Michael Seitz
Der Mörder in meinem BettFalter
Kriminalroman
Ein Wien-Krimi
Ein fesselnder Wien-Krimi über Macht und Ohnmacht, Tod und Erlösung. Falco Brunners zweiter Fall.
Privatdetektiv Falco Brunner will eigentlich nur seine beiden Kinder fürs Wochenende bei seiner Exfrau abholen. Kurz vor dem Ziel überfährt er eine Frau auf offener Straße. Bei der Obduktion stellt sich jedoch – sehr zur Erleichterung Brunners – heraus, dass das Unfallopfer bereits tot war. Sie wurde ermordet und auf der Straße entsorgt. Brunner fühlt sich mitschuldig und beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Auf den Spuren des Opfers führt ihn sein Weg in ein Frauenhaus. Eine Spirale aus häuslicher Gewalt und Kindheitstraumata offenbart sich dem Privatdetektiv. Dass der Grat vom Opfer zum Täter schmal ist, begreift der Privatdetektiv dabei erst, als seine Freundin, Sozialarbeiterin Paula, bereits in größter Gefahr schwebt …
© 2017 der Originalausgabe Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München unter dem Originaltitel „Der Falter“
© 2023 durchgesehene Neuausgabe im Amazon Selfpublishung.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autos wiedergegeben werden.
Redaktion/Lektorat: Franz Leipold
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Für Elke, weil Du für mich die Christina bist, ohne die Falco verloren wäre
Als ich dich das erste Mal traf, dachte ich: Das ist der Mann, der es endlich gut mit dir meint! Der, auf den du so lange gewartet hast … Jeder bekommt doch den Partner, den er verdient! Und ich habe dich verdient. Ich will ein Teil von dir sein – der Teil, den ich mein ganzes Leben lang gesucht habe. Ich habe immer gewusst, dass es dich gibt. Nur du allein verstehst mich. Ich kann endlich vergessen, wie oft mir weh getan worden ist – von allen: vom Stiefvater, von den Männern und den Freiern. Dasselbe Schicksal verbindet uns – hat uns immer schon verbunden. Liebe erträgt jeden Schmerz, weil sie aus nichts anderem als Schmerz gemacht ist. Aber wer bist du? Woher kommst du?
Und wie bist du geworden, wer du bist? Bevor du zu meinem Erlöser geworden bist …
Der Falter flatterte im Mondlicht. Das Insekt irrte vor der Fensterscheibe in Falco Brunners Einzimmerwohnung umher. Als er erwachte, fehlte vom Mondlicht und von dem Insekt jede Spur. Ein Traum, wähnte er, und schloss die Augen auf der Suche nach dem Bild in seinem Innern. Wie lange hatte er geschlafen? Sein Mund fühlte sich staubtrocken an. Eine Wirkung der Schlaftablette, die er am Abend eingenommen hatte, dazu der bleierne Geschmack. Falco wartete, bis die Müdigkeit nach und nach aus seinem Körper schwand. Eine Stunde später saß er vor einer Tasse frisch gebrühten Kaffees und löffelte die Hälfte einer Avocado, auf die er reichlich Honig geträufelt hatte, aus ihrer Schale. Avocado mit Honig – seine eigene Erfindung. Falco trank seinen Kaffee aus und legte sich anschließend wieder ins Bett. Er döste und schlief bis mittags, dann stand er auf und packte endlich seine Sporttasche. Eine halbe Stunde später lenkte er den zwölf Jahre alten Seat Leon Turbo Diesel mit Sportfahrwerk, dunkelblau – seine Lieblingsfarbe – in Richtung Fitness-Studio bei Ober-Sankt-Veit – die U-Bahnstation lag direkt gegenüber.
Falco fluchte laut. Die Suche nach einem Parkplatz dauerte jetzt schon eine Dreiviertelstunde. Ein Auto hupte hinter ihm. Er gab Gas und überquerte einen Fußgängerüberweg bei der Auhofstraße. Nach drei weiteren vergeblichen Runden um die Häuserblocks hielt er an. Gegen das beklemmende Gefühl in seinem Innern kam er einfach nicht an – ein Gefühl, das ihn wie der Vorbote eines Unglücks quälte. Er schaltete das Radio aus, hatte genug von Axl Rose und »Knockin’ on heaven’s door« und steuerte das Auto zurück in Richtung Linker Wienzeile, 15. Bezirk. Erschöpft betrat er seine Wohnung, schloss die Tür und schlüpfte in eine ausgeleierte Jogginghose. Plötzlich erinnerte er sich an den Traum vom Schmetterling, an dessen vergeblichen Versuch, dem Mond entgegenzufliegen, weil die Fensterscheibe ihn wie hinter einer unsichtbaren Wand als ihren Gefangenen hielt. Falco schrak erst aus seinen Gedanken, als sein Handy klingelte.
Es war bereits 16.00 Uhr. Christina Brunner, seine Exfrau, meldete sich. »Die Kinder fragen, ob sie dieses Wochenende endlich wieder mal bei dir verbringen dürfen, Falco.«
Er hörte Christinas Seufzen.
»Antonella und Valentin fragen die ganze Zeit nach dir. Sie haben dich schon vier Wochen nicht gesehen. Sie verstehen nicht, was mit ihrem Vater los ist, Falco. Meinst du nicht, dass es endlich wieder mal Zeit wird, dich um deine Kinder zu kümmern?«
Falco schnaufte – die Vorstellung, nach draußen zu gehen und sich ins Auto zu setzen, erschien ihm wie der Vorschlag, bei Nacht in der größten Kälte und Einsamkeit über einen schneebedeckten Berg zu wandern. »Kannst du diesmal die Kinder zu mir bringen – ausnahmsweise, meine ich?«
»Mein Auto steht in der Werkstatt«, antwortete Christina. »Und Bruno ist mit seinem Auto im Waldviertel auf einem Seminar für Führungskräfte bei der Polizei.«
… Führungskräfte … Polizei …, murmelte Falco in Gedanken.
»Was hast du gesagt?«, fragte Christina.
»Nichts«, sagte er. »Ich habe nur laut gestöhnt.« Bruno – Bruno Horvath, Falcos ehemaliger bester Freund und Kollege, seit mittlerweile zwei Jahren der neue Mann an Christinas Seite, nahm also an einem Seminar für Führungskräfte teil.
»Christina?«
»Ja? Ist alles okay mit dir, Falco?«, fragte Christina.
Wenn man zehn Jahre ein Paar gewesen ist, braucht es nicht viele Worte, um den anderen zu verstehen, dachte er. Dann antwortete er mechanisch: »Alles okay.«
Eine Viertelstunde später saß er im Auto und ließ das Gespräch mit Christina Revue passieren. Ihre Wohnung lag zwei Straßenbahnstationen vom Narrenturm und vom Pathologischen Institut entfernt, im 9. Bezirk. Wie oft hatte er sie während ihrer Ehe im Institut besucht, wo regelmäßig die Leichenschauen stattfanden? Als Kriminalbeamter mit einer renommierten Pathologin verheiratet zu sein hatte ihm eindeutig Vorteile gebracht. Wie kaum ein anderer Inspektor, Staatsanwalt oder Strafverteidiger besaß er Kenntnisse über die menschliche Anatomie und den Tod. In Gedanken hing er der Frage nach, ob er im Leben alles wieder ganz genauso machen würde – oder ob es Dinge gab, die er komplett anders machen würde.
»Ich habe viele Fehler gemacht«, hatte Falco am Schluss ihres Telefonats gesagt.
Christinas Antwort hatte gelautet: »An unseren Fehlern reifen wir.«
Sie hatte seinen Gedanken mit ihrer weiblichen Intuition erspürt, mit der sie ihn stets durchschaut hatte.
»Ich muss es schließlich wissen«, hatte sie hinzugefügt, »immerhin habe ich dich einmal bis zur Selbstaufgabe geliebt. Wir sollten uns nur freuen, dass wir rechtzeitig den Fehler bemerkt haben und konsequent gewesen sind.«
Ihre Antwort hatte ihn schwer getroffen. Und doch wusste er, dass jedes ihrer Worte der Wahrheit entsprach. Sie hatten sich getrennt! Und sie waren trotzdem Freunde geblieben, konnten einander in die Augen schauen. Und die Kinder … und Bruno … im Grunde verstand er Christina. Und er konnte sogar Bruno verstehen, der seine Frau schon immer geliebt hatte, bereits seit ihren ersten Tagen im Sandkasten. Sie hatten alle so verdammt recht gehabt! Aber wenn man gerade 40 geworden und das Leben eine einzige Baustelle ist, weil es an allem fehlt, dann will man nicht verstehen. Man will… – ach, wenn nur nicht …
Der schrille Klingelton einer Straßenbahn riss Falco jäh aus seinen Gedanken. Reflexartig drückte er das Bremspedal. Das Holpern seines Wagens traf ihn wie der Schlag einer unsichtbaren Faust in seine Eingeweide. Er unterdrückte einen Aufschrei, als er im Rückspiegel eine Gestalt erkannte, die mitten auf Straße lag. Ein menschlicher Körper, der zu schlafen schien – war sein erster Gedanke! Eine unendliche Zeitspanne verstrich, ehe jemand gegen das Wagenfenster klopfte.
»Bist du deppert?«, fragte ein Mann in der Uniform der Wiener Linien.
Die Straßenbahn stand neben ihm auf gleicher Höhe. Die Autos steuerten auf der Fahrspur des Gegenverkehrs vorbei. Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig waren Passanten stehen geblieben und schauten zu ihm herüber. Weitere Zuschauer beobachteten das Szenario durch die schmutzigen Scheiben der Straßenbahnwaggons der Wiener Linien. Angstschweiß trat ihm in die Augen und verklebte ihm die Lider. Falco nahm seine Umgebung nur noch verschwommen wahr. Irgendwo tönte eine Polizeisirene. Eine Rettung. Die Zeit vom Unfall bis zum Eintreffen der beiden Fahrzeuge fehlte später komplett in seiner Erinnerung. Amnestie, Blackout – oder wie auch immer Experten seinen Zustand bezeichneten … Falco reagierte erst, als die beiden Polizisten mit ihren Fäusten gegen das Fenster an der Fahrerseite hämmerten. Falco entriegelte die Tür. Ein Polizist öffnete.
»Führerschein und Fahrzeugpapiere!«, sagte ein Beamter in reschem Ton. »Und aussteigen! Legen Sie die Hände auf das Dach. Haben Sie irgendwelche Drogen zu sich genommen?«
Falco spürte den Strahl einer Taschenlampe schmerzvoll in seinen Augen. Wie ein Roboter stieg er aus dem Auto. Eine Beamtin, eine Blondine in Uniform, machte kurzen Prozess und kontrollierte die Taschen seiner Jeans und seiner Lederjacke.
»Sie sehen blass aus«, sagte der männliche Beamte. »Ist Ihnen nicht gut?«
Der Fahrer der Wiener Linien pöbelte: »Wennst net foan kannst, muasst dahaam bleibm, Oider!«
Der Polizist schob den Fahrer weg. Eine Gruppe von Passanten – es waren vielleicht ein Dutzend Leute – umringte den blauen Seat Leon. Falco taumelte. Rettungssanitäter kümmerten sich um die Verletzte. Der Gesichtsausdruck eines Notarztes brannte sich in Falcos Bewusstsein. Die Sanitäter bewegten sich wie in Zeitlupe im kreisenden Licht von Polizei und Rettungswagen.
Jugendliche, anscheinend mit Migrationshintergrund, äfften Falco auf dem Bürgersteig nach. Er verstand nur einige Wortfetzen: »… voll fett! – Bitch …« – Die Jungen ahmten Falcos fahrige Bewegungen nach. Ein Mädchen mimte die Polizisten und griff einem der Jugendlichen in überzogener Weise ans Geschlecht.
»Verstehen Sie uns, Herr Brunner? Können Sie uns hören?«, wiederholte die Polizistin.
Falco blickte in ihr Gesicht. Für gewöhnlich hatte er Christina mit exakt diesem Typ Frau betrogen. Der Anblick der Beamtin löste jedoch nichts in ihm aus: als wäre sie überhaupt nicht vorhanden! Er spähte nach dem Notarztwagen. Dabei fiel ihm die Tote ins Auge, die auf dem Boden lag – in Lack und Leder und hohen Stiefeln. Bitte, lass es nur eine Sexpuppe sein, die jemand aus dem Fenster geworfen hat! – Ein flüchtiger Hoffnungsschimmer. Ein Auto streifte Falco um Haaresbreite. Er fühlte sich völlig benommen. Watte schien sein Gehirn einzupacken und sämtliche Geräusche zu resorbieren: das Hupen anderer Autos, Stimmen, Geräusche. Alles verwandelte sich in ein Rauschen. Tonstörung! Vor seinem inneren Auge flatterte der Falter aus seinem Traum vor der Fensterscheibe. Er erspähte den Mond, den er nie erreichen würde. Das Mondlicht verschwamm. Seine Zunge schmeckte nach Schlaftablette, Falcos Beine knickten ein. Dann verlor er das Bewusstsein. Den Aufprall mit dem Kopf auf der Straße nahm er in keiner Weise mehr wahr.
Wenigstens konnte sie die Kinder inzwischen auch mal eine Stunde allein zu Hause lassen. Christina Brunner, Falcos Exfrau, die seinen Namen nach der Scheidung beibehalten hatte, sagte zu dem achtjährigen Valentin: »Wenn ich wiederkomme, bist du mit dem Wii-U-Spielen fertig! Alles klar?«
Valentin maulte wie immer, wenn sie ihn darauf aufmerksam machte, dass auch die längste Spielzeit mit seinen Skylandern irgendwann ein Ende haben musste.
Die sechsjährige Antonella baute für ihre Lego-Friends ein Loft, in dem sich die Figuren zum Party-Feiern treffen konnten.
»Wann kommst du wieder?«, fragte Antonella.
Christina ließ den Arm mit dem Smartphone sinken. Die Polizistin, die sie von Falcos Handy aus angerufen hatte, war nicht sehr gesprächig gewesen und hatte sich mit Details ziemlich bedeckt gehalten. Falco hatte einen Unfall gehabt – mit mehr Informationen hatte die Beamtin nicht herausrücken wollen und ihr nur die Adresse des Unfallortes genannt.
»Bald«, antwortete Christina ihrer Tochter, während ihre Gedanken um Falco kreisten und um die Frage, was nur passiert sein konnte. Ihr Exmann zog sich seit einem Jahr auffällig zurück. Von dem charmanten, stets zu einem Flirt aufgelegten Sunnyboy war nicht viel übrig geblieben. Seit Anfang September hatte er die Wohnung kaum verlassen und sogar den Kindern, die jedes zweite Wochenende zu ihm kamen, bereits zweimal abgesagt. Für gewöhnlich nutzte er sonst jede Gelegenheit, seine Kinder zu sehen – nicht nur am vereinbarten Wochenende, sondern auch außerhalb der vereinbarten Zeiten. Christina und Falco handhabten das Besuchsrecht locker. Immerhin kam ihr Falco entgegen, wenn Bruno Überstunden schieben musste und sie in der Pathologie ebenfalls länger arbeitete. Falcos Privatdetektei schien nicht besonders zu laufen – oder lehnte er Aufträge ab? Er befand sich mit den Alimenten zwei Monate im Rückstand. Das passte gar nicht zu ihm! Die Kinder hatten für ihn auch während ihrer Ehe immer an erster Stelle gestanden.
Christina vereinbarte mit ihrem Sohn, dass er das Festnetztelefon auf den Wohnzimmertisch legte und dranging, wenn sie anrief. Dann hatte sie ihnen Pyjama und Nachthemd hingelegt und war selbst so schnell wie möglich in Jeans und Herbstjacke geschlüpft, um keine weitere Zeit zu verlieren. Die Stelle, die ihr die Beamtin genannt hatte, befand sich drei Stationen mit der Straßenbahn von ihrer Wohnung entfernt. Der Unfall hatte sich also fast vor ihrer Haustür ereignet. Christina überflog den Fahrplan. Mist! Die letzte Straßenbahn hatte sie gerade verpasst. Die Wiener Linien meldeten außerdem, dass es zu einem Unfall gekommen sei und man alles daran setzen werde, den Verkehr »so rasch wie möglich« wieder aufzunehmen. Die übliche Leier! Christina schauderte. In ihrer Karriere hatte sie auch Leichen von Menschen obduziert, die durch Unfälle mit der Straßenbahn ihr Leben verloren hatten. Sie erinnerte sich an eine Frau, die mit ihren Beinen komplett unter einen Waggon geraten war. Einige Minuten hatte die Frau noch gelebt, das hatten Passanten zu Protokoll gegeben. Ihr kleiner Sohn war neben ihr gestanden und hatte mitansehen müssen, wie seine Mutter an ihrem Blutverlust verstarb. Die Geschichte würde ihr wohl niemals mehr aus dem Kopf gehen. Jetzt in diesem Moment tauchten die Bilder wieder aus ihrem Gedächtnis auf und waren ganz und gar gegenwärtig! Christina rannte neben den Schienen entlang über den Bürgersteig und rang um Atem. Bei Todesfällen, rief sie sich in Erinnerung, läuteten Polizei und Notfallpsychologin für gewöhnlich an der Haustür, um den Angehörigen persönlich die traurige Nachricht zu überbringen. Mit dieser an Logik grenzenden Erklärung versuchte sie, das dunkle Tier namens Panik in ihrem Inneren zu bändigen. Es kostete sie Disziplin und mentale Kraft, Bilder von abgetrennten Gliedmaßen und Köpfen vor ihrem inneren Auge zu verdrängen. In der Ferne erspähte sie Blaulicht. Die Straßenlaternen blinzelten, konnten sich noch nicht entscheiden, ob sie sich einschalten sollten. Christina ging zweimal in der Woche ins Fitness-Studio. Nach der Geburt ihrer Tochter hatte sie fast ein ganzes Jahr gebraucht, ehe sie ihre alte Figur wiedergehabt hatte und ihre Kleider wieder passten. Seither erlaubte sie sich Kohlenhydrate nur in Ausnahmesituationen. Als sie den Unfallort erreichte, spürte sie trotzdem den Schweiß, der wie nach einem Saunagang über ihren Oberkörper rann. Ihre Beine zitterten, fühlten sich an wie nach den ersten Trainingseinheiten, die sie nach der Schwangerschaft absolviert hatte, während sie sich noch wie ein Walross auf dem Laufband gefühlt hatte.
»Wo ist er?«, keuchte sie.
Christina erspähte zwei Polizeifahrzeuge. Der Rettungswagen stand daneben. Endlich erblickte sie Falco, der in einem Polizeibus saß, während eine blonde Beamtin versuchte, auf ihn einzureden. Eine Platzwunde an seiner linken Stirn war notdürftig mit einem Pflaster versorgt worden. Die Blutränder um seinen Haaransatz erinnerten sie an die Heiligenstatuen im Stephansdom.
»Falco!«
Er blickte zu ihr auf. Sagte kein Wort.
»Falco!«, wiederholte sie.
Ein Lächeln, das in seiner Situation geradezu grotesk wirkte, spielte um seine Lippen. »Entschuldigung, kennen wir uns, schöne Frau?«
»Herr Brunner steht unter Schock«, erklärte ein Notarzt. »Es hat einen Unfall gegeben, Frau Brunner. Ihr Mann hat eine Frau überfahren.«
»Exmann«, murmelte sie. Der Notarzt sah sie fragend an, hatte anscheinend nicht verstanden. »Exmann!«, schrie Christina. »Begreifen Sie denn nicht, dass wir …« Für gewöhnlich hätte sie es mit Humor genommen, als Falcos Frau angesprochen zu werden. Das dunkle Tier hatte jedoch für einen Moment die Kontrolle über sie gewonnen. Christina handelte eindeutig irrational, wie ihr prompt bewusst wurde!
»Kann ich mit der Frau sprechen?«, fragte Christina.
Der Notarzt zuckte mit den Schultern. »Die Frau ist tot«, brummte er.
Christina erstarrte. Wie oft hatte sie Leichen an Tatorten begutachtet? Ein Automatismus, der sich längst verselbstständigt hatte, setzte mit drei Sekunden Verspätung die beruhigende Routine in Gang – und erwies sich als Rettung, um nicht komplett in Hysterie und Panik zu verfallen! Christinas Atemzüge wurden tiefer und langsamer.
»Ich will die Leiche sehen!«
»Das ist nicht üblich«, entgegnete der Notfallarzt.
»Das müssen Sie schon mir überlassen! Ich bin gerichtlich beeidete Pathologin.« Die Contenance zu verlieren gehörte normalerweise zu Falcos Eigenarten. In ihrer Ehe war Christina immer die Beherrschte gewesen. Seine Impulsivität hatte Falco letztlich auch seinen Job beim Morddezernat gekostet. Christina dagegen hatte es zumeist verstanden, einen kühlen Kopf zu bewahren. Die Rettungssanitäter schrieben gerade das Nulllinien-EKG, als sie vor dem offenen Rettungswagen stehenblieb. Sie kletterte ins Auto, lieh sich das Otoskop des Kollegen und beleuchtete die Augen der Frau. Die Pupillen waren starr und weit. Der Lichtstrahl glitt über den Oberkörper der Toten.
»Was ist das hier?«, fragte Christina. Sie zielte mit dem Strahl direkt auf die lilafarbenen Hautveränderungen. Als Pathologin wusste sie mit hundertprozentiger Sicherheit, worum es sich handelte.
»Hämatome«, antwortete der Kollege.
Christina übte mit ihren Fingerkuppen Druck auf die Flecken aus. »Wenn das hier frische Totenflecken wären, müssten sie sich noch wegdrücken lassen!«
Der Rettungsarzt errötete. »Was wollen Sie mir damit unterstellen, Frau Kollegin?«
»Dass Sie etwas Wichtiges übersehen haben! Diese Totenflecken sind mindestens sechs Stunden alt, wenn nicht sogar zwölf.«
Der Rettungsarzt wurde blass und geriet aus der Fassung. Sein selbstbewusster Gesichtsausdruck schmolz dahin wie ein Wachsgebilde in der Sonne. »Schauen Sie«, sagte er, »hier die Schnittwunden an den Unterarmen – sieht aus wie durch einen Fleischwolf gedreht. Sie muss sich an irgendeinem Blech am Auto geschnitten haben. Die Frau dürfte hier an Ort und Stelle verblutet sein, meinen Sie nicht? Ich verstehe, dass Sie nicht wahrhaben wollen … Ich meine, immerhin ist es Ihr Mann … äh, Exmann …« Der Kollege suchte nach einer logischen Erklärung. Anscheinend hatte er sich ausschließlich auf die Verletzungen konzentriert, die durch den Unfall entstanden waren, und dabei jede andere Todesart von vornherein ausgeschlossen. »Wollen Sie etwa behaupten, dass diese Frau schon tot war und jemand sie hier auf die Straße geworfen hat?«, lautete seine Schlussfolgerung. Er zeigte auf die Schädeldecke. Gehirnaustritt oberhalb des Stirnbeins, erkannte Christina und wandte ihren Blick ab. Natürlich konnte es sich auch um eine Unfallfolge handeln – oder die Verletzung beruhte auf einer schweren Misshandlung, die vielleicht Stunden oder Tage zurücklag.
Ein Revierinspektor hatte sich an das Fußende der Trage gestellt. Christina leuchtete mit dem Otoskop in seine Richtung. Er schien ihre Worte verstanden zu haben und nickte. »Ich werde umgehend veranlassen, dass die Tote in die Gerichtsmedizin gebracht wird, Frau Doktor«, sagte er.
Sie blickte dem jungen Mann ins Gesicht. Die Kinder!, schoss es Christina plötzlich durch den Kopf. Morgen ist Samstag, aber sie werden den ganzen Tag quengeln, wenn sie am Vortag zu spät ins Bett kommen; dann sind sie nicht zum Aushalten. Außerdem würde der Große die Möglichkeit nutzen, mit der Wiu-U bis zur völligen Besinnungslosigkeit zu spielen. Und Antonella würde einfach irgendwo auf dem Boden einschlafen. Die Managerin in Christina, die es stets irgendwie schaffte, Beruf, Haushalt, Kinder und die beiden Männer unter einen Nenner zu bringen, fuhr die Ellbogen aus und verschaffte sich energisch Raum gegen die Pathologin in ihr … »Ich muss dringend nach Hause!«
»Sollen wir Ihren Ex-Mann ins Krankenhaus begleiten?«, fragte die blonde Beamtin.
»Nein, er schläft heute Nacht bei uns!«
Die Beamtin maß sie mit anerkennender Miene. »Wie Sie meinen. Wir hätten Ihren Mann auch ins AKH gebracht – zur Beobachtung!«
»Es ist besser, wenn er sich heute Nacht bei Menschen befindet, die er kennt«, entschied Christina. Die Kinder würden sich freuen, und Bruno würde sicher ihr zuliebe nichts dagegen haben, versuchte Christina sich einzureden, gemäß dem Motto: Die Hoffnung stirbt zuletzt!
»Dann bringen wir die Tote jetzt in die Gerichtsmedizin«, sagte einer der Sanitäter. »Ist ja nur einen Katzensprung entfernt!«
Christina trat auf den Polizeibus zu und blieb stehen. Falco sprach bei ihrem Anblick noch immer kein Wort. Der Automatismus – das Programm in ihr – war wie durch Knopfdruck erloschen. Jetzt stand Christina Brunner in der Oktoberkälte und kämpfte plötzlich mit den Tränen in ihren leuchtenden, grünen Augen, die an Smaragde erinnerten, und mit einem bleiernen Gefühl, das ihr eiskalt in die Glieder fuhr.
»Wo haben Sie den Autoschlüssel?«, fragte sie die Beamtin.
»Hier.« Die Beamtin zog Falcos Schlüssel aus ihrer Tasche. Der Darth-Vader-Schlüsselanhänger war ein Geschenk von seinem Sohn Valentin gewesen. Christina legte den Schlüssel samt Anhänger auf den Tisch in dem Polizeibus.
Falcos Augen fixierten augenblicklich den dunklen Sithlord. Er wandte sein Gesicht Christina zu – es geschah wie in Zeitlupe. Er blickte zu ihr auf – besaß plötzlich unverkennbare Ähnlichkeit mit seinem achtjährigen Sohn. In seinen Augen, in die sich jede Frau stets sofort verliebte, schimmerte ein Funken des Erinnerns. Ein Lächeln, das auch der ungewohnte Vollbart nicht verbergen konnte, spielte um seine Lippen.
»Christina«, sagte er, »ich wollte doch die Kinder abholen …«
Ich wünschte, ich könnte meiner Mutter verzeihen, aber ich kann es einfach nicht. Obwohl es gut wäre für mich, denn ich könnte dann endlich mit meiner Kindheit abschließen, haben die Therapeuten gesagt. Es wäre gut für mich. Wir haben in einem kleinen Bergdorf gelebt. Unser Haus lag abseits. Einsam. Und doch hat jeder gewusst, was bei uns zu Hause los war. Und als einmal die Polizei gekommen ist und meine Mutter gefragt hat, ob wir Hilfe brauchen, da hat sie gesagt, es wäre alles in Ordnung.
Wie kann eine Frau danebenstehen und zusehen, wie ihr Mann ihre drei Mädchen halbtot schlägt? Warum hat sie uns nicht geholfen? Ein Wort zu dem Polizisten hätte genügt!
Ich habe ihr nicht mehr vertraut von diesem Tag an, nicht mehr vertrauen können. Urvertrauen, so sagen die Psychologen dazu. Was machst du, wenn dein Urvertrauen von deiner eigenen Mutter zerstört worden ist?
Als wir älter waren und an den Wochenenden ausgehen durften, da sind die anderen bis zum nächsten Morgen in den Dorfdiskos herumgehangen. Wenn ich jemals so spät heimgekommen wär … der Stiefvater hätt’ mich leicht erschlagen dafür!
Die Mutter hat heute angerufen, ob ich wenigstens an Allerheiligen heimkommʼ. Und mit ihr und den Geschwistern aufs Grab gehe. Dem Vater aufs Grab gehen …
Nein, hab ich ihr gesagt. Er ist nicht mein Vater! Die ganzen scheinheiligen Gesichter, die einen aus seelenlosen Augen anstieren, als wärʼ man von einem anderen Planeten gekommen noch dazu – das halte ich nicht aus!
Ich bin von daheim fortgegangen mit 18! In die Stadt. Ich hab mich abgeseilt. Ich bin fein aus dem Schneider, sagen die Geschwister. Und die Leute denken auch nix anderes von mir.
Sie haben wohl erwartet, dass ich bleibe, um der Mutter gegen den Vater beizustehen.
Heißt es nicht in der Bibel: Du sollst Vater und Mutter ehren?!
Jeder trauert, so gut er kann. Auf seine Weise eben.
Manchmal wünschte ich, ich hätt’ meiner Mutter helfen können. Aber sie hat sich ja nicht helfen lassen wollen. Nicht einmal von der Polizei – wie sie vor unserer Tür gestanden ist! Vergebung kommt mir vor wie ein Sack voll Sand mit vielen Löchern. Erst kann man ihn nicht tragen, und wenn man ihn am Ende aufmacht, ist nix mehr drin. Die beste Entscheidung, die ich in meinem Leben getroffen habe, war die, dass ich nach Wien gegangen bin. Damit habe ich mein Leben gerettet!
Und dich kennengelernt, mein Geliebter.
» Es ist nur für eine Nacht«, hatte Christina geschrieben. Sie hatte ihm die mehr oder wenige frohe Botschaft via WhatsApp mitgeteilt. »Die Erinnerungslücken werden morgen im Lauf des Tages komplett verschwinden, hat die Psychologin gesagt.« – Naja, hatte Bruno Horvath gedacht, ob das eher gut oder schlecht war, würde der Tag zeigen. Wenn Falco erfuhr, dass er unter Verdacht stand, eine Frau im Straßenverkehr getötet zu haben – wer konnte vorhersagen, wie er auf diese Erkenntnis reagierte? Christinas reine Blickdiagnose – aufgrund der Totenflecken! – konnte durchaus auch von der Beziehung zu ihrem Exmann beeinträchtigt sein. Eine Verkehrstote mit unzähligen Hämatomen und Fleischwunden, wer konnte da mit Sicherheit sagen, wann welche Einblutung ins Gewebe ihre Spuren hinterlassen hatte? Bruno Horvath betrat auf leisen Sohlen den Vorraum zu Christinas Wohnung, zog seine Schuhe aus und bemühte sich, beim Öffnen der Küchentür kein Geräusch zu verursachen. Christina und er lebten nach wie vor in getrennten Wohnungen, obwohl er den Großteil seiner Freizeit in den letzten beiden Jahren bei ihr und den Kindern verbracht hatte. Dieser Zustand war einer ihrer Streitpunkte, die sich in der letzten Zeit häuften. Bruno betrachtete zwei Wohnungen als puren Luxus, der unnötig Geld verschlang. Christina, gebranntes Kind und Karrierefrau, schob ihre Erfahrungen mit Falco vor, der sie während ihrer Ehe ständig betrogen hatte.
Bruno sprang unter die Dusche. Das Seminar hatte in einem Hotel im Burgenland stattgefunden. An der Grenze zu Ungarn hatten Fußgänger die zerstückelte Leiche eines tschetschenischen Flüchtlings entdeckt. Der Tötung war eine Erpressung vorausgegangen. Es gab Parallelen zu einem Fall, an dem Bruno vor zwei Jahren in Wien gearbeitet hatte. Die Banden der Tschetschenen erpressten und töten mit Vorliebe ihre eigenen Landsleute. Am Seminar hatten auch ungarische Kollegen teilgenommen. Oberkriminalrat Gruber, sein direkter Vorgesetzter, hatte Bruno ins Burgenland beordert. Brunos Fall in Wien war damals ungelöst geblieben. Der Alte, wie sie ihn hinter vorgehaltener Hand nannten, pflegte einen Fall niemals wirklich abzuschließen, bevor er nicht gelöst war – zumindest ließ er keine Gelegenheit aus, alte Geschichten wieder auszugraben und darauf herumzureiten! »Nächstes Jahr«, hatte Bruno zu Christina gesagt, «nächstes Jahr ist er endgültig pensionsreif! Der Alte kann auch nicht ewig leben. Und auch nicht ewig arbeiten!«
Bruno trocknete sich mit einem Handtuch ab; im Gegensatz zu seinem eigenen Haushalt existierte in Christinas auch ein Weichspüler – ebenfalls purer Luxus aus Brunos Sicht, und noch dazu eine unnötige Umweltverschmutzung! Bruno schlich in den Vorraum, wo sich ungezählte Paar Schuhe stapelten. Die Kinder besaßen Dutzende von Jacken für jede Jahreszeit und Gelegenheit, eine Eigenart, die sie von ihrem Vater geerbt haben mussten. Falco hatte ebenfalls zig verschiedene Jacken, jedoch trug er zu 99 Prozent aller Gelegenheiten seine alte, völlig zerschlissene Lederjacke. Bruno lugte durch die Wohnzimmertür. Das Mondlicht fiel auf Falco, der es sich auf der Couch bequem gemacht hatte, nur mit einer Unterhose bekleidet. Bruno hielt den Atem an; der Bart machte ihm bewusst, dass der Mann, der ihm die Freundschaft aufgekündigt hatte, in den letzten beiden Jahren auch äußerlich eine große Veränderung durchgemacht hatte. Am Kinnbart zeigten sich Unmengen grauer Haare. Ebenso an den Schläfen. Das Pflaster über seiner Stirn verstärkte den Eindruck eines Gezeichneten und vom Schicksal Gebeutelten. Seit Falco die Leukämie überstanden hatte, wirkte er sehniger. Auch die Scheidung von Christina schien ihn etliche Kilos gekostet zu haben. Im Gegensatz zu früher, als er noch im Polizeidienst gewesen war, machte er jetzt jedoch einen kranken Eindruck, fand Bruno. Andererseits besaß er kräftige Muskeln an Schultern, Brust und Armen. Außerdem trainierte er seit seiner Jugend regelmäßig im Fitness-Studio. Früher war Bruno manchmal mit Falco gemeinsam zum Training gegangen und hatte kaum mithalten können. Seit ihre Freundschaft zerbrochen war, beschränkten sich Brunos sportliche Aktivitäten auf ein Mindestmaß. Vielleicht trug auch seine Beziehung zu Christina ihren Teil dazu bei, dass sein Bauch stetig an Umfang zunahm. »Ich hätte nie geglaubt, dass eine Pathologin dermaßen gut kochen kann«, hatte er einmal mit einem Schmunzeln zu Christina gesagt.
Falco schlief. Seine Lederjacke hing über einem Stuhl. Bruno schlich an der Tür vorbei und betrat das Schlafzimmer. Christina war hellwach. »Dass du endlich kommst, hätte ich auch nicht mehr für möglich gehalten!«
Bruno betrachtete den Pyjama, der auf seinem Bett lag. Sollte er das Teil schon anziehen – oder wollte er noch … Schließlich legte er sich neben Christina und schmiegte sich an sie. Er liebte ihre Körperrückseite – das feste Fleisch ihrer Pobacken in seinen Händen.
»Den ganzen Tag denke ich an dich und sehne mich nach dir«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Warum hast du dann nicht zurückgeschrieben?«
Sie drehte sich um und wandte ihm das Gesicht zu. Ihr Körper lag unter der Bettdecke wie in einem Kokon. Vorsichtig ließ er seine Hände über ihr Becken und ihre Beine gleiten. »Was hätte ich denn schreiben sollen?«
»Dass du einverstanden bist zum Beispiel!« Sie schob seinen Arm weg.
»Aber du weißt doch … wir haben uns doch geschworen, einander niemals zu belügen … Du selbst hast den Vorschlag gemacht!«
Christina setzte sich auf. Eine Strähne ihres dunkelblonden Haares fiel ihr in die Stirn. Die Iris ihrer Augen färbte sich, nahm langsam ein dunkles Grün an – ein sicheres Zeichen ihrer Verärgerung.
»Entschuldigung, dass ich mich um meinen Exmann kümmere!«, sagte sie mit gepresster Stimme.
»Ich habe ja nicht gesagt, dass du nicht …« Dass ich mich nicht freue!, wollte er erwidern – die Worte wären ihm beinahe herausgerutscht. Er presste die Lippen aufeinander. »Aber du weißt, wie er auf mich reagiert …«
Christina redete in Überschallgeschwindigkeit: »Es ist nur für eine einzige Nacht. Falco steht unter Medikamenteneinfluss. Wie du selbst weißt, sind die ersten 24 Stunden nach einem Schock die gefährlichsten. Falco hatte eine Art Synkope, er hat für einige Sekunden das Bewusstsein verloren und ist mit dem Kopf auf das Pflaster aufgeschlagen. Ich war mit ihm und den Kindern zwischenzeitlich auch im AKH. Kannst du dir vorstellen, wie lange wir in der Unfallambulanz gewartet haben? Sie haben keine gröberen Verletzungen feststellen können. Der Arzt sprach von einem ganz leichten Schädelhirntrauma. Falco hat sich nicht übergeben – Gott sei Dank …« Christina rang nach Atem.
Bruno betrachtete den Pyjama an seinem Bettende. Vielleicht schien es doch angebracht, das Ding einfach anzuziehen und zu schlafen! Andererseits hasste er es, neben Christina zu liegen und ihre Spannungen die ganze Nacht ertragen zu müssen. »Ich verstehe ja deinen Zorn, mein geliebtes Eichhörnchen«, sagte er – und wurde sich jäh bewusst, wie komisch der Kosename in ihrer Situation wirkte, »aber jetzt ist doch alles gut. Es ist nichts passiert … und ich bin bei dir. Und ich … ich habe eine Frage, die ich dir schon lange stellen wollte!«
Christinas Augen sprachen Bände: Bitte nicht! – Zweifellos ahnte sie, in welche Richtung seine Frage zielte. »Ich wüsste nicht, was es jetzt, mitten in der Nacht, zu bereden gäbe.«
Bruno richtete sich auf. Flüchtig betrachtete er seinen Körper in dem großen Wandspiegel. Mit Falco würde er zwar nie mithalten können, aber der Polizeisport tat ihm dennoch gut. Außerdem hatten die meisten Männer in seinem Alter mindestens einen kleinen Bauch und ein paar Haare auf dem Rücken, beschwichtigte er das Gefühl von Unzulänglichkeit, das sich in ihm breitmachte.
Bruno kniete nieder und ergriff Christinas Hand. »Ich will dich fragen, ob du meine Frau werden möchtest. Willst du mich heiraten, Christina Brun…« Mehr brauchte er nicht zu sagen!
Christina entwand sich blitzartig seiner Berührung. »Darüber haben wir doch schon tausendmal gesprochen!« Sie sprang wie eine Leopardin aus dem Bett. Christina war eine Nacktschläferin. Ihr Oberkörper beugte sich nach vorne, nahm eine Kampfhaltung ein. Es fehlte nur das Fauchen.
Bruno stand wie zur Salzsäule erstarrt. »Du machst dir zu viel Stress, Liebes. Du weißt, dass ich dich immer schon geliebt habe.« Als Kinder hatten sie im Sandkasten miteinander gespielt. Sie waren beide im Gemeindebau aufgewachsen, im 13. Bezirk, und hatten in den Gärten der Lockerwiese ihre Kindheit verbracht.
»Wie lange willst du deiner Vergangenheit noch erlauben, über deine Zukunft zu bestimmen?«, fragte er.
»Ich bestimme über mein Leben ganz allein. Das war schon immer so!«, erwiderte sie.
Er unterdrückte seine Verärgerung, die sich in erster Linie gegen ihn selbst richtete. Dann seufzte er laut und sagte: »Der alte Gruber hat mich übrigens angerufen.«
»Und? Braucht er dich wieder einmal für einen seiner Spezialfälle! Hast du nicht selbst gesagt, dein Chef lebt mehr in seiner Vergangenheit als in der Gegenwart – dann muss ich dich ja ziemlich stark an ihn erinnern! Vielleicht sollte ich auch aus deinem Leben …«
»Das ist etwas ganz anderes, und das weißt du«, lenkte er ein.
»Warum sollte es was anderes sein?«
Er überdachte jetzt jedes einzelne Wort, bevor er es aussprach: »Das weißt du genau. Der Alte hat sein Leben gelebt. Aber du! Ich habe ihm erzählt, dass Falco eine Frau überfahren hat. Er meinte, es wäre besser, wenn die Leiche auf keinen Fall von dir obduziert würde. Er war natürlich der gleichen Meinung wie ich.« Endlich war es draußen – der Grund, warum er auf keine ihrer Nachrichten geantwortet hatte!
»Na super!« Christina ließ die Schultern hängen. »Soll das heißen …«
»… genau das!«, sagte Bruno. »Der Leichnam der unbekannten Frau wird derzeit von einem deiner Kollegen im Institut untersucht. Er wird bestätigen, ob es tatsächlich Totenflecken gibt, die älter als zwölf Stunden sind. Und ob die Frau wirklich vorher schon an ihren Verletzungen verblutet sein kann.«
»Ich weiß, was ich gesehen habe!« Christina hüllte sich schmollend in ihre Bettdecke.
Bruno fröstelte – erst jetzt wurde er sich der Lächerlichkeit seines misslungenen Heiratsantrags bewusst, der wohl in Wahrheit nur ein Betteln um Sex gewesen war. Streitigkeiten kamen in ihrer Beziehung höchst selten vor. In seiner eigenen Ehe – vor Christinas Zeit – hatte es ebenfalls so gut wie keinen Streit gegeben. Seine Exfrau und er hatten einander angeschwiegen. An den seltsamen Verhaltensweisen ihrer Tochter hatte die Therapeutin irgendwann »Unstimmigkeiten in ihrer Ehe« ausgemacht, wie sie sich ausgedrückt hatte. Ihre Tochter hatte damit begonnen, sich Ritzwunden an den Unterarmen zuzufügen. Seine Exfrau und er hatten sich gegenseitig die Schuld am Verhalten des Kindes zugeschrieben. Bruno hatte nicht gewusst, dass Karin ihn zu diesem Zeitpunkt schon seit drei Jahren mit einem anderen betrogen hatte. Er atmete tief in den Bauch und sagte:
»Okay, gut, du weißt, was du gesehen hast. Meinetwegen! Aber selbst wenn du recht hast, am Ende könnte dir irgendjemand Befangenheit unterstellen. Davor wollte ich dich beschützen!«
»Das kann man dir ja nicht gerade vorwerfen!«
»Ich will doch nur, dass alles in geregelten Bahnen verläuft. Ich möchte doch genau wie du, dass Falco möglichst heil wieder aus der ganzen Nummer rauskommt. Immerhin war er mal mein bester Freund, und ich will vor allem dein Bestes, Christina …« Er wurde sich jäh seiner Killerphrase bewusst, in dem Moment, in dem er sie ausgesprochen hatte. Warum gelang es ihm stets in vorbildlicher Weise, sich in Zeugen und Tatverdächtige hineinzuversetzen – aber bei der eigenen Frau oder Lebensgefährtin trat er immer wieder ins Fettnäpfchen?
Christina reagierte erwartungsgemäß wie ein trotziges Kind. »Wo wir gerade dabei sind«, zischte sie und stampfte mit einem Fuß auf, »ich muss nach Falco sehen. Die Beruhigungsmittel beeinträchtigen die Atmung, wie du dir vorstellen kannst.« Ganz in ihrem Element als Medizinerin tappte sie durch den Vorraum der Wohnung. Bruno schlüpfte in Windeseile in seinen Pyjama und ging ihr hinterher. Die Überraschung folgte auf den Fuß.
»Wo ist Falco?« Christina schaltete das Licht ein.
Auf der Couch, auf der er vor ein paar Minuten noch gelegen war, zeigten sich schemenhaft die Abdrücke eines Körpers. Bruno blickte sich um. Die Lederjacke, die vorhin noch über einem Sessel gelegen hatte, war verschwunden, ebenso die Stiefel. Christina suchte ihren Exmann auf der Toilette und im Bad. Bruno äugte durch die Tür ins Kinderzimmer.
»Das haben wir jetzt davon!« Christina stellte sich ihm auf Zehenspitzen entgegen. »Bist du jetzt zufrieden?«
»Glaubst du … er hat uns belauscht …?«, fragte Bruno. Die Antwort lag ohnehin auf der Hand. Er blickte zur Uhr über der Wohnzimmertür. »Weit kann er noch nicht sein – in den paar Minuten. Er hat doch eben noch tief und fest geschlafen.«
»Was ist, wenn du dich geirrt hast?«
Der Gedanke erzeugte einen pochenden Schmerz in seiner rechten Schläfe. Hatte Falco einen auf »Toter Mann« gemacht, um ihn in Sicherheit zu wiegen?
»Na super!«, sagte Christina und stürzte in Windeseile zur Wohnungstür. Sie rannte hinaus und schrie Falcos Namen, der von den Wänden des Stiegenhauses widerhallte. Bruno schaltete das Licht ein.
Christina schlug mit den Handballen gegen das Geländer und blickte vom dritten Stock nach unten wie in einen tiefen Brunnen. »Was sollen wir jetzt tun?«
Resigniert ging sie in die Wohnung zurück. Bruno schlüpfte in seine benutzten Klamotten und zog Sportschuhe an.
»Wo hast du vor?«, fragte Christina.
»Ich glaube, es ist besser, wenn ich wieder einmal ein paar Tage in meiner Wohnung schlafe«, sagte er.
Sie bedachte ihn mit einem Schimpfwort. »Das kannst du doch jetzt nicht machen«, fügte sie hinzu.
»Wie ich ihn kenne, taucht Falco in irgendeinem seiner geliebten Pubs unter oder bei einer Frau. So hat er es doch früher auch immer gemacht!«
Sie hielt sich an seinen Schultern fest. Er wich ihrem flehenden Blick aus. »Glaub mir, Christina, es ist besser so«, sagte er. »Du hattest von Anfang an recht, als du darauf bestanden hast, unter keinen Umständen zusammenzuziehen. Manchmal braucht eben jeder von uns etwas Freiraum und ein paar Tage für sich.« Bruno hielt seine eigenen Tränen zurück. Jedes Mal, wenn Falco seiner Exfrau zu nahe kam, ereignete sich irgendeine Katastrophe, die sich dann auch auf ihre Beziehung zu ihm auswirkte. Bruno löste sie von ihr und packte ein paar Sachen zusammen.
Fünf Minuten später hatte sich Christina beruhigt – zumindest gab sie nach außen wieder die Kämpferin! Bruno ließ die Wohnungstür hinter sich ins Schloss fallen und setzte sich in sein Auto. Er drehte die Musikanlage auf volle Lautstärke. Guns n’ Roses – seine musikalischen Vorlieben waren fast identisch mit denen von Falco Brunner. Oft hatten sie zusammen in ihrem Dienstwagen ein kleines Rockkonzert veranstaltet. Er versuchte, sich in Falcos Lage zu versetzen, während er den Schlüssel umdrehte. Wahrscheinlich hatte Falco sie beide belauscht – mit ziemlicher Sicherheit! Es fiel Bruno schwer zu entscheiden, was Falco wohl schlimmer getroffen hatte – sein missglückter Heiratsantrag oder Christinas Reaktion.
»Die Tote hat sechs bis acht Stunden vor ihrem Tod noch Geschlechtsverkehr gehabt. Aber ganz bestimmt nicht freiwillig«, sagte der alte Gruber. »Bei den Verletzungen! Armes Mädchen. In der Pathologie haben sie eine Spermaprobe vom Täter sichergestellt. Wunderbares Genmaterial, das sich für eine DNA-Analyse hervorragend eignen soll. Ist das nicht ein Glück im Unglück, meine Herren?«
Bruno Horvath hatte zuletzt um sechs Uhr einen Blick auf sein Smartphone geworfen, um halb sieben hatte ihn dessen Alarmfunktion unsanft aus einem unruhigen Traum gerissen. Grubers Zynismus verursachte ihm an einem Morgen wie diesem Schmerzen in der Bauchgegend. Es war alles zum Kotzen!
»Was heißt das?«, fragte sein Kollege Matthias Schweiger. Schweigers neue Hornbrille verstärkte den Eindruck eines Klassenstrebers, und Bruno fragte sich, was einen erwachsenen Mann nur dazu bewegen konnte, sein Gesicht mit einem derartigen Utensil zu verunstalten.
Anton Gruber, seines Zeichens Oberkriminalrat, legte den Finger in Denkermanier an sein Kinn. »Die Exfrau von Ihrem Exkollegen, Herr Horvath, ist mit ihrer Totenflecktheorie goldrichtig gelegen. Im Nachhinein betrachtet, kann ich nur sagen: Sie hätte die Obduktion ruhig selber vornehmen können!«
Hat sie aber nicht! – Bruno unterdrückte seine Antwort. Hätte, fügte er innerlich hinzu, was für ein Unwort! Wenn Christina die Leiche selbst obduziert hätte, dann hätten wir gestern nicht streiten müssen, und ich wäre heute Morgen nicht vor einem leeren Kühlschrank gestanden. Jedes hätte ist genau eins zu viel, wenn man unter Schlafmangel leidet, erkannte er schmerzlich. Wenigstens hatte er in seinen alten Vorräten noch eine halbleere Packung Kaffee gefunden – das Ablaufdatum von 2014 hatte er geflissentlich ignoriert.
»Dann hat Herr Brunner tatsächlich eine Leiche überfahren«, sagte Schweiger neben ihm.
»Wo ist der Brunner jetzt eigentlich?«, fragte Gruber.
Bruno hatte befürchtet, dass diese Frage als nächste kommen würde. »Gestern Nacht war er noch bei uns.«
»Das ist schön«, sagte Gruber, dessen dichte graue Augenbrauen seine Miene zusätzlich verdüsterten. »Das heißt, jetzt befindet er sich wohl nicht mehr bei Frau Brunner, wie ich Ihrer Antwort entnehme? Komplizierte Verhältnisse sind das – ich meine natürlich aus rein kriminalistischer Sicht: Früher hat Falco für uns gearbeitet, jetzt ist der Exmann ihrer Lebensgefährtin unser wichtigster Zeuge in einem Mordfall. Wie finden Sie das, Horvath?«
Matthias Schweiger versuchte, die Situation zu retten. »Wissen wir wenigstens, wer die Tote ist?« Er hatte vor zwei Jahren Falcos Nachfolge angetreten, nachdem dieser vom Dienst suspendiert worden war. Schweiger war inzwischen 30 geworden. Einer, der eine Blitzkarriere hingelegt hatte! Bruno misstraute derartigen Menschen immer. Irgendwann würde er dahinterkommen, wer Schweiger in seinen jungen Jahren in die Mordkommission protektiert hatte.
Bruno beobachtete die Landung eines Polizeihubschraubers auf dem Innenhof durch das große Fenster des Besprechungsraums.
Gruber knallte eine Akte auf den Tisch. Schweiger staunte: »Haben wir denn nicht alle Daten im Computer?«
»Die Tote heißt Manuela Berger«, ignorierte Gruber seinen Einwand. »Sie ist 29 Jahre alt gewesen und stammt aus einem kleinen Bauerndorf in Kärnten – so viel wissen wir über sie!«
»Ich habe gedacht, die Tatortabteilung hat keine Papiere bei ihr gefunden«, meinte Schweiger.
Gruber bedachte auch diesen Einwand mit dem Blick eines großen Staatsmannes, der sich längst aus der Tagespolitik zurückgezogen hatte, um sich den wahrhaft wichtigen Dingen zu widmen – er fuhr fort: »Ich gehöre einer Generation von Kriminalern an, die ohne Computerprogramme groß geworden ist, Herr Schweiger. Die Tote ist bereits mit 20 zum ersten Mal aktenkundig geworden. Sie hat damals schon in Wien gelebt. Sie hat mit einem Mann zusammengewohnt, der sie mehrmals krankenhausreif geschlagen hat.«
»Hat sie sich denn nicht von ihm getrennt?«, fragte Schweiger. Er nippte an seinem Pappbecher, coffee-to-go, den er sich täglich von McDonalds gegenüber der Polizeikaserne holte.
Bruno trank seinen Kapselkaffee aus einer Tasse. »Wahrscheinlich nicht«, knurrte er.
»Da spricht der erfahrene Kieberer aus Ihnen, Horvath! Der Mann ist natürlich – wie könnte es anders sein? – wegen einiger weiterer Gewaltdelikte straffällig geworden. Schließlich hat er im Verlauf eines Raufhandels einen seiner Kumpane fast tot geschlagen. Die Berger hat natürlich immer alle ihre Anzeigen gegen ihn zurückgezogen. Ein typisches Opfer, das sich mit großer Treffsicherheit immer seinen nächsten Peiniger aussucht.« Gruber legte eine rhetorische Pause ein, wohl um seine Erkenntnisse bei ihnen wirken zu lassen. Bruno verspürte das Bauchweh wie
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Michael Seitz
Bildmaterialien: Autor
Cover: Sarah Schemske
Lektorat: Franz Leipold
Tag der Veröffentlichung: 28.04.2023
ISBN: 978-3-7554-4088-8
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