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Der Cellist

Ich, Clement Ferrier, bin ein toter Mann.

Nach allem, was geschehen ist, hat mich der Strudel der Ereignisse wieder an diesen einen Punkt zurückgeworfen, an dem es weder vor noch zurück geht.

Gefangen im Treibsand. Jedes Aufbegehren lässt mich nur schneller versinken.
Neben mir atmet es leise. Dunkles Haar liegt in Locken auf ihrem ebenmäßigen Rücken.

Vielleicht sollte ich einfach aufhören mich zu wehren?

Einfach versinken, still und schmerzlos. Doch ich habe Angst.
Nie mehr zu spielen.
Wieder zu spielen.
Zuneigung und Abscheu rennen sich in meinem Inneren die Köpfe ein.
Ich stehe auf; streiche meiner Geliebten ein letztes Mal über den schlanken Hals.
Danach renne ich los.
Wo ist die Axt?
Ich muss dem ein Ende machen.

1987 Frühling

Ich war 21 und gerade von Toulouse nach Paris gezogen.

Die Entfernung tat gut. Auch wenn ich in einer Baracke von Dachwohnung hauste, in der es mehr Kakerlaken in den Wänden als Ziegel auf dem Dach gab – ich war glücklich.

Natürlich fasste Mutter es als Kränkung auf, dass ich gleich ans andere Ende des Landes gezogen war.

Was sie jedoch nicht davon abhielt, mich mit ihren Anrufen daran zu erinnern, unter welchen Schmerzen sie mich undankbaren Wicht doch zur Welt gebracht hatte.

Clement, isst du auch gut? Ziehst du dich auch warm genug an? Soll ich dich nicht bald besuchen kommen um dir die Wäsche zu machen? Bitte Clement, wenn ich dich besuchen könnte, wäre ich weniger in Sorge.

Bloß keine Umstände, sagte ich dann immer. Mathilde passt schon auf mich auf.

Ich hatte Mathilde als grauhaarige Dame beschrieben, die immer wieder nach meinem Wohlergehen sah, um die Nerven meiner Frau Mama wenigstens etwas zu beruhigen. Dass es sich dabei in Wahrheit um eine streunende Katze handelte, mit der ich des Öfteren eine Büchse Thunfisch teilte, hatte ich wohl versäumt zu erwähnen.

Wenn ich nicht schlief oder von den Speisekarten der Restaurants träumte, die meinen Weg zur Arbeit bei der Stadtreinigung säumten, dann spielte ich.

Die Musik war mein Leben. Mein Alles. Schon immer gewesen.

Vielleicht weil mein Vater Cello gespielt hatte und ich als Kind sein Können bewunderte. Er brachte mir damals alles bei. Trotzdem hatten wir keine besonders enge Bindung. Er und Mutter waren nie verheiratet gewesen. All meine Erinnerungen an ihn bestanden aus einigen unangekündigten Besuchen, bei denen er mir fast nur vorgespielt hatte, statt sich wie ein normaler Vater über Schule oder Gesundheit zu erkundigen, fast als hätte er Scheu vor seinem eigenen Sohn. Alles was wir abgesehen von den Genen teilten, war die Musik.

Sie war unser Medium, unsere Geheimsprache.

Eines Tages lag sein Cello an der Türschwelle, zusammen mit einem kleinen Kärtchen.

Pour mon fils

Das war alles. Danach habe ich ihn nie wieder gesehen. Nicht, dass ich es erwartet hätte.

Nur der Tod höchstpersönlich war in der Lage, meinen Vater von seinem Instrument zu trennen. Wenn ich spielte, schien ein Teil von ihm wieder lebendig. Mehr noch, der mysteriöse Mann, den ich Vater genannt hatte, wurde seltsam greifbar. Als schlüge sein Herz in meiner Brust, als wäre er es, der meine Hände führte.

Alles andere wurde ganz leicht und schien ins Nichts zu entschweben. Das Einzige, was es noch gab, war der Gesang des Cellos. Angenehm tief und stets von einer melancholischen Schwere.

„Sie ist wie eine traurige Geliebte“, hatte er mir einmal erzählt. „Am schönsten klingt sie, wenn ein gebrochenes Herz ihren Bogen führt.“ Ich verstand nicht was er meinte.

Noch nicht.

Auch an diesem Abend spielte ich, der Abend der alles veränderte.

Mein Ziel war es, irgendwann beim Orchestre National de France vorzuspielen und die Menschen mit meiner Musik zu verzaubern, so wie mein Vater es bei mir getan hatte. Doch es sollte nie soweit kommen.

 

Ich habe gerade die ersten Takte von Ravels Sonata gespielt, als es an der Tür kratzt. Ich denke an die ausgehungerte Mathilde, öffne – und finde ein Mädchen am Boden liegen, in einem Meer aus Orangen.

„Was tust du da?“, frage ich, und will schon die Tür wieder zuschlagen.

Man hört ja von allerlei abstrusen Maschen, mit denen sich Diebe Zutritt in fremde Wohnungen verschaffen.

„Na los, hilf mir auf“, antwortet sie.

Nun erkenne ich auch die zerrissene Einkaufstüte in ihren Armen und verstehe.

Sie stellt sich als Danielle vor, ist vor zwei Wochen siebzehn geworden, wie sie mir stolz verkündet, und lebt mit ihrer Tante Beatrice in der Dachwohnung schräg gegenüber. Die darauffolgenden Tage begegne ich ihr immer wieder. Mal im Treppenhaus, mal beim Einkaufen. Wir freunden uns an, wobei ich eigentlich nicht viel dazu beitrage. Sie lädt mich zu sich auf ein Glas Orangensaft ein, zum Dank für meine Hilfe und zur Strafe für die Orangen, während die dicke Beatrice mich argwöhnisch begutachtet.

„Sind Sie derjenige, der immer Geige spielt bis in die Nacht hinein?“

„Cello. Ich spiele Cello.“

„Aha,… und ein Klugscheißer ist er auch noch.“

Sie mochte mich auf Anhieb.

Doch Danielle hielt das nicht ab, im Gegenteil. Sie machte es sich zur Gewohnheit, bei mir aufzukreuzen. Wann immer es an der Tür kratzte, wusste ich, dass es entweder Zeit war, den Thunfisch rauszuholen oder mich auf meine tägliche Dosis Vitamine zu freuen. Ihre grünen Augen, die durch den Türspion lugten als könnte sie etwas von ihrer Seite aus erkennen.

Ihre langen braunen Haare.

Ihr Lächeln.

Und das Glas Orangensaft.

Das war Danielle.

Ob ich wollte oder nicht, ich hatte sie an der Backe.

1988 Herbst

„Spiel für mich, nur einmal.“

Ich schüttele den Kopf. „Ich kann es nicht, Danielle. Ich hab es dir doch gesagt. Es geht nicht.“

„Aber ich höre dich doch immer spielen, wenn ich in meiner Wohnung bin“, schmollt sie.

Ich war müde, es zu erklären. Zumal ich es selbst nicht verstand.

Wenn Danielle bei mir war, konnte ich nie spielen. Obwohl ich den Bogen wie üblich führte, blieb die „traurige Geliebte“ stumm, fast als sei sie eifersüchtig auf das junge Mädchen, das in meiner Wohnküche saß und mich so erwartungsvoll anblickte.

Winter

Der kälteste Winter, den ich je erlebt hatte.

Selbst im nördlichen Toulouse hatte ich nie so gefroren. Die Heizung war kaputt und ich trug drei Pullis übereinander um nicht zu erfrieren.

 

Es ist Weihnachtsabend und ich bin bei Joseph und Manon zu einer Feier in Montreuil eingeladen, Freunden von Danielle. Joseph ist schwarz, humorvoll, mit Rastas. Manon blond und geschwätzig. Sie kichert den ganzen Abend und macht Anspielungen über mich und Danielle.

Ich kann Manon nicht ausstehen. Allein ihre Stimme tut mir in den Ohren weh.

Joseph ist da ruhiger, Saxophonist, Kettenraucher mit breitem Grinsen. Acht Jahre jünger als Manon, und immer ganz cool mit seiner Sonnenbrille und dem Spitzbärtchen, das seine Freundin ihm stets auszureden versucht. Sie verträgt keinen Alkohol, meint Joseph und klopft mir zwinkernd auf die Schulter, als Manon wieder zu nerven anfängt. Ich mag seine entspannte Art.

„Für dich“, sagt Danielle und drückt mir ein Paket in die Hand.

Ich mache so große Augen, dass Joseph zu lachen beginnt.

„Ich hab aber nichts für dich.“

Was mir nun Leid tut, doch ich war noch nie besonders feinfühlig in solchen Dingen.

Sie schüttelt den Kopf. „Nicht schlimm.“ Und lächelt.

Danielles Lächeln ist anders, als alle die ich kenne. Niemals aufgesetzt, dafür immer eine Spur verschmitzt. Sie schenkt mir einen warmen roten Schal.

Selbst gestrickt.

1989 Neujahr

Ich sitze allein in meiner Wohnung und friere. Diesmal sind es vier Pullis.

Und Danielles Schal, dem der Geruch von Orangen anzuhaften scheint.

Draußen heult das Feuerwerk, Menschen grölen.

Ich versuche zu spielen.

Es kratzt. Danielle steht vor der Tür. Ohne Saftglas.

„Ich liebe dich, Clement“, haucht sie, und spielt verstohlen an meinem Schal herum.

Alles wird unwirklich, als hätte jemand angefangen eine unhörbare Melodie zu spielen.

Ich lasse das Cello fallen, das mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden aufschlägt. Doch für den Moment kümmert es mich nicht. Dieser eine Augenblick gehört nur Danielle und mir. Ich streiche ihr die Haare aus dem Gesicht und fühle mich mit einem Mal wie elektrisiert.

Schaue sie ganz genau an. Jede Einzelheit in ihrem Gesicht, das mir so vertraut ist, und doch fremd scheint.

War sie schon immer so schön?

Unsere Lippen berühren sich.

Hände fahren suchend über den Körper des anderen, immer schneller, entschlossener. Wir taumeln gegen meinen Esstisch, treten auf unsere Kleider.

Mein Bett quietscht, als wir darauf fallen wie Betrunkene.

Wir küssen uns.

Lieben uns.

Zum ersten Mal seit vielen Wochen ist mir wieder warm. Sie zieht zu mir rüber.

Beatrice ist nicht begeistert.

März

Ich kann nicht mehr spielen. Gar nicht mehr.

Es treibt mich in den Wahnsinn.

Sobald ich nach dem Bogen greife, überkommt mich ein Zittern.

Ich verliere den Draht zu meinem Vater, zu mir selbst. Was ist schon ein Musiker, der nicht mehr spielen kann?

Ein Nichts.

Danielle tröstet mich, kann mir aber nicht helfen. Wann immer sie die Arme um mich legt und auf mich einredet, macht es mich unglaublich wütend. Wie will sie mich verstehen? Wie will irgendwer mich verstehen, der keine Ahnung davon hat, wie es sich anfühlt, wenn die Melodien einem in den Händen zerfließen und sich zu einem widerlichen Brei verziehen, dass man am liebsten kotzen möchte?

Das Cello liegt neben unserem Bett.

Alles, was mal mein war, ist nun uns. Unser Bett. Unser Kühlschrank. Unsere Wünsche und Pläne. Plötzlich fühlt sich meine Wohnung furchtbar eng an.

Mein ganzes Leben, pardon, unser Leben.

Bis auf die „traurige Geliebte“. Sie ist nur mein.

Manchmal habe ich das Gefühl, das sie uns beobachtet. Immer mehr Nächte liegen Danielle und ich einfach nur nebeneinander, das Gesicht von einander abgewandt. Trotz der Wärme und dem Gewicht ihres Körpers auf der anderen Seite fühle ich mich allein.

Meine Finger wandern über das Bett hinaus und fahren sehnsüchtig über kühles Holz.

Verliere ich den Verstand?

April

Danielle packt ihre Koffer.

„Ich bringe dir doch nur Unglück“, schreit sie. „Du liebst dieses Ding sowieso mehr als mich.“

Schreit und weint und schlägt die Tür hinter sich zu.

Von da an ist sie verschwunden.

Nicht einmal Beatrice weiß, wo sie steckt. Sie wirft mir nur noch finsterere Blicke zu.

Noch in derselben Nacht greife ich zu meinem Cello. Und spiele wie ihm Wahn, bis zum nächsten Morgen.

Die „traurige Geliebte“ singt wieder; schöner als je zuvor. Ihr Klang ist so bezaubernd, dass ich alles andere vergesse. Und ich verstehe. Ich verstehe was mein Vater meinte. Verstehe warum er Mutter, mich, die ganze Welt ausgesperrt hat. Warum er fortging mit einem gebrochenen Herzen und die Frau verließ, die er nie zu lieben aufgehört hatte. Verstehe auf eine abstrakte Art, ohne Gedanken.

Ich fühle es.

Wie es in meinen Adern kocht, meine Finger sich verselbstständigen und der Bogen so sanft über die Seiten gleitet, dass es sich anfühlt, als streiche ich über Seide.

Danach breche ich zusammen.

Meine Finger bluten, aber ich fühle mich so unglaublich lebendig, dass ich anfange zu lachen und zu weinen, bis ich vor Erschöpfung einschlafe.

Mein Herz ist voller Liebe.

1989 Winter

Heiligabend.

Mir ist nicht nach Feiern zumute.

Joseph und Manon haben mir einen Scotch geschickt. Eigentlich ist er nur von Joseph, aber die Karte hat Manon geschrieben, in ihrer pingeligen, verschnörkelten Schrift.

Ich leere die ganze Flasche und schmeiße die Karte in den Müll.

Die brennende Wärme im Rachen tut gut und treibt mir Tränen in die Augen. Der rote Schal ist mittlerweile ausgefranzt und riecht nur noch nach Wolle und Schweiß.

Ich sollte mir bald einen Ofen zulegen. Noch so einen Winter überstehe ich nicht.

Egal.

Die Melodie meines Cellos wärmt besser als alles andere.

Ich hülle mich ein in die Musik, finde Trost, Zuflucht. Und doch.

Sobald ich aufhöre zu spielen, schrumpft mein ganzes Dasein zusammen. Ich habe mir das Knie ausgerenkt bei einem Treppensturz, mein Chef hat mich entlassen. Doch wem soll ich schon davon erzählen, außer meiner Mutter und Mathilde? Und während Erstere mir Vorhaltungen macht und will, dass ich wieder nach Hause ziehe, verschmäht Letztere meine Gesellschaft, seit ich kein Geld mehr für Thunfisch übrig habe.

Ist das ein Leben?

Ich versuche mehr zu spielen, noch mehr.

Doch irgendwann kommt immer der Moment, da die „traurige Geliebte“ verstummt und mich allein zurücklässt, in einer kalten großen Wohnung.

In der Stille.

1990 Frühling

Es ist soweit.

Der Tag auf den ich Jahrelang hingearbeitet habe, ist endlich gekommen.

Das große Vorspiel - und mir ist jetzt schon schlecht.

Was, wenn ich versage?

Wenn sie mich nicht wollen; mein Instrument wieder auf so unerklärliche Weise verstummt und ich dastehe wie ein Idiot?

Ich fahre mit der Metro, auch wenn es nur zwei Stationen sind. Meine Beine tragen mich nicht mehr, fürchte ich. Dann sehe ich sie.

Danielle.

Der Geruch von Orangen verhüllt meine Sinne. Der Geschmack ihrer Lippen. Erinnerungen an Dinge die waren, an liebevolle Blicke und einsame Nächte; Hoffnungen über das was hätte sein können. Angst.

Was tut sie hier? Hat sie Paris gar nicht verlassen und war die ganze Zeit in meiner Nähe, ohne dass ich davon wusste? Mir schwindelt. Ein Stich zwischen die Rippen, so heftig, dass es mir den Atem raubt.

Danielle.

Ihre Haare sind kürzer, doch ihre Augen sind dieselben. Unsere Blicke treffen sich, sie weicht mir aus, will aussteigen, vor mir weglaufen. Ich hinterher.

Nein! Sie darf nicht gehen.

Nicht schon wieder. Bitte!

Danielle.

Immer wieder Danielle.

Mein Innerstes schreit nach ihr, bis sich schließlich auch meine Lippen lösen.

„Ich liebe dich!“, brülle ich Idiot über den Bahnsteig.

Leute lachen, pfeifen, glotzen.

Mein Blick sucht den von Danielle.

Und findet ihn.

Alles löst sich in Wohlgefallen auf.

Das Vorspiel findet ohne mich statt.

 

Am nächsten Morgen werde ich neben ihr wach. Und treffe eine Entscheidung.

Sie muss weg.

Auf der Stelle.

Sie, mein ganz persönlicher Fluch.

Ich muss dem ein Ende machen.

Ich renne los. In Unterhose und Morgenmantel jage ich das leere Treppenhaus hinunter. Stolpere und stoße mir den Zeh, doch zum fluchen bleibt keine Zeit. Im Keller steht sie. Lehnt gegen die Wand, als hätte sie auf mich gewartet. Gekauft habe ich sie, um das Brennholz zu hacken. Für den Ofen. Nun wird sie mir nützlicher sein. Als meine Finger ihren Stiel umfassen, werde ich ganz ruhig.

Es dauert eine Ewigkeit, bis ich wieder oben bin. Stufe für Stufe nähere ich mich meinem Ziel.

Langsam, bedächtig.

Die Tür ächzt, der Boden quietscht, doch im Bett regt sich nichts. Ich schreite darauf zu.

Danielle dreht sich um. Sie ist so schön, wenn sie schläft.

Die Axt schwebt in der Luft.

Unentschlossenheit lässt meine Arme erzittern. Ich kann es nicht. Doch ich muss.

Mein Cello liegt da und starrt mich an.

Jetzt, Clement. Jetzt oder nie!

Die Axt saust hinunter und verrichtet ihren Dienst. Danielle reißt die Augen auf.

Was habe ich bloß getan?

Ein Lachen steigt in mir auf. Mein Leben gehört wieder mir.

Die Frage nach dem Warum ist leicht beantwortet.

Ich tat es aus Liebe.

Anmerkung

 

 

Der Cellist entstand 2011. 

Diese Kurzgeschichte erscheint demnächst, neben vielen anderen wunderbaren Geschichten, in einem Fanzine des Autorenforums Librarius.

In diesem Fanzine finden sich u.a. Geschichten von Mira Bluhm und Carmen Freidinger.

 

Impressum

Texte: Holly Day
Tag der Veröffentlichung: 24.03.2014

Alle Rechte vorbehalten

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