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Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

  • Impressum
  • 1. Europa 2014 - 1914 als Menetekel?
  • 2. Die Krise in der Ukraine nach der Krim-Annexion
    • 2.1 Chronologie der Ereignisse
    • 2.2 Ausgangslage: Grundthese
  • 3. Russische Außen- und Sicherheitspolitik
    • 3.1 Grundkategorien und Wahrnehmungsmuster
    • 3.2 Rückblick
      • 3.2.1 Außenpolitischer Pragmatismus im Dienste innenpolitischer Konsolidierung (2000-2007)
      • 3.2.2 Wendepunkte: Ansagen „roter Linien“ (München 2007) und Krieg in Georgien (2008)
      • 3.2.3 Nationale Großmachtpolitik und Verschärfung der inneren Repression: Putins dritte Präsidentschaft (2012 f.)
    • 3.3 Das Projekt der Eurasischen Union
    • 3.4 Nach der Krim-Annexion: Weitere Verschärfung der inneren Repression
  • 4. Das neo-patrimoniale „System Putin“
    • 4.1 Informelle Machtstrukturen und -kartelle
    • 4.2 Großmacht-Nationalismus – Geschichtspolitik – „traditionelle Werte“: Der ideologische Instrumentenkasten des „Systems Putin“
  • 5. Die deutsche Debatte: Putin verstehen vs. „Putin-Versteher“
  • 6. Schlussfolgerungen
    • 6.1 Narrative entmythologisieren – Aufklärung betreiben
      • Beispiel 1: „Einkreisungsängste“ – Zur Kultivierung von Wahrnehmungsmustern
      • Beispiel 2. „Auch der Westen hat Völkerrecht gebrochen“ – Kosovo als Präzedenzfall?
      • Beispiel 3: „Wortbruch des Westens!“ – NATO-Osterweiterung
      • Beispiel 4: „Entweder-oder-Haltung“ der EU hat Ukraine-Krise maßgeblich ausgelöst
    • 6.2 Plädoyer für eine illusionsfreie Werte- und Interessenpolitik gegenüber Russland
  • Literatur
  • Anmerkungen

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Herausgeber
Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit
Bereich Internationale Politik
Karl-Marx-Straße 2
D-14482 Potsdam


Gestaltung Titelblatt
COMDOK GmbH


Kontakt
michael.roick@freiheit.org


ISBN 978-3-9816609-8-2


Oktober 2014

„Gott verhüte, dass wir in eine blinde Verehrung alles dessen, was russisch ist, fallen, bloß weil es russisch ist: Gott bewahre uns vor beschränkten und, um ehrlich zu sein, undankbaren Angriffen gegen den Westen […] Das sicherste Anzeichen von Stärke ist, seine eigenen Schwächen und Unvollkommenheiten zu kennen.“

Iwan S. Turgenew



1. Europa 2014 - 1914 als Menetekel?

Stefan Zweig denkt in seinen Erinnerungen an den Sommer des Jahres 1914 über die Frage nach, wie der durchschnittliche Wiener hinter seiner Zeitung oder beim Kaffee wohl die heraufziehende Katastrophe des Weltkriegs erlebt haben mochte: eine Welt voller Sicherheiten, die immer so weiterzugehen schien, und plötzlich sei alles vorbei gewesen, endgültig, „eine tragische Folge jenes inneren Dynamismus, der sich in diesen vierzig Jahren Frieden aufgehäuft hatte“(Zweig). Und die Gefahr sei groß, dass uns dasselbe widerfahre, meint der niederländische Historiker und Publizist Geert Mak, der uns an Stefan Zweigs Notizen in seinem 2012 erschienenen Buch „Was, wenn Europa scheitert“ erinnert. Dass uns das gesamte europäische Projekt, dieses kostbare Erbe früherer Generationen von Europäern, unbemerkt aus den Händen gleite. „Und dass dadurch, so wie Zweig es beschreibt, auch unsere Welt aus selbstverständlichen Sicherheiten in Scherben zerbricht.“[1] Mak schrieb dies auf dem Höhepunkt der großen Schulden-, Wirtschafts- und Vertrauenskrise, in der sich die Europäische Union 2011/12 befand, die heute zwar entschärft und eingehegt, aber bei weitem noch nicht überwunden ist.

Hundert Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs erfahren die Gedanken Zweigs eine neuerliche Aktualität: Noch zum Jahreswechsel 2013/14 notierte der Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung: „2014 wird uns, 100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs, auch eine Chance geben: Wir sehen vielleicht klarer, wie weit Europa nach diesen 100 Jahren gekommen ist. So viel Frieden war nie in Europa.“[2]

Keine drei Monate später ist plötzlich und unerwartet von der Gefahr einer „neuen Teilung Europas“, eines „neuen Kalten Krieges“, ja gar von einem möglichen „Krieg in Europa“[3] die Rede. Eifrig werden namhafte Wissenschaftler, die ihre neuesten Forschungsergebnisse zum Ersten Weltkrieg noch rechtzeitig zum Jahrestag in Buchform auf den Markt bringen konnten, befragt; allerdings weniger nach den konkreten Abläufen der damaligen Geschehnisse als vielmehr nach Analogien zwischen der Julikrise 1914 und den aktuellen krisenhaften und bürgerkriegsähnlichen Entwicklungen in der Ukraine: „Laufen wir Gefahr, in einen riesigen Flächenbrand zu ‚schlafwandeln‘?“ „Ich glaube, nein“, so die Antwort des in Cambridge lehrenden Historikers Christopher Clark. Die Krise in der Ukraine sei allenfalls ein „Mahnmal dafür, wie schnell die Ereignisse auch die sorgfältigsten Pläne überrollen und zu unvorhergesehenen Konstellationen führen können“[4].

Der an der Humboldt-Universität lehrende Politikwissenschaftler Herfried Münkler, auch er mit einer monumentalen Geschichte zum Ersten Weltkrieg auf dem Markt, sieht durchaus Gemeinsamkeiten: Zweifellos sei Russland im Jahr 2014 von ähnlichen Einkreisungsängsten geplagt wie Deutschland im Jahre 1914. Für die Analogiebildung spiele es dabei keine Rolle, ob diese Einkreisungsvorstellungen angemessen seien oder nicht; relevant sei zunächst nur, dass die politische Führung unter ihrem Eindruck handele. Zu den Einkreisungsvorstellungen kämen Niedergangsängste: Russland fürchte um seine zukünftige Rolle als weltpolitischer Akteur.

Bezüglich der historischen Reminiszenzen auf das Krisenjahr 1914 macht Münkler aber auch auf Grenzen aufmerksam, die im Hinblick auf die Validität von Analogieschlüssen zu beachten sind: „Was bei nahezu allen Analogiebildungen der Fall ist, zeigt sich auch hier: Es gibt keine klaren Muster, die jeweiligen Mächteanalogien wechseln, es gibt keine Geschichten, die durchgängig bis zum Ende erzählt werden können.“[5]

Weitere Ausführungen über mögliche Analogien oder Betrachtungen über den „Nutzen und Nachteil der Historie“ für das Gegenwartsgeschehen scheinen in dem hier behandelten Kontext ohnehin wenig zielführend zu sein, da es sich bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Ukraine ganz offensichtlich um einen der vielzitierten „neuen Kriege“ des 21. Jahrhunderts handelt: Ein Krieg ohne formale Kriegserklärung und ohne immer klare Fronten: „Über Wochen wird er gleichzeitig geschürt und verleugnet, in ihm kämpfen Spezialeinheiten neben Banditen, das ganze rostende Waffenarsenal der untergegangenen Sowjetunion wird ebenso gebraucht wie die psychologische Kriegsführung in den sozialen Netzwerken. Und am Ende dient alles dem Ziel, die liberale Ordnung auf Distanz zu halten, das, was wir Europa nennen, in seine Schranken zu weisen.“[6]

Wie man sich einen solchen maskierten Stellvertreterkrieg vorstellen kann, hat Moskaus Generalstabschef Walerij Gerasimow Anfang 2013 in dem Fachblatt Militärisch-Industrieller Kurier deutlich beschrieben: Durch politischen und wirtschaftlichen Druck, massive Propaganda, das Aufstacheln von Protesten der einheimischen Bevölkerung, durch „verdeckte Militärmittel“ und Spezialeinheiten könnte heute selbst ein „blühender Staat im Verlauf von Monaten in einen erbitterten bewaffneten Konflikt verwandelt werden und in Chaos, humanitäre Katastrophe und Bürgerkrieg versinken.“[7]

2. Die Krise in der Ukraine nach der Krim-Annexion

2.1 Chronologie der Ereignisse

In atemberaubender Rekordzeit hat Russlands Präsident Putin nach dem Ende der Janukowitsch-Ära in der Ukraine – unter Missachtung verfassungs- und völkerrechtlicher Prinzipien – die Annexion der Halbinsel Krim vorangetrieben und vollendet.

In der Folgezeit kommt es in östlichen und südlichen Landesteilen der Ukraine zu – von pro-russischen Aktivisten und Separatisten angezettelten – Unruhen, die immer gewalttätiger werden und bis zu ihrer vorläufigen Befriedung durch die Waffenstillstandsvereinbarung vom 5. September die Ausmaße eines heißen Krieges angenommen haben.

Die westliche Welt wird von dieser Entwicklung völlig überrascht. Schien es doch nahezu „ausgeschlossen, dass wir sieben Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in nur wenigen Wochen mit einer Politik konfrontiert werden, die gewaltsam Grenzen verändert“[8]. Die deutsche Bundeskanzlerin spricht von einem „Konflikt um territorialen Einfluss, den wir eigentlich aus dem 19. und 20. Jahrhundert kennen und den wir eigentlich für überwunden hielten“[9].

In Anrainerstaaten steigt nach diesem „geopolitischen Handstreich“ (FAZ) die Angst vor einer Wiedergeburt des sowjetischen Imperiums. In Ländern mit starken russischen Minderheiten wächst die Sorge vor einer Wiederholung des Krim-Szenarios.[10]

Ob das Vorgehen Russlands seit der Flucht Janukowitschs einem Masterplan respektive einem festen Drehbuch folgt, ist umstritten: Der deutsche Außenminister glaubt daran eher nicht. Viel spreche dafür, dass Russland das eigene Verhalten situativ fortentwickle.[11] NATO-Generalsekretär Rasmussen und andere sehen die Krim dagegen als ein Element in einem größeren Modell einer langfristigen russischen Politik oder zumindest Strategie von Kreml-Chef Putin.[12]

Die vom Parlament eingesetzte neue ukrainische Regierung bietet ihren Gegnern zunächst durch selbst verschuldetes ungeschicktes Agieren und problematische (Personal-)Entscheidungen zahlreiche Angriffsflächen, auch wenn schnell klar wird, dass manches davon propagandistisch – zum Teil maßlos – überzeichnet und instrumentalisiert wird.[13]

Als einer der schwersten Fehler soll sich

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Tag der Veröffentlichung: 23.10.2014

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