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Das verloren geglaubte Glück

Eines schönen Abends flog Engel Tausendgelb über die Erde. Er liebte es über die Dächer der Stadt zu schweben und das Geschehen der Menschen zu beobachten. An manchen Tagen, wenn die Sonne bereits untergegangen war, konnte er stundenlang auf einem Schornstein sitzen und Jung und Alt dabei zu sehen, wie sie noch schnell die letzten Einkäufe erledigten oder die Bars und Kneipen, die es in Paris zu Hauf gab, betraten.

Oft wünschte er sich einen Begleiter. Jemanden der den Trubel der fremden und doch so nahen Welt genau so genoss wie er selber. Doch die meisten Engel, mit denen er zu tun hatte, auch die, die ihm sehr nahe standen, hielten nichts davon sich grundlos der Erde zu nähern. Tausendgelb erinnerte sich an die Worte seines Bruders. „Das einzige was Engel dazu bewegen sollte, sich in der Nähe dieses Reiches aufzuhalten, ist die Notlage eines Menschen, der wirklich und wahrhaftig nach Hilfe sucht. Dann sind wir schneller da als der Wind, der die Blätter die Straße entlangweht und schneller als jedes Fahrzeug der Erde es sein könnte.“

Tausendgelb war anders als sein Bruder. Er wollte nicht nur zur Stelle sein wenn man ihn brauchte, nein. Er wollte mehr dieser interessanten, aber auch merkwürdig anmutenden Welt sehen.

 

Nach einer Weile gedankenverlorenen Beobachtens, ließ er sich herab sinken, auf das Dach eines parkenden Autos. Eine junge Frau mit einem Kind an der Hand lief an ihm vorbei. Die Frau war wunderschön. Ihr rotes, lockiges Haar fiel ihr locker über die Schulter, ihre Augen, die ein tiefes Grün hatten, leuchteten, ähnlich wie es die Sonne an guten Tagen tat.

Doch trotz dem wachen und freundlichen Leuchten, erkannte Tausendgelb etwas Stumpfes in ihrem Blick. Etwas, das Tausendgelb eine stumme Träne vergießen ließ.

Dieser Mensch war traurig. Ein Gefühl, das Engel nicht imstande waren zu fühlen. Engel konnten sich freuen, sie konnten wütend sein. Aber Traurigkeit war fremd für sie. Und doch fühlte sich Tausendgelb tief berührt von dem Wesen, das gerade an ihm vorbeigegangen war. Es war als würde die Traurigkeit mit ihrer Schönheit verschmelzen und sie noch tiefer werden lassen.

 

Erst jetzt fiel sein Blick auf das kleine Mädchen an ihrer Hand. Es drehte sich um und lachte, blickte Tausendgelb direkt in die Augen. Tausendgelb verstand nichts von irdischem Alter und die Zahlen, die Menschen verwendeten um sich ihr eigenes zu merken verwirrten ihn nur. Aber ihm war klar, dass dieses Mädchen, das ihrer Mutter so ähnelte, noch sehr jung sein musste. Denn nur die kleinsten waren imstande, die Anwesenheit von Engeln zu spüren und sogar zu sehen.

 

„Was für ein Unglück!“, hörte Tausendgelb eine Stimme hinter sich sagen. Hinter ihm standen zwei ältere Männer, die ebenso wie er es eben noch getan hatte, dem Mädchen und der Frau hinterherblickten. „Erst der Mann - und jetzt stirbt auch noch die Tochter. Wie viel Kraft braucht ein Mensch um dieses Elend zu ertragen?“

Der ältere Herr neben ihm schüttelte nur traurig und kaum merklich den Kopf.

 

Sterben? Tausendgelb wollte nicht glauben was er da gehört hatte. Sterben? Das kleine Kind, das so viel Leben in seinen Augen hatte? Sterben? Ein Mädchen, das noch niemals in seinem Leben etwas verbrochen hatte? „Sterben..“ flüsterte Tausendgelb vor sich hin.

 

Er folgte der Mutter mit ihrem Kind. Er dachte nicht lange darüber nach, er tat es einfach.

Nach einer Weile ließ er sich auf einem Ast eines hohen Baumes nieder, das vor einem Haus stand, das die beiden Menschen soeben betraten hatten.

 

Tausendgelb hatte eine ungestörte Sicht in das Kinderzimmer, in dem die junge Frau nun ihr Kind ins Bett steckte und sie behutsam in eine warme Decke wickelte.

Das Mädchen sah nun ein wenig erschöpft aus und die Farbe aus ihrem Gesicht war einer leichten Blässe gewichen und dennoch hatte es den Blick eines starken Geistes.

„Du musst jetzt deine Medizin nehmen, Lise!“, hörte der Engel die Mutter durch die dünnen Fensterscheiben sagen. „Ich will aber nicht, Mama!“, entgegnete diese stur, die sich jetzt trotzig die Decke bis zu den kleinen Augen hochgezogen hatte.

„Es ist wichtig, mein Liebling. Du willst doch wieder gesund werden, oder?“

„Kann ich nicht noch ein wenig mit Dolly kuscheln und die Medizin ein wenig später nehmen?“, fragte die Kleine und drückte eine braune Puppe, mit der sie offensichtlich Dolly meinte, fest an sich.

 

Die Mutter schaute ihre Tochter lange an. In ihren Augen lag ein Blick, der in Tausendgelb etwas auslöste, das er noch nie zuvor gefühlt hatte. Oder etwa doch? Er erinnerte sich an das leise Gefühl, das er empfunden hatte als er die Mutter zum ersten Mal sah.

 

„Na gut, mein Schatz!“, antwortete ihre Mutter und drehte sich rasch um. Gerade noch schnell genug um eine Träne, die sie gerade vergoss, vor ihrem Kind zu verstecken.

Sie verließ den Raum.

Noch eine ganze Weile saß Tausendgelb auf dem Zweig und beobachtete Lisa, die gerade ihrer Puppe erzählte, was sie alles machen würde wenn sie gesund wäre.

 

In dieser Nacht kehrte Tausendgelb erst sehr spät nach Hause, in das Reich der Engel zurück.

Sein Bruder empfing ihn liebevoll und fragte wo er so lange gesteckt hatte. „Ich war auf der Erde und habe ein krankes Kind gesehen! Ich möchte es gesund machen!“

 

Sein Bruder Cosmo schüttelte bedauernd den Kopf. „Das geht leider nicht. Wir können den Menschen in vielen Angelegenheiten helfen, ihnen zur Seite stehen, ja sogar Unfälle verhindern. Aber Krankheiten heilen, das können wir nicht.“

 

Die Worte trafen Tausendgelb ins Herz. Er flog im Reich der Engel und des Friedens umher, bemühte sich, sich abzulenken, doch er wurde verfolgt. Von einem Gefühl. Ein Gefühl, dass ihn eben schon erfüllt hatte als er sah, welchen Blick die Mutter ihrem Kind zugeworfen hatte.

Er beschloss es seinem Großvater, dem ältesten und weisesten der Engel zu erzählen und ihn um Rat zu fragen.

Als er ihm sein Leid klagte, erkannte er blankes Entsetzen in dem Gesicht des Reichältesten.

„Mein Junge...“, flüsterte er, als würde er ihm eine Nachricht überbringen, die niemand sonst hören durfte.
„Das was du empfindest ist Traurigkeit.“

Erstaunt über das Unwissen seines eigentlich so klugen Opas widersprach Tausendgelb: „Aber das geht doch nicht. Kein Engel dieser Welt kann Traurigkeit empfinden!“

 

„Normalerweise nicht!“, pflichtete er seinem Enkel bei. „Es sei denn du hast ein Stück Glück verloren.“

 

 

Es war früh. Die Vögel zwitscherten. Die Sonne erhob sich langsam über die Wipfel der Bäume und irgendwo hörte Tausendgelb eine Grille zirpen.

Er saß auf dem Ast vor dem Zimmer von Lisa. Sie sah so friedlich aus wie sie in ihrer Decke eingemurmelt war und schlief.

Erst nach dem Gespräch mit seinem Großvater war Tausendgelb klar geworden, dass er ein Stück seines Glücks schon verloren hatte, als er die Schönheit und die Traurigkeit der jungen Frau bemerkt hatte.

Das Stück Glück, das die Engel davor bewahrte Trauer zu empfinden.

Die Worte hallten in seinem kleinen Kopf wieder „Das Stück Glück, dass du an die beiden Menschen verloren hast, wird die kleine Lisa heilen. Doch damit sie ein gesundes Leben führen kann, muss es für immer bei Ihnen bleiben. Das bedeutet du bleibst ein Engel, der fähig ist, Trauer zu empfinden. Und somit keiner mehr von uns. Deswegen musst du es dir zurückholen.“

 

Tausendgelb regte sich nicht. Er hatte seine Entscheidung schon längst gefällt. Auf dem Weg hier her hatte alles in ihm danach geschrien sein Glück wieder zu holen.

Doch jetzt, als er das kleine Mädchen, sah und die Farbe, die es bekommen hatte, wusste er sie würde es behalten. Für immer.

 

Nach einer Minute erwachte Lisa. Sie setzte sich auf, blinzelte noch etwas verschlafen und schaute aus dem Fenster, als spürte sie seine Anwesenheit. Tausendgelb beschloss davon zu fliegen. Im letzten Moment, kurz bevor er sich umdrehte um den Baum zu verlassen, der inzwischen auf wundersame Weise mehr Blätter zu bekommen schien, meinte er gesehen zu haben, wie die kleine Lisa ihn für eine Sekunde lang noch einmal in die Augen geblickt hatte. Sicher war er sich da aber nicht.

 

Tausendgelb flog nach Hause. Das heißt, er suchte erst einmal nach einem neuen Zu Hause. Seine Familie sowie die anderen Engel seines Heimatreiches wollten nicht, dass er zurückkehrte. Er war nun anders als sie, würde es immer sein. Für ihn war kein Platz mehr.

Schon wieder spürte er eine tiefe Traurigkeit in seinem Inneren, das künftig bestimmt öfter auftreten würde. Doch er wusste er würde sich wieder so entscheiden. Und er wusste, dass keine Trauer so stark sein könnte, wie die Freude die er über die Gesundheit der kleinen Lisa empfand.

 

Und so flog er hinein ins große Nichts. Schon bald hatte er einen Platz im Himmel gefunden, der ihm zusagte und als neues Heim taugte. Doch er sollte sich niemals dort zu Hause fühlen. Ab und zu besuchte er die kleine Lisa. Sie redeten nicht miteinander, er war sich nicht einmal sicher, ob sie ihn immer bemerkte, doch ihre Präsenz spendete ihm großen Trost. Er würde von nun an öfter hier vorbeifliegen und auf dem Ast sitzen, der ihm schon so vertraut vorkam. Und wenn er dort saß, den Blick auf die spielende Lisa und ihre Mutter gerichtet, deren Namen er noch nicht einmal wusste, sehr wohl aber, dass die Traurigkeit in ihrem Geiste verschwunden war und nur noch die Freude übrig war, dachte er an die Worte seines Bruders, die er ihm gesagt hatte als er noch sehr klein war: „Schließt sich die eine Tür eines Reiches, geht irgendwo in der Ferne die eines anderen auf.“

 

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Tag der Veröffentlichung: 12.01.2016

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