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Vorwort

 

Im Zeitalter des Tourismus, wo auch der entlegenste Winkel unserer schönen Erde und das ausgefallenste Urlaubsunternehmen von Reiseexperten bis drei Stellen hinter dem Komma überorganisiert werden, bleibt der aussterbenden Spezies des echten Globetrottersl leider oft nur noch resignierende Flucht in nostalgische Rückerinnerungen. Wohin ist sie bloß entschwunden die aufregende Zeit individuell zu entdeckender Reiseabenteuer?

Als ich kürzlich eine viermonatige Weltumrundung mit einem Flug von den melanesischen Fidschi-Inseln auf das polynesische Südseeparadies Rarotonga krönen wollte, tobte rings um mich herum lautstark ungeahnte sprachliche Vielfalt: Von Sächsisch, über Berlinerisch, Bayerisch, Schwäbisch bis zum Ostfriesisch war alles zu vernehmen, was nimmermüde Förderer deutscher Dialekte aus tiefster Seele entzückt. Zwischen lärmenden in unvermeidliche Shorts und Sandalen gekleideten Menschenmassen schien keine andere sprachliche Kommunikationsmöglichkeit zu bestehen, sodass ich peinlich berührt fortan nur noch Englisch sprach, um nicht einer von ihnen zu sein. Am Anfang meiner „Globetrotterkarriere“ während der sechziger Jahre dagegen hatten deutsche Urlauber gerade erst Italien entdeckt und das echte Abenteuer begann ohne Autobahn bereits in Jugoslawien, während im damals noch schier unerreichbar scheinendem Königreich Iran sich lediglich sechzehn hart gesottene Weltenbummler herumtrieben. Für derartige „Reisestudenten“, die selbstbestätigende Erfüllung suchten und weniger das erreichte Ziel feierten, als das Gefühl eine Gefahr erfolgreich gemeistert und dem Mysterium des Unbekannten unerschrocken ins Auge geblickt zu haben, war der legendäre Landweg nach Indien die Herausforderung schlechthin.

Bitte vergessen sie deshalb tunlichst ihr computergestütztes Reisebüro samt Experten, exotische Strände voll dickbäuchiger Germanen, Pauschalbettenburgen oder sogenannte Abenteuerreisen, wo hinterher von den Betroffenen mit Vorliebe auf Entschädigung geklagt wird, weil das Essen zu schlecht war, und begleiten drei junge Leute auf einer nostalgischen, sehr individuellen Reise voll ungewöhnlicher Erlebnisse.

Ouvertüre

 


Frühjahr in Berlin

 

Von der Wichtigkeit meiner Mission erfüllt, den schmalen Geldbeutel wieder etwas aufzubessern, betrete ich, der Vertreter einer bekannten Berliner Judoschule, das Mietshaus in Berlin-Britz. Vollgepfropft mit erprobten Argumenten will ich einen jungen Mann zu Leibe rücken, der leichtsinnigerweise eine Werbekarte an das besagte Unternehmen abgeschickt hatte. Ich erhoffe, auf mehr oder weniger sanfte Art einen neuen Anhänger für die edle Kunst der Selbstverteidigung werben zu können und ahne dabei noch gar nicht, dass ich einen Freund finden soll, der während eines großen Reiseabenteuers mit mir durch dick und dünn gehen wird. Während mein Blick für einen Moment auf dem Türschild verweilt, huschen im Zeitraffertempo die verschiedensten Gedanken durch meinen Kopf:

Da stehe ich nun, ich armer Tor. Wirklich keine erhebende Beschäftigung. Doch wie oft geht selbst die größte Kunst nach Brot. Zumindest ein großer Lebenskünstler bin ich gewiss. 27 Jahre alt, Journalist, Abenteurer, Globetrotter und Weltbürger aus Passion. In mindestens 15 Berufen habe ich mich während vieler Reisen versucht und in mehr als 20 Ländern das müde Haupt gebettet. Am glücklichsten war ich immer dann, wenn die Kilometer unter mir hinwegflogen, und ich neuen Abenteuern und Erlebnissen entgegenrollte.

Ich hole noch einmal tief Luft und drücke auf den Klingelknopf. Die Tür öffnet sich. Automatisch bete ich mein Sprüchlein herunter: „Guten Tag, ich komme aufgrund ihrer schriftlichen Anfrage und möchte sie gern mit den näheren Bedingungen unserer Judo-Lehrgänge bekannt machen.“ Dann erst blicke ich genauer auf mein Gegenüber, den 22-jährigen Fotografen Bernd Duske. Ein normaler, freundlicher, sympathischer junger Mann. Bei näherem Betrachten jedoch fällt etwas sehr Charakteristisches ins Auge. Das beherrschende Element an dem ganzen Kerl ist ein verklärtes Lächeln. Von der Kopfhaut bis zu den Zehenspitzen seiner 1,80 Meter scheint der Judoka in spe zu grinsen. Es geht jedoch etwas ungemein Wohlwollendes und Aufmunterndes von diesem Gebaren aus. Unwillkürlich lächle auch ich breit. Nachdem wir uns solcherart eine stille Minute gegenseitig belächelt haben, folgt prompt die freundliche Aufforderung: „Ach kommen sie doch bitte einmal kurz herein. Ich habe sie schon erwartet.“

Mit höflicher Verbeugung werde ich in eine der vorhandenen Sitzmöglichkeiten komplimentiert. Die Verkaufsschlacht kann ihren Anfang nehmen. Das Gespräch beginnt, folgerichtig abzurollen. Alle Verkaufsargumente werden pyramidenartig aufgetürmt, um in dem Interessenten einen künstlichen Spannungshöhepunkt zu erwecken, der nur durch die Unterschrift unter das Vertragswerk gelöst werden kann. Schon scheint für das nächste Jahr ein neuer Jünger für die Judoschule gewonnen zu sein, da kommt plötzlich Sand ins Getriebe der bisher so hoffnungsvoll verlaufenden Überzeugungsarbeit. Ganz nebenbei ist das Wort Reisen gefallen. Ein Begriff, der magische Wirkung auf uns zwei, deren Beziehung bisher nur lose durch eine triste Werbekarte geknüpft worden war, zu haben scheint. Schon seit einiger Zeit träume ich davon, ohne Zeitlimit im Kleinbus auf dem legendären Landweg nach Indien zu fahren. Bernd dagegen sucht schon lange einen Menschen, der solch einen Trip ohne allzu große Bedenken auch wirklich durchführt. Seine zahlreichen Freunde haben zwar mit dem Finger auf der Landkarte schon die ganze Welt erobert, sind aber dann mit schönster Regelmäßigkeit alljährlich für 14 Tage nur zum Erholungsaufenthalt im Harz oder an der Ostsee gelandet.

So lauscht er mit sichtlichem Vergnügen der Schilderung einer Reise, die mich mit geringem Bargeld per Autostopp bis zum Persischen Golf geführt hatte. Besonders begeistert ist er jedoch über die neuen Reisepläne. Auch mir kommt während dieses Gespräches der spontane Gedanken: Wäre der patente Kerl nicht ein guter Partner für deine nächste Reise? Erstens wirkt er auf den ersten Blick sympathisch, zweitens, was unbezahlbar ist, er vereint just die Talente in sich, die dir gänzlich fehlen. Der Knabe ist technisch begabt, ein guter Autofahrer und sogar noch Fotograf.

Plaudernd vergeht die Zeit wie im Fluge. Für einen zielstrebigen Vertreter, der noch einen großen Kundenstamm zu betreuen hat, ein arger Verschleiß dieser kostbaren Substanz. Während des Gespräches jedoch ist aus dem Fünkchen Fernweh, das immer in uns glimmt, ein richtiger Großbrand geworden, sodass ich mir wie nebenbei die Frage nicht verkneifen kann: „Wie wäre es, haben sie nicht Lust, im nächsten Herbst mit mir nach Indien zu fahren?! “Prompt erfolgt die spontane Antwort: „ Ich würde sofort mitmachen!“

 

Nach diesem bedeutungsschwangeren Satz verwandele ich mich vom Globetrotter wieder zum gewöhnlichen Vertreter. Frei nach dem profanen Motto: Ein Spatz in der Hand ist besser als eine Taube auf dem Dach.
Leider ist Indien noch sehr weit, die Möglichkeit, zu einem Abschluss zu kommen, dagegen ganz nah.

 

 

Sommer am Lago Maggiore

 

Traumziel der Meiers, Müllers, Schulzes und Lehmanns zwischen Berlin und Bonn, Hamburg und München.
Bricht die Ferienzeit in deutschen Landen aus, kann man alljährlich die gleiche Krankheit beobachten: die Epidemie Italia! Getreu den historischen Vorbildern hat der teutonische Drang nach dem Süden einen neuen Höhepunkt erreicht. Wer zählt die Autos, nennt ihre Fahrer? Es gibt die mannigfaltigsten Möglichkeiten, sich den sonnigen Süden zu Gemüt zu führen. Eine Reiseeinrichtung besonderen Kalibers erfreut sich steigender Beliebtheit:

Die Touristen-Rundfahrts-Pauschalreise im Luxusbus. Zahlreiche Unternehmen dieser Art sind wie Pilze aus der Erde geschossen und bieten dem Bundesmännlein und - Weiblein alles, was das Herz begehrt, nach einfachen und immer wirksamen Rezepten: Man sehe und erlebe in einem Minimum an Zeit ein Maximum an Sehenswürdigkeiten, interessanten Städten und Baudenkmälern. Erst in der Sightseeingtour bis zur absoluten Erschöpfung erweisen sich deutscher Charakter und Durchhaltevermögen. Es ist völlig uninteressant, Venedig erlebt und genossen zu haben, sondern das Allerwichtigste, zum Neid der Nachbarn einmal dort gewesen zu sein.

Um den umfangreichen Zeitplan termingerecht erfüllen zu können, verpacke man dreißig bis vierzig strapazierfähige Menschen beiderlei Geschlecht in einen großen Rundfahrtbus. Technischer Lenker der Expedition ist ein kerniger Kraftfahrer. Je massiger, desto vertrauenserweckender. Der geistige Führer jedoch ist der Reiseleiter. Diesem bedauernswerten Individuum fällt eine besonders wichtige Aufgabe zu. Er hat den Reisenden eine problematische und unbeliebte Aufgabe abzunehmen; nämlich das leidige Denken! Wie herrlich ist es doch, sich gänzlich ohne eigenen Willen von der näselnden Mikrofonstimme berieseln zu lassen und von Attraktion zu Attraktion, von Hotel zu Hotel und vom Frühstück bis zum Abendbrot dirigiert zu werden.

 Ein durchschnittlicher Tagesverlauf sieht ungefähr so aus: Frühstück an der schönen blauen Donau in Deutschland, Laufschritt zum Bus, Bayerische Alpen, Österreich, Dolomitenzauber, Mittagbrot in Südtirol. Gesteigerter Laufschritt zum Bus, Lagunenzauber im einmaligen Venedig. Erheblich beschleunigter Laufschritt zum Bus, Endspurt auf der italienischen Autobahn, Sonnenuntergang am Lago Maggiore, Abendbrot. Und dann im Sprintertempo in die Betten, um am nächsten Tag ein doppelt großes Pensum erledigen zu können!

Ein Fortbewegungsmittel dieser Art bewegt sich in rasendem Tempo an einem strahlenden Sommermorgen von Stresa nach Intra am Lago Maggiore entlang. Wieder einmal gilt es die letzten Reserven aus dem Fahrzeug herauszuholen, will man nicht das fahrplanmäßige Fährboot über den See nach Laveno verpassen. Das würde jedoch katastrophale Folgen haben, denn der termingemäße Ablauf des vierten Tages einer sorgsam ausgeklügelten 6-Tage-Fahrt an die Oberitalienischen Seen wäre schon von vornherein zum Scheitern verurteilt. Während die Schar wackerer Hamburger Touristen im Bus wie eine Ansammlung grotesker Gummipuppen in den Sitzen auf- und nieder wippt und sich bei jeder der zahlreichen Kurven in erzwungener Harmonie nach rechts oder links verneigt, werden noch die letzten erschütternden Neuigkeiten ausgetauscht: „Stellen sie sich nur diese Ungerechtigkeit vor. Am Nachbartisch saßen nur zwei Personen, aber die bekamen mehr Butter als wir zu viert.“ „Also nein, dass ich als Herzkranke ein Zimmer im vierten Stock bewohnen musste, das ist eine reine Schikane. Beschweren werde ich mich!“ „Ich werde nie wieder ein halbes Doppelzimmer buchen. Musste ich doch in dieser Nacht mit dem jungen Ding zusammen schlafen. Um drei Uhr morgens kam sie erst nach Hause, ich habe in der ganzen Nacht kein Auge zugemacht.“

Tiraden, die dem leidgeprüften Ohr eines Reiseleiters vertrauter sind als das liebe Brot. Beschwerden, Wünsche und kleine Streitigkeiten müssen mit der Geduld, Geschicklichkeit und Redegewandtheit eines Diplomaten und Nervenarztes in einer Person zu aller Zufriedenheit entwirrt und geschlichtet werden. An und für sich haben mich die Schmerzen eines Reiseleiters bisher völlig kalt gelassen, doch in diesem Fall ist es wesentlich anders, denn das Inklusiv der nervenden Reisegruppe bin leider ich selbst. Bei den ersten Frühlingssonnenstrahlen hatte mich das Fernweh derartig übermannt, dass ich kurz entschlossen dem Judosport Ade sagte und mich bei einem Hamburger Reisebüro als männliche Unterhaltungsdame verdingte.

So stehe ich nun im Bus. Die gewohnten Klagen erreichen kaum mein Ohr, denn Zeitsorgen bedrücken das Gemüt. Beschwörend flüstere ich dem Fahrer zu: „Los Willi drücke etwas mehr auf die Tube, denk‘ daran, was heute noch alles vor uns liegt, bevor wir Landeck erreicht haben. Wollen wir einigermaßen pünktlich dort ankommen, dürfen wir auf keinem Fall das Schiff verpassen. Schließlich müssen unterwegs auch ein paar Esspausen eingelegt werden, sollen wir nicht vor Beendigung der Reise Erschöpfungstote beklagen. Und gerade an diesem Abend wartet die blonde Inge. Sie wollte außerdem noch Christa mitbringen. Wenn wir natürlich erst gegen Mitternacht dort auftauchen, werden sie sicher schon enttäuscht schlafen gegangen sein.“ Der geneigte Leser möge über diese Worte nicht allzu streng urteilen. Jedoch bin ich bei einem Busunternehmen in Lohn und Brot, dessen treuester Kundenstamm aus Jungfrauen zwischen sechzig und achtzig besteht. Schon das Erscheinen einer gut erhaltenen Vierzigerin nötigt Fahrern und Reiseleitern den anerkennenden Kommentar ab: endlich mal wieder ein junges Mädchen!

Dann kommt Intra in Sicht. Doch im gleichen Moment ertönt ein lang gezogenes Hupsignal. Die letzte Mahnung zur Abfahrt! Zum Lösen der Fahrtausweise bleibt keine Zeit, mehr, denn würde ich noch zum Kassenschalter eilen, wäre der Dampfer längst entschwunden. In Sekundenschnelle fällt mir die Rettung ein. Mit Volldampf rollen wir, ohne den fälligen Obolus entrichtet zu haben, auf das Schiff, denn ist unser Bus erst einmal auf der Fähre, wird man notgedrungen warten müssen, bis ich die Bezahlungsformalitäten erledigt habe. Ist mir doch bisher noch kein Italiener begegnet, der sich auch nur einen Lire Geschäftsprofit entgehen ließe. Ein großer Omnibus mit dreißig Personen gar ist ein allzu dicker Brocken. Diese Überlegung erweist sich als goldrichtig. Nach Feststellung des Tatbestandes werde ich sofort von zwei Uniformierten flankiert, auf dass der fremde Reiseleiter das richtige Fensterchen finde. In selten so harmonisch praktizierter italienisch-deutscher Freundschaft setzen wir uns gemeinsam in Trab. Unter den anfeuernden Rufen der Umstehenden kehre ich außer Atem in Besitz der unverzichtbaren Fahrkarten zurück. Mit fünf Minuten Verspätung legt das Fährboot St. Gottardo vom Ufer ab.

Zwar nur fünf Minuten, die allerdings für mich schicksalhaften Charakter haben sollen. Wäre unser Bus um die besagte Spanne später eingetroffen, dann wäre mir mein Glück verwehrt geblieben. Die Überraschung, die mir das Schicksal zugedacht hat, ist von recht aparter Art. Einige Minuten vor unserer überstürzten Ankunft hatte sie das Oberdeck betreten, weil es sich an einem sonnigen Sommertag am Lago Maggiore nur um eine Glücksbotin handeln kann. Mit anmutigem, in den Hüften wiegendem Gang einer Süditalienerin, welcher die üblichen Fortbewegungsbemühungen deutscher Weiblichkeit leicht zu einem Marschtritt a la Preußen degradiert! Wie es sich für wohlerzogene italienische Mädchen schickt, hat es brav zwischen Onkel und Tante Platz genommen.

Plötzlich sehe ich sie! Sie ist klein, hat langes schwarzes Haar, riesige braune Augen und ist von allen Seiten so appetitlich kurvenreich, dass sie mir in diesem Moment wie die fleischgewordene Verkörperung Italiens erscheint. Als die erste Verzauberung gewichen ist, werde ich zum zielbewussten Tatmenschen. Ungeachtet aller schlimmen Gerüchte um die Unansprechbarkeit italienischer Schönheiten, unbekümmert um den doppelten Flankenschutz von Onkel und Tante stürze ich heldenmütig auf sie zu. Mit meinem strahlendsten Lächeln, unter zahlreichen Verbeugungen für das respektable Bewacherpaar, stürme ich die Bastion durch einen sprudelnden deutsch-italienischen Wortcocktail. Zwar versteht sie so gut wie überhaupt nichts, doch die Sprache der Liebe scheint international zu sein. Das kleine Wunder gelingt, sie von ihren Zerberussen weg in die Schiffbar zu entführen. Jetzt ist der Don Juan in mir nicht mehr zu bremsen. Obwohl sie weder Deutsch noch Englisch beherrscht und ich kaum Italienisch, entsteht zwischen uns beiden ein derartiges Spannungsfeld, dass die Unzulänglichkeit der Verständigung überhaupt nicht ins Gewicht fällt. Lediglich zwanzig Minuten darf ich sie anhimmeln, dann ist die Überfahrt wie ein schöner Traum beendet. Hüftwackelnd rauscht die glutäugige Schönheit namens Carmela davon. Mit ihrer Adresse in der Tasche kehre ich seufzend zu meinen alten Damen der Busgesellschaft zurück.

 

ERSTES KAPITEL

 


Vorbereitung, finanzielle Planung und Start

 

Einige Monate sind vergangen. Mein zukünftiges Reiseteam ist tatsächlich komplett. Carmela, die ich mithilfe eines italienisch verstehenden Freundes brieflich auf dem Laufenden gehalten habe, will ebenso wie Bernd unbedingt mitmachen. Unser Entschluss steht felsenfest: Wir fahren nach Indien!

Der Vorsatz ist gefasst, aber jetzt beginnen die leidigen Probleme ideeller und finanzieller Art. Zwar bin ich selbst völlig unabhängig, aber Bernd hat genug familiäre Bindung, dass im September 1963 immer wieder die bohrende Frage auftaucht:„ Warum wollt ihr euch in ein derartiges Abenteuer stürzen?!“

Warum fährt jemand in einem nussschalenähnlichen Boot über den stürmischen Atlantik?
Warum durchquert ein anderer auf einem Fahrrad erbarmungslose Wüsten?

Warum starten „verrückte“ junge Leute mit sehr beschränkten finanziellen Mitteln in ferne exotische Länder?
Warum nehmen sie Unbequemlichkeiten, Entbehrungen, Strapazen und Gefahren auf sich? Sie alle hätten zu Hause viel sicherer, behüteter und sorgloser leben können.

Bei der Suche nach Argumenten für unsere Reise von Berlin nach Bombay fiel mir ein Gleichnis auf, das man auf Autostraßen täglich beobachten kann: die erschreckende Anzahl totgefahrener Igel. Ich habe an einem Tage auf einer Distanz von rund dreihundert Kilometern hundert Opfer gezählt! Warum nur versuchen diese Tiere, unbedingt das silberne Asphaltband zu überqueren? Warum bleiben sie nicht in der Sicherheit und Geborgenheit des vertrauten Waldes auf ihrer heimischen Seite? Sind es nur dumme Tiere, die ohne Sinn und Verstand in den sicheren Tod hineinlaufen? Oder sollte doch etwas ganz anderes dahinter stecken?

Empfinden Igel gar etwas Ähnliches wie Fernweh? Schnurgerade und riesenhaft für die Dimensionen eines Igels spannt sich das Monster Straße. Was befindet sich auf der anderen Seite? Muss dort nicht alles schöner, vollkommener und interessanter sein? Selbst wenn es nicht so wäre, reicht nicht die Selbstbestätigung aus: Ich habe versucht, das Phänomen zu ergründen, ich habe es riskiert und die verlockende Gegenseite erstürmt. Oft ist es nicht so sehr das erreichte Ziel, was zufriedenstellt, sondern das Gefühl als mutiger Herausforderer eine Gefahr erfolgreich gemeistert zu haben und einem Mysterium unerschrocken entgegen getreten zu sein.

Ähnliches mag der kühne Bezwinger eines Bergriesen empfinden. Nach übermenschlichen Anstrengungen steht er oft nur für Minuten auf dem Gipfel seiner Träume, dann beginnt schon der meist noch härtere Abstieg. Trotzdem zählt für ihn nur diese kurze Spanne der absoluten Erfüllung, des beglückenden Bewusstseins, über seine menschliche Unzulänglichkeit gesiegt zu haben und des unbeschreiblichen Gefühls grenzenloser Freiheit.

Das sind allerdings Argumente, die einen gestandenen Bürger mit gesicherten Pensionsansprüchen kaum überzeugen können. Entweder man besitzt dieses Gefühl nach persönlicher Bewährung in außergewöhnlichen Situationen oder man hat es nicht. Den unbestreitbaren Bildungswert unserer Indienreise vermag aber auch der größte Skeptiker nicht in Frage zu stellen, denn von einer sechsmonatigen Expedition durch Länder, in denen die ersten Hochkulturen der Menschheitsgeschichte ihre Blüte erlebten, profitiert man unter Umständen mehr als von einem zweijährigen Studium an der Universität. Überlegungen dieser Art stimmten schließlich auch die Eltern von Bernd versöhnlicher und die Hoffnung gar, dass sich aus der Auswertung der Reise später finanzielle Vorteile für uns ergeben könnten, machten sie am Ende zu ausgesprochenen Befürwortern des Projektes.

Weitaus verzwickter allerdings gestaltet sich die materielle Planung. Wie bereitet man eine Tour von Deutschland nach Indien vor? Hauptvoraussetzung nach Meinung des Normalbürgers ist genügend Barkapital. Wenn man außerdem noch genügend Erfahrung besitzt und gründlich recherchiert, könnte ohne unerwartete Zwischenfälle mit einem erfolgreichen Verlauf zu rechnen sein. Was ist aber – und das trifft wesentlich häufiger zu – falls man nicht über das nötige Kleingeld verfügt?  In dieser vertrackten Lage gibt es zwei grundsätzliche Arten der Vorbereitung. Der normale Weg ist folgender: Der Plan wird gefasst und ein sorgsamer Kostenanschlag über die minimal benötigte Summe ausgetüftelt. Man beginnt, zu sparen und sich theoretisch auf das Abenteuer einzustellen. Bücher und Landkarten werden gewälzt. Immer neue, unüberwindlich erscheinende Hindernisse türmen sich auf. Man durchleidet im Geiste Hitze, schlechte Wüstenpisten, Moskitos und schreckliche Tropenkrankheiten. Die Liste der mitzuschleppenden Medikamente nimmt unheimliche Formen an.So sitzt man da, rechnet, plant, verwirft, seufzt und wenn man nicht gestorben ist, dann plant man heute immer noch.

Der zweite Weg, für den wir uns entscheiden, ist wesentlich einfacher: Man mache sich nicht allzu lange quälende Gedanken über unüberwindliche Schwierigkeiten und den eigenen finanziellen Engpass. Mit einem Minimum an Zeitaufwand werden die Vorbereitungen beendet, um wichtige Nervenkraft für die auf der Expedition von allein auftauchenden Hindernisse und Gefahren zu schonen. Unser persönliches Rezept lautet:

Man nehme eine große Dosis von Optimismus, Unternehmungsgeist, Unbeschwertheit und jugendlichen Tatendrang. Verpacke das Ganze in einen schmucken Kleinbus, reinige sein Gehirn von allen Schlacken überflüssiger Bedenken um eine Indienreise mit sehr beschränkten finanziellen Mitteln und fülle seine Brust mit dem nötigen Fernweh. Dann gebe man Gas und fahre los!

In der Tat, als Bernd und ich uns erst einmal durchgerungen haben, zu fahren, benötigen wir lediglich vierzehn Tage Vorbereitungszeit bis zum Start. Am 1. Oktober 1963 kaufen wir einen VW-Samba-Bus mit aufschiebbarem Sommerdach, der für die folgende Monate zum Hauptakteur des gesamten Unternehmens werden soll. Die nächsten Tage sind ausgefüllt mit einigem Umbauten, denn immerhin wird der schlichte Kleinbus so etwas wie eine kombinierte Fahr-Wohn-Ess- und Schlafmaschine für uns darstellen. Wir unterziehen uns den erforderlichen Impfungen gegen Pocken, Typhus und Cholera. Ausreichend Filmmaterial für spätere Diavorträge wird erworben. Das Inventar des Autos rundet sich um einige notwendige Dinge für den täglichen Bedarf ab, z. B. Benzinkocher und Kochtopf.

Bereits am 13. Oktober feiern wir einen feuchtfröhlichen Abschied von Berlin. Auf der Party mit Freunden wird unser Wagen auf den symbolischen Namen Muck getauft, in der stillen Hoffnung, dass er sich ähnlich wie die bekannte Märchengestalt mit Siebenmeilen-Schritten über Gefahren und schlechte Straßen hinwegsetzen möge.  Schon am 14. Oktober rollen wir auf der deutschen Autobahn unbekannten Ländern und Abenteuern entgegen.

Selbstverständlich haben wir uns vor der Abfahrt auch einige Gedanken über das leidige Geldproblem gemacht. Deshalb soll dieses Kapitel mit einer vollständigen Bilanz des Sieben-Monate-Trips ausklingen, denn viele der nachfolgenden Erlebnisse erklären sich nur aus unserer Finanzmisere. Ohne übergroße Gastfreundschaft, die uns außerhalb Europas ständig entgegengebracht wurde, wären wir allerdings kaum heil nach Indien und wieder zurückgekommen. Aus diesbezüglichen Erfahrungen lässt sich sogar die kühne These ableiten:

Der Abenteurer des 20. Jahrhunderts schlägt sich weniger mit Räubern und Gefahren, als mit der unterschiedlichen Auslegung des Begriffes „Gastfreundschaft“ und seine Aus-wirkungen auf Magen und Darm herum!

Eine kleine Zahlenspielerei wird zudem die am häufigsten gestellte Frage erschöpfend beantworten: „ Wie viel Geld hat der ganze Spaß gekostet?“ Als wir uns entschlossen haben, nach Indien zu fahren, nennen wir ein Barvermögen von 5500 DM unser eigen. Durch den Kauf des gebrauchten Autos und die notwendigen Umbauten wird die ohnehin schmale Habenseite arg strapaziert, weshalb das bescheidene Pluskonto auf 2700 DM sinkt. Von dieser bescheidenen Summe müssen noch das gesamte Filmmaterial und einige unentbehrliche Requisiten wie Luftmatratze, Benzinkocher etc. angeschafft werden. Beim Start verbleiben somit für drei ausgewachsene Personen äußerst bescheiden anmutende 2200 DM. Als nach vier Wochen die erste Zwischenbilanz ansteht, sind wir total erschüttert. 673,96 DM (tatsächlich echt, Buchführung!) sind bereits verprasst und wir haben lediglich Istanbul erreicht. Sechs Monate später jedoch, wo uns das französische Passagierschiff „Vietnam“ von Bombay wieder nach Europa zurückbefördert, müssen wir für den Erwerb der Schiffstickets 2500 DM in harter Währung hinblättern. 300 DM mehr als wir beim Start überhaupt besaßen!! Ein Hexenkunststück oder ein lohnender Job für uns während der Reise? Weder das eine noch das andere!

An Einnahmen verzeichnen wir vom 14. Oktober 1963 bis Ende April 1964 in DM umgerechnet: 50 DM für einen Farblichtbildervortag über Berlin, den wir in der Metropole Istanbul halten, durch den Verkauf von Autoersatzteilen, einem Fotoapparat, einem Elektrorasierer, einem Tischfußballspiel und einem unbekannten Faktor, den ich, um die Spannung nicht vorwegzunehmen, nicht näher definiere, 1365 DM. Dazu kommen als besonders Kuriosum 200 DM für Tanzunterricht, den Carmela in Karatschi tanzwütigen Pakistaner erteilt. Das ergibt also summa summarum eine bescheidene Gesamteinnahme von 1565 DM. Von dieser Summe sind 45 DM für Reparaturen am Auto abzuziehen. Addiert man diesen Betrag mit unserem Startguthaben von 2200 DM, so errechnet sich daraus ein Kapital von 3720 DM. Davon gehen allerdings stolze 2500 DM für die Rückfahrt-Schiffskarten weg, sodass lediglich 1220 DM übrig bleiben. Von diesem Taschengeld hatten wir wie anfangs erwähnt nach vier Wochen bis Istanbul bereits 673,96 DM ausgegeben.

Damit steht als finanzielle Schlussbilanz fest: In sechs Monaten legen drei Personen rund 13 000 Kilometer in sechs Ländern zurück und bestreiten ihr Vorwärtskommen und ihren Lebensunterhalt mit lächerlichen 546,04 DM!

Für dieses Wunder sind außer der unübertrefflichen Gastfreundschaft in orientalischen Ländern auch noch einige andere Ursachen verantwortlich. Harte Währungen wie Dollar oder DM tauscht man auf dem Schwarzmarkt wesentlich günstiger als zum offiziellen Bankkurs um. Darum werden alle Lebensmittel und Gegenstände für den täglichen Bedarf für uns außergewöhnlich billig. Einige Beispiele mögen das veranschaulichen: In der Türkei zahlen wir für 1 Kilo Fleisch 1,25 DM, 1 Kilo Orangen 0,20 DM, ein Weißbrot 0,30 DM. Im Iran für 1 Liter Benzin 0,20 DM. In Indien für 16 Bananen 0,50 DM.

Diese Liste ließe sich beliebig lang fortsetzen. Jedoch selbst günstigste Preise und Gastfreundschaft allein reichen nicht aus, verfügt man nicht über genügend Organisations-und Handelstalent. Bei aller Freundlichkeit gebildeter Orientalen muss ihnen zumindest erst einmal klar gemacht werden, dass drei interessante Europäer aufgekreuzt sind und absolut nichts dagegen einzuwenden hätten, wenn sie eingeladen werden. Zudem nützen die günstigsten Preise für Lebensmittel meist herzlich wenig, versteht der Fremde nicht in Manier Einheimischer, den Basarhändler von seinem obligatorischen Europäer-Sonderpreis herunterzubringen. Zwei überlebensnotwendige Fähigkeiten, in denen wir auf der Reise von Berlin nach Bombay Perfektion erlangen! 

Letzter wehmütiger Blick auf die Zugspitze

ZWEITES KAPITEL

Wir kämpfen mit der Tücke des Objekts, werden zum Trio und verlassen Mitteleuropa

 

Bis zum Tag der Abreise ist das Wetter in Berlin deprimierend trist und grau. Regen, wolkenverhangener Himmel und Nebel vereinigen sich mit kalten Füßen und Schnupfen zu einer Sinfonie des Trübsinns. Doch am 14. Oktober bricht die Sonne strahlend hervor. Selbst der alte Petrus scheint sich über unseren Unternehmungsgeist zu freuen und ihn mit makellos blauem Himmel zu honorieren. Ein beglückender Zustand, der auch in den nächsten Tagen Bestand hat. Während die ersten Kilometer unter uns hinwegfliegen, möchten wir am liebsten laut herausjubeln: „Hurra, wir fahren nach Indien! Fremde Länder und Abenteuer erwarten uns!“

Hannover liegt hinter uns, bei Kassel verlassen wir die Autobahn für einen kurzen Abstecher nach Marburg, wo sich Bernd noch schnell von einer Ortschönheit verabschieden will, bevor für ihn die zu erwartende sexuelle Fastenzeit in den orientalischen Ländern eintritt. Zwar war der erste Reisetag sommerlich warm, aber als der letzte Sonnenstrahl verschwunden ist, sinkt das Thermometer unter den Gefrierpunkt. Genauso rapide senkt sich die Innentemperatur von Muck, der nicht über den Luxus einer Standheizung verfügt. Als ich zähneklappernd in meinen Schlafsack krieche, erinnert mich das mehr an Berichte über Nordpolexpeditionen als an zu erwartende feucht-tropische Hitze. Noch schlimmer ergeht es Bernd, der ziemlich erhitzt von seiner Bekannten zum Auto zurückkehrt, wo ihm die plötzliche Unterkühlung sehr zusetzt. Am nächsten Morgen mutet der Kleinbus mit eingefrorenen Fenstern wie ein verwunschener Eispalast an. Einheimische, die dick vermummt zur Arbeit eilen, tippen sich bezeichnend an die Stirn, als wir aus unserem Auto kriechen und davor eine allerdings nicht sehr gründliche Morgentoilette absolvieren.

Bald ist die kalte Nacht nichts wie ein böser Traum, denn wir fahren durch den gefärbten Herbstwald der Rhön und das Wetter ist noch strahlender als gestern. Vom genussvollen Schauen sind wir rechtschaffen hungrig geworden und wollen auf einer Rast den neu erworbenen Benzinkocher einweihen. Allerdings jetzt wie auch später müssen wir konstatieren, dass die charakterlichen Fähigkeiten eines Benzinkochers allgemein unterschätzt werden. Falls er der Meinung ist, nicht arbeiten zu wollen, hilft weder Bitten noch Flehen. Will man ihm hartnäckig trotz seiner unverkennbaren Aversion züngelnde Flammen entlocken, rächt er sich entschlossen.

Bernd kann schon bei der Premiere ein Lied davon singen, weil das kleine spuckende Ungeheuer ihm einen kräftigen Benzinstrahl ins Gesicht jagt.Für heute geben wir uns geschlagen und nehmen unser Mittagessen in der nächsten Dorfschenke ein, obwohl im schmalen Finanzbudget wahrlich kein Spielraum für derartige Extravaganzen besteht. Verglichen mit dem störrischen Benzinkocher ist Muck ein braver Bursche, der ohne Aufbegehren Kilometer um Kilometer zurücklegt. Allerdings nur unter der Bedingung, dass Benzin im Tank ist. Verweigert man ihm flüssige Nahrung, dann bleibt er schlicht und einfach stehen.

Dieses peinliche Dilemma passiert prompt am Abend in Ingolstadt. Bei völliger Dunkelheit erreichen wir die idyllische Stadt an der Donau. Ausgerechnet an der belebtesten Kreuzung bleibt unser Auto stehen und blockiert den gesamten Verkehr, denn der Benzinstand ist gleich null. Von schadenfrohen Mitbürgern belächelt sitzen die Indienfahrer zum ersten Mal bereits in Bayern fest! Der geschmähte Kocher wird zum Retter in höchster Not. Sein kleiner Inhalt flüssigen Treibstoffes in den hungrigen Schlund von Muck geschüttet, bewirkt immerhin, dass wir uns wieder vorwärtsbewegen können und haargenau bis zur nächsten Tankstelle rollen. Da dort längst geschlossen ist, machen wir aus der Not eine Tugend und erküren die Füllstation zum Campingplatz für diese Nacht. Der Tankwart staunt am nächsten Morgen nicht schlecht über zwei verschlafene Gestalten, die aus dem Auto klettern und kategorisch verlangen:„ Einmal voll, bitte!“

Heute schlägt die endgültige Abschiedsstunde. Wehmütig werfen wir einen letzten Blick auf Deutschlands höchste Erhebung, die Zugspitze. Wie lange werden wir wohl unser Heimatland nicht wiedersehen? Für trübe Gedanken aber bleibt wenig Zeit, weil wir am morgigen Nachmittag unbedingt in Italien am Lago Maggiore sein müssen. In Intra an der Anlegestelle für die Fähre, wo unsere Bekanntschaft begann, soll Carmela, nebst Reisegepäck auf uns warten, um das Trio komplett zu machen. Ich hatte einen kategorischen Eilbrief nach Italien geschickt mit der schnörkellosen Einladung: Wenn Du Lust hast, mit mir nach Indien zu fahren, erwarten wir Dich am 18. Oktober 1963 um 17 Uhr am Fährhaus in Intra. Die erforderlichen Impfzeugnisse und ein gültiger Reisepass sind unbedingt erforderlich!

Je mehr ich jetzt darüber nachgrüble, desto unwahrscheinlicher erscheint es mir, dass Carmela tatsächlich mitmachen würde. Nach unserer kurzen Bekanntschaft hatten wir uns nur noch ein einziges Mal wiedergesehen. Unter sehr mühseligen Umständen, wobei ein italienischer Taxifahrer als Dolmetscher fungierte, erfuhr sie von meinen kühnen Reiseplänen. In den folgenden Monaten spannten lediglich Briefe von Deutschland nach Italien und umgekehrt eine Brücke, wobei das Italienisch eines deutschen Freundes, der für mich formulierte und übersetzte, noch mangelhafter war, als die englischen Sprachkenntnisse des italienischen Taxifahrers. Zu allem Überfluss war meine Schöne vom Lago Maggiore gerade erst zwanzig Jahre alt und brauchte für den erforderlichen Reisepass die Einwilligung ihrer Mutter. Welche italienische Mutter jedoch würde wohl ihrer minderjährigen Tochter erlauben, mit einem wildfremden Ausländer auf Weltreise zu gehen?!

Umso erstaunter war ich deshalb, als kurz vor der Abreise aus Berlin ein zustimmendes Telegramm eintraf:

Alle Formalitäten erledigt. Erwarte Dich an 18. Oktober um 17 Uhr in Intra – Carmela  Bevor sie nicht in unserem Auto saß, würde ich an gar nichts glauben, obwohl mir mein Gefühl sagte, dass sie da sein würde.

Ohne Aufenthalt sind wir weiter durch Österreich gefahren und haben hinter Landeck durch den Finstermünzengpass die Schweiz erreicht. In dem bekannten Schweizer Kurort Schuls gedenken wir, Nachtruhe zu halten. Im Dunkel erkenne ich noch schemenhaft einen winkenden kanadischen Studenten am Straßenrand, der durch Europa trampt. Für heute hat er den Anschluss verpasst und ist hier hängen geblieben, denn niemand will ihn zu so später Stunde nach Italien mitnehmen. Wir versprechen dem frustrierten Tramper für den kommenden Tag eine Mitfahrgelegenheit zum Comer See und verabreden, dass er sich früh am Auto einfinden soll. Bei wiederum recht kühlen Temperaturen mit Bodenfrost schlüpfen wir schnell in unsere Schlafsäcke.

Als ich in der Morgendämmerung aus dem Autofenster schaue, glaube ich ein Gespenst zu erblicken. Unweit von Muck entfernt liegt auf der von Raureif überzogenen Gebirgswiese etwas in ein weißes Bettlaken gehülltes rundes Zusammengerolltes. Das Bündel beginnt sich allmählich zu entwirren und ein menschliches, blau gefrorenes Wesen kommt zum Vorschein: unser kanadischer Student! Bei seiner schmalen Kasse wäre ein Hotelzimmer im teuren Schuls unerschwinglich gewesen. Jugendherbergen gibt es weit und breit nicht. Zwar hatte ihm der Hausknecht eines Hotels angeboten, brüderlich das eigene Kämmerlein zu teilen, aber bei näherer Begutachtung stellte sich das freundliche Angebot nicht so sehr als ein Akt der Nächstenliebe heraus, sondern als homosexuelles Begehren. Da das Liebesleben unseres neuen Freundes offensichtlich normal gelagert ist, zog er die eiskalte Wiese dem warmen Bett vor! Ein heißer Tee auf unserem Benzinkocher zubereitet, der aus Mitgefühl mit dem Kanadier tatsächlich funktioniert, taut ihn wieder auf.

Zwischen Como und dem Lago Maggiore stehen Bernd und ich ziemlich ratlos auf einer Wiese und betrachten kopfschüttelnd das Innenleben unseres Muck. Wie konnte in knapp vier Tagen bloß ein derart babylonisches Chaos an Unordnung entstehen? Es ist unbegreiflich, was man alles in einem Kleinbus nicht finden kann und welche Überraschungen plötzlich zutage kommen, rafft man sich doch einmal seufzend zum Großreinemachen auf. Es ist erst 13 Uhr, also bleibt noch hinreichend Zeit, um die Sachlage ein wenig zu zentralisieren und zu normalisieren, denn sonst nimmt Carmela gleich wieder Reißaus!

Kochtöpfe, Waschschüsseln, Koffer stapeln sich neben Autoersatzteilen, verschmutzten Sitzen und gebrauchter Unterwäsche in schlimmster Disharmonie im Gras. Die genießbaren Essvorräte werden sorgsam von den verdorbenen getrennt. Dann beginnt die wahre Schwerstarbeit, weil alles Ausgepackte irgendwie wieder untergebracht werden muss. Unmöglich, dass dieser fürchterlich Kramladen Platz in einem Minibus finden soll. Wir ackern, bis uns der Schweiß in Strömen über die Stirn läuft. Endlich ist es geschafft und wir blicken stolz auf unser Werk: Muck präsentiert sich im Sonntagsstaat.

Wir hätten allerdings besser auf die Uhr schauen sollen, denn inzwischen ist es so spät geworden, dass uns nur noch eine Rekordfahrt pünktlich zur Abfahrt der Fähre in Laveno bringen kann. Muck macht seiner weinroten Farbe alle Ehre, denn er rast wie die Feuerwehr im verkehrswidrigen Tempo. Im letzten Moment, wie schon einmal, doch jetzt von auf der Gegenseite, rollt unser Auto ins Fährboot. Am 18. Oktober, pünktlich um 17 Uhr treffen wir in Intra ein. Mit „bescheidenem“ Handgepäck von drei schrankähnlichen Koffern, bei deren Anblick Bernd und ich konsterniert zusammenzucken, erwartet uns tatsächlich Carmela. Das Trio ist komplett!

Die Aufgaben werden verteilt: Carmela fungiert als verantwortliche Köchin. Sie entledigt sich dieser Aufgabe mit durchschlagendem Erfolg. Schon nach einer Woche sind Bernd und ich perfekte Spaghettiesser. Bernd wird verantwortlicher Fahrer und Techniker vom Dienst, weil weder Carmela noch ich im Besitze eines Führerscheines sind. Vom streikenden Benzinkocher über diverse Reifenpannen bis zur defekten Luftmatratze muss er alles mit viel Improvisation reparieren. Erstaunlich, dass ihm bei solcher Überbeschäftigung noch genügend Zeit bleibt, um faszinierende Fotoschnappschüsse auf das Zelluloid zu bannen. Meine Aufgabe ist von vornherein klar umrissen. Als Initiator des ganzen Projektes bin ich der Sprecher, Planer und Organisierer unseres kleinen Teams. Vorher hätte ich mir nie träumen lassen, welche beharrliche Ausdauer ich mir in den folgenden Monaten beim ständigen Kampf mit schicksalsergebenem Gleichmut und orientalischer Bürokratie zulegen würde. Falls nur die Hälfte davon später für Deutschland erhalten bliebe, wäre ich von keiner preußischen Behörde mehr abzuweisen!

Ein Kurzaufenthalt in Venedig beschert mir persönlich gleich dreifachen Genuss. Unsere von nächtlicher Unterkühlung arg strapazierten Körper fühlen sich wie im siebenten Himmel, denn auch nach Sonnenuntergang ist das Wetter angenehm warm und mild. Ein erholsameres Willkommensgeschenk hätte uns die weltberühmte Lagunenstadt wahrlich nicht bescheren können. Meine beiden Begleiter, die zum ersten Mal hier weilen, sind hingerissen und genießen das bunte Treiben von „Bella Venezia“ in vollen Zügen. Auch ich, der kein Greenhorn mehr ist, kann mich dem einzigartigen Fluidum nicht entziehen. 

Wo auf der Welt gibt es eine pulsierende Verkehrsader wie den Canale Grande, von einzigartigen Palästen flankiert? Wer kennt einen fantastischeren Rundblick als die atemberaubende Aussicht vom Turm der Campanile über Markusplatz, das kanaldurchzogene Gassengewirr bis hinaus zum Lido? Wo auf der Welt aber noch herrscht im Jahre 1963 ein derartiges Gewimmel von Touristen, die sich wie Heuschreckenschwärme über die Sehenswürdigkeiten des historischen Venedigs ergießen? Schubweise stößt und drängt man sich durch die engen Gassen. Die Einheimische wirken wie Fischer, die ihre Köder für den Geld bringenden Besucherstrom auslegen. Besonders um den zentral gelegenen Markus-Platz herum treibt der Preiswucher üppige Blüten. Glücklicherweise findet der Individualist immer noch unverfälschte italienische Romantik, wen er sich bei seinen Streifzügen nur ein wenig von den Trampelpfaden des Tourismus entfernt.

Unbestritten der größte Genuss für mich ist der beglückende Umstand, dass ich zum ersten Mal als freier unabhängiger Privatmann und nicht als Reiseleitersklave einer Busgesellschaft hier weile. Amüsiert erinnere ich mich an eine biedere Hamburgerin, die zu meinen damaligen Schützlingen zählte. Sie verbrachte unseren Venedigaufenthalt im Vestibül des Vertragshotels bei deutschem Bier und Schnaps, diesen Genuss mit der Bemerkung würzend: „Kahnfahren kann ich auch in Hamburg auf der Alster und da stinkt es nicht einmal so!!“

In Triest halten wir uns nur einen halben Tag auf, weil schon nach ein paar Stunden die Visa für Jugoslawien im Pass sind. Dann verlässt Carmela mit recht gemischten Gefühlen ihr Heimatland. Die Zollformalitäten ziehen sich unerwartet in die Länge, denn ein uniformierter Westentaschencasanova hat sich mit südländischem Temperament in seine glutäugige Landsmännin vernarrt und flirtet, was das Zeug hält. Er kann sich durchaus nicht von der lockeren Konversation mit Carmela losreißen. Wir gönnen ihr diesen übersprudelnden Wortschwall von ganzem Herzen, wissen wir doch, dass es für lange Zeit das letzte Gespräch in ihrer Muttersprache sein dürfte. Von nun an muss sie sich vorwiegend mit Händen, Füßen und wenigen Worten Englisch verständlich machen. Zum Glück erweist sie sich als sehr sprachbegabt. Schon nach knapp zwei Monaten spricht sie mit uns in fließendem Umgangsenglisch.

 

Nachsaison am Lago Maggiore

 

DRITTES KAPITEL

Adriafreuden, Wein, Campingplatz, Bora und ein Capitano

 

 Tiefblauer Himmel, spiegelglatte See, warme freundliche Oktobersonne. Träumerisch wiegen sich schmucke abgetakelte Segelboote in der idyllischen Meeresbucht von Opatija. Weiße Häuser mit flachen roten Dächern schmiegen sich terrassenförmig an sanfte grüne Hänge an. Palmenboulevards und große Hotels geben dem Ort den Hauch eines internationalen Seebades. Auf dem Campingplatz ist es völlig menschenleer. Der Dinare kassierende Wärter hat sich schon in das winterliche Privatleben zurückgezogen und schont unsere schmale Reisekasse. Unbeschwert wälzen wir uns auf Luftmatratzen und genießen eine beglückende menschliche Beschäftigung, das Nichtstun! Für mindestens vierzehn Tage soll dieser beliebte Zeitvertreib unser Hauptlebensinhalt sein. In den nächsten Wochen und Monaten lauert eine Fülle von Härten und Strapazen auf uns, die frische Kämpfertypen erfordern. Vom monotonen Alltagsringen um schnöden Mammon sind wir jedoch alle drei angeschlagen und urlaubsreif. Was läge also näher, als in einem zweiwöchigen Erholungsaufenthalt im Ferienparadies der jugoslawischen Adria den inneren Akku wieder aufzufüllen? So beginnt die Ferienzeit. Unser süßes Faulenzen wird nur von wenigen kleinen Problemen gelegentlich unterbrochen. Von Ort zu Ort wiederholt sich die unerlässliche Notwendigkeit, einen passenden, kostenlosen Platz für Aufenthalt und Übernachtung zu finden.

In Opatija wenigstens scheinen wir glänzend damit versorgt zu sein. Zum Barometer unseres Wohlbefindens wird eine simple Zweiliterflasche. Ist sie gefüllt mit edlem jugoslawischem Rebensaft, steht es unverrückbar auf schön. Neigt sich ihr Pegelstand dem Nullpunkt zu, versuchen wir, schleunigst diesem Mangel abzuhelfen. Mit untrüglichem Instinkt findet Bernd selbst im kleinsten Ort den besten Weinbauern. Wollen wir doch aus eigener schluckender Erfahrung freudigen Herzens bejahen oder zumindest traurig widerlegen können: Im Wein liegt Wahrheit! Hier allerdings brauchen wir nicht einmal die billigste, gute Weinquelle aufzuspüren. Sie kommt in Gestalt von zwei älteren, deutsch sprechenden Jugoslawinnen von ganz allein. Nachdem sie uns erst einmal mit einem Wortschwall eingedeckt haben, werden Muck und die gesamte Habe einer kritischen Begutachtung unterzogen, um mit dem abschließenden Kommentar eingestuft zu werden.„ Sehr scheen, sehr scheen!" Darauf gehen wir schnell zum geschäftlichen Teil über und fassen unverzichtbare geistige, flüssige Nahrung.

Kaum ist der letzte Sonnenstrahl verschwunden, da bricht die Hölle los! Es schüttelt, rüttelt, zerrt und zieht an unserer rollenden Behausung, dass wir fürchten, ins Meer geblasen zu werden! Die berüchtigten Borastürme haben ihre Regierungszeit angetreten. Diese ungemein heftigen Winde wehen immer vom Land zum Wasser und sind ein charakteristisches Merkmal des Adriawinters in Jugoslawien. Oft erreichen sie eine Stärke, die uns die Beine unter dem Leib wegzureißen droht. Nur wenn unbedingt erforderlich, verlassen wir die schützenden vier Wände. Doch deshalb werden diese Abende zu einem unvergesslichen Erlebnis. Wie gemütlich ist es im Wagen, während draußen die Naturgewalten toben! Bei Kerzenlicht und einer Flasche Wein sitzen wir zusammen, unterhalten uns über die zurückliegenden Tageserlebnisse, die vor uns liegenden Kilometer sowie Gott und die Welt und blicken vom Rebensaft durchglüht in das Inferno aus peitschendem Sturm, sich biegenden Bäumen und aufschäumender See. Am anderen Morgen ist der ganze Spuk verschwunden. Heiter wie am Vortage strahlt das Wetter. Harmlos und unbewegt liegt die See. Als ob die Nacht nur ein böser Traum gewesen wäre.

Wir brechen unsere Zelte in Opatija ab. Rijeka heißt die nächste Station. Zu abendlicher Stunde bummeln wir in den Strom jugoslawischer Passanten eingekeilt auf der Straße der Vaterländischen Revolution. Für westeuropäische Verhältnisse wäre dieser Boulevard sicherlich eine kuriose Rarität, denn in welcher Stadt ist die Hauptstrasse für jeglichen Autoverkehr gesperrt? So können Fußgänger unbekümmert, fröhlich plaudernd auf dem breiten asphaltierten Fahrweg promenieren. Ganz Rijeka scheint sich hier ein Stelldichein zu geben. Mit besonderem Wohlgefallen begutachten Bernd und ich die stattliche Anzahl ausnehmend hübscher Mädchen. In den volkseigenen Textilbetrieben scheint ein unerschöpflicher Vorrat blauer oder brauner Nylonmäntel produziert wurden sein. Mindestens jedes zweite weibliche Wesen hat sich in eine derartige Kutte gehüllt.

Irgendwann biegen wir von der Hauptstraße ab und landen in einem winkligen, engen Gassengewirr, wie man es in jeder Hafenstadt der Welt finden kann. Angeregt bemerke ich zu Bernd äußerst tiefsinnig, dass sich hier vor Titos Zeiten wahrscheinlich einmal das Bordellviertel befunden haben müsse. Während dieses anregenden Gedankenaustausches haben wir gar nicht auf Carmela geachtet, die unserem Gespräch in deutscher Sprache nicht folgen kann und sichtbar misstrauisch diesen Stadtteil betrachtet. Ihr gehen allerlei mehr oder weniger gut gemeinte Warnungen aus Familien-und Freundeskreisen durch den Kopf, deren Quintessenz folgende ist:

Wie kannst du mit einem Menschen, den du gar nicht kennst, auf eine ungewisse Reise gehen? Wer gibt dir die Garantie, dass dein Hans kein Mädchenhändler ist? Die Zeitungen sind voll von solchen Schauergeschichten! Von ihrer Mutter, die nicht das Durchsetzungsvermögen hatte, einer dickköpfigen Carmela die Genehmigung zu verweigern, war sie wie eine verlorene Tochter verabschiedet worden. Den allzu logischen Warnungen und Ratschlägen hatte sie nur Gefühl und Vertrauen, basierend auf einer einzigen unvergesslichen Begnung  entgegenstellen können. Hinzu kommt, dass anfangs unsere Verständigung noch denkbar schwierig ist. Sehr schnell ist ein Satz ausgesprochen, der falsch verstanden wird und den man dann nur schwer wieder umdeuten kann. So passiert ausgerechnet mir in diesem Moment mit der Mentalität eines Elefanten im Porzellangeschäft ein Fauxpas, der postwendend für Aufregung sorgt. Als sie mich ängstlich fragt: „Wohin gehen wir?“, kann ich mir nicht verkneifen, den dummen Scherz zu machen:  „Ich kenne hier einen Kapitän,der handelt mit Mädchen. An den wollen wir dich für einen guten Preis verkaufen! “

Idiotischerweise versteht sie auch intuitiv jedes Wort. Die trübe Gasse, die spärliche Beleuchtung und die erwähnten Warnungen führen bei Carmela zu einer Kurzschlusshandlung. Ehe wir ihr den Scherz umständlich erklären können, dreht sie sich um und läuft weinend davon. Ich habe mich noch nicht von meiner Verblüffung erholt, da ist Carmela im Menschengewimmel hinter der nächsten Ecke auf der Hauptstraße verschwunden. Was passiert, wenn wir sie nicht wiederfinden? Falls sie aufgelöst zur Polizei läuft, kann es Ewigkeiten dauern, bis sich alles wahrheitsgemäß geklärt hat. Im schlimmsten Fall werden wir sogar noch Opfer eines beförderungsheischenden Kommissars, der glaubt, den Fall seines Lebens gefunden zu haben! „ Gibt es eigentlich in Jugoslawien noch die Todesstrafe?! “, unterbricht Bernd sinnig meinen unerquicklichen Gedankengang. Wie von Furien gehetzt jagen wir in die Richtung, wohin unsere verloren gegangene Gefährtin entschwunden ist. Grenzenlos unsere Erleichterung, als wir sie mit trotzig zusammengekniffenen Lippen und verweinten Augen wiederfinden. Carmela ist immer noch so böse, dass sie um sich schlägt, weil ich sie erfreut in die Arme schließen will. Es kostet eine geraume Zeit und viel Geduld, ihr begreiflich zu machen, dass alles nur ein misslungener Spaß gewesen sei.

Ein nicht vorhandener Kapitän spielte die Hauptrolle in dem dummen Scherz. Die Ironie des Schicksals will es, dass bald darauf ein springlebendiger Seemann dieses Ranges unseren Weg kreuzt. Wir lagern an einer Meeresbucht nur zehn Kilometer von Rijeka entfernt. Bernd und ich laben uns an der erholsamen Eintönigkeit des Tages, während Carmela erstmalig seit dem Start eine große Wäsche versucht. Am späten Nachmittag wird dieses Idyll durch ein anlegendes Fischerboot unterbrochen. Sein Besitzer, der sich bombastisch als Capitano vorstellt, könnte der Nachfahre eines Seepiraten sein. Wildes gelocktes Haar, blitzende blaue Augen und eine riesige Narbe über der linken Wange verleihen ihm ein gefährliches, aber durchaus nicht unsympathisches Aussehen. Sein Benehmen ist so freundlich und ungezwungen natürlich, dass wir bald in lebhaftem Gespräch mit ihm versunken sind, denn er spricht sowohl deutsch als auch italienisch leidlich gut.

Schließlich lädt der Capitano Carmela und mich zu einer abendlichen Bootsfahrt nach Rijeka ein. Erfreut wegen der unverhofften Abwechslung sagen wir spontan zu, während Bernd mit Muck auf dem Landweg vorausfährt, um uns dort am Hafen in Empfang zu nehmen. Es wird eine unvergessliche Stunde. Bei fast unbewegter, nur sanft gekräuselter See schaukeln wir hinaus auf das offene Meer. Wie allabendlich haben sich am Himmel bizarre, dunkle Wolkengebilde zusammengezogen, die von der untergehenden Sonne in ein purpurnes Rot getaucht werden. Die Sonne zeichnet goldene Straßen auf die Wasseroberfläche, die direkt zu den vielen hügeligen Inseln zu führen scheinen, die der jugoslawischen Adria ihren besonderen Charakter verleihen. Jedes der Eilande lockt wie eine geheimnisvolle Robinsoninsel.  Wir bleiben auf See, bis der rote Sonnenball endgültig hinter den Inseln verschwunden ist. Dann kommt Rijeka in Sicht und ein imponierendes Panorama bietet sich uns: Hafen und die dort ankernden Schiffe in voller Beleuchtung wirken wie ein illuminiertes Märchenschloss mitten auf dem Meer.

Der Capitano muss mit erprobter Menschenkenntnis unsere sehnsüchtigen Blicke vollkommen richtig gedeutet haben, deshalb macht er den Vorschlag, am nächsten Morgen eine der Inseln zum Fischfang zu besuchen. Natürlich sind wir hellauf begeistert und verabreden, noch am gleichen Abend im Restaurant des Hotels Continental nähere Abmachungen zu treffen.

Pünktlich um 20 Uhr finden wir uns vor dem Portal ein. Das Hotel Continental ist das größte Haus am Ort und deshalb recht einfach zu finden. Wir halten nach unserem neuen Freund Ausschau und können ihn zunächst nicht entdecken. Urplötzlich taucht der Capitano aus der Dunkelheit auf und lädt uns scheinbar generös in das Hotelrestaurant ein. In der Zwischenzeit hatte er die Kleidung gewechselt und sich unbehaglich in einen Anzug gezwängt. Mit diesem Kleiderwechsel scheint sich auch die ganze Persönlichkeit verändert zu haben. Es ist kaum vorstellbar, dass der gleiche Mensch, der sein Boot kühn durch den wunderschönen Sonnenuntergang steuerte, jetzt mit uns am Tisch sitzt. Linkisch und verlegen rührt er in seinem Kaffee herum, den er auf unsere Kosten unsicher bestellte. In seinem Blick, der uns immer wieder ausweicht, spiegelt sich die personifizierte Unaufrichtigkeit wider. Als der Capitano seine Pläne für den nächsten Tag ohne Schwung und Überzeugungskraft darlegt, zeichnet sich allmählich ab, was hier offensichtlich gespielt werden soll. Wir sind auf dem besten Wege, einem unverschämten Touristenfänger auf den Leim zu gehen. Die Menge Köderfisch, die er uns auffordert, für den nächsten Tag einzukaufen, hätte wahrscheinlich ausgereicht, eine ganze Fischfangflotte zu versorgen! Von der angedeuteten Provision gar nicht zu reden. Zum Schein gehen wir auf sein Angebot ein, und fragen eifrig: „ Wann starten wir morgen früh? Wo treffen wir uns?“ Deutlich sichtbar erleichtert, dass die dummen Ausländer prompt angebissen haben, antwortet er sehr schnell, um uns bloß keine Zeit für irgendwelche Einwände zu lassen: „Wir brechen auf 5 Uhr früh. Ihr schlafen auf Campingplatz, wir kommen mit Schiff, Euch holen.“

Die Freude über den guten Fang außerhalb der Touristensaison lässt sein Gebaren wieder merklich freier, aber auch unvorsichtiger werden. Fragt er uns doch allzu auffällig über den Inhalt von Muck aus, sodass wir das Hotel Continental mit dem fatalen Verdacht verlassen: Während unserer Abwesenheit hätte das Auto todsicher unangemeldeten Besuch erhalten. Unser Angelabenteuer hätten wohl einige Spießgesellen des Capitanos zu einem anderen Fang ausgenutzt!

Ade, du romantische jugoslawische Fischerinsel!!

 

VIERTES KAPITEL

Wechsel der Jahreszeiten, schlechte Straßen, Naturschutzgebiete, Hunger und ein kühles Bad

 

Vernunftgründe zwangen uns leider, auf den Besuch der Fischerinsel zu verzichten. Die Natur entschädigt uns jedoch vollauf für diese Enttäuschung. Wie schon seit einer Woche ist der Himmel strahlend blau. In Serpentinen geht es die gut ausgebaute Küstenstraße hoch über dem Meer entlang. Der Dreiklang aus unbewegter See, kahlen schroffen Bergen und alten Burgen begeistert uns. Ein altes Sprichwort sagt sehr treffend:  Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis tanzen!
Seit wir in Jugoslawien sind, bietet sich doch wirklich alles, was zu einem zünftigen Urlaub gehört. Licht, Luft, Sonnenschein, eine herrliche Landschaft und fantastische Bademöglichkeiten. Darüber hinaus präsentieren sich auch die jugoslawischen Straßen zur Schonung unseres doch schon recht betagten Muck in überraschend erstklassiger Verfassung. Allerdings, immer nur blauer Himmel wirkt bald eintönig, immer nur holperfrei Pisten werden für wahre Weltenbummler langweilig, sodass selbst der schönste Strand uninteressiertes Gähnen hervorruft. Darum verlassen wir bei Senje allmählich vom Nichtstun frustriert die Küstenstraße, um uns völlig uneingeplant ins Gebirge hinaufzuschrauben. Ziel des Abstechers sind die berühmten Seen und Wasserfälle des jugoslawischen Nationalparks bei Plitvice.

Schon die ersten Kilometer bestätigen meine schlimmsten Befürchtungen. Selbst ein deutscher Ackerweg könnte sich niemals in einem derartig katastrophalen Zustand befinden wie dieser fürchterliche Knüppeldamm mit Steinschotterbelag, den die volkseigene Landkarte kühn als Straße zweiter Ordnung anpreist. Mir wird angst und bange um unser Auto, das sich im zehn-Kilometer-Tempo stöhnend und knirschend über die Piste kämpft. Anno 1963 sollte der Autoreisende alles, was in Jugoslawien nicht zur Hauptroute gehört, besser nicht als Fortbewegungspfad einplanen. Bei jedem riesengroßen Wackerstein, der unsanft von unten gegen den geschundenen Kleinbus poltert, zucke ich schmerzhaft zusammen und sehe im Geiste die ganze Indienexpedition bereits auf dieser schauderhaften Waschbrettpiste ihr Leben aushauchen. Einen nicht zu unterschätzenden Vorteil hat das geringe Tempo wenigstens, zu dem wir gezwungen sind: Bernd kann mühelos den Kühen ausweichen, die hier absolutes Vorfahrtsrecht genießen! Beschwörend rede ich ihm zu: „ Was hältst du vom Umkehren, ich sehe schwarz für unser Auto?!“

Doch er würdigt mich keiner Antwort und fährt mit verbissenem Gesicht weiter. Umkehren auf keinem Fall, ein VW-Bus muss das machen! Unendlich langsam geht es höher und höher. Bei 1100 Metern ist die Passhöhe erreicht. Wir verlassen bei tobendem Sturm den Wagen und erleben ein Naturschauspiel, das eine großartige Entschädigung für den schlechten Weg bietet. Hier oben liegt die Grenze zwischen zwei Jahreszeiten. Während unten an der Küste ausgesprochen warmer Spätsommer herrscht, liegt vor uns ein Tal im tiefsten Spätherbst. Bunt gefärbter Laubwald, Nebelschwaden und bedeckter Himmel machen diese Vorstellung perfekt. Bei sich fortsetzender und steigender Herbststimmung führt die Fahrt durch ein gewaltiges, urwüchsiges Hochland mit elenden, von der Zivilisation unberührten Dörfern. Hier wird der Fremde noch als gern gesehener Gast betrachtet, obwohl die Menschen meist so arm sind, dass sie kaum genug zum Essen haben. Als wir in einer Ortschaft auf einem Feldweg kurz Rast machen, ist Muck bald von Dorfkindern umringt, die sich gerade auf dem Weg zur Schule befinden. Stolz zeigen sie uns ihre Deutsch-Lehrbücher und rufen zum Abschied im Chor: „ Auf Wiedersehen! “ Bei einer Bäuerin bitten wir um Wasser. Aus einem urzeitähnlichen Brunnen holt sie mit geübter Geschicklichkeit das begehrte Nass für uns herauf. Als herzliches spontanes Geschenk bekommen wir dazu mehrere köstliche Honigwaben. Eine Bezahlung lehnt sie strikt und beinahe böse ab.

Kurz vor Plitvice ändert sich der Landschaftscharakter schlagartig. Sind wir bisher durch eine gewaltige, weite Hochebene mit schneebedeckten Bergen im Hintergrund gefahren, so erinnert jetzt der herbstliche Mischwald an heimatliche Mittelgebirge. Doch trotz dieses anheimelnden Gefühles machen wir in und um Plitvice herum eine Entdeckung, die uns Freude und Verdruss zugleich bereitet: Offensichtlich hat man hier schon den Winterschlaf angetreten! Wir stellen zwar hochbeglückt fest, offensichtlich die letzten drei ausländischen Besucher des im Sommer stark frequentierten Nationalparks zu sein, die Tatsache dagegen, dass ausnahmslos alle Geschäfte und Kioske nicht mehr geöffnet sind, stimmt uns recht sorgenvoll. Seit mindestens einer Stunde knurren unsere Magen in harmonischem Dreiklang! Kein Grund zur Resignation, denn verhungern werden wir auf keinem Fall. Haben nicht unsere Väter in unseligen Kriegszeiten Musterbeispiele deutscher Organisiererei geliefert?

Wir werden sofort zu einer Tour in verschlafene Dörfer starten und koste es, was es wolle, Essbares aufgabeln. Als unsere verzweifelten Bemühungen auch im dritten Ort fruchtlos bleiben, beginnen mich Wahnvorstellungen von einer riesigen Bratpfanne mit brutzelnden Spiegeleiern und Speck zu verfolgen. Nichtsdestotrotz sichten wir zwei Stunden später stolz unsere Beute: ein kerniges Bauernbrot und ein Kilo Landspeck.Auf die erträumten Eier müssen wir allerdings verzichten, denn die einheimischen Hühner wollen nicht einmal ausländischen Gästen zuliebe legen. Jedoch auch ohne wird die erbeutete Mahlzeit für uns so schmackhaft wie lange nichts zuvor.

Der Nationalpark von Plitvice ist zauberhaft schön. Eine unvergessliche Komposition aus Seen, Wasserfällen, Felshöhlen und herrlichen Bäumen. Besonders im Herbst, wenn sich das Laub in den unwahrscheinlichsten Farbtönungen vom letzten Grün über lichtes Blau, bis zum tiefen Rot und Braun färbt, fühlt man sich in den Märchenwald seiner Kindheit zurückversetzt. Während wir an Jahrhunderte alten Bäumen vorbei über einen dicken Laubteppich schreiten und einer munter plätschernden Quelle lauschen, glaube ich die bekannten Märchengestaltengestalten der Gebrüder Grimm müssten in jedem Augenblick gerade hier wieder lebendig werden. Die Zeit scheint stillzustehen. Wie klein und unbedeutend werden alle unsere eigenen Probleme angesichts des ständigen Werdens, Erneuerns und Vergehens in der Natur.

Sechzehn künstliche Seen mit kristallklarem Wasser sind in die Wälder von Plitvice eingebettet. Sie wurden sinnreich terrassenförmig angelegt, sodass der höher gelegene Bronn gleich den nächsten mit dem kostbaren Nass speist, wobei er lustig sprühende Kaskaden bildet. In den riesigen Felshöhlen wird man unwillkürlich von der Vermutung befallen, hier müssten früher einmal Bären und Wölfe gehaust haben. Wie schön wäre es, sich in einer dieser geräumigen Grotten für immer häuslich einzurichten, um jeden Tag im Wald unserer Träume erwachen zu können!

Der nächste Morgen ist grau in grau. Dichte, zähflüssige Nebelschwaden verdecken alle Pracht und Herrlichkeit. Die Feuchtigkeit dringt durch jede Pore und treibt uns schon früh aus den Schlafsäcken heraus. Nur schnell fort von hier, zurück zur sonnigen Küste! Die Rückfahrt nach Karlobag ist nicht einfacher als der Hinweg. Wieder werden wir nach allen Regeln der Kunst durchgerüttelt und versinken allmählich in eine tiefe Lethargie, ohne aufzumerken, was draußen eigentlich vor sich geht. Nur einmal in der Nähe von Gospic‘ erwachen wir aus unserem Dämmerzustand. In einer größeren Ortschaft ist gerade ein Markttag zu Ende gegangen. Die Bauern kehren zufrieden über Einkauf und Verkauf in ihre Dörfer zurück. Auf der Straße wimmelt es plötzlich von kleinen Wagen mit lustig galoppierenden Pferden. Peitschenknall und fröhliche Zurufe erfüllen die Luft! Von allen Seiten wird uns freundschaftlich zugeprostet.

Endlich ist die Küste wieder erreicht. Hinter Biograd entdecken wir ein abseits gelegenes großes Bauerngehöft. Immer noch spukt uns die erfolglose Eierjagd im Kopf herum, weshalb mich die Neugierde treibt, zu erfahren, ob in den wärmeren Regionen am Meer die Hennen ebenfalls ihre Produktionstätigkeit eingestellt haben. Zur freudigen Überraschung bietet uns die Bäuerin so viele Eier zum Verkauf an, dass der diesbezügliche Vorrat für den nächsten Monat gedeckt wäre. Mit untrüglichem Instinkt von Genießern haben wir außerdem ein monumentales Fass mit dem edelsten Tropfen, der bisher in Jugoslawien unsere Lippen genetzt hat, aufgespürt! Der Hausherr würdigt den Weinverstand seiner unerwarteten Besucher. Wir sitzen in einer großen Scheune auf groben Holzklötzen und der Becher wandert von Mann zu Mann, wobei auch die einzige Dame nicht ausgelassen wird. Unser Blutalkoholspiegel steigt erheblich an. Wir verbrüdern uns mit dem großzügigen Bewirter. Immerhin sind wir noch nüchtern genug, höflich dankend abzulehnen, als er uns allen Ernstes für diese Nacht sein Ehebett räumen will. Trotzdem drängt Carmela unbarmherzig zum Aufbruch, denn es gilt, noch einen Übernachtungsplatz zu finden. Nur ungern reißen wir uns von dem Göttergetränk los. Zumindest unsere bewährte Zweiliterflasche sollte noch mit dem edlen Rebensaft gefüllt werden, was mir eine ganz erstaunliche Erfahrung beschert. Nach dem Preis befragt, antwortet der Bauer knapp und lakonisch: „ 600 Dinare! “

Aus bisherigen Erfahrungen gewitzt versuchen wir wie gewohnt den Obolus auf 500 zu drücken. Die strikte Ablehnung ist geradezu klassisch:„Als meine willkommenen Gäste hier in der Scheune sauft meinetwegen umsonst, bis ihr umfallt, wollt ihr aber zum Mitnehmen kaufen, dann ist der Preis 600 Dinare und nicht ein Einziger weniger!“

Äußerst mühsam raffen wir uns zur Weiterfahrt auf. Glücklicherweise für Bernds Führerschein findet sich schon nach wenigen Kilometern ein zum Verweilen ideales Fleckchen Erde. Während sich zur Rechten unverändert die wogende blaue Adria ausbreitet, erfreut zur linken Seite ein kleines Naturparadies sowie Eldorado für Wildvögel und Fische, der Vransko-See. Der von Bora-Stürmen aufgepeitschte See bietet ein imponierendes Bild. Pausenlos wälzen sich grüne Wogen mit weißen Schaumkämmen an das schilfbestandene Ufer. Verkrüppelte, knorrige Bäume trotzen dem orkanartigen Wind. Pferdewagen, Schafherden und Flachs spinnende Bäuerinnen an seinen Ufern lassen die Szenerie wie ein prachtvolles Gemälde anmuten.

Genau hier soll in Ruhe der Alkohol wieder aus unseren Körpern entweichen. Carmela und ich wählen die Schocktherapie. Trotz des wahrlich nicht allzu warmen Wetters entschließen wir uns zu einem kurzen kühlen Bad. Bernd dagegen zieht den sanfteren Weg vor. Auf einem ausgedehnten Entdeckungsspaziergang hofft er, dass sich Geist und Seele wieder von rosaroten Weinwolken läutern mögen. Bald ist er unseren Blicken entschwunden. Wir entledigen uns schnell der lästigen Hüllen, schlüpfen in die Badekleidung hinein und aus dem Wagen heraus. Natürlich haben wir vorher von innen sorgfältig alle Sicherheitsriegel betätigt, weshalb Muck nach dem Schließen der Türen fest und uneinnehmbar wie eine mittelalterliche Festung vor Unbefugten verschlossen ist. Niemand kann sich an unserer Habe bereichern, während wir den Wonnen eines kühlen Wellenbades frönen.

Schon nach kurzer Zeit kommen wir außer Atem und zitternd vor Kälte wieder zum Wagen zurück. Der tobende Sturm lässt uns in Gänsehaut erstarren. Nur schnell hinein ins wärmende Asyl und die nassen Sachen vom Leibe streifen. Leichter gesagt als getan, denn der verdammte Autoschlüssel ruht wohl verwahrt in meiner Hosentasche, die dazu gehörige Hose aber liegt sicher im fest verriegelten Auto. Da helfen kein Rütteln und kein Schütteln, weil Tür und Schloss gute deutsche Wertarbeit sind. Auch die orientalische Zauberformel Sesam öffne Dich, die zwar in verflossenen Zeiten angeblich selbst mächtige Felsen aufspringen ließ, erweist sich bei einem metallenen Gebrauchsgegenstand aus dem prosaischen 20. Jahrhundert als vollkommen wirkungslos. Allmählich laufen wir blau an. Von Bernd, der einen zweiten Schlüssel besitzt, ist weit und breit keine Spur zu entdecken. Just in diesem äußerst unpassenden Augenblick kommen einige kommunikationsgeile Dorfbewohner auf uns zu. Sie betrachten die komischen Fremdlinge wie Wundertiere. Wahrscheinlich glauben sie, Carmela und ich wären Freiluftfanatiker. Unbeirrt davon laden sie uns keinen Widerspruch duldend auf der Stelle in ihr Haus ein. Leider spricht niemand auch nur eine Silbe deutsch oder italienisch. Mit Händen und Füßen versuchen wir, ihnen unsere fatale Situation zu erläutern. Ganz augenscheinlich jedoch versteht niemand. Bestimmt denken sie bei sich:  Na schön, wenn diese Ausländer meinen, Bikini und Badehose sei die ideale Herbstbekleidung, sind sie uns auch in diesem Aufzug willkommen! Freundlich bestimmt versucht man uns, die vor Kälte starren unglücklichen Gestalten, ins nahe gelegene Dorf zu entführen. Als Retter in höchster Not erscheint Bernd im letzten Moment.

Unser heroischer Mut, in die kühlen Fluten zu springen, um den Wein aus den Köpfen zu vertreiben, erweist sich als ebenso sinnlos wie der legendäre Kampf Don Quijotes mit den Windmühlenflügeln. Wir sind in das sonntägliche Haus einer Fischerfamilie geraten. Zuerst wird eine scharf gewürzte, schmackhafte Fischsuppe gereicht, dann ist man eindeutig der Meinung, das soeben Genossene müsse schwimmen. Den Abend bestimmt eine umhauende Kombination von abwechselnd Wein und Slibowitz. In dieser Nacht schlafen wir alle drei sehr gut. Für den nächsten Morgen jedoch haben wir uns mit unseren neuen Freunden in der Fischereigenossenschaft verabredet. Insgeheim hofft Carmela, den Küchenzettel um einige delikate Vransko-See Exemplare bereichern zu können. Der Sturm hat sich jedoch noch verstärkt. Unlustig sitzen die Fischer vor ihren primitiven Booten, schauen auf die Wellen oder bessern ihre Netze aus. Unmöglich hinauszufahren, deshalb werden wir anstatt Fisch eben Eier essen!
Zu dieser Jahreszeit erscheint der Vransko-See wie ein unberührtes, urwüchsiges Naturgebiet, doch das ist offensichtlich ein Trugschluss. Auch dieses idyllische Fleckchen wurde schon vom deutschen Tourismus erobert.
Eine quadratische Holztafel außer Jugoslawisch nur auf Deutsch beweist das:

 Achtung! Sportlicher Fischfang ist erlaubt um folgende Bedingungen:

1. Fischfangsgebühr beträgt Dinar 500 pro Person pro Tag.-

2. Die Mitglieder des Jugoslavisches Sportsfischfanges verein geniessen Ermässigung von 40%.-

3. Fischfang pro Person ist bis 2kg. Überrest des fangenes Fisches soll wieder im See zurückgestattet sein.-

4. Die Benehmigung für sportliche Fischfang anstellt der diensthabender Wächter.-

5. Für Angelfischfang sind kleine Booten zu vermieten um Preis von Din 50 pro Stunde.-
Direction

 Ja deutsches Sprache ist sich sehr schwer, aber deutsches Urlauber überall in Europa!

 

FÜNFTES KAPITEL

 

 

Ärger mit Polizei, orientalische Vorahnung, Regenfinale und die ersten Minarette

 

Hinter Sibenik verwandelt sich die Landschaft in einen fruchtbaren Garten. Wir bewundern begierig die ersten Agaven, Pinien und kleinen Palmen. Farbenprächtig gekleidete Menschen auf gemütlich dahin trottenden Eseln beherrschen die Szene. Wir finden eine große Wiese von grünen Hecken umgeben. Für ein oder zwei Tage der ideale Platz. Bald zischt und spuckt unser Benzinkocher wie immer. Carmela schreibt Ansichtskarten, Bernd säubert Autokerzen und ich vervollständige meine Aufzeichnungen. Diese Harmonie wird leider bald sehr unsanft unterbrochen. Wenn ein Uniformträger in die schlichte Intimsphäre von Zivilpersonen eindringt, kommt selten erfreuliches dabei heraus. Ein dicker, wohlgenährter Polizist hat uns aufgespürt und raunzt bellend unfreundlich: „ Was ihr machen hier?!“ Mit schönster Offenheit antworten wir wahrheitsgemäß:

„ Suppe kochen.“ In schauderhaftem Deutsch belehrt er uns: „ Hier nix Camping streng verboten! Ihr fahren Split!“ Wie überall in der Profit heischenden europäischen Welt ist auch in Titos Reich offiziell ein Fremder unbeliebt, der sich kostenlos an den Wundern der Natur erfreuen will. Nach langen Verhandlungen verbuchen wir wenigstens einen Teilerfolg. Großmütig wird uns erlaubt, wenigstens noch die Mahlzeit hier einzunehmen zu dürfen. Gewichtig stapft der Ordnungshüter davon, jedoch seine letzte Drohung hängt unmissverständlich in der Luft: „ Ich wieder komme, ihr noch hier ihr zahlen Dinare!“

Zu allem Überfluss führt die klägliche Flamme des leidigen Kochers ausgerechnet heute einen schier hoffnungslosen Kampf gegen nicht zu erweichende Hülsenfrüchte. Es wird sehr spät, bis wir unsere Bohnensuppe endlich verzehren können. Noch später allerdings bis zum Aufbruch. Darum sind wir außerordentlich erfreut, noch vor Sonnenuntergang auf einem kleinen Hügel mit einer weißen Kirche abseits von der Straße Nachtasyl zu finden. Vom scheinbaren Frieden in der Natur getäuscht sind wir bald eingeschlafen. Das Hinabgleiten in Morpheus Arme wird aber keine wahre Labe. Stimmengewirr und Waffenlärm lassen uns aufschrecken. Bewaffnete Krieger umzingeln Muck! Um Gottes willen, was ist passiert? Hat die Bundesrepublik Deutschland etwa der Volksrepublik Jugoslawien den Krieg erklärt? Will man uns deshalb gefangen nehmen?! Zum großen Glück ist des Rätsels Lösung viel harmloser: Unser scheinbar friedlicher Übernachtungshügel ist strategischer Angriffspunkt beim Manövergefecht jugoslawischer Soldaten!

Plötzlich ist sie da, die große Vorfreude auf den geheimnisvollen Orient. Ich werde immer unruhiger und erregter, je näher wir der Türkei kommen. Unvergessen bleibt mir ein einzigartiger Abend.  Wir lagern in einer Bucht mit weitausladenden Kiefern. Die Nacht ist ungewöhnlich lau, der Himmel von Sternen übersät. Leise plätschern die Wellen an den Strand. Vor uns eine unendliche gleißende Lichterkette: Das Häusermeer von Split! Ein undefinierbar exotischer Geruch liegt in der Luft. So riecht es nur im Morgenland! Gebannt schaue ich in die Dunkelheit:  Öffnen sich nicht die Tore der Stadt? Leise orientalische Musik erklingt. Der Muezzin ruft vom Minarett die Gläubigen zum Gebet. In den Basaren herrscht atemberaubendes Menschengedränge. Laute Händler preisen in Allahs Namen ihre Waren an. Unübersehbare Horden osmanischer Krieger quellen aus der Stadt hervor. Vom Hufgetrappel zottiger Pferde erzittert die Erde. Über ihren Köpfen weht stolz das Banner mit dem Halbmond. Märchenhafte Gestalten aus 1001 Nacht winken mir  zu .....

Am nächsten Morgen folgt der Katzenjammer. Verflogen ist alle Illusion. Was die sanften Schleier der Nacht verhüllten, präsentiert sich jetzt in schonungsloser Offenheit. Im fahlen Morgenlicht sind die Außenbezirke von Split weiter nichts als ein hässliches Industrierevier. Riesige Fabrikschlote qualmen. Fette Ratten huschen durch einen trostlosen Schiffsfriedhof. In hässlichen Mietskasernen ertönt vielstimmiges Kindergeschrei. Selbst der geheimnisvolle Duft, der in der Luft lag, ist profanem Gestank nach Rauch und Abgasen gewichen. Schleunigst verlassen wir diese Stätte der Enttäuschung. Uns zieht es im ersten Schock nicht einmal zu den Sehenswürdigkeiten der berühmten Stadt, welcher jeder Reiseführer anpreist.

Haben wir auch noch nicht die ersehnten Regionen erreicht, so können wir wenigstens schon hier ein Beispiel orientalischer „Genauigkeit und Sorgfältigkeit“ am eigenen Leibe verspüren. Die Küstenstraße führt scheinbar nach Makarska, jedoch bei Omis hört abrupt die Piste auf. Umleitung durch die Berge! Ein vorsorglicher Blick auf die Anzeigetafel wirkt beruhigend: 36 Kilometer bis Makarska. Wir haben noch gut für die doppelte Distanz Benzin. Was kann da schon schief gehen? Die Esspause wird in der nächsten Stadt gleich mit dem Tanken verbunden. Allerdings kann niemand ahnen, dass mit der Interpretation des eigentlich fest genormten Begriffes Kilometer überaus großzügig umgegangen wird. Nach rund fünfzig Mal 1000 Metern befallen uns leichte Zweifel. Von der ersehnten Stadt und dem blauen Meer ist immer noch nichts zu erahnen. Unverändert windet sich die kurvenreiche Straße durch Berge und karges Hochland. Exakt am Kilometerstein 60 erfüllt sich das unvermeidliche Verhängnis! Bei einem besonders steilen und schwierigen Anstieg bleibt das Auto schlicht und einfach stehen. Nicht einmal zum Wenden reicht der Platz aus. Um das Fahrzeug aber bergauf weiterzuschieben, reichen unsere Kräfte nicht aus, weil Bernd am Steuer bleiben muss. Also lautet die Losung: Freunde wir müssen zurück!

Quälend langsam rollt Muck schätzungsweise zwei Kilometer mit dem Hinterteil als Spitze. Ein gefährliches Balanceabenteuer. Im Geiste sehe ich uns zerschmettert im Abgrund liegen! Doch unversehrt erreichen wir eine einsame düstere Schenke, die wie ein Räuberunterschlupf anmutet. Unrasierte Gestalten mustern uns neugierig. Auf die Frage: „Wie weit bis Makarska? “, folgt die Antwort: „ Nur noch 26 Kilometer! “ Natürlich ist eine Tankstelle in der gesamten Umgebung Fehlanzeige. Zu dieser Jahreszeit verirrt sich hierher kaum ein Auto. Nur der Zufall kann uns aus der Patsche helfen, denn überwintern wollen wir wahrlich nicht am Ende der Welt. Glücklicherweise ist Fortuna den festsitzenden Globetrottern gnädig. Schon nach wenigen Minuten fährt ein Skoda vorüber. Auf unser stürmisches Winken hält der Fahrer wie selbstverständlich an. Freundliche Jugoslawen füllen mit einem Gummischlauch aus ihrem Autotank einige Liter in den leeren Magen von Muck um. Ohne weitere Zwischenfälle erreichen wir Dubrovnik, eine der schönsten Städte an der Adria.

Ganz ohne Vorankündigung verlässt uns der dalmatinische Sommer. Es gießt pausenlos in Strömen, als ob der Himmel alle Schleusen geöffnet hätte! Von dem bekannten Festungsort sehen wir so gut wie gar nichts, weil wir in das Innere des Autos verbannt sind. In der Bucht von Kotor nimmt das regnerische Wetter unwahrscheinliche Formen an. Sturzbäche ergießen sich prasselnd über unser Fahrzeug. Der Scheibenwischer vermag kaum noch einen Durchblick für den Fahrer zu schaffen. Die Straße verläuft eben und dicht am Wasser entlang. Sturm peitscht das Meer auf, sodass riesige Brecher über die Ufer schlagen und auf die Piste klatschen. Muck wird abwechselnd süß und salzig gebadet. Obwohl man das Empfinden haben könnte, in einer Isolationsglocke aus Orkan und Sturzbächen völlig allein der Apokalypse entgegenzusteuern, gibt es völlig unerwartet einen Verkehrsstau. Die Straße ist zu Ende. Eine Fähre muss uns ans andere Ufer übersetzen. Nach halbstündigem Warten nähert sich das seltsamste Schiff, das ich jemals erblickt habe. Die genial einfache Konstruktion würde einem Neandertaler alle Ehre machen:

Über zwei mittelgroße, morsche Fischerboote, die ungefähr fünf Meter Abstand voneinander haben, sind starke Bohlen geschlagen, die eine Doppelfunktion haben. Einmal verknüpfen sie die beiden Boote miteinander, zum anderen bilden sie jedoch gleichzeitig die Transportfläche für Pkws und Lkws aller Größenordnungen. Geschützt wird der primitive Ladeplatz nur von einer einfachen Umseilung auf der rechten und linken Seite. Ein- und Ausfahrt dagegen bleiben vollständig frei. Bei den augenblicklichen Wetterbedingungen ist das unvermeidliche Einrangieren ein Hasardeurstück für Lebensmüde. Das schwankende Monstrum wiegt durch Windstärke 8 bis 9 wie eine Nussschale auf und nieder. Vom Ufer aus legen geübte Männer zwei stabile Stiegen lose an das Fährschiff. Je nach Größe des Einlass begehrenden Vehikels wird die so entstandene äußerst unstabile Auffahrtrampe erweitert oder verengt. Nach diesen Vorbereitungen spricht der Autofahrer ein letztes Gebet und hofft inbrünstig, dass bei der stark schlingernden Bewegung das Auto nicht abrutscht. Wir überstehen das Manöver tatsächlich unversehrt und erreichen aufatmend festen Holzboden. Sofort springen zwei andere Männer hinzu und stecken Holzkeile unter die Vorderräder unseres Kleinbusses, damit Muck nicht etwa auf der anderen Seite wieder hinunterrollt und in der schäumenden Gicht versinkt! Nach einer mehr als bewegten Überfahrt, bei der Carmela gegen Seekrankheit anzukämpfen hat, wiederholt sich am anderen Ufer das Spielchen mit den schrägen Stiegen in umgekehrter Richtung. Offensichtlich ist man in Titos Reich auf diese geniale Konstruktion besonders stolz, weshalb sie zum Staatsgeheimnis deklariert wird. Nicht zu ignorierende Warnschilder verkünden strikt: Fotografieren streng verboten!

Nach dieser Unwetterfahrt geht leider auch der weinreiche Adria-Urlaub seinem Ende entgegen. Voller Wehmut blicken wir auf die immer kleiner werdende Meeresbucht zurück. Doch es bleibt keine Zeit zu melancholischen Gedanken, denn ein ungemein schwieriger Pass hinter Kotor, der alles bisher Erlebte übertrifft, erfordert unsere ganze Aufmerksamkeit. Jede Kurve trägt weithin sichtbar eine große Nummer. Wir können uns nicht recht erklären, wozu dieser Aufwand an Farbe, mit der sonst im ganzen Land sehr sparsam umgegangen wird. Möglicherweise sollen die Zahlen unserem Erinnerungsvermögen behilflich sein, denn immerhin beruhigt es zu wissen, dass sein Auto nicht aus einer x-beliebigen Biegung, sondern exakt aus Kurve 23 hinausgeschleudert worden ist!

In Pecz grüßen uns die ersten Minarette. Orientalische Geschäftigkeit prägt den Ort. Im Basar der Stadt reiht sich Geschäft an Geschäft. Oft sind es nur klägliche Buden, die lediglich Plunder anbieten, aber es wird mit allem und jedem gehandelt. Das offenbar angeborene, natürliche Bedürfnis des echten Orientalen, Handel zu treiben – immerhin war selbst der Prophet Mohammed ursprünglich cleverer Kaufmann - ging auch im kommunistischen Staat nicht verloren. Wenn wir an verschiedene andere jugoslawische Orte zurückdenken, wo es buchstäblich überhaupt nichts zu kaufen gab, tut sich hier ein gewaltiger Unterschied auf. Wenn jedoch zwei grundverschiedene Welten zusammenstoßen, ergeben sich kuriose Kontraste:  Die malerische Moschee steht neben dem tristen kommunistischen Einheitsbau, das moderne Mehrstern-Hotel für Devisen bringende Touristen neben der erbärmlichen Nissenhütte, die Luxus-Limousine überholt den bedächtigen Eselreiter und der alte verwitterte Moslem, der den Märchen aus 1001 Nacht entstiegen sein könnte, unterhält sich angeregt mit dem modern gekleideten jugendlichen Parteifunktionär.

Wir bummeln durch die vom Regen aufgeweichten, schlammigen, ungepflasterten Straßen des Basars. In den Backstuben werden sehr süße, vor Honig triefende türkische Kuchen angeboten. Freudig erstehen wir etwas davon. Zeitweise ist ganz vergessen, dass wir noch in Jugoslawien und nicht bereits mitten im Orient sind. Nur noch drei Tage, dann erwartet uns der erste ganz große Höhepunkt dieser Reise:
Istanbul!

 

 

Blick auf die Skyline von Istanbul

 

SECHSTES KAPITEL

 

Historischer Rückblick, Kuppelmoscheen, Großer Basar, Galata- Brücke, Teestuben, und Dolmustaxen

 

Jeder Besucher, der zum ersten Mal die Bosporusmetropole aufsucht, ist fasziniert und hingerissen. Zwischen Marmarameer und Schwarzem Meer eingebettet erstreckt sie sich in einer Länge von sechzig Kilometern zu beiden Ufern des Bosporus, der legendären Meerenge. Treffpunkt von Abend- und Morgenland, atemberaubende Residenz auf zwei Erdteilen! Zentrum bedeutender Reiche und glanzvoller Kulturepochen, die hier Höhepunkt und Niedergang erlebten.

Schon im 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung war die Landzunge im Bosporus, die heute den Serailpalast trägt, besiedelt. Der Anführer der Dorer Byzan setzte sich in schönster Bescheidenheit selbst ein Denkmal und nannte den Ort Byzantion. Im Jahre 324 nach Christus machte Konstantin der I. Byzantion zur Hauptstadt des Oströmischen Reiches. Nicht minder stark zum bei gekrönten Häuptern und Staatsmännern überaus beliebten Personenkult neigend, hatte er mit Konstantinopel auch gleich den einzig passenden Namen zur Hand. Tausend Jahre lang mühten sich die beutelüsternen Moslems vergeblich, das mächtige Bollwerk, was ihnen den Zugang nach Europa versperrte, zu überwinden. Was lange währt, wird gut, denn im Jahre 1453 fand ihre Ausdauer endlich Belohnung. Der Osmanenfürst Mehmet II. eroberte die Stadt, die von da an unter dem Namen Istanbul in die Geschichte einging.

Zahlreiche prächtige Moscheen und Paläste, die auch heute noch der Metropole ihren ganz besonderen Charakter geben, entstanden in dieser Epoche. Erst im 19. Jahrhundert rüttelte wieder eine fremde Macht an den Toren der Stadt, als Russen und Bulgaren ungebetenen Einlass forderten. Im ersten Weltkrieg schließlich besetzten die Alliierten vorübergehend Istanbul. Wenn auch im Jahre 1923 Ankara von Atatürk, dem Begründer der Türkischen Republik, zur Landeshauptstadt gemacht wurde, so hat dieser rein verwaltungsmäßige Akt jedoch der Bedeutung Istanbuls nicht den geringsten Abbruch getan. Nach wie vor ist sie die größte, vielseitigste und farbigste Stadt des Landes. Universitäten, Schulen, Theater, Museen und eine unübersehbare Fülle berühmter Bauwerke aus allen Epochen einer wechselhaften historischen Vergangenheit erheben sie zum unumstrittenen Bildungs- und Kulturmittelpunkt der Türkei.

Uns bleibt eine Entdeckung vorbehalten, der bis jetzt kein Geschichtsforscher  Würdigung geschenkt hat. Istanbul ist die Welthauptstadt der Katzen! Bei einer Bevölkerungszahl von rund eineinhalb Millionen Menschen fristen hier mindestens zwei bis drei Millionen dieser schnurrenden Lebewesen ihr Dasein. Die nicht ganz so zahlreich existierenden Hunde scheinen von dieser Übermacht total entnervt zu sein, denn feigere bellende Kreaturen als hier kann man sich kaum vorstellen. Versuchen wir nur einmal andeutungsweise einem der undefinierbaren Köter kosend den Kopf zu kraulen, dann läuft er laut aufheulend davon, als ob die wilde Jagd hinter ihm her sei. Faucht ihn eine Katze aggressiv an, lässt er das saftigste Stück Fleisch sausen und geht in demütige Deckung.

Zwar haben wir nicht vor, die noch vorhandenen Stadtmauern der ehemaligen Osmanenresidenz ebenfalls mit Waffengewalt im Sturm zu nehmen, aber zumindest soll in würdiger Art und Weise Einzug gehalten werden. Als wir nur noch zehn Kilometer von der Stadt unserer Träume entfernt sind, gibt es nicht nur einige besinnliche Gedenkminuten am Straßenrand, sondern um den denkwürdigen Augenblick

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Titelbild: Hans-Georg Kaethner
Bildmaterialien: Bernd Duske, Hans-Georg Kaethner
Tag der Veröffentlichung: 14.01.2012
ISBN: 978-3-86479-165-9

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