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A Kiss, immortalized

Hey Pekka,

 

wie soll ich eigentlich beginnen? Aber was frage ich das dich. Ich bin schließlich derjenige, der nach ewigem Zögern zu Stift und Papier gegriffen hat, um dir etwas mitzuteilen. Etwas, das ein Ventil sucht. Das ich herauslassen muss. Weil es stets und ständig durch meine Gedanken spukt.

 

Es fällt mir schwer, das hier zu schreiben...in Worte zu fassen...denn eigentlich gibt es keine geeigneten Worte hierfür. Würde ich nun das Wort 'Liebe' verwenden, es würde alles ins Banale ziehen, denn Liebe ist es nicht, was ich für dich empfinde.

Liebe lag bereits in jedermanns Mund, verließ schon tausend Zungen; Liebe hat mit den Jahren immer mehr an Wert verloren. Tausendmal gehört, tausendmal ausgesprochen. Nicht vergleichbar mit dem, was du für mich bist.

 

 

Noch immer erschienen mir diese ganzen Begebenheiten so unwirklich. Dabei hatte ich seit Stunden, Tagen und Wochen fast rund um die Uhr Gelegenheit gehabt, in dieses Gesicht zu blicken, mich an seine Augen, seine noch immer so makellosen Züge zu gewöhnen. Doch es gelang mir einfach nicht, mich an ihm sattzusehen. Er kam mir wie ein Wunder vor, ein Kunstwerk, etwas, das so schön und mir vor gar nicht allzu langer Zeit noch so fern war.

 

Genau deswegen bewunderte ich ihn auch an diesem Abend mit einer schieren Fassungslosigkeit, die immer wieder mit einem tiefen, warmen Gefühl verschwamm, welches die Menschen wohl Liebe nennen würden.

Über all die Jahre hatte sich dieses Empfinden in meiner Brust gehalten, war zwischendurch kurzzeitig verblasst, aber als ich mich meinem Ziel immer näher wähnte, breitete es sich erneut mit einer Intensität in meinem Körper aus, die mich ganz an den Anfang katapultierte, hin zu dem dumpfen Flirren im Bauch, als ich zum ersten Mal sein Foto in einer Zeitschrift erblickte. Das hatte mir bewiesen, dass man sich in manche Menschen auch mehrmals verlieben konnte. Und dass die Seele nie vergaß, wie es sich damals angefühlt hatte. Selbst mit Mitte zwanzig kannst du noch das Kribbeln und den süßen Krampf spüren, der zuletzt mit sechzehn dein Leben komplett auf den Kopf gestellt hatte. Wenn es noch in dir schwelte, dann brauchte es nur eine Gelegenheit, um wieder zu erwachen. Und manchmal stieg es gar mit einer weitaus größeren Intensität aus der Asche.

 

"Ey, Pirat, willst du ne Kippe?"

Er schmunzelte, wann immer ich ihn so nannte. Und dann musste auch ich schmunzeln. Er konnte auf eine Art und Weise lächeln, die einen immer mitzureißen wusste, egal, ob du nach einem erfolgreichen Gig am liebsten todmüde ins Bett gefallen wärst oder der Kater aufgrund eines feuchtfröhlichen Vorabends noch schwer in deinen Knochen wog. Wenn Pekka lachte, dann war die Welt in Ordnung. Obwohl sie für mich gleichzeitig aus den Fugen geriet.

 

Natürlich wollte Pekka eine Kippe. Bereitwillig reichte ich sie ihm, und dabei verbreiterte sich sein Schmunzeln noch. Dass meine Ohren zu glühen begannen und wahrscheinlich zusätzlich rot anliefen, wusste glücklicherweise mein Kopftuch zu verdecken. Denn nicht nur Pekka war ein Pirat. Auch ich war einer. Im Grunde hätten wir als Zwillinge durchgehen können mit unseren langen, schwarzen Haaren und dem ähnlichen Klamottenstil, den ich damals während der Blütezeit meiner Gefühle angenommen hatte. Ich wollte ganz einfach ein wenig Pekka bei mir haben, ein bisschen wie er sein, weil ich mich dann attraktiv fühlte. Schließlich war der Gitarrist der Inbegriff von Schönheit in meinen Augen. Und er war es bis heute.

Dass ich mich der Gothicszene zuwandte, brachte noch einen weiteren Stein ins Rollen. Ich lernte Leute kennen, die die Magie der Dunkelheit ebenfalls zu faszinieren wusste und entdeckte dadurch meine Liebe zum Kreieren eigener Musik. Bald schon fand ich heraus, dass ich mich mit ein wenig Übung zu einem begnadeten Schlagzeuger mausern könnte; der Rhythmus schien mir im Blut zu liegen und es kam mir zugute, dass ich regelmäßig das Fitnessstudio aufsuchte, um dort meine Oberarmmuskulatur zu trainieren.

 

Mit ein paar anderen Jungs gründete ich schließlich eine eigene Band. Es war nicht immer so lustig, wie es sich vielleicht anhörte, denn es gehörte viel Selbstdisziplin und harte Arbeit zu dieser Sache, die zunächst als Hobby begann, aber schon bald in etwas Ernsthafterem ausartete. Aus den Coversongs wurden schon bald eigene Lieder, die wir in Gemeinschaftsarbeit schrieben, und ich ließ bei Weitem nicht nur einmal meine Gefühle für Pekka in die Lyrics einfließen. Natürlich wusste niemand, wer der Protagonist aus meinen Liebesliedern war, selbst dessen Geschlecht hatte ich aller Welt verschwiegen. In späteren Interviews stellte ich zur Genüge klar, dass ich nur an Frauen interessiert sei, um mir Hasstiraden oder merkwürdige Fragen zu ersparen. Denn irgendwann waren wir nicht mehr die kleine Garagenband, als die wir begonnen hatten. Wir hatten einen solch starken Willen an den Tag gelegt, dass wir einen Plattenvertrag erhielten. Eine große Ehre, gab es gerade in Finnland unzählige gute Rockbands, die jedoch für immer unentdeckt blieben. Wir sahen es als Tribut für unsere gute Arbeit an, freuten uns darauf, nun sogar ein wenig Geld verdienen zu können und bald schon unsere erste eigene Platte im gut sortierten Musikfachhandel entdecken zu können. Nur ich besaß zusätzlich einen weiteren Anreiz, in Zukunft noch härter und ausdauernder zu arbeiten. Denn ich wusste, wenn wir uns erst einmal einen Namen erspielt hatten, dann würde auch Pekkas Band irgendwann auf uns aufmerksam werden.

Ich wähnte mich ihm bereits ganz nah, spielte mein Schlagzeug immer leidenschaftlicher und verfasste Songtexte, die so manchem Mädchen die Tränen in die Augen trieben, denn sie alle glaubten, ich hätte sie nur für sie geschrieben. Doch der, dem sie tatsächlich galten, ahnte sicher nicht das Geringste.

 

 

 

Vielleicht wirst du nun grinsen und den Kopf schütteln, während du das liest, denn selbst mir kommt es ziemlich pathetisch vor. Und eigentlich bin ich auch nicht der Typ, der derartige Briefe verfasst. Aber ich muss eine Ausnahme machen. Denn dieses namenlose Empfinden zerdrückt mir mittlerweile das Herz. Und umso länger ich es unausgesprochen in meiner Seele aufbewahre, desto schmerzhafter erscheint mir das bloße Denken an dich. An deine Augen. Ja, ich bin ganz ehrlich: Ich finde sie wunderschön. Kalt wie das Blau eines finnischen Sees sind sie. Und doch strahlen sie eine gewisse Wärme aus, etwas, das eine kleine Flamme in mir zum Erbeben bringt. Sie faszinieren mich, machen mich glücklich und traurig zugleich.

 

Oh ja, ich rutsche schon wieder in kitschige Gefilde ab. Es tut mir leid. Aber bitte zerreiße den Brief nicht gleich. Früher oder später wirst du es ohnehin tun, aber gib mir doch eine kleine Chance, ja? Ich verlange nicht einmal eine Antwort auf diese Zeilen eines kleinen Fanboys, der sich wie tausend andere in einen Musiker verguckt hat. Deine freie Zeit ist sicher begrenzt und wahrscheinlich würdest du als heterosexueller Mann auch schlichtweg nicht wissen, was du erwidern solltest. Das ist in Ordnung. Und ich mache mir keine Hoffnungen, habe ich nie getan. Du wirst für mich immer unerreichbar bleiben, und ich kann damit leben. Ehrlich. Besser gesagt, ich muss es.

 

 

Mir erschien jener Tag wie von einer höheren Macht auserkoren. Jener Tag, an dem wir mitgeteilt bekamen, dass wir bei der nächsten Tour von Pekkas Band als Vorgruppe fungieren sollten. Es riss mir förmlich den Boden unter den Füßen weg und in diesem Moment war alles wieder da. Alles, was mich damals so verrückt gemacht hatte. Die schwitzigen Hände, wann immer ich ihn vor mir auf der Bühne stehen sah, das grelle Licht der Scheinwerfer im Nacken, die ihm eine Aura verliehen wie die eines Gottes. Die weichen Knie, der donnernde Herzschlag. Ja sogar die sündigen Jungenfantasien, über die wohl so mancher den Kopf geschüttelt hätte. Ich hatte das Träumen fast aufgegeben, weil ich glaubte, es hätte keinen Sinn mehr, aber die Hoffnung, Pekka irgendwann gegenüberzustehen und ihm zu sagen, was ich für ihn empfand, war nie gestorben. Denn der Platz in meinem Herzen gehörte immer nur ihm. Auch wenn er sich zeitweise zu verkriechen wusste.

 

Wir beide erkannten schon bald, dass zwischen uns eine gewisse Chemie herrschte.

Vielleicht mochte er gerade meine anfangs sehr schüchterne Art, für die ich mich hingegen verfluchte, aber es war mir nicht möglich, meine Nervosität abzustellen. Ich fürchtete, dass er mich für einen kompletten Vollidioten halten würde, dessen IQ niedriger war als die Zahl der Jahre, die ich bereits auf dem Planeten Erde verweilte. Schließlich laberte ich nur Scheiße, wenn wir nach den Gigs einen trinken gingen, und das auch noch mit einer Stimme, die nur zu gut zu einem Wahnsinnigen gepasst hätte. Zudem glaubte ich, nein, ich war mir ganz sicher, dass Pekka und sowohl auch die anderen von meinen Gefühlen Notiz genommen hatten. Doch niemand sprach mich darauf an. Vielleicht weil sie nicht wussten, wie sie damit umgehen sollten oder weil sie mich nicht bloßstellen wollten. Denn nichts erschien mir klarer als die Heterosexualität Pekkas, welcher selbst mit dreißig Jahren noch hin und wieder Groupies beherbergte und am nächsten Tag mit wilden Geschichten prahlte. Dann wurde ich immer ganz still und ballte die Hände zu Fäusten. Verkrampfte mich komplett. Wollte am liebsten meine Ohren verschließen. Aber das funktionierte leider nicht. Ich musste der Wahrheit ins Gesicht sehen: So nah wie ich Pekka gekommen war, so weit entfernt war er doch. Sogar noch ferner als in der Zeit meiner bloßen Träume. Denn in diesen war Pekka genauso, wie ich ihn mir wünschte. Ich hatte mich schlichtweg in eine Vorstellung verliebt, nicht in einen Menschen. Ich hatte Dinge auf ihn projiziert, Eigenschaften, Verhaltensweisen, die der wahre Pekka überhaupt nicht sein eigen nannte. Und trotzdem wusste auch der richtige Pekka mein Herz zu erobern. Auch wenn er ganz anders war, was die Folge hatte, dass sich meine Gefühle gewandelt hatten. Sie galten einem Menschen und keiner Fantasie, keinem Hirngespinst mehr. Und das machte alles noch komplizierter. Aber auch intensiver.

 

 

Ich erwischte mich bei Weitem nicht nur einmal dabei, wie ich ihn an diesem Abend anschaute. Eigentlich wanderten meine Blicke ständig über seinen für mich so perfekten Körper und von dort empor zu seinem Gesicht, der Zigarette, die er sich zwischen die Lippen schob und deren Rauch er genüsslich inhalierte. Ab und an konnte ich leider nicht schnell genug ausweichen und so passierte es, dass er meinen Blick einfing und sogar für einen kurzen Augenblick festhielt, was mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Gleichzeitig rollte eine Woge warmen Schauers über meinen Rücken und ich schwor mir, von jetzt an vorsichtiger zu sein. Aber man sollte nicht annehmen, dass mir das gelang. Das Abbild von seinem Gesicht projizierte sich zwar jedes Mal für ein paar Sekunden auf meine Netzhaut und gab mir so die Chance, mich länger an seiner Schönheit zu weiden, aber ich vergaß schon bald die Details; der Schatten, der über seine Wangen fuhr, wenn er nachdenklich mit dem Kiefer mahlte oder die Bewegungen seiner Lippen, die fast nie in Ruhelosigkeit verharren konnten. Und wenn wieder ein Schwall Rauch aus seinem Mund trat, dann schaute ich unter Garantie schon längst wieder zu ihm hinüber und das Spiel begann von neuem.

 

"Für einen Kranken qualmst du heute aber ganz schön viel", warf ich irgendwann ein, um von der unsäglichen Stille abzulenken und sowohl etwas Normalität einkehren zu lassen. Die Spannung in der Luft zerdrückte mich fast. Aber vielleicht konnte dies nur ich spüren, weil sie von meinem Inneren ausging.

"Meiner Sucht ist es scheißegal, ob ich krank bin oder nicht", erwiderte Pekka cool und stützte sich mit den Ellbogen auf der Matratze ab, wobei er seinen Blick in Richtung des Fenster richtete, obwohl sich da draußen alles längst in tiefe Dunkelheit gehüllt hatte.

Doch mir kam das natürlich gelegen, ermöglichte es mir ein paar heimliche Blicke, die er nicht gleich wieder mit seinen kalten Eisaugen erwiderte.

Ich fuhr über seinen Körper, verweilte an der bloße Brust, die unter der Lederweste hervorschaute und all meine Gedanken zu verwaschenen Nichtigkeiten verkommen ließ. Und da waren sie wieder, die sündigen Jungenfantasien. Doch ich durfte mich ihnen nicht jetzt hingeben. Nicht jetzt und nicht hier. Wir waren allein, und es würde auffallen, wenn mein Leib auf ihn reagierte. Aber ich hatte längst gelernt, mich zu beherrschen. Seit Wochen achtete ich auf kaum etwas mit solch einer Gewissenhaftigkeit wie auf meinen eigenen Körper. Ich durfte mich einfach nicht gehen lassen. Mein Geheimnis sollte sicher in meiner Brust aufbewahrt bleiben. Und doch schwirrte eine einzige Frage durch meinen Kopf, die alles verraten würde, würde ich es wagen und sie aussprechen.

Ich spürte längst, dass heute der Tag gekommen war, um behutsam darauf einzugehen. Keiner würde einen dummen Spruch reißen, denn die anderen Typen machten die Kneipen unsicher, während ich mit dem sich nicht so gut fühlenden Pekka im Hotel geblieben war.

 

Ich konnte es nicht vergessen. Nicht für einen Moment, wenn er wieder an seiner Zigarette zog und die Asche am Ende verheißungsvoll aufglühte. Wie oft ich mir damals diese Bilder erdacht hatte, in allen Varianten vorgestellt; für mich war ein rauchender Pekka stets der Inbegriff von Laszivität, Erotik und Verführung. In meinen heißen Träumen zogen wir abwechselnd an ein und derselben Zigarette, während wir miteinander schliefen. Es entwickelte sich zu einem Spiel, gar einem Fetisch und auch an anderen rauchenden Männern fand ich mehr und mehr Gefallen. Aber keiner vermochte die Lippen so zu spitzen wie mein großes Idol. Keiner rauchte mit solch einer Hingabe, einer verruchten Lässigkeit und einem Schuss Schmutzigkeit wie Pekka. Wie gut er es noch immer beherrschte zeigte sich mir in diesem Augenblick.

Pornografie.

Und genau aus demselben Grund formulierte ich eine ganz besondere Bitte in meinem Brief an ihn. In dem Brief, auf den er mir natürlich nie geantwortet hatte.

 

 

 

Solltest du tatsächlich bis an diese Stelle gelesen haben, dann lass mich doch bitte einen kleinen Wunsch äußern. Etwas, das mir die ganze Welt bedeuten würde, solltest du ihn mir erfüllen.

Wie du sicher schon bemerkt hast befindet sich in dem Umschlag eine Zigarette. Sie ist von einer guten, deutschen Marke, schmeckt mir jedenfalls sehr gut und ich wünsche mir von dir, dass du sie zur Hälfte rauchst und sie mir dann wieder zurückschickst. Ja, ich bin so ein komischer Freak, lach mich ruhig aus. Aber vielleicht tust du mir ja trotzdem den Gefallen. Einfach, weil es einen deiner treuen Fans unglaublich glücklich machen würde.

 

Ich denke an dich.

Dein Max

 

 

Weggeworfen hatte er ihn, mit Sicherheit schon nach dem Überfliegen der ersten paar Zeilen. Oder gar nicht erst bekommen, weil seine Bandkollegen sich darüber hergemacht hatten, voller Spott, voller Hohn. Sie waren nette Jungs, natürlich, aber sie rissen des Öfteren Witze über Homosexualität, die ich ihnen allerdings nie übel nahm. Wenn man einen Menschen wirklich schätzte, dann verzieh man ihm vieles. So ziemlich alles sogar. Aber es erleichterte mich freilich, dass sich Pekka niemals an diesen Späßchen beteiligte. Er war kein Kindskopf, manchmal vielleicht gar etwas humorlos und in sich gekehrt, aber ich wusste mich mit all seinen Eigenschaften zu arrangieren. Ich lag ihm zu Füßen. Und ich fragte mich, ob er es sah, wenn er mir in die Augen schaute oder ob er einfach nur durch mich hindurchblickte, als wäre ich gar nicht anwesend. Aber noch mehr interessierte mich eine ganz andere Sache. Ich musste meine Seele endlich davon befreien, das wusste ich. Nie hätte ich es mir verziehen, wenn ich die Zeit hätte verstreichen lassen, ohne ihn auf diese Sache anzusprechen.

 

"Weißt du was?"

Ich begann ganz zaghaft. Wartete mit donnerndem Herzen darauf, dass er seinen Kopf in meine Richtung drehte. Als sich unsere Blicke trafen, spürte ich bereits, wie sich alles um mich herum drehte. Wie sich meine Halsschlagader zusammenzuziehen schien. Ich wollte umkehren, aber ich war bereits einen Schritt zu weit gegangen. Es gab kein Zurück mehr. Aber es gab ein Leben nach dem Tod.

"Ich bin ja schon ewig Fan von euch...", redete ich weiter, während ich mir vor Nervosität den ganzen Nacken zerkratzte und nachdenklich an die Decke schaute. "Ich glaub, seit ich fünfzehn war oder so..."

Meine Stimme schlug wieder einen Salto. Wie ein Teenager im Stimmbruch. Es war beschämend. Aber auch dieser Moment würde vorbeigehen. Dass um Pekkas Mund nicht der Hauch eines Lächelns zog, erleichterte mir die Sache etwas. Aber ich fürchtete, dass ganz großer Unsinn aus meinem Mund purzeln könnte. Denn zum Nachdenken war ich längst nicht mehr fähig.

 

"So lange schon?", hakte Pekka schließlich nach. Seine Brauen zogen sich erstaunt in die Höhe, was seine Augen kugelrund wirken ließ. Es schien ihn tatsächlich zu interessieren.

"Ja", gab ich zu, spürte, wie ich automatisch zu grinsen begann. "Ich hab dir sogar mal einen Brief geschrieben...schon ewig her...erinnerst du dich noch daran?"

Endgültig war ich über meinen Schatten gesprungen. Ich hatte mich all diese Worte tatsächlich sagen gehört, es waren also keine stumme Gedanken wie so oft. In Schweiß gebadet rutschte ich auf dem Stuhl hin und her und hätte am liebsten die Augen zugekniffen, wie ein Kind, das hoffte, dass die Sternschnuppe seinen Wunsch in Erfüllung gehen ließ. Aber ich war kein Kind mehr. Und es gab auch keine Sternschnuppe. Nur noch Hoffnung.

 

"Einen Brief? Oh Gott..."

Er schnaubte, rieb sich überlegend das Kinn. Ich hingegen hatte mich dazu entschieden, wenn ich schon nicht meine Augen zusammenkneifen durfte, das wenigstens meinen Lippen zu erlauben. So viele Sachen rasten gleichzeitig durch meine Hirnwindungen. Sollte ich ihm auf die Sprünge helfen? Oder doch auf halbem Wege noch den Schwanz einziehen? Denn er schien den Brief als unwichtig erachtet zu haben, wenn er sich nicht mehr daran erinnern konnte. Verbannt aus seinen Gedanken, vielleicht schon nach ein paar Sekunden. Erloschen mit dem nächsten Fanbrief, den er aus dem Umschlag zog. Herz gebrochen. Ja, es war wirklich leicht zu vergessen, dass sich hinter anonymen Textzeilen immer ein Mensch mit Gefühlen verbarg. Ich verstand das. Und trotzdem tat es mir damals unheimlich weh.

Das Schlimmste, was man einem Menschen antun kann, ist ihn mit Ignoranz zu besehen.

 

"Ja, ähm...der Brief mit der Zigarette...ich hatte mir eine halb gerauchte Zigarette von dir gewünscht...aber du hast mir nie geantwortet..."

Ich lachte, obwohl mir nicht zum Lachen zumute war. Ich hätte alles lieber tun wollen als Lachen. All die Gefühle kamen wieder hoch, stauten sich in Form eines Kloßes in meiner Kehle an und schmerzten bei jedem Schlucken.

"Zigarette...Zigarette...keine Ahnung, sorry", erwiderte Pekka schließlich nach einer Weile, schüttelte erst fast schon etwas mitleidig den Kopf, zog im nächsten Moment aber schon wieder ungerührt an seiner Zigarette. Kühl und unnahbar. Er hatte es verdrängt. Er wusste es noch. Aber er wollte nichts von meinen Gefühlen wissen. So erschien es mir. Aber wenn man fühlte, dann verwandelte man sich ganz plötzlich in einen Meister der Interpretation von Körpersprache und Stimmklang. Dann kam einem plötzlich alles wesentlich vor, jeder einzelne Wimpernschlag.

 

Es vergingen endlose Sekunden, in denen ich auf meinem Stuhl ausharrte, stumm, wie ein Hund, den man geschlagen hatte. Ich schämte mich, dass ich ihn darauf angesprochen hatte. Meine Gefühle erschienen mir mit einem Mal wie die unwichtigste Sache auf der ganzen Welt. Wertlos. Übertrieben. Albern. Und vielleicht waren sie es auch. Aber das in den Augen eines anderen lesen zu können tat einfach weh. Und wenn das dazu auch noch die Augen des Menschen waren, den man beinahe vergötterte aufgrund dem, was er war, dann verwandelte sich dieses Tiefe, Wahnsinnige und oft auch Schöne in etwas Schwarzes, Dunkles, Hässliches. Dann fühlte man sich ganz plötzlich wie ein gefangenes Tier. Und hasste. Hasste sich selbst. Nicht den anderen. Nur sich selbst. Denn darin lag der Ursprung für all den Scheiß.

 

"Du wolltest ne Zigarette von mir?"

Pekka schien die Sache kurios zu finden. Ja, objektiv betrachtet war sie es sicher auch. Wenn an ihr aber Herzblut klebte, dann wirkte sie schnell tödlich.

Ich durfte mir nichts anmerken lassen. Es galt, mein Empfinden hinter einer Fassade aus Coolness zu verstecken, wie immer. Es erforderte meine ganze Kraft, aber ich sah keine andere Möglichkeit. Ein offensichtlich leidendes Tier wurde erschossen. So lief der Hase nun mal.

"Mh...komisch, oder?"

Fassade. Lass sie niemals bröckeln. Wenn sie einstürzt, bist du tot.

 

Pekka streckte plötzlich seinen Arm in meine Richtung aus. Zwischen seinem beringten Zeige- und Mittelfinger qualmte ein halber Zigarettenstummel vor sich hin.

"Hier", murmelte er beiläufig. "Kannst den haben. Die Post ging halt ziemlich lange."

Zunächst konnte ich es noch gar nicht fassen. Ich erhob mich, machte so viele Schritte wie nötig auf ihn zu und beäugte die Zigarette in seiner Hand. Dann wurde mir eines klar.

Das hier war ein Spiel. Ein wertloses Spiel. Ein Spiel, dessen Regeln er nicht begriffen hatte.

Dennoch griff ich nach der mittlerweile erloschenen Hälfte des Glimmstängels und nahm sie an mich. Eigentlich war mein Kindertraum in diesem Moment wahrgeworden. Aber es fühlte sich nicht so an. Es fühlte sich nach nichts an. Als wäre alles in mir längst gestorben. Deswegen tat es nicht einmal mehr weh. Aber es machte wütend.

 

"Du hast es nicht verstanden, oder?"

Er schaute mich an. Überraschung schwelte in seinem Blick. Überraschung über die Bestimmtheit in meiner Stimme. Wahrscheinlich hatte er mich noch nie so reden hören, denn ich war stets die Beherrschung selbst gewesen. Alles lebte hinter dieser Fassade. Und davor war alles tot.

"Was verstanden?"

Dreist. Ich warf den Stummel entschieden auf den Boden. Presste meinen Fuß darauf. Trat so lange darauf ein, bis nur mehr ein braunes Häufchen Tabak auf dem Parkett von der ehemaligen Zigarette zeugte. Wenn er die eine Geste nicht verstand, dann würde er diese auch nicht begreifen. Dieses metaphorische Zertrampeln meiner Gefühle.

 

"Ich habe mir die halb gerauchte Zigarette von dir gewünscht, weil ich das als eingefangenen Kuss erachtet hätte. Ich war verliebt in dich, Pekka. Ich habe dir das in dem Brief gebeichtet. Wenn du ihn gelesen hättest, dann wüsstest du es. Aber du hast ihn weggeworfen, wie die tausend anderen. Du hast die Herzen deiner Fans entsorgt, einfach so. Ich habe dich so geliebt, ich bin fast wahnsinnig geworden. Und dich kümmert es einen Dreck."

Das Wort, das bereits in jedermanns Mund gelegen und schon tausend Zungen verlassen hatte, kroch plötzlich meine eigene Kehle hinauf und drängte ins Freie. Ich entließ es. Denn es war Vergangenheit. Die Illusion, die ich geliebt hatte, gab es nicht mehr. Sie war gestorben mit dem ersten Wort, das wir gewechselt hatten. Sie hatte einer anderen Liebe Platz gemacht. Der Liebe gegenüber einem Menschen. Der Liebe gegenüber einem, der es nicht verdiente.

 

Ich schwitzte. Aber längst nicht mehr vor Scham. Blanke Wut loderte in meinem Innersten. Wut, die mir so beengend und befreiend gleichzeitig erschien. Alles floss aus mir heraus, alle Gefühle, alles Angestaute. Und in diesem Moment starb auch der kleine Funken Hoffnung, der in der Asche gelodert hatte. Es würde niemals so sein, wie ich es mir erträumt hatte. Nicht mal im Ansatz. Ich war kein Kind mehr. Es gab keine Sternschnuppe. Und hier war auch keine Hoffnung mehr.

 

"Max..."

In Unbeweglichkeit eingefroren stand ich da, beobachtete Pekka, wie er sich langsam erhob und auf mich zukam. Mit jedem Schritt, den er sich mir näherte, glomm mehr Wut in mir auf, bis ich tatsächlich überlegte, ihm eine zu klatschen, aber ich war schon pathetisch genug, das würde ich mir sparen. Nur hoffte ich, er würde nun nicht zu einem hintergrundlosen 'Es tut mir leid' ansetzen, denn er würde es nicht ernst meinen, es wäre eine bloße Floskel, aus reiner Höflichkeit geboren.

Doch das Leben erwies sich einmal mehr als unberechenbar. Ich fand mich schon im nächsten Augenblick stocksteif in Pekkas Armen wieder, die Nase an seine Schulter gedrückt und seine Hände auf meinem Rücken ruhen spürend. Und ich ließ es einfach geschehen, krallte mich erneut an einer Illusion fest. Verfluchte mich dafür, aber ich war in dem Moment blind für alle Schlechtigkeiten dieser Welt.

 

"Ich hab dich nicht gekannt...du warst einer unter vielen...aber jetzt...jetzt kenne ich dich...und du bist kein Fan mehr für mich. Du bist...du bist..."

Er drückte mich ein Stück weit weg von sich, und ich schaute ihm ganz verdattert in die Augen, meinte so etwas wie ein Funkeln erkennen zu können. Eine sich aufbäumende Welle in dem kalten See, die sich wie ein dunkler Schatten über dem Blau ausbreitete. Ich wollte mich dieser Faszination nicht länger hingeben, aber ich tat es. Ich war wieder ganz das gefangene Tier. Bemerkte nicht einmal gleich, wie er seine Hand auf meine Wange legte und mit dem Daumen über meine Haut fuhr.

"Du brauchst keinen Zigarettenkuss mehr", hauchte er mir gegen meine Lippen, nach denen er mit seinen schnappte, ganz kurz nur. "Du kannst einen richtigen Kuss bekommen. Oder tausend. Oder eine ganze Nacht voll Küsse. Ich bin verliebt in dich, seit du zum ersten Mal vor mir standst."

Er spielte sanft mit einer meiner langen Strähnen, die mir über die Schulter fiel. Lächelnd. Wärme.

"Du warst so schüchtern, das fand ich unheimlich putzig..."

"E-ernsthaft?", hakte ich ungläubig nach und dieses Mal war ich derjenige, der die Augenbrauen in die Höhe zog. "Oder sagst du das nur, damit ich nicht mehr sauer bin?"

"Hmhm."

Es sollte ein Nein sein. Und das genügte mir. Ich wollte ihm verzeihen. Denn das war es, was liebende Herzen so gut konnten. Nur Worte formulieren, das fiel ihnen schwer. Deswegen verloren wir uns nun lieber in einem tiefen Kuss, der aussagekräftiger war als irgendwelche banalen Worte. Denn keines hätte auch nur annähernd das beschrieben, was ich in diesem Moment empfand.

 

Ich war angekommen.

Ich war kein Kind mehr, aber es gab Hoffnung, die einen so starken Willen in einem aufkeimen lassen konnte, dass daraus kleine Sternschnuppen wurden, die einem jeden Wunsch in Erfüllung gehen ließen. Egal, wie weit entfernt er einem schien.

Impressum

Texte: Serpa Demon
Tag der Veröffentlichung: 03.10.2013

Alle Rechte vorbehalten

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