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Augen

Als sich Frank Wittgens umdrehte, sah er sich von einer Hundertschaft körperloser Augen umzingelt. Einige von ihnen saßen auf den Wänden; die in fadem Gelb gemusterte Tapete gebar immer mehr von ihnen, die Rauten des Karomusters begannen ihre Lider zu öffnen und ihn mit ihren Blicken festzunageln.
Fast noch schlimmer waren jene, die vom Boden zu ihm aufblickten. Zuckende Augäpfel, die in den Spiegelscherben umher huschten, rastlos durcheinander rollten wie orientierungsloses Getier.
Er spürte, wie ihn der Ekel am Hemdkragen packte und langsam die Luft abschnürte.
Es wurden immer mehr. Sie saßen unter dem Bett. Glotzten ihn an, als wollten sie ihm allein durch ihr Anstarren an Substanz rauben. Sie saßen auf dem halb heruntergerissenen Lampenschirm in dessen Inneren eine angelaufene Glühbirne flackerte. Die Stäbe des Lampenschirms traten grotesk hervor, wie die Rippen eines Wesens, in dessen Bauch etwas verzweifelt darum kämpfte, nicht verdaut zu werden.
Selbst auf den Jalousien, die das Hotelzimmer im Halbdunkel hielten.
Saugten sich an ihm fest. Pressten, drückten, wirkten von allen Seiten auf ihn ein.
Angewidert fuhr er über seine Kleider, wischte in panischer Ungeduld über seine Arme, seine Beine, konnte ihre Blicke aber nicht abschütteln.
Er wäre aus dem Zimmer gestürmt, wenn er gekonnt hätte. Stattdessen sank er auf das Bett. Es quietschte. Frank schloss seine Augen und versuchte sich zu beruhigen.
Er war noch nie zuvor in einem Hotel gewesen. Die Anonymität, das oberflächliche Lächeln des Personals, die leicht schäbige Einrichtung, der Geruch von billigem Putzmittel... Nicht gerade ein Ort zum Wohlfühlen. Auch wenn es etwas Unverfängliches hatte, hier einzukehren. Keine Fragen, keine Erwartungen.
Trotzdem fühlte er sich seltsam roh. Schutzlos.
Frank wiegte sich hin und her, die Arme fest um seinen Leib geklammert, um nicht in tausend Teile zu zerspringen. Seine Finger krallten sich um die Flasche, in der eine klare Flüssigkeit schwappte. Vielleicht hatte er es ja bloß geträumt?
Womöglich gab es sie alle nicht, die Augen, das Chaos im verwüsteten Zimmer, die tote Frau zu seinen Füßen? Er blinzelte, öffnete vorsichtig, ganz vorsichtig seine Lider.
Er sah die Spiegelscherben am Boden, wie sie im Halblicht der Dämmerung glänzten, den umgestürzten Beistelltisch, einen Fuß. Regungslos.
Ein Wimmern entstieg seiner Kehle. Mit einem Mal machte er einen Satz vom Bett und sank neben der Leiche auf die Knie. Streichelte über ihre Wange. „Wach auf“, flüsterte er „Wach doch auf.“, während er die Spiegelsplitter von ihrem Körper klaubte.
Doch sie rührte sich nicht. Ihre Hand war schlaff, als er sie in seine nahm. Hilflos sah er sich um.
Sein Blick wurde von hundert anderen erwidert.
Immer mehr Augen rollten unter dem Bett hervor, zuckten über die Wände, überallher und glotzten.
„Geht weg!“, schrie er. „Ich hab sie nicht getötet! Ich war es nicht.“ Sie kamen näher, krochen langsam auf ihn zu. „WEG MIT EUCH!“, brüllte er und schlug um sich, doch die Augen waren nicht zu fassen. Immer enger. Zogen einen Kreis um ihn und stierten. Immer enger. „Es war ein Unfall!“, spie Frank panisch aus. „Ein Unfall!“, doch sie hörten ihn nicht. Das Atmen fiel ihm schwerer. Immer enger.

 

Als Marianne nach einem arbeitsreichen Tag an ihrem Küchentisch saß, ihren Kontoauszug in der Hand, überkam sie Entsetzen. Franks Geld für diesen Monat fehlte.
Was war da los? War er entlassen worden? Unmöglich, darüber wüsste sie Bescheid.
Er verdiente gut. Seine Einkünfte machten das Leben um einiges angenehmer. Allein deswegen hatte sie ihn all die Jahre geduldet.
Doch nun war er nichts als ein Schmarotzer.
Vielleicht war es gar nicht so schlecht, ihn endlich loszuwerden. In letzter Zeit hatte er sich immer öfter beschwert. Wegen Nichtigkeiten.
War es denn zu viel verlangt, dass sie sich sein Gehalt nahm? Er bekam Taschengeld und das nicht zu knapp. Was sollte er sich auch schon groß davon kaufen wollen? Sie war diejenige, die alles für ihn erledigte. Sie hatte alles für ihn getan und ihre besten Jahre damit verschwendet. Es war wirklich Zeit, dass er ging.
Sie hatte diese Gedanken kaum zu Ende gedacht, da standen Franks Sachen schon gepackt vor ihr. Zwei Sporttaschen voll mit Kleidung und ein Karton mit Bürounterlagen.
Beim Anblick der Taschen empfand Marianne beinahe Mitleid. Wie armselig, wenn ein ganzes Leben in zwei Taschen passte. Doch das war nun nicht mehr ihr Problem.
Marianne Wittgens hatte ihre eigenen Probleme; die anderer kümmerten sie nicht. Was nicht bedeutete, dass sie ein schlechter Mensch war. Von der Mutter verlassen und von einem distanzierten Vater aufgezogen, war es nicht verwunderlich, dass es ihr schwer fiel, ihre Zuneigung auszudrücken. Sie hatte es einfach nie gelernt.
Ihre grauen Haare waren feuerrot gefärbt; ihr verkniffener Mund stets zynisch wenn sie an ihren Nichtsnutz von Sohn dachte.
Was für ein Trottel lebte mit 46 Jahren noch in seinem Kinderzimmer? Sie war es leid, ihn um sich zu haben, war es leid, ihn zu bekochen und seine dreckigen Unterhosen zu waschen. Die Jahre des engen Zusammenlebens hatten ihre Mutterliebe ausgehöhlt wie einen Kürbis. Was blieb, waren die Hülle, in die man ein lächelndes Gesicht gestanzt hatte und die leeren Augen, denen es nicht mehr gelang, über Franks Unzulänglichkeiten hinweg zu sehen.
Die Geräusche, die er machte, wenn er schlief. Die Schuhe, die er nie richtig abputze bevor er das Haus betrat. Wie er sich am Ellbogen kratzte, wenn er nervös war... All das widerte sie nur noch an.
Sie war sich nicht sicher, wie das hatte passieren können. Es war nicht so, als hätte sie irgendwann einfach entschieden, ihren Sohn zu verabscheuen. Es musste langsam passiert sein, schleichend, wie das Alter. Als würde man aus einem Traum erwachen, in dem man jung und glücklich war, und in den Spiegel sehen, ehe der Kopf begriff.

Es dauerte keine Stunde, bis das Türschloss klickte. Marianne erwartete das Eintreffen ihres Sohnes mit einer Tasse Kaffee in der Hand, die Taschen zu ihren Füßen.
„Ich bin Zuhause“, tönte die Stimme aus dem Treppenhaus.
Marianne schmunzelte. Nicht mehr, mein Lieber, nicht mehr.
Sie hörte das Knarren der Stufen, als sich Frank die Treppe hochwuchtete. Sie hörte sein Schnaufen und empfand eine rege Genugtuung, als sie sich klar machte, dass sie diese Geräusche heute das letzte Mal ertragen musste.
„Du verreist?“, fragte Frank, als sein Blick auf die Taschen fiel.
„Nein, warum sollte ich?“ Marianne nahm einen Schluck Kaffee und beobachtete das Gesicht ihres Sohnes über dem Tassenrand.
„Aber was sollen dann die Taschen?“
Marianne nahm sich Zeit für die Antwort. „Sie gehören dir.“
Franks Gesicht erstarrte. „Was?“
„Du hast mich schon verstanden. Du hast dein Gehalt auf ein anderes Konto überwiesen, nicht wahr? Wolltest dich heimlich mit dem Geld aus dem Staub machen. Aber das ist dir nicht gelungen. Du bist unfähig Frank. Ohne mich wärst du gar nicht lebensfähig. Und was tust du zum Dank? Du hintergehst mich.“
Franks Gesicht gab ihr Recht. „Ich will ausziehen, Mama… “, presste er hervor und schien einen Moment selbst überrascht von seinem Mut.
Marianne stieß ein spitzes Lachen aus. „Du und ausziehen? Na das trifft sich doch prima. Hier sind deine Sachen. Die Tür steht wahrscheinlich offen, so wie ich dich kenne. Du vergisst sie immer richtig ins Schloss zu drücken. Und nun, geh!“
„Ich will mein Geld zurück“, sagte er kleinlaut. „Ich habe hart dafür gearbeitet und es gehört mir.“
Da platzte Marianne der Kragen. Jetzt wurde er auch noch frech! „RAUS MIT DIR!“
Und während sie das letzte Knarren der Stufen, das letzte Schnaufen ihres Sohnes vernahm, breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Kurzentschlossen kippte sie ihren Kaffee in den Ausguss.
Das schrie nach Champagner.

Als Frank vor der Haustür stand, die beiden Taschen geschultert und den Karton in der Hand, überkam ihn eine Welle der Verzweiflung. Sie brandete über ihn hinweg und nahm ihm für einen Moment den Atem.
Sein rundes, bartloses Gesicht, das selbst nach all den Jahren noch mehr dem eines Kindes als eines Erwachsenen ähnelte, wurde von Sorgenfalten zerfurcht.
Wohin sollte er nun gehen? Seine Arbeitskollegen würden sich bloß über ihn lustig machen, Freunde hatte er keine. Das mit dem Auszug hatte er sich eindeutig anders vorgestellt.
In ein, vielleicht zwei Monaten hatte er verschwinden wollen. Still, heimlich, ohne Lärm.
Doch über das wohin hatte er sich noch keine Gedanken gemacht.
Er fühlte sich seltsam gestrandet und es dauerte, bis sich seine Glieder wieder bewegen konnten.
Einen winzigen Moment lang erwog er, einfach umzudrehen. Mutter um Verzeihung bitten, doch dann entschied er sich anders. Frank stieg in sein Auto.
Das Drehen des Zündschlüssels und das leichte Ruckeln des anspringenden Fords taten gut. Der Geruch der Polster. Beim Autofahren schien er alles unter Kontrolle zu haben. Drückte er aufs Gaspedal, beschleunigte der Wagen, wollte er abbiegen, bräuchte es nicht mehr als eine Lenkradbewegung.
Alles funktionierte so wie es sollte. Alles war normal.
Frank fuhr los. Fuhr ewig, wie es schien, einfach geradeaus, bis er das Reklameschild eines Motels sah. Mittlerweile begann sein Magen zu knurren. Kein Wunder, es war kurz nach sechs.
Er bemerkte kaum, wie er anhielt, seine Taschen nahm und seine letzten Scheine über den Tresen wanderten.
Der Empfangschef war ein alter Bekannter, Otto Wiesner. Er grinste ihn mit seinem zahnlosen Lächeln an, doch Frank reagierte nicht darauf.
Das Zimmer war klein. Gut. Die Nähe der Wände beruhigte ihn. Sie hielten ihn zusammen. Das machte das Alleinsein leichter. Ebenso wie die bunten Flaschen in der Minibar.
Er war froh über die Beschäftigung, denn sie entlastete ihn von der Stille, auf die düsterte Gedanken folgen würden. Frank war kein geübter Trinker. Mutter verabscheute es, wenn er Alkohol trank.
Doch Mutter ist jetzt nicht hier, dachte er mit grimmiger Zufriedenheit.
So saß er eine Weile da und trank, bis ihm die Kehle brannte.
Warum ich?
Frank drehte sich um. „Wer hat das gesagt?“ Doch das Einzige, was er sah, war die gelbe, mit schwungvollen Rauten bemalte Tapete. Da war niemand.
Er schüttelte den Kopf. Vielleicht hatte er es ja selbst gesagt. Der Gedanke konnte genauso gut von ihm stammen.
Wie soll ich das je schaffen?
Frank ließ die Flasche sinken. Nein. Diesmal hatte er sich das gewiss nicht eingebildet. Die Stimme war von irgendwo weiter rechts gekommen. Er erhob sich und ging langsam auf das angrenzende Badezimmer zu. Die Tür knarrte, als er sie öffnete.
Wie in einem Horrorfilm, dachte Frank, und es lief ihm kalt den Rücken runter.
Er blickte in den Spiegel über dem Waschbecken und erstarrte. Das war er, sein Spiegelbild, doch es sah so fremd aus. Fast bedrohlich. Franks Finger fuhren in sein eigenes Gesicht. Doch der Spiegel zeigte es nicht. Er gab es nicht wider.
Frank begann zu zittern. „Wer… was bist du?“
Das Spiegelgesicht sah ihn mit traurigen Augen an. Sag du es mir. Ich weiß nur, dass ich es tun muss.
„Was denn tun?“, hauchte Frank, und bemerkte nicht, wie sich seine Finger hilfesuchend um das Waschbecken krallten.
Mich endlich befreien.
Das Spiegelgesicht streckte seine Hand aus; sie reichte aus dem Spiegel heraus. Die Fingerspitzen, die Handfläche, das Handgelenk. Und schob sich immer weiter nach draußen.
Frank ließ die Flasche fallen. Glas prallte auf Fliesen, und zerbrach.
Mit einem Mal war er wie gelähmt. Unfähig sich zu bewegen. Unfähig zu schreien.
„Du bist unfähig“, geisterte die Stimme seiner Mutter durch seinen Kopf.
Die Hand des Spiegelmannes reichte nun bis zum Ellbogen hinaus und packte ihn am Kragen.
Er wollte noch nicht sterben. Die Erkenntnis brach mit einer solchen Heftigkeit durch sein Bewusstsein, dass sie ihn aufs Tiefste erschütterte.
Er schlug den Arm des Spiegelmannes von sich und presste ihn zurück hinter die Scheibe.
Frank war ein sanftmütiger Mensch, introvertiert, der tat, was man ihm sagte. Doch mit einem Mal packte ihn Wut. Niemanden auf der Welt interessierte es, ob er lebte oder starb.

Aber er würde nicht so einfach klein bei geben.
Er würde leben!
Mit bloßen Händen riss er den Spiegel aus seiner Verankerung und legte ihn auf das Bett. Der Mann im Spiegel sah im teilnahmslos dabei zu.
Frank sah sich um. Ein fester Gegenstand, irgendwas zum zerschmettern…
Doch er kam nicht mehr dazu, nach einem solchen Ding zu suchen, denn im selben Moment wurde die Zimmertür aufgerissen.
„Mutter!“ Frank starrte in Richtung Tür, als sähe er einen bösen Geist.
Marianne taxierte ihn mit einem entschlossenen Blick. „Ich wusste, dass du nicht weit sein kannst. Otto hat angerufen. Du schuldest mir noch Geld, schon vergessen? Das für diesen Monat. Und ich will die Hausschlüssel. Danach kannst du von mir aus bleiben wo der Pfeffer wächst.“
„Das soll wohl ein Scherz sein!“ Frank hörte seine eigene Stimme, als käme sie von ganz weit weg. Das hier konnte nicht wirklich sein. Die Realität schien auf Erbsengröße zusammenzuschrumpfen.
„Nicht in diesem Tonfall! Sehe ich aus, als würde ich scherzen?“ Marianne hatte die Hände in die Hüfte gestemmt. Obwohl sie recht hager war, hatte ihre Erscheinung doch eine gewisse Präsenz.
Sie war nicht echt. In Franks Kehle stieg ein Lachen auf. Dafür war ganz allein das Spiegelgesicht verantwortlich. Es war ein Trick.

Die falsche Mutter lief auf ihn zu, die Hände ausgestreckt. Sie will mir an die Gurgel, dachte Frank. Sie will mich umbringen! Mit einem Aufschrei stürzte er sich auf sie und nahm mit Genugtuung wahr, wie sie erschrocken die Augen aufriss, als er sie zu würgen begann.
Er warf sie aufs Bett. Mit einem Mal fühlte er sich mächtig. Nun war sie diejenige, die unfähig war sich zu wehren! Frank umfasste ihr Genick, wuchtete sie in Richtung Badezimmer und schlug ihren Kopf gegen den Spiegel. Die falsche Mutter keuchte vor Schmerz. Der Spiegel begann zu brechen. Das Spiegelgesicht sah dem Ganzen unbeteiligt zu.
Muss mich befreien…
Adrenalin peitschte durch seine Adern und entfesselte etwas, von dem Frank nicht einmal geahnt hatte, dass er es besaß.
Kraft. Wut. Aggression. Und das Gefühl von Überlegenheit. Von Kontrolle.
Doch plötzlich fuhren ihm die Krallen der Furie durchs Gesicht. Frank schrie auf und ließ los. Er taumelte rückwärts und stieß gegen eine Stehlampe.
Die falsche Mutter rappelte sich auf. Sie versuchte aus dem Hotelzimmer zu fliehen. Nein, das würde ihr nicht gelingen! Frank wuchtete sich hoch und packte sie in letzter Sekunde am Ärmel, bevor sie die Türklinke erreichen konnte.
Mit purer Gewalt schleuderte er sie durch den Raum. Sie flog geradezu durch die Luft und landete mit dem Rücken auf einem Beistelltisch, der unter der Wucht zusammenkrachte.
Danach rührte sie sich nicht mehr.
Frank krempelte seine Hemdsärmel hoch. Nun würde er sich dem Spiegelgesicht widmen.
Muss mich befreien… sagte der Mann im Spiegel fast schon teilnahmslos. Die Umrisse seiner Gestalt verschwammen. Vermutlich lag es an den Rissen.
„Das wird dir nicht gelingen!“, rief Frank triumphierend. „Wa-?“
Etwas packte Frank von hinten und umklammerte seinen Hals. Die falsche Mutter! Sie war nicht tot!
Ihr Griff war ungemein stark. Würgend befreite er sich von ihrer Fessel und stieß sie von sich.
Sie fiel zu Boden. Kurzentschlossen packte Frank einen Teil des Spiegels, und als sie sich gerade erheben wollte, zertrümmerte er ihn auf ihrem Kopf.
Die falsche Mutter sank zu Boden, um sie herum ein Meer aus glitzernden Spiegelscherben.
In ihnen waren immer noch Teile des Spiegelmannes zu sehen. Hier ein Ohr, da das Kinn. Auf dem bewegungslosen Körper der falschen Mutter lag ein Auge, das Frank fixierte.
Frank griff in die Minibar. Er lebte! Darauf brauchte er erst einmal einen guten Schluck.

Als sich Frank Wittgens umdrehte, sah er sich von einer Hundertschaft körperloser Augen umzingelt. Einige von ihnen saßen auf den Wänden; die in fadem Gelb gemusterte Tapete gebar immer mehr von ihnen, die Rauten des Karomusters begannen ihre Lider zu öffnen und ihn mit ihren Blicken festzunageln.
Plötzlich lichtete sich der Schleier, der das Gesicht der Frau zur Unkenntlichkeit verzerrt hatte. Frank erkannte, wer da zu seinen Füßen lag. Es war kein Trick des Spiegelmannes gewesen, kein fauler Zauber. Es war seine Mutter. Er beugte sich zu ihr herunter, noch immer die anklagenden Blicke der Augen im Nacken. Was hatte er nur getan?
„Mama“, flüsterte er „Mama, wach doch auf.“, während er die Spiegelsplitter von ihrem Körper klaubte.
Mit einem Mal fühlte er sich schwindelig, seine Hände zitterten.
Er schrie. Es war nicht seine Schuld. Er hatte das nicht gewollt.
Noch während er neben ihrem schlaffen Körper saß, begannen die Schuldgefühle ihn zu zerfressen, sich wie Splitter unter seine Nägel zu schieben.
Er war so damit beschäftigt sich zu schämen und zu bemitleiden, dass ihm das leichte Zucken von Mariannes Hand entging. Er sah nicht, dass sie nach einer Spiegelscherbe griff. Dann hörte er das leise Ächzen eines sich aufrichtenden Körpers. Hoffnungsvoll drehte er sich um und blickte in das blutverschmierte Gesicht seiner Mutter.
Einen Anblick, den er sein ganzes Leben nie vergessen würde.

Marianne Wittgens saß an ihrem Frühstückstisch und sah ihre Kontoauszüge durch.
„Möchtest du noch einen Kaffee, mein Schatz?“, fragte sie den Mann neben sich. Er nickte.
Sie gab ihm die Tasse in die Hand, er führte sie zu seinem Mund – und spuckte. „Zuuu heißßßß!“
„Na na, das ist doch kein Grund, den guten Kaffe auszuspucken“, schimpfte Marianne und haute ihm auf die Finger.
Frank sagte nichts. Den Rest des Tages verbrachte er still vor einem Fenster sitzend. Er spürte die Sonnenstrahlen in seinem Gesicht. Seine Leibesfülle machte es ihm ohnehin schwer sich zu bewegen, an den Gehstock hatte er sich noch nicht gewöhnt. Und so saß er Tag für Tag da. Einfach nur da. Und brütete vor sich hin.
Marianne hingegen strahlte wie das blühende Leben.
Ihre Wunden hatten eine Weile gebraucht um zu verheilen, doch sie war zäh. Schon immer gewesen.
Anders als ihr armer, kleiner Junge.
Sie sorgte für Frank, päppelte und bemutterte ihn, wo sie nur konnte. Gut, ab und zu machte sie kleine Fehler. Ließ irgendwo einen Koffer im Weg stehen. Verlegte die Fernbedienung. Vergaß, eine Kiste Wasser nach oben zu tragen. Verschob ein paar Schränke. Ließ Beethovens Neunte so laut durch die Wohnung schallen, dass die Wände wackelten.
Solche Dinge passierten. Sie war schließlich alt, nicht mehr ganz beisammen, wie die Nachbarn sagten. Doch um ihren erblindeten Sohn, um den kümmerte sie sich. Da konnte ihr niemand einen Vorwurf machen.
Und Franks Invalidenrente wurden jeden Monat pünktlich bezahlt.

 

 

Impressum

Diese Kurzgeschichte entstand vor einigen Jahren im Rahmen eines Anthologie-Projektes. Hierbei wurden verschiedene Geschichten unter dem Motto der sieben Todsünden erstellt und auf einander abgestimmt.

Augen war hierbei für die Sünde des Zorns gedacht.

Die Zusammenarbeit war sowohl fruchtbar als auch eine schöne Erfahrung und ich danke den Autoren, die mir mit Anregungen zur Seite standen.

Für das Projekt wurde zwar ein Verlag gefunden, doch aufgrund interner Probleme kam die Anthologie als solche leider doch nicht zustande. Dies ist eine veränderte Version der ursprünglichen Geschichte.

 

Das Cover wurde in Eigenregie erstellt. Die lizenzfreie Vorlage stammt von Freepik.

Impressum

Texte: Holly Day
Tag der Veröffentlichung: 22.06.2014

Alle Rechte vorbehalten

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