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Ronja

 

Rede nicht mit Fremden.

Komm nicht vom Weg ab.

Bleib immer im Hellen.

 

Obwohl meine Mutter erleichtert schien, mich los zu sein, konnte sie ihren Beschützerinstinkt wohl nicht ganz abstellen. Hätte ich doch nur auf sie gehört.

Sie alle halten mich für nutzlos. Eine Schulschwänzerin ohne Zukunft. Nicht dumm, dafür aber vorlaut und ohne Manieren. Vielleicht ist das der Grund, weshalb meine Mutter heute zugeschlagen hat. Weil ich ihr und mir absichtlich versuche wehzutun, wie sie sagt. Ich weiß nicht. Es war immerhin nicht meine erste Strafanzeige, obwohl die billigen Turnschuhe es eigentlich gar nicht wert waren. Sie ist niemand, der normalerweise um sich schlägt. Scheint als wäre sie mit ihren Kräften am Ende was mich angeht.

Irgendwie traurig, sie so zu sehen. Die Hand, die noch zittert und die Augen die nicht fassen können, was sie da getan hat. Mit müder Stimme hat sich mich dann weggeschickt, zu meiner Oma. Sie wisse nicht mehr, wie sie mir noch helfen solle.

Keine Stunde später, es ist kurz nach sechs, stehe ich am Bahnhof mit vollgestopfter Tasche und sehe ihre geröteten Augen im Rückspiegel unseres alten Golfs verschwinden. Warme Worte des Abschiedes wären wohl zu viel verlangt gewesen, stattdessen Ermahnungen, um ihrer Mutterrolle doch noch gerecht zu werden. Ein kurzer letzter Blick von ihr, eine knallende Tür meinerseits und das war’s.

Vielleicht ist es besser, wenn wir etwas Abstand voneinander kriegen. Trotzdem. Mich einfach so abzuschieben. Wann ich wieder zurück darf, hat sie auch nicht erwähnt.

Passenderweise fängt es auch noch an zu regnen.

Ich mag keinen Regen; mochte ihn noch nie. Dieses Nass-Feuchte, wenn es einem die Chucks durchweicht und auf den Schirm trommelt, als ginge die Welt im nächsten Moment unter. Tja, zumindest dieses eine Problem hab ich nun weniger, denn meinen Schirm hab ich daheim stehen lassen.

Einen Moment lang erwäge ich, einfach stehen zu bleiben und zu warten. Darauf, dass der Golf bremst, den Rückwärtsgang einlegt und mich wieder mit Nachhause nimmt. Doch diesmal scheine ich den Bogen wirklich überspannt zu haben, denn die roten Rücklichter entfernen sich bis sie nur noch undeutliche Schlieren sind und schließlich ganz verschwinden. Ich zieh mir die Kapuze meines roten Sweaters über, auch wenn die kaum was abhält, und schlurfe Richtung Gleis.

Eigentlich bin ich ganz dankbar aus Berlin rauszukommen. Versiffte Straßenbahnen, Plattenbauten und Leute, die sich direkt vor unserer Haustür erleichtern. Auch wenn das Landleben mich nicht gerade reizt. Irgendwie kommt da direkt der Gedanke an Kuhscheiße auf. Ich frage mich, ob es überhaupt einen Ort für Menschen wie mich gibt.

Aber es hätte mich schlimmer treffen können. Meine Oma ist total durchgeknallt, scheint aber als Einzige in der Familie nicht auf mich herabzuschauen. Ich bin ihr erst zweimal begegnet, was ich wohl als Vorteil für mich verbuchen kann. Einmal als Kind als ich noch klein und süß war mit den langen braunen Haaren und den großen dunklen Augen, und letztes Jahr auf der Beerdigung meines Vaters. Da war ich vierzehn und hab kaum ein Wort gesprochen.

Sie hat mir einen Schluck aus ihrem Flachmann angeboten und sich diese ganzen Floskeln vonwegen Beileid und dass alles wieder gut wird, verkniffen. Stattdessen hat sie vom Boxen gefaselt, und ob ich denn Klitschko-Fan wäre, während sie mitten im Restaurant mit Schattenboxen anfing. Eindeutig bekloppt, die Alte. Ich mochte sie auf Anhieb.

 

Stöhnend wuchte ich meine Tasche auf den Sitz neben mir. Wahrscheinlich hab ich viel zu viel dabei, aber da mir meine geliebte Erzeugerin nicht mehr als eine Viertelstunde gegeben hatte, hatte ich kurzerhand meinen halben Kleiderschrank in die Sporttasche gestopft. Ich überlege einen anderen Pulli anzuziehen, bin aber letztlich doch zu faul in dem Chaos nach etwas zu suchen.

Während der Zug leise rattert, merke ich wie mir die Finger anfangen in der warmen Luft zu kribbeln. Außerdem hasse ich dieses Gefühl, wenn Sachen halbtrocken sind. Entweder ganz trocken oder klitschnass, aber dieser Zwischenzustand ist eklig. Mein Pony beginnt sich zu wellen, egal wie oft ich mit den Fingern durchfahre. Ich fühl mich wie der letzte Assi und kriege das plötzliche Verlangen nach einer Kippe, jetzt wo die Erzeugerin nicht da ist, um zu meckern.

Schnell werfe ich einen Blick durchs Abteil. Kein Schaffner zu sehen, nur so ein abgefuckter Punk mit Schäferhund links von mir. Ich zünde mir eine an.

„Das hier ist ein Nichtraucherzug.“

Ich wende den Kopf zur Seite. Erst erwäge ich, ihn einfach zu ignorieren, doch dann kann ich meine Klappe doch nicht halten. „Und das kümmert mich weil?“

 

Rede nicht mit Fremden.

 

Der Punk grinst dämlich. Pah, der will sich bestimmt nur eine schnorren.

„Schon okay, ich wollte nicht unhöflich sein. Darf ich fragen wie du heißt?“

Ich rolle die Augen. „Sigmund Freud, Kollege. Und ich attestiere dir, dass es besser für dich ist, mich in Ruhe zu lassen.“

Ich bin nicht sicher, warum ich immer so pampig reagiere, wenn mich jemand anspricht. Vielleicht, weil ich schnell misstrauisch werde. Als Stadtkind gehört eine gute Portion Skepsis schließlich zur Überlebensstrategie. Außerdem kann man mit einer großen Klappe wunderbar schmale Arme kompensieren, wie sie Mädchen meiner Statur nun einmal haben.

„Freut mich dich kennenzulernen Siggi“, antwortet der Typ und behält eine todernste Miene. „Ich bin Wolf… Moment, ist das ein Schmunzeln, Doc?“

„Nein“, beharre ich und muss doch grinsen.

Die nächsten zwei Stunden unterhalten wir uns. Was soll man auch sonst machen auf einer langen Zugfahrt? Die dunklen Haare sind etwas zu lang wie sie ihm um die Schultern fallen, aber wenigstens hat er saubere Fingernägel und sein Dreitagebart ist einer der gepflegteren Sorte. Er hat ein Lippenpiercing auf dem er ständig rumkaut. Nicht gerade der Überflieger auf der Schönheitsskala, aber witzig. Ich erfahre, dass Wolf dreiundzwanzig ist, sein Hund Beißer zweieinhalb.

„Weil er eigentlich total handzahm ist. Deswegen dachte ich, dass er einen starken Namen braucht“, grinst er. Wolf hat erstaunlich gute Laune. Normalerweise hasse ich Menschen, die mit einem Dauergrinsen durch die Gegend rennen, als hätte es ihnen jemand ins Gesicht tätowiert. Sie machen mich richtiggehend wütend, doch bei ihm stört es mich nicht. Ich lache sogar selbst, obwohl ich mich schon frage, weshalb er so gut drauf ist. Vielleicht ist er ja bekifft. Ich setze mich auf den Platz ihm gegenüber und kraule Beißer hinterm Ohr, während der Zug in einen Tunnel eintaucht.

„Wie heißt du wirklich? Oder soll ich dich weiterhin Siggi nennen?“ Wolfs Augen leuchten gelblich im Halbdunkel. Muss wohl am elektrischen Licht liegen.

„Ich heiße Ronja. Ronja Dillenbruck.“ Kaum hab ich das gesagt, will ich mir mental vor die Stirn hauen. Einfach so einem Fremden den ganzen Namen sagen. Da kann ich ihm ja auch gleich meine Kontonummer und Blutgruppe geben.

„Ein schöner Name. Gefällt mir sogar besser als Siggi. Ah, da hinten kommt meine Haltestelle. Steigst du auch aus? Ich lad dich auch auf was zu Futtern ein.“

Tatsächlich hab ich noch zwei Stunden bis zu meiner Oma und kaum erwähnt er was zu essen, fängt mein Magen an zu knurren.

„Ich muss nicht aussteigen“, antworte ich. „Aber danke für das Angebot.“

Wolf zuckt mit den Schultern. „Wenn du nicht willst, dein Pech, und das wo es bei Pino die beste Pizza weit und breit gibt. Ist auch direkt am Bahnhof. Du kannst ja den nächsten Zug nehmen, der fährt in einer halben Stunde. Komm schon, leiste mir und Beißer noch ein bisschen Gesellschaft.“

„Gibt’s da auch Thunfischpizza?“

Wolf nickt. „Sicher.“

Ich bin unentschlossen, aber mein Magen antwortet für mich.

„In Ordnung.“

Wir steigen gemeinsam aus.

 

Komm nicht vom Weg ab.

 

Kaum ausgestiegen, seh ich das Lokal auch schon. Irgendwie wirkt es schäbig mit der kaputten Leuchtschriftanzeige, aber das muss ja nicht unbedingt was über die Qualität der Pizza aussagen. Obwohl keine Menschenseele drin sitzt.

Wolf kramt in seiner Jackentasche.

„Hey Ronja, ich muss nochmal zum Bankautomaten“, meint er und bindet Beißer vor der Pizzeria an.

Ich nickte stoisch. „Hoffentlich ist der nicht weit weg. Ich hab keinen Bock, die schwere Tasche so weit zu schleppen.“

„Nein, keine Sorge. Da hinten steht einer.“

Wir betreten eine dunkle Gasse.

 

Bleib immer im Hellen.

 

„Die könnten hier ruhig mal ein paar Lichter anbringen.“

„Nicht unbedingt“, meint Wolf und drückt mich gegen die Wand.

Was soll das?, will ich ihn anfahren, doch meine Lunge scheint luftleer. Ich lasse meine Tasche fallen. Er streicht mir die Kapuze vom Kopf und fährt mit seinen Fingern über meine Wange. Mir ist so schlecht, dass ich mich nicht rühren kann. Nur zittern.

„Du bist ein sehr hübsches Mädchen, Ronja.“

Und sein Schatten verschlingt mich.

5

 

Impressum

 

 

Diese Kurzgeschichte ist in der Anthologie Grimms Märchen. Update 1.1 - Froschkönig ungeküsst unter meinem richtigen Namen veröffentlicht. Dieser Titel ist der erste Teil einer zweiteiligen Anthologie, herausgegeben von Charlotte Erpenbeck, erschienen 2012 im Machandel  Verlag.

 

 

Anthologie auf der Verlagsseite

http://www.machandel-verlag.de/grimms-maerchen-update.html

 

Anthologie auf Amazon

http://www.amazon.de/Grimms-M%C3%A4rchen-Update-1-1-Froschk%C3%B6nig/dp/3939727180/ref=cm_rdp_product

 

 

Das Cover wurde in Eigenregie mit MS Paint erstellt. Die lizenzfreien Vorlagen sind von Pixabay.

 

 

Impressum

Texte: Holly Day
Tag der Veröffentlichung: 22.06.2014

Alle Rechte vorbehalten

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