meines Studentendaseins anzukündigen, obwohl es noch gar nicht richtig begonnen hatte. Allen künftigen Misshelligkeiten zum Trotz konnte ich die komisch anmutende Umwelt nur mit der gelangweilten Distanz eines Unbeteiligten betrachten. Vulgär ausgedrückt ging mir die dauernde Kritik schlichtweg am Arsch vorbei. Durch eine ironische Betrachtungsweise drangen die mannigfachen Unannehmlichkeiten nicht wirklich bis zu mir durch.

Der nach der öffentlichen Verdammung leichthin geäußerte Satz, dass ich bald eine Berühmtheit sein würde, gewann tatsächlich eine gewisse Realität. Man baute mich regelrecht als schlechtes Beispiel auf. Den Anfang machte die viel gelesene Wandzeitung im Treppenhaus der Fakultätsvilla und über einige Zwischenstationen wurde ich sogar im Republikmaßstab negativ beurteilt. Das Zentralorgan der FDJ die „ Junge Welt“, welche übrigens als eine der wenigen DDR-Zeitungen die Wende überlebt hat, publizierte an disponierter Stelle einen einspaltigen Leitartikel, unter der Schlagzeile: Schwarzes Schaf für immer? Immerhin deutete das Fragezeichen in der Überschrift drauf hin, dass man mich nicht ganz abgeschrieben hätte und noch Hoffnung auf läuternde Einsicht bestände, obwohl es bereits fünf Minuten vor zwölf wäre. Vermutlich war diese Nachsicht in erster Linie Rücksichtnahme auf die Position meines Stiefvaters und die Delegierung durch die sehr renommierte Zeitung „Deutsches Sportecho“.

Anfangs als ich mich noch an Debatten beteiligte, hatte ich den unverzeihlichen Fehler begangen, die revisionistische These zu vertreten, ein fortschrittlicher DDR-Journalist müsse unbedingt auch Zeitungen aus dem Westen lesen und im Radio Rias hören dürfen, um gegen den kapitalistischen Klassenfeind argumentieren zu können. Eine untolerierbare Fehleinschätzung in einem sich selbst abriegelnden Staat, wo man glaubte, Normalbürger würde das wie eine schlimme Seuche infizieren. An der Universität existierte immerhin ein „Giftschrank“, wo diese Presseerzeugnisse gesichert wie die Goldreserven von Fort Knox verwahrt wurden. In absoluten Ausnahmefällen konnte man für eine Habilitation kurzzeitig bestimmte Artikel einsehen, ohne sie mit nach Hause nehmen zu dürfen, um sich nicht die Finger daran zu verbrennen.

Zu den für mich peinlichsten studentischen Pflichten zählte „gute Wahlarbeit“, wovor ich mich wie in besagtem Artikel beanstandet pflichtvergessen gedrückt hatte. Für eine Farce, deren Ergebnis mit über 98% Zustimmung schon vorher feststand, mussten kleine Gruppen von Studenten im Gleichschritt während der Hauptverkehrszeit durchs Zentrum marschieren und vorher auswendig gelernte unsagbar peinlich primitive Wahlslogans in den Äther brüllen. Im Vorjahr hatte ich schamvoll mit gemacht und inständig gebetet, dass mich bloß kein Bekannter sehen würde. Gefährlich wäre gewesen, Erstaunen zu äußern, wie es überhaupt zu Gegenstimmen gekommen sein könnte. Wagte doch niemand eine der verschämt im letzten Winkel versteckten Wahlkabinen zu benutzen, sondern faltete vor den Augen wachsamer Aufpasser brav seinen Wahlzettel mit der Einheitsliste von Kandidaten zusammen und warf ihn pflichtbewusst in die Urne. In kurioser Umdrehung des Begriffes entsprach das einer vorher eingegangenen Verpflichtung zur freien Wahl.

Am meisten empörte mich in diesem Artikel die total aus der Luft gegriffene Behauptung, ich hätte mich verpflichtet, während der Semesterferien an einem 14-tägigen GST-Zeltlager der Karl-Marx-Universität teilzunehmen und dann gekniffen. Die Gesellschaft für Sport und Technik war eine am 7.August 1952 gegründete Massenorganisation in der DDR. Unter dem harmlos klingenden Deckmantel, der gemeinschaftlichen Freizeitgestaltung von technisch und sportlich interessierten Menschen zu dienen, rückte bald der Wehrsport in den Vordergrund und schließlich trug die Organisation auch zur Militarisierung der DDR bei, indem sie die später gesetzlich vorgeschriebene vormilitärische Ausbildung zusammen mit der Nationalen Volksarmee an Schulen, Universitäten und in den Betrieben durchführte. Auf mich, den Pazifisten aus tiefster Überzeugung wirkte das wie ein rotes Tuch. Ich bin niemals diesem kriegerischen Verbund beigetreten oder mit ihm in Berührung gekommen. Während meines Studiums war vormilitärische Ausbildung noch nicht Gesetz, demzufolge hatte ich niemals versprochen an besagtem Trainingscamp teilzunehmen, vermutlich wusste ich nicht einmal davon.

Zu allem Überfluss musste ich mich auch noch hoffnungslos unsterblich verlieben. Dabei war ich zuvor ausgerechnet wegen meiner Art a la Don Juan von Blume zu flattern, von der Seminargruppe, aber auch einigen Dozenten heftig kritisiert wurden. Der aufreizend laszive Hüftschwung einer schwarzhaarigen, hochgewachsenen Studentin, die ein Jahr nach mir das Studium im Roten Kloster begann, lockte mich an wie das Licht die Motten. Wiegende, sehr frauliche, von einem einfachen die Figur verlockend betonendem Kleid umschmeichelte Hüften ließen meinen Atem stocken. Vom ersten Moment an war ich dem aus ländlichen Regionen stammenden Vollblutweib regelrecht verfallen. Ich weiß nicht mehr, wie unsere Beziehung begann, aber diese Studentin, namens Katja Viebig, und meine Leidenstage in Leipzig, wo das Ende mit Schrecken immer näher rückte, verschmolzen zu einer untrennbaren Einheit. Ohne sie würden die letzten Monate an der verhassten Uni nicht wirklich existiert haben. Meine übermächtige Besessenheit für das attraktive Mädchen mit tiefdunklen Augen, die stets irgendwie irritiert und unstet wirkten, sprengten alle Normen und Erfahrungen dessen, was ich jemals zuvor empfinden durfte. Bald tobte in mir ein schmerzlich süßer Taumel. Verstärkt durch eine jede Faser meines Wesens erfassende, nahezu gewalttätige Eifersucht. Ein verzehrendes Gefühl, über das ich bisher erhaben zu sein glaubte. In seltenen lichten Moment, wenn ich allein über diese ausufernde Leidenschaft sinnierte, überkam mich sarkastische Verwunderung. Was für einen verrückten Idolkult trieb ich bloß mit einem zwar gut gebauten, aber im Grunde genommen nur einfachen, gesunden Dorfmädchen? Für wenige lichte Augenblicke wurden mir die kleinen normalen Mängel an der Vergötterten durchaus bewusst. Bei der oberflächlichen, nur auf Äußerlichkeiten bedachten Betrachtungsweise eines jungen leichtlebigen Mannes, hätten sie vorher bei anderen Bekanntschaften ausgereicht, um desillusioniert Schluss zu machen. Jedoch sobald sie leiblich auftauchte, war jeder Zweifel weggeblasen. Selbst ihre etwas zu hohe, schrille Aussprache mit unverkennbar sächsischem Akzent, die mich als ausgesprochenen Fetischisten für den Wohlklang von Stimmen eigentlich hätte enterotisieren müssen, ging einem Dahinschmelzenden wie ein elektrischer Schock unter die Haut. Am liebsten hätte ich mich mit meinem Wunschobjekt auf eine tropische Insel unter Palmen verschlagen lassen, argwöhnisch selbst die Luft beneidend, die von ihr eingeatmet werden durfte. Stattdessen amüsierte sie sich lieber in der profanen Menge gleich gesinnter Studenten und schwamm allzu begeistert auf den Wogen sozialistischen Gemeinschaftsgefühls. Mit der natürlichen Eitelkeit eines hübschen Mädchens ließ sie sich zudem gern bewundern. Voll wachsender Verzweiflung erfüllte mich aber die nicht zu leugnende Realität, dass die heiß begehrte Katja nicht einmal andeutungsweise die maßlose Ungezügeltheit meiner Gefühle erwiderte. Anfangs mochte es ihr geschmeichelt haben, von ihrem neuen Freund mit dem geheimnisvoll anrüchigen Ruf zur absoluten Favoritin erkoren zu werden. Umso mehr, weil das „Schwarze Schaf“ der Fakultät tatsächlich nur noch einer Einzigen treu war. Sie belustigte sich an der arrogant spöttischen Ausdrucksweise ihres Verehrers, genoss seine Fähigkeit zu geistreicher Konversation über jedes Thema und beneidete ihn um seinen eleganten Schreibstil, was nicht gerade zu ihren Stärken zählte. War sie doch wie viele anderer Kommilitonen mehr zufällig in eine journalistische Laufbahn gestolpert.

Der wichtigste Grund, weshalb Katjas Leidenschaft für einen Rebell, der mehr und mehr zum Don Quichote wurde, kaum das Stadium geschmeichelter Neugierde überschritt, lag aber in der Existenz eines unehelichen, pausbäckigen, zweijährigen Sohnes, den sie zärtlich Atze nannte. Als Resultat einer ebenso kurzen wie stürmischen Liebe des unerfahrenen Mädchens wurde er von ihren Eltern auf dem Lande erzogen. Zu meinem diplomatisch unterdrückten Verdruss fuhr sie an Wochenenden beinahe regelmäßig nach Hause. Abgöttisch an dem Kleinen hängend, schwebte die beständige Warnung des bieder-strengen Vaters über ihrem Haupt, sich nicht mehr um ihren Sohn zu kümmern, falls sie sich erneut einen Fehltritt leisten sollte. So lag Katja bedeutsam viel daran, das Studium reibungslos durchzuziehen, um danach als Diplomjournalistin selbst für ihren Sprössling sorgen zu können. Bei dieser Ausgangslage musste jeder Mann nur die zweite Geige spielen, mochte er ihr noch so gut gefallen. Gar eine ernsthafte Verbindung mit einem in alle Fettnäpfe tretenden Fantasten zu planen, durfte sie mit Rücksicht auf ihr Söhnchen keinesfalls in Erwägung ziehen.

Diese übermäßige Liebe brachte einen fatalen existenziellen Nebeneffekt mit sich. Dadurch, dass Katja derart bestimmend in mein Leben trat, wurde ich wesentlich anfälliger als zuvor. Als Kind von einfachen Bauern glaubte sie, dem SED-Staat für die Möglichkeit zum Studium dankbar sein zu müssen und ordnete sich der fordernden Gemeinschaft nicht nur freudig unter, sondern warb um deren Anerkennung. Meine gelangweilte ironische Distanz, die mich bisher wie ein Schutzpanzer umgeben hatte, bröckelte zusehends ab. Widerwärtigkeiten, persönliche Angriffe und wachsende Studienprobleme begannen mich zu bedrücken, denn sie konnten für meine Beziehung zu Katja tödlich werden. Ich kämpfte nicht mehr lässig nonchalant, versank in eine passiv deprimierte Phase, sprach kaum noch ein Wort in der Gruppe und lebte alltäglich wie in einer inneren Immigration. Bisher unbekannte Existenzangst machte mein Nervenkostüm dünner und schlug mir auf den Magen. Vielleicht verlief das Wechselspiel von Ursache und Wirkung aber auch genau umgekehrt. Könnte meine Freundin nicht ebenso wahrscheinlich exakt in dem Moment aufgetaucht sein, als mich der hoffnungslose Kampf gegen eine Übermacht bereits hinreichend zermürbt hatte? Wäre sie demnach nur der letzte Rettungsanker, nach dem ich wie ein Ertrinkender griff, um mich daran zu klammern und eine Exmatrikulation zu verhindern? So oder so, meine überreizte Imagination verwob das Ringen um ihre Gunst mit dem Überlebenskampf gegen das verhasste Kollektiv. Ich begann mir sogar töricht einzubilden, die Masse der Überzeugten wollte mich hinterhältig von dem angebeteten Wesen trennen. Wahre Höllenqualen bereitete zudem der Trieb Katjas, der sie unwiderstehlich in die Arme der Gruppe zog. Alles, was mich voller Ekel abstieß, bereitete ihr vorbehaltsloses Vergnügen. Während ich von manischer Abneigung gegen Gruppenaktivitäten und Fakultätsanlässen, an denen nie Mangel herrschte, befallen wurde, bekam sie freudig blitzenden Auges nie genug davon.

Ständige Resignation entspricht einfach nicht meinem Charakter, deshalb fasste ich den unerhörten Entschluss, einem Netz unerträglicher Verstrickungen zu entweichen. Unmittelbar vor der fälligen Verbannung von der Uni, um mich für ein oder zwei Jahre im schon erwähnten Zementwerk Rüdersdorf gesellschaftlich zu bewähren, kam ich dem todesmutig zuvor. Aus familiären Gründen beantragte ich selbst die Exmatrikulation. Welcher einmalige Affront, denn vermutlich hatte vor mir noch niemand an der Journalistischen Fakultät diesen Schritt gewagt. Es entsprach vollauf den Regeln sozialistischen Zusammenlebens, falls die Gemeinschaft einen nicht systemgerecht funktionierenden Studenten aus rein erzieherischen Gründen zu seinem eigenen Nutzen feuerte. Dagegen durfte es auf keinem Fall akzeptiert werden, dass eine auserwählte Person, welcher der Arbeiter-und Bauernstaat großmütig das Studium ermöglichte, von sich aus schnöde die Flinte ins Korn warf. Die Folge davon war eine nervliche Zerreißprobe ungeahnten Ausmaßes. Eine Fülle von Sondertribunalen meiner empörten Seminargruppe mit anklagender Verdammung des uneinsichtigen Sünders brach über mich herein, ergänzt durch regelrechte Verhöre führender Funktionäre unserer Fakultät.

In einem verzweifelten, total unrealistischen Optimismus hatte ich eine derartige Welle zerstörender Kritik nicht erwartet. Glaubte ich doch sogar, dadurch nicht nur dem Zementwerk zu entkommen, sondern total verblendet, während der Volontärzeit im Sportecho angeknüpfte Verbindungen finanziell ausnutzen zu können. Wenn ich meine Kontakte in Berlin zur schreibenden Zunft auffrischte, müsste es eigentlich möglich sein, als freischaffender Sportjournalist mehr zu verdienen als nach dem mühsamen Abschluss von vier Jahren Studium, wo ich bestenfalls wieder in der Lokalredaktion landen dürfte, von der angedrohten Perspektive in einer LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) im „ostdeutschen Sibirien“ Mecklenburg gar nicht zu reden. Allen Anfeindungen und dem Kesseltreiben zum Trotz träumte ich bis zum späteren bitteren Erwachen von dieser Illusion. Selbst während dieses auslaugenden, Nerven zerschleißenden Ringens ums gesellschaftspolitische Überleben hörte ich nie auf, von einer festen Dauerbeziehung mit Katja zu träumen. Im Ringen um ihre Gunst schien jedoch die erhoffte Position eines nach und nach immer geschätzter werdenden unabhängigen Journalisten wesentlich mehr Aussicht auf Erhörung zu versprechen als in der jetzigen Rolle als „Schwarzes Schaf für immer“. Umso mehr, weil sie aus urmütterlichem Instinkt heraus ehrliches Mitleid mit ihrem einstigen Helden empfand, der seine ironische Überlegenheit gänzlich eingebüßt hatte. Bis zum bitteren Ende hielt das schöne Mädchen tapfer zu mir. Das war ihr hoch anzurechnen, weil ich auch in ihrer Seminargruppe als Abweichler, den man tunlichst meiden sollte, nach Strich und Faden verteufelt wurde.

Schließlich endete meine kurze Studentenkarriere in dem gleichen Rahmen, wo sie ihren vorprogrammierten schlechten Ausgang genommen hatte. Wiederum stand die FDJ-Versammlung der Journalistischen Fakultät für alle vier Jahrgänge im Kuppelbau der Anatomie an. Wie in einem Amphitheater sollten als Hauptattraktion drei Abtrünnige vom gerechten Volkszorn der einseitig orientierten Masse zerrissen und abgestraft werden. Schon damals beim Fehlstart des Studiums musste ausgerechnet ich als Aufhänger für das Eröffnungsreferat herhalten. Es schien schon eine kleine Ewigkeit zurückzuliegen, so viel Unersprießliches war seitdem über mich hereingebrochen. Zum niederschmetternden Finale gestaltete sich das kommende Verdammungsritual im gleichen Stil. Durfte doch ausgerechnet mein Intimfeind Peter Scheitler, Parteisekretär unserer Seminargruppe, das Spektakel eröffnen. Der stalinistische Fanatiker leitete eine Flut boshafter Bezichtigungen und dialektischer Verdrehungen über mich mit dem hämischen Satz ein: „In Abwandlung eines alten Sprichwortes könnte man sagen: Die Ratten verlassen das zu saubere Schiff!“

Als der widerliche Demagoge minutenlang nicht aufhörte, mich fertigzumachen, verlor ich in zunehmender Empörung die Beherrschung. Ich zitterte vor Aufregung am ganzen Körper, wollte aufspringen und einen wütenden Protest von oben über die Masse hinweg in das von Scheinwerfern angestrahlte verhasste Gesicht hinter dem Rednerpult lautstark brüllen. Jedoch ehe ich hochroten Gesichts mit bebenden Lippen unüberlegte Sätze heraussprudeln konnte, die mich möglicherweise in den Knast gebracht hätten, reagierte Katja resolut. Das kräftige Mädchen hatte mich nicht aus den Augen gelassen, drückte ihren Aufbegehren wollenden Freund auf den Sitz nieder und hielt ihn verblüffend mühelos fest. „Sei kein Kindskopf“, flüsterte sie besänftigend, „ du weißt im Moment gar nicht, was du sagst. Darauf warten die hier alle doch nur.“ Nachdem eine Wortexplosion mit sanfter weiblicher Gewalt verhindert geworden war, verrauchte meine innere Wut und ich beruhigte mich allmählich. Umso mehr, weil die Ouvertüre mit meiner Verdammung nur als leichter Aufgalopp für die folgenden Standgerichte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 16.09.2015
ISBN: 978-3-7396-1387-1

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Bis zum Bau der Mauer am 13. August 1961 existierte aber über Westberlin ein Schlupfloch in die Freiheit, was viele Menschen zur Flucht in den Goldenen Westen ausnutzten. Mein Freund Günter und ich hatten aus familiären Gründen nicht vor, für immer abzuhauen, sondern wollten nur von einer sensationell verlockenden Möglichkeit Gebrauch machen. Gewährten die Behörden in Niedersachsen doch Besuchern aus dem anderen Teil Deutschlands für drei Monate einen provisorischen Reisepass der Bundesrepublik Deutschland: der begehrte Freibrief ins ganz große Reiseerlebnis!

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