Cover

3.Auflage

 

 

 

Jane Petermann

Der Scheinquittensammler- 2190 Nächte

Biographischer Roman

 - 3. überarbeitete Auflage-

 

...manche finden Ostereier, manche finden Fotos, und werfen sie weg, damit nix rauskommt und man dann vlt  mit schuld ist ....und enterben einen dann deshalb--aus Eifersucht--auf ne Vierjährige....

 

 

 

 

Wenn ihr wissen wollte was neu ist an dieser Auflage -- hier ein kleiner Auszug aus dem Nachtrag- aus dem Brief (vollständig im Kapitel Nachtrag), den die "Mitwisserin" (Großtante) mir vor ein paar Wochen hat zukommen lassen- also nicht sie, sondern das Nachlassgericht.

 

 

..... "Jetzt weiß ich auch, warum du in unserem Bett geschlafen hast und warum er mit mir nichts mehr anfangen wollte. Aber das war ja schon früher so. Er mag wohl lieber kleine Mädchen. Ich dachte das hätte aufgehört. Die Tochter unserer früheren Untermieter hatte auch behauptet Claude hätte sie angefasst. Wir haben die Familie rausgeworfen. Was habt ihr alle was ich nicht habe? Wir hätten dich nie zu uns holen sollen. Du bist schuld dass er sich an dir vergriffen hat und jetzt wird mir einiges klar. Was hast du mit ihm gemacht? "

 

 

 

Äh..damit jetzt keine Mißvertändnisse aufkommen--ich hab nix gemacht- ich war Viereinhalb und unter Schlafmitteln!

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

© 2016 Jane Petermann

 

Lektorat: Michael Lohmann

Überarbeitung: Jane Petermann und Edith Parzefall

Grafik/Layout: Jane Petermann

Fotos: Jane Petermann (privat)

 

Coverfoto: ©Dron-Fotalia.com

Covergestaltung: Tom Jay- www.tomjay.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

Kontakt: Jane.petermann@email.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zitat

Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann, habe ich mal gelesen und das gab mir ein sicheres Gefühl – bis ich das Gegenteil erfahren musste.

"Lies das Buch! Und jeder Gang nackt durch einen Sturm von Kap Hoorn wird sich anfühlen wie eine warme Dusche“

( Jane Petermann- Die Vertriebene - oder auch die Autorin dieses Buches)

 

Warum

Warum

 

Bestimmt fragt sich der ein oder andere:„Warum?“Warum tut sie sich das an, jetzt, wo alles vorbei ist, nach so vielen Jahren, in denen sie untergetaucht, geflüchtet ist, geschwiegen hat. In denen sie keinen Schmerz spürte.

Weil sie nicht anders konnte, weil er es so wollte, weil es sein ausdrücklicher letzter Wunsch war- weil er immer noch Macht über sie hatte.

 

Warum noch?

 

Damit sie aufwacht.

 

 

Und…

 

Damit sie reden, die Mädchen, die es mitbekommen oder ahnen, die Mädchen, die Hilfe suchen, und zum Beispiele anrufen, bei Wildwasser, der Beratungsstelle vor Ort.

 

Und schließlich…

Damit auch sie sich trauen, die Pädophilen, sich Hilfe zu holen.

Danksagung

Danksagung

 

Ich danke allen, die mir Mut gemacht haben, dieses Buch zu schreiben- meiner Familie, meinen Freunden, meinen Autorenkollegen.

 

 

Ein Hinweis vorab

 

 

Die Originalbriefe sind in dieser zweiten Ausgabe des Buches unverfälscht und ungeschwärzt.

Weil die Wahrheit nunmal so ist- leider.

Ich erwarte nicht, dass dort jedes Wort gelesen wird- aber ich kann den Leser beruhigen. Wenn man es bis zum einschließlich 7. Brief durchgehalten hast, dann wird es wieder erträglicher und man wird ein rundes Ende finden. Welches wieder Mut macht und aus der eventuellen Schockstarre befreit- so wie mich.

 

 

 

 

Vorwort

… eigentlich unwichtig, denn nicht ich habe hier etwas zu sagen, sondern er …

Vor wenigen Jahren war die Liste an Dingen, die ich unbedingt erleben, erledigen oder deren Herausforderung ich mich stellen wollte, noch mehrere DIN-A4-Seiten lang. Neben ein paar mehr oder weniger persönlichen Verrücktheiten wie …

1. nackt Fallschirm zu springen

2. keine falschen Zähne zu haben

3. mit einem Rucksack und Brad Pitt durch den Tibet zu wandern

4. Gälisch und Hindustani zu lernen

5. Telefonsex zu haben, also vielleicht

6. mich in Stephen King zu reinkarnieren, um dessen Büchern ein besseres Ende zu geben

7. mich in eine andere Zeitebene zu flüchten, um mit Jane Austen darüber zu plaudern, wie die weibliche Hauptfigur den idealen Ehemann finden kann

8. meine eigene Privatschule zu gründen oder ersatzweise mein Ergotherapie-Skoupidou-Indoorzentrum. Oder beides miteinander zu verbinden

9. herauszubekommen, ob ich zu den Chandravahanshins (Kinder des Mondes) oder den Suryavanshis (Kinder der Sonne) gehörte – oder zu keinem von beiden

10. meinen Computer als ebenbürtigen Partner zu akzeptieren

11. anders als Kate Forster in Haus am See es zu schaffen, mit meiner großen Liebe zu telefonieren, die leider zwei Jahre vor mir lebt

12 mein Kleeblatt-Traumhaus zu bauen, das ich vor zwanzig Jahren mit meinem damaligen Freund geplant hatte – am besten mit ihm als Bauleiter

13. mindestens ein schrecklich ergreifendes Buch zu schreiben

einen Tag nicht vom Telefon belästigt zu werden

 

… bezogen sich meine Wünsche vorzugsweise auf Dinge, die ich im Zusammenhang mit meinen fast fünf Kindern erleben wollte, wie deren Hochzeiten, Besuchsrecht täglich 24 Stunden bis zu meinem Lebensende, oder meinen Enkeln meine eigenen Kinderbücher vorzulesen.

 

In den letzten Monaten, genauer gesagt, seitdem die Diagnose einer unbestimmten Myopathie zunächst durch Multiple Sklerose und vor ein paar Wochen durch Amyotrophe Lateralsklerose ersetzt wurde, hat sich meine Liste drastisch reduziert auf ein paar rudimentäre Dinge wie:

1. möglichst lange ohne Rollstuhl auszukommen

2. möglichst lange und eigenständig feste Nahrung zunehmen und ausscheiden zu können

3. möglichst lange ohne technische Hilfe atmen zu können

4. schlicht und ergreifend den morgigen Tag zu erleben.

 

 

Seit gestern gibt es nur noch einen einzigen Punkt auf meiner To-do-Liste:

dieses Buch zu schreiben.

 

Wenn auch nicht in Realität, wie sich im Nachhinein herausstellte.

Ich tippte zwar, aber der PC war gar nicht an. Hatte ich, glaube ich, in der Eile vergessen einzuschalten. Und ist mir nicht aufgefallen, denn ich schreibe mit geschlossenen Augen. Ich schreibe ab, was ich vor meinem geistigen Auge lese, oder von mir aus auch was mir das imaginäre Diktiergerät flüstert. Wie eine Sekretärin, welche sich keinerlei Gedanken über den Inhalt machen muss sondern einfach die Aufgabe hat, zu tippen.

 

Ich schreibe nicht nur, weil dies der letzte Wunsch meines Großonkels war, der mir den Stoff dazu geliefert hat, sondern weil ich mich ohnehin auf nichts anderes mehr konzentrieren kann und weil ich zugegebenermaßen sowieso nichts Besseres mit meiner freien Zeit anzufangen weiß.

Beziehungsweise alle anderen Tätigkeiten führen über kurz oder lang zu einer Ermüdung irgendwelcher Muskeln und schließlich meines ganzen Körpers.

Gut, ich könnte mich den ganzen Tag vor den Fernseher legen und mir intravenös sinnlose Sendungen einflößen lassen oder Billiglektüren verschlingen.

Oder irgendwas anderes tun, wobei es keiner besonderen Konzentration bedarf, wenn da nicht die Atemprobleme beim Liegen wären oder die Schwächen beim Scharfsehen, sobald ich die berühmte Viertelstunde überschreite.

Ich könnte mich ununterbrochen vollfressen, aber auch dabei erlahmen meine Muskeln, ich bekomme Schluckstörungen oder fange an zu würgen.

Und selbst essen macht irgendwann keine Freude mehr, wenn’s anstrengend wird.

Also bleibt mir nur noch das Sitzen und Schreiben. Mein Nacken schmerzt dabei auch nicht mehr als im Liegen, und die gelegentliche Ermüdung meiner Finger ist noch akzeptabel.

So bleiben auch genügend Schreibpausen zum Nachdenken und Formulieren. Für den Fall, dass Buchstaben vor meinem geistigen Auge verschwimmen.

Und auf diese Weise sind Schweißausbrüche oder Herzrasen lediglich Ursachen, die aus dem Gefühl kommen, zuzuschreiben und nicht körperlicher Anstrengung.

Abgesehen davon denke ich beim Schreiben nicht so sehr über meine Unfähigkeit nach, meine körperlichen Ausfälle zu akzeptieren – und schon gar nicht über meine Zukunft oder jene meiner Kinder, was in Anbetracht des aktuellen Stands der Dinge auch besser ist.

Früher oder später werde ich mich ohnehin nicht mehr aufrichten können, insofern versuche ich, mich jetzt schon daran zu gewöhnen.

Indem ich einfach losschreibe, zwinge ich mich dazu, mich vom totalen Erschöpfungszustand meines Körpers abzulenken.

Losschreiben tue ich eigentlich schon seit Jahren. Ich werde nur nie fertig, was typisch für mich ist, beziehungsweise ich fange tausend verschiedene Sachen an und schaffe es nicht, mich auf eine einzige Sache zu stürzen und diese bis zum bitteren Ende durchzustehen.

Ich will immer alles auf einmal, und tausend Ideen schwirren herum, die ich in die Tat umsetzen will. Eine panische Angst ergreift mich, ich könnte nicht alles schaffen. Diese Angst ist wohl sehr angebracht bei meiner pathologischen Neigung, mich zu verzetteln.

Diese Angst und die äußeren Umstände zwingen mich jedoch in diesem Falle, tatsächlich sitzen zu bleiben, denn ich habe in meinem chaotischen Leben nur noch ein Ziel, das ich verfolgen werde, bis ich nicht mehr kann; und zwar nur ein einziges Mal in diesem beschissenen Leben, es zu schaffen, auch nur dieses einzige Buch zu schreiben.

Es ist zwar nicht schrecklich ergreifend, dafür aber ergreifend schrecklich.

Alles im Leben dreht sich eben bei mir irgendwie ins Gegenteil.

 

Okay, ganz so furchtbar ist es nicht, mein Leben, zumindest lebt keiner mehr von den Menschen, die mir Böses angetan haben. Mein Vater ist gestorben, bevor er für seine Machenschaften zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Dafür muss mein Bruder immer noch finanziell büßen.

Meine Großtante ist tot, hat mich noch rechtzeitig enterbt, weil ich – und da hatte sie leider Recht – den falschen Mann geheiratet habe: Zumindest gab sie dies als Grund an. Psychopaten erkennen sich eben gegenseitig wie Vampire.

Nun muss ich mich mit meiner Stiefschwester um meinen Pflichtteil streiten.

Meinen Großonkel hat es dahingerafft.

Würde er noch leben, wäre ich jetzt nicht im Besitz dieses Erbes, das stolz zu nennen mir schwerfällt.

 

Und den Verrückten bin ich auch losgeworden. Also den, der – wir waren gerade im Abiturstress – in unserer Schule herumgeirrt ist und sich im Mädchenklo zwecks Schwängerung an uns Mädels herangemacht hatte, wobei er jeweils die Identität des Freundes seiner Opfer annahm. Allerdings bin ich ihn nicht gleich losgeworden, sondern erst, als ich gerade mit dem Studium begonnen hatte. Er hatte plötzlich neben meinem Auto gestanden, an einer roten Ampel, mit seinem Fahrrad. Vielleicht eine Erklärung dafür, dass ich mich nach dieser Begegnung regelmäßig weigerte, an Ampeln anzuhalten. Er hatte mich durch meine geöffnete Scheibe angesprochen, mich anschließend verfolgt, musste aber bedauerlicherweise an einer Kurve im Taunus scheitern, in der schon einige Motorradfahrer ihr Leben lassen mussten. Ich hielt an, stieg aus, überzeugte mich von seinem Ableben, fand den selbstgebastelten Ausweis mit dem Namen meines Ex-Freundes sowie sieben andere Papierausweise bei ihm, nahm sie an mich, warf sie im nächsten Ort in einen Mülleimer und verständigte anonym die Polizei über den Fahrradunfall. Ich hätte auch damals schon an meinem Verstand gezweifelt, hätten sich nicht die umliegenden Psychiatrien auf die Anzeige der Polizei nach der Identitätsfindung dieses Namenlosen gemeldet. Für die Polizei war der arme Junge kein unbeschriebenes Blatt: äußerlich gesehen ein Klon von Klaus Kinski, innerlich wohl ein Klon von ganz vielen anderen und bestimmt nicht der Clown, der er auch gern gewesen wäre.

Ich muss und werde es schaffen, auch nur dieses einzige Buch zu schreiben, dessen, ich weiß noch nicht wie viele tausend, Wörter bereits seit Jahren sozusagen vorgeschrieben sind.

 

Gute Schriftsteller - von denen ich ja aufgrund mangelnden Durchhaltevermögens augenscheinlich noch weit entfernt bin - würden an dieser Stelle etwa schreiben.

 

„Der Morgen fing bereits seltsam an. Es war schwül draußen und die Sonne schaffte es nicht, ihr Gesicht zu offenbaren. Das konnte nichts Gutes bedeuten, und, abergläubisch, wie sie war, sollte sich ihre Vorahnung schlagartig bewahrheiten. Die Geschehnisse des gestrigen Vormittags, eines Vormittags im Juli, brannten sich in ihr Gehirn ein, so sehr, dass sie den ekligen Geruch abgestorbenen Fleisches förmlich riechen konnte, ein Geruch, der nie wieder ihre Sinne verlassen würde, ein Wundschmerz, der so unerträglich war, dass ihr gar nichts anderes übrig blieb, als die letzten Stunden ihres finalen Leidenskampfes damit zu verbringen, die Ursache des Schmerzes der Nachwelt zu hinterlassen, damit sie wenigstens posthum noch für Mitleid sorgen könnte.“

 

Offen gesagt, mit „Brannten sich in ihr Gehirn ein“ liegt man gar nicht so weit weg, und für jemanden, der ohnehin schon lange vorhatte, Bestsellerautorin zu werden, allerdings mit schönen Liebesromanen, dürfte es ein Leichtes sein, die Wörter einfach wie eine Kopie zu drucken, dazu braucht man zur Abwechslung gar keine Phantasie, sondern nur ein gutes Gedächtnis.

Schließlich ist die Erinnerung das einzige Paradies, aus dem man sich nicht vertreiben lassen muss, hat mal jemand gesagt.

Das ist ja der Grund für meine Eile.

Ich habe Angst, Panik, ich könnte plötzlich alles wieder vergessen, so wie ich immer alles plötzlich vergessen habe. Psychologen würden sagen: verdrängt. Ins Unterbewusstsein verschoben. Unabsichtlich in meinem Falle natürlich, denn wie kann man etwas absichtlich verschieben, was man selbst nicht im Vollbesitz seines Bewusstseins erleben durfte - oder sagen wir besser: in Anbetracht der Umstände glücklicherweise nicht mitbekommen hat?

Ich weiß, ich spreche in Rätseln, aber keine Sorge, du bekommst bald die Auflösung. Ich bin eben eine typische Pädagogin, die nicht lange mit der Lösung hinterm Berg halten kann, denn ich bin im Gegensatz zu vielen meiner Kollegen doch kein Folterknecht, sondern mag meine Schüler, denke ich. Was nicht unbedingt auf Gegenseitigkeit beruhen muss, gerade jetzt, wo ich sie wegen meiner Erkrankung im Stich lasse und nicht ihre Hefte korrigiere, sondern meine Vergangenheit. Aber ich halte mich für diesen Berufsstand für untypisch unbrutal und knalle dir nicht einfach die Lösung an den Kopf – ohne Erklärung und Lösungsweg.

Und genau die Erklärung dieses Lösungsweges braucht ein paar Zeilen. Da kann man nicht einfach das fertige Ergebnis liefern, das, so wie ich es erleben musste, unweigerlich in eine Schockstarre münden musste.

 

Wie würde es dir ergehen, wenn du in aller Seelenruhe oder auch Seelenunruhe oder Unseelen-Ruhe dabei bist, an einem Buch zu schreiben, für das du gerade mühsam den Rahmen erfunden hast: einen Koffer nämlich.

Diesen Koffer bekommt eine Frau als Vermächtnis ihrer längst verstorbenen Mutter. In diesem Koffer tut sich eine Familiengeschichte auf, deren Kreis sich mit dem Koffer am Ende wieder schließt. Und du lobst dich selbst für diese Idee, heimlich natürlich. Und du wirst dann nichtsahnend in deiner Garage von deinem eigenen, wirklichen Leben eingeholt.

Indem du tatsächlich einen Koffer findest, ja, wirklich! Zumindest einen kleinen Aktenkoffer.

Und dann kommst du dir zunächst völlig bekloppt vor, als wärst du in deinem eigenen Buch.

Ein Koffer, der übrigens seit dem Ableben seines Besitzers, deines Großonkels, dein ungeöffnetes Erbstück darstellt, und den du aus bloßer Wut, aus Wut darüber, nichts als diesen Koffer voller Urlaubsdias vermacht bekommen zu haben, fast zehn Jahre lang hast links liegen lassen. Du hast ihn aber im Gegensatz zu viel wichtigeren Dingen wie Fahrzeugbrief oder Geburtsurkunden mysteriöserweise nicht verschlampt.

Und nun, warum auch immer, musstest du ihn dummerweise genau jetzt inspizieren.

Beim Aufräumen deiner Garage, was der ursprüngliche Anlass dieses Gangs war, der klar, hell und eindeutig war, und den du besser nicht hättest verlassen sollen – das schon erwähnte Dranbleiben an einer Sache - fiel der Koffer dir mal wieder in die Hände, und du denkst noch Ach, den gibt es ja immer noch, warum habe ich den noch nicht entsorgt. Und während du die letzten Worte denkst, öffnest du ihn mit unbedachten Griffen und dir fallen dabei mehr zufällig und beiläufig, ohne dass man Spezialist für Spurensuche hätte sein müssen, siebzehn Briefe aus einem eigens zur Bewahrung dieser Briefe mit einem Messer eingeritzten Seitenfach entgegen, in welchem der Verfasser, dein Großonkel, dich auf einen höchst dunklen Gang lotst und forensisch unbestechlich sein wahres, bisher dir und der Polizei unbekanntes, nicht mal geahntes Geständnis offenbart.

Ein Geständnis, das unglaublicher ist, als du es in deinem eigentlichen Buch je hättest erfinden können, so unglaublich, dass du dir schlagartig totale Amnesie wünschst, um dich im nächsten Augenblick ungeachtet des Inhalts maßlos darüber zu ärgern, dass dir jemand sozusagen die Idee geklaut hat und dir damit mal wieder etwas genommen wurde, von ihm.

Wie hätte es auch anders sein können?

 

Dein zweiter Gedanke ist unweigerlich, dass dir das nie im Leben einer abkaufen würde, falls du jemals, was im Moment des Schocks noch deutlich anzuzweifeln war, wieder in der Lage sein würdest, mit der Außenwelt zu kommunizieren, geschweige denn auch noch unverblümt das ganze Ausmaß der Wahrheit zu Papier bringen könntest. Letzteres war aber ausdrücklich der Wunsch deines Großonkels, und da du zu seinen Lebzeiten schon nicht in der Lage warst, dich seinen Wünschen zu widersetzen, kannst du es jetzt auch nicht.

Na, wie würdest du dich fühlen?

Will ich gar nicht wissen.

Jedenfalls fühle ich mich verpflichtet, den Inhalt der Briefe der Nachwelt meines Großonkels zu hinterlassen, nehme mir aber die schriftstellerische Freiheit heraus, hier und da etwas von der Wirkung auf die ganz persönlich betroffene Leserin preiszugeben.

Nicht zu viel natürlich, denn es geht ja nicht um mich und meine Gefühle in dem Buch, sondern um meinen Großonkel, auch wenn die Versuchung, die von mir verzweifelt gesuchten leeren Seiten meiner Erinnerung mit Inhalt zu füllen, natürlich extrem groß ist, mit Inhalt aus meiner Sicht, aus meinem Erleben, aus meiner tiefenpsychologisch wiedererweckten Erinnerung, meinen Gefühlen und meiner Geschichte.

Ich weiß jetzt auch, warum ich nie ein Zuhause haben konnte.

Der Mensch ist schließlich dort zu Hause, wo seine Geschichte beginnt, die ganze Geschichte, nicht nur die mehr oder wenigen harmlosen Bruchstücke, die ein halbwegs stabiler, gesunder Mensch verkraften kann, sondern alles. Ohne Lücke, ohne Naht und mir selbst kann es nun nichts mehr ausmachen, da ich eh schon krank bin.

Ich bitte also um Verzeihung, wenn es manchmal mit mir durchgehen sollte, aber immerhin spiele ich die zweite Hauptrolle in diesem Stück, und da wird man doch wohl auch was sagen dürfen, schließlich wurde ich lange genug zum Schweigen gebracht. Ein Reißverschluss auf dem Mund, der beim Versuch, ihn aufzuziehen, hakt, sich widersetzt, sich verweigert, klemmt.

Ich werde also versuchen zu sprechen, wenn ich es muss. Außerdem habe ich mal gehört, dass man traumatische Ereignisse am besten verarbeitet, wenn man sie selbst versprachlicht.

Wunden heilen an der frischen Luft auch besser, als wenn sie zugepflastert sind. Der Schutz durch das Pflaster ist eine rein subjektive Sache, nicht wahr?

Und da ich weiß, wie schnell alte Wunden zu heilen neigen, kann ich nicht anders, als – so schnell es eben geht – alles aufzuschreiben. Abgesehen davon bleibt mir nichts anderes übrig, denn ich habe in einem Anfall ungeahnter Wut die Briefe (und meine Fingerkuppen) verbrannt, ohne an die Folgen zu denken, nämlich, dass ich nun mein Gedächtnis quälen müsste. Es ist so wie in meinem Kopf, da ist ein Verdacht auf eine Encephalomyelitis disseminata, eine Multiple Sklerose, die irgendwann zurückgeht, ohne dass ihre Existenz wirklich bewiesen werden konnte, und zum Zeitpunkt der Entzündung kam niemand auf die Idee, sofort ein MRT zu machen. Also muss ich mich beeilen, und mein Unterbewusstsein weigert sich dagegen, dass diese Entzündung Schäden im Zellgewebe des Gehirns zurücklassen könnte, die sich dann zu hundert Prozent mittels MRT als Narbengewebe für immer und ewig darstellen ließen.

Dies ist also der eigentliche Grund meiner Schreib-Manie. Ich will, dass die Narbe verschwindet, bevor sie da ist, es ist wie eine mehrwöchige hochdosierte Cortison-Infusion, die ich mir selbst einflösse, um üblere Schäden abzuwenden, auch wenn mir etwas sagt, dass es bereits zu spät ist, und diese Narbe eine bleibende sein wird, ein eindeutiger Beweis dieser schleichenden heimtückischen Krankheit.

Genauso schleichend und heimtückisch, wie das kranke Gehirn meines Großonkels gewesen sein muss, der tatsächlich davon überzeugt war, etwas ungeschehen machen zu können oder gar begnadigt zu werden, nur weil er – ich gebe zu, sehr offen und ehrlich - in Briefform der offensichtlich einzigen Person, die ihm jemals etwas bedeutet hat, beichtete, was er ihr und damit auch sich selbst angetan hat, auch wenn es angeblich nie Absicht war.

Immerhin, das beruhigt mich jetzt ungemein. Es sei vielmehr ein Zwang gewesen, dem er nicht entfliehen konnte.

So wie ich jetzt dem Zwang, das aufzuschreiben, nicht entfliehen kann, vergleichbar mit meinem seit zwei Jahren schlimmer werdenden Zwang, meine Blase zu entleeren – motorische Dranginkontinenz mit instabilem Detrusor, hat man kürzlich herausgefunden: übrigens, der einzige wirklich zwingende Grund für eine circa alle 56 Minuten notwendige Unterbrechung meines Schreibzwangs. Du entschuldigst also, ich kann nichts dafür, mein Blasenmuskel zieht sich unbeeinflussbar zusammen, da meine efferenten Nervenimpulse zum musculus detrusor enthemmt sind. Ebenso enthemmt wie die Briefe meines Großonkels.

Der Arme!

Wie er sich gefühlt haben muss, parallel zu seinem unstillbarem Zwang, mich sukzessive zu seiner Prinzessin, zu seiner Geliebten und schließlich zur leicht verstümmelten Frau zu machen (man muss eben Opfer bringen), seinem Zwang folgen musste, sein Innerstes, seinen Kampf, sein Leiden sowie - wenn schon ehrlich, dann richtig - minutiös seine Vorgehensweise zu verschriftlichen, da ja sonst wohl niemand sein Geständnis hören wollte. Und, da muss ich ihn in Schutz nehmen, er hat es ja versucht.

Ich glaube, es war für ihn schlimmer, das alles zu dokumentieren, um es mir später, nach seinem Tode, vermachen zu können als sein Drang, seiner Großnichte und späteren Adoptivtochter jahrelang Schlafmittel zu geben, damit sie von seinen Taten nichts mitbekam.

Hab’ ich auch nicht, und hätte ich auch nicht, wenn mir mein Unterbewusstsein nicht gelegentlich dubiose Bilder geschickt hätte, die du mieses Schwein nun mit Inhalt gefüllt hast.

Warum hasst du mich so?

Warum hättest du das nicht in deiner kranken Erinnerung lassen können?

Siebzehn Briefe, hundert Schlagmichtot-Seiten, unzählige Buchstaben, von denen jeder Einzelne ein Teil der langen Narbe ist, die du hinterlässt, und zwar zum zweiten Mal, diesmal jedoch bei meinem vollsten Bewusstsein.

Und sie wird sich nie wieder schließen, diese Narbe, niemals.

Ich danke dir.

 

Und die Handvoll Pädophile, die du mit deinen Briefen erreichen und warnen und von ihren Schandtaten abbringen willst, sind mir offen gesagt so scheißegal, und überhaupt, wie krank bist du eigentlich, dass du glaubst, ein Pädophiler würde so ein Buch lesen? Du bringst höchstens harmlose Väter dazu, nie wieder ohne schlechtes Gewissen mit ihrer Tochter in die Badewanne zu steigen oder gibst den Männern, die bislang noch damit gehadert haben, aus ihrem Körper zu steigen, um sich einer Geschlechtsumwandlung zu unterziehen, den letzten Schubs, sich ihre ungewollte Männlichkeit wegnehmen zu lassen, aus anderen Motiven als ursprünglich zwar, aus bloßer Scham nämlich, zur Gattung Mann zu gehören. Wen interessieren die schon?

Was ist mit dir, Herr studierter Chemiker, wozu die Semi-Narkosemittel, mit denen du mich vollgepumpt hast, um mich zu schonen? Um mir jetzt das alles auf dem Teller zu präsentieren und mir damit lebenslange Garantie für mangelnde Lust an Kontakten jeglicher Art mit einem YX-Wesen zu verschaffen?

Das hättest du dir sparen können.

Bei mir relativiert sich ein Lebenslang gewaltig – angesichts einer Prognose von höchstens noch sechs Jahren. Pech gehabt, dir ist etwas zuvorgekommen, und ich kann mir ein makabres Grinsen im Moment nicht verkneifen: Diese Amyotrophe Lateralsklerose kann auch was Gutes haben.

Nur weil du die Wahrheit in dir nicht ertragen konntest und sie unbedingt selbst nach deinem Tod noch loswerden wolltest? Warum?

Oder weil du die Gewissheit brauchtest, mich nach deinem Tod noch weiterquälen zu können? Mich weiter zu steuern, mich weiter zu besitzen, mich weiter zu beherrschen und vor allem weiter auf mich einzureden, jede Sekunde, in der ich Papa skasala idi suda höre … und was tue ich?

Ja genau, ich komme, weil du mich rufst, sofort und ohne Widerrede.

Entschuldige, wenn ich solche Gedanken habe, aber mir liegt es momentan fern, dir die Absolution zu erteilen und etwas Gutes darin zu finden.

 

Ich gebe dir lebenslänglich, weil ich dummerweise meinen Oberstufenschülern gesagt habe, ich sei gegen die Todesstrafe, und ich werde es sein, der die Strafe für dich absitzen wird, denn du kannst es nicht mehr, und du hast mir deine Tat mit deiner Offenbarung aufgebürdet wie eine Last, die man nur gemeinsam teilen kann, so wie wir unsere gesamte Vergangenheit gemeinsam getragen haben, wobei du zugegebenermaßen ein paar Jahrzehnte Wissensvorsprung hattest.

Also muss ich das Ende alleine tragen.

Mach dir keine Sorgen!

Gleiches Recht für alle.

Du hast den Anfang alleine mit dir herumgeschleppt, ich darf das Ende tragen.

Wir sind also quitt und ich um die Einsicht reicher, dass nichts mit dem Tod wirklich endet.

Sehr beruhigend.

 

 

Um etwas Abstand zu gewinnen, muss ich mich von meiner eigenen Person entfernen und verwandle sie in die dritte Person Singular. Das soll es angeblich leichter machen, die Dinge neutraler erscheinen zu lassen. Ich bin es ja auch nicht, mit der sich der Leser identifizieren soll. Der Leser soll sich mit meinem Großonkel identifizieren. Außerdem ist es taktisch unklug, zwei Ich-Erzähler in einer Erzählung zu haben, das könnte zusätzlich für Verwirrung sorgen, obwohl ich dem Leser so viel Intelligenz zutraue, dass er die Personen auseinanderzuhalten vermag. Ach nein, ich glaube, ich nehme doch zwei Ich-Erzähler, die dann jeweils aus ihrer Perspektive erzählen; wozu gibt es linke und rechte Buchseiten? Ach nee, das ist verwirrend, zumal ich weiß, dass es bald keine rechte Buchseite geben wird, denn ich werde früher oder später nichts sagen können, fürchte ich, nichts sagen und nichts fühlen.

Warum erkläre ich eigentlich immer, was ich mache? Warum brauche ich so viel Vorlauf? Versuche ich etwa, mich zu drücken?

So wird das nie was mit dem Film zum Buch. Na ja, der Wunsch Eines meiner Bücher mit Arthur Cohn als Produzent und mir als Hauptdarstellerin zu verfilmen ist eh gestrichen von der Liste. Dieses Buch kommt dafür nicht in Frage oder gibt es eine Altersfreigabe ab 95 Jahren?

Außerdem kann ich ja nicht mal eine Stunde sprechen, ohne plötzlich wie ein Besoffener zu wirken dank der verwaschenen Sprache, die sich dann

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Jane Petermann
Bildmaterialien: Fotalia/ Tom Jay
Lektorat: Michael Lohmann
Tag der Veröffentlichung: 15.02.2016
ISBN: 978-3-7396-3791-4

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch meiner Adoptivschwester Carina (Name geändert) "Ich hätte gehen können, aber ich bin geblieben, um dich zu schützen, vor ihm - mich hat niemand geschützt."

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