Kapitel 1: Eskaliertes Outing
„Du ist zu ju g, u das zu wissen!", sagte meine Mutter mir, als ich sechs war. Dasselbe sagte sie mir, als ich acht war. Aber mit dreizehn, wo es eigentlich schon zu spät war fast, kam alles anders. Aber es wurde nicht besser. Das Drama ging von da an erst richtig los.
Ich erinnere mich an den dreizehnten Oktober noch sehr gut. Es war dreizehn
Tage nach meinem dreizehnten Geburtstag an einem Freitag. Normalerweise glaubte ich nicht daran, dass Freitag der Dreizehnte wirklich Pech mit sich bringt, in diesem Fall war es aber später so. Ich war laut meiner Mutter schon immer wegen meiner Behinderung, welche ich beim Laufen habe ein Spezialfall. Sie dachte immer, dass ich mich deswegen häufiger zurückziehen würde, wie andere Kinder. Dabei habe ich dies getan, weil sie mich stets in eine Personenrolle packte, welche ich nicht bin. Ich wusste immer genau, was ich sein wollte und wer ich sein wollte. Nur hielt mich meine Mutter für zu jung, um dies zu wissen zuvor, auch wenn ich mich privat wirklich häufig so verhalten habe. Im Beisein von anderen sollte ich mich stets verstellen.
Zufrieden mit meinem Aussehen war ich nie. Ich ekelte mich, wenn ich in den Spiegel schaute immer vor mir selbst und auch, wenn ich duschte oder mich umziehen musste oder mich selbst auf Bildern sah. Ich wollte längere Haare, aber meine Mutter fand, dass ich damit nur hässlich aussehen würde ohne es zu testen und schnitt mir die Haare stets ab. Komplett färben oder mir eine Strähne machen lassen durfte ich mir nicht. Und wenn ich aus dem Fenster sah im Sommer und die drei Töchter der Bürgermeisterin, welche unsere Nachbarin war, in ihren luftigen hübschen Kleidern erblickte, wollte ich ewig schon wissen, wie es sich wohl anfühlt so ein Kleid zu tragen. Schön sieht es ja schon aus, fand ich immer. Aber wenn wir Klamotten kaufen gingen, hieß es von ei er Mutter ja stä dig: „Ei Junge im Kleid, weißt du eigentlich, wie peinlich das rüberkommt?" Also durfte ich es nie ausprobieren.
Gerade schloss ich mich zusammen mit meinem Hund Jack im Zimmer meiner Tante ein. Meine Tante hatte sich gerade von ihrem Exmann getrennt, welcher kurz nach der Trennung ohne Einverständnis des Jugendamts mit deren gemeinsamer Tochter verschwunden ist. Und meine Tante blieb mit dem Sohn zurück. Sie zogen wieder bei meiner Oma und meinem Opa ein, wo meine Mutter und ich leider ebenfalls wohnten. Klar wohnte hier auch mein bester Freund, der Hund Jack, und auch die Hündin Tequila lebte hier, aber Streit gab es durch meinen etwas aggressiven Opa, meinen dementen Uropa und meine Mutter, welche sie teilweise meiner Meinung nach nicht mehr alle hatte, so gut wie jeden Tag. Und meine Oma ist auch nicht gerade die ehrlichste Person gewesen. Ich hatte schon länger das Bedürfnis, eines der Kleider meiner Tante anzuziehen. Nun war der Moment gekommen. Ich öffnete den Kleiderschrank.
Das erste Kleid, welches ich in meinen Händen hielt, war ausgerechnet ihr altes Hochzeitskleid. Meine Tante wäre zwar ohne zu wissen, was ich will, wahrscheinlich nie damit einverstanden gewesen, dass ich ein Kleid anziehe, aber sie musste es ja nicht erfahren, dass ich ihr Hochzeitskleid nachher anziehen würde. Ich wollte zwar nicht heiraten, aber einfach mal ein Kleid anzuziehen, wäre bestimmt schön. Länger warten konnte ich nun nicht mehr. Meine Tante und meine Mutter waren gerade außer Haus und mein Opa war mit Tequila und meiner Oma auf der Terrasse. Ich schlüpfte aus meinen Turnschuhen, meinem Pullover und meiner ich glaube dreckig gewesenen Jeans, um mir meinen weißen Traum zu erfüllen. Ich schlüpfte in den wirklich angenehmen Stoff. Es fühlte sich toll an. Meine kleinen Finger fuhren über den Stoff.
Ich betrachtete mich und drehte mich im Kreis. Ich fühlte mich das erste Mal in meinem Leben wirklich frei
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 27.07.2020
ISBN: 978-3-7487-5159-5
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