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Teil Null: Das Ende beginnt


Es war ein komisches Gefühl, nicht im Mittelpunkt zu stehen. Es war, als ob ich das Geschehen wie ein Zuschauer in einem Theater sehen würde. Ich war nicht der Hauptdarsteller von meinem eigenen Theaterstück des Lebens, sondern sie

war es. Es verwirrter mich mehr, als ich zugeben mochte.
Es war helllichter Tag, als es passierte. Ich saß, so wie immer zu dieser Zeit, auf der Terrasse meines Arbeitszimmers. Die Sonne schien warm auf mein Gesicht, die Vögel sangen und der Wind wehte mir ab und zu eine sanfte Brise entgegen.
„Noch mehr Tee, mein Lord?“
„Nein danke, Eliot. Du kannst aber das Abendessen vorbereiten. Ich habe mir gedacht die Nolans einzuladen.“
„Wie Sie wünschen, mein Lord.“
Mein Butler Eliot, ein hoch gewachsener Mann mit einem sehnigen, schlanken Körperbau, glutroten Augen und sehr hellem blonden Haar, welches fast weiß erschien, verbeugte sich, nahm das Silbertablett wieder an sich auf dem er die blau- weiß verzierte Porzellanteekanne getragen hatte und ging. Er war schon seit meiner Geburt da, denke ich, doch man sah ihm die Jahre nicht an. Er wollte auch mir nicht sagen, wie alt er wirklich war, wenn ich ihn danach fragte. Im Grunde war es mir auch egal. Solange er da war und meine Befehle befolgte, war mir sein Alter irrelevant. So saß ich nun da, ein halb aufgegessenes Schokoladentortenstück auf den reichlich verzierten Porzellanteller und eine ausgetrunkene Tasse Tee daneben. Ich hatte die Augen geschlossen, die Welt färbte sich mir hinter den Augenlidern orange und die Vögel begannen mich langsam in den Schlaf zu singen, als jemand schrie. Zuerst wollte ich nicht nach demjenigen sehen, der so einen spitzen Schrei ausstoßen konnte. Es war sicherlich Rosalba, dachte ich mir. Die Dienstmagd. Sie hatte hoffentlich nur einen Stapel Porzellanteller zerstört. Nun, ich hoffte es für sie. Doch als die Person wieder schrie setze sich mich äußert genervt auf und sah mich um.
„Was ist das für ein Lärm?“
Ich begann mir meine Schläfen zu massieren, um die kommenden Kopfschmerzen zu mildern, bis Noe auf die Terrasse trat. Noe war mein Gärtner und Dienstjunge. Er war etwas jünger als ich, vielleicht fünfzehn, aber sein mentales Alter schätzte ich auf weit jünger. Sechs oder Sieben würde da eher zutreffen. Sein zerzaustes blondes Haar fiel ihm vor die großen, runden moosgrünen Augen. Seine Wangen waren ganz rot vor Erregung.
„M-Master! D-Da ist ein Mädchen!“
„Na und?“
„Sie schreit wie am Spieß, Master. S-Sie-“
„Nun hör schon auf zu stottern, Noe! So schlimm kann es ja wohl nicht sein.“
„Bitte, Master. S-Sie verlang nach Ihnen!“
Langsam wandte ich meinen Blick zu ihm und verengte die Augen.
„Nach mir?“
„Ja, Master.“
„... Ich komme.“
Noe’s Augen leuchteten kurz auf, bevor er nickte, sich umdrehte und wieder durch die Terrassentür verschwand. Resigniert stand ich auf, streckte mich und ging gemächlich in Richtung der großen Eichentür, die auf den Flur führte. So schlimm konnte es ja nun nicht sein. Ich hatte mich leider geirrt.
Im Foyer lag ein verwundetes Mädchen. Sie sah ganz anders aus, als ich es erwartet hatte. Ihr Haar war rabenschwarz und ihre Haut so weiß wie der Morgennebel. Die kirschroten Lippen waren auf einander gepresst und ihre Stirn glänzte durch den Schweiß. Noe kniete neben ihr, zusammen mit Rosalba. Beide schienen mit der Situation mehr als überfordert.
„Meister,“ schluchzte das Dienstmädchen los und versuchte die Tränen der Angst mit ihren Rüschen bedeckten Ärmel wegzuwischen.
„Nun? Was is-“
Ich brach ab. Das Mädchen vor mir hatte eine riesige Wunde in der Brust, aus der unaufhörlich, so schien es, Blut floss.
„Eliot?!!“

„Eliot ist Verbandszeug holen, Master.“
Noe schniefte und strich dem Mädchen fürsorglich eine Strähne aus dem Gesicht, während Rosa mit ihrem Kittel ihr den Schweiß von der Stirn tupfte. Die dunkelbraunen Augen, die mir fast schwarz erschienen, starrten mich an. Sie verunsicherte mich sehr. Sie schien so... Ich wusste auch nicht, wie man es nannte, aber es schien, als ob sie wüsste, dass sie nicht sterben würde. Für sie war es einfach nur von Belangen, die Schmerzen in den Griff zu bekommen. Meine Schritte hallten im Raum, als ich über den Marmorboden zu ihr ging. Noe und Rosalba machten schnell Platz, wichen aber dem verwundeten Gast nicht von der Seite. Ich kniete mich hin, berührte sie jedoch nicht. Meine Augen lagen auf ihrem Gesicht, welches sie zu einer Maske der Abscheu werden lies. Zuerst verlange sie nach mir und dann schien sie mich zu verabscheuen? Aber ich bemerkte schnell, dass der Blick nicht mir galt, sondern Eliot, der sich neben mich gehockt hatte und anfing, die Wunde des Mädchens zu bearbeiten.
„Wird sie es überleben, Eliot?“
„Natürlich, Rosalba. Die Wunde ist nicht so tief.“
„Sagt derjenige, der mich gerade sehr unsanft verbindet,“ zischte das Mädchen zwischen den zusammen gepressten Zähnen. Eliot erwiderte nichts, doch ich wusste, dass ihm etwas auf der Zunge lag.
„Fertig.“
„Wie hast du dir denn die Wunde geholt?“
„Und wie heißt du?“
„Und wieso bist hier hergekommen?“
„Wohnst du hier in der Nähe?“
„Noe! Rosalba! Hört auf das Mädchen mit Fragen zu durchlöchern.“
„Ja, Master,“ erwiderten beide im Chor, standen langsam auf, um dem Mädchen auf die Beine zu helfen. Ich hätte erwartet, dass sie vor Schmerzen aufschrie, doch nichts der Gleichen geschah. Sie stand tapfer auf, hielt sich sogar sehr gut auf ihren eigenen zwei Beinen. Noe bestand aber trotzdem darauf, sie zu stützen.
„Möchtest du etwas trinken?“ Rosa rieb sich Hände kurz am Kittel ab und rückte sich ihre Rüschenhaube zurecht. Das Mädchen nickte.
„Gerne.“
„Wasser? Tee?“
„Wasser wäre perfekt. Danke schön.“
Rosalbas Augen füllten sich mit purer Freude und sie eilte sofort davon in die Küche.
„Begleite sie Eliot, ich kann kein weiteres zerbrochenes Porzellanservies gebrauchen.“
Ein zaghaftes, kaum merkliches Lächeln umspielte seine Lippen, bevor auf dem Absatz kehrt machte und Rosa gelassen folgte. Unschlüssig blieben Noe und das Mädchen zurück. Ich beäugte sie immer noch. Ich hatte solch ein Mädchen noch nie gesehen. Diese schwarzen Haare und diese dunklen, abgrundtiefen Augen.
„Du kommst nicht von hier.“
Sie antwortete nicht. Sie hatte wohl gemerkt, dass es keine Frage, sondern eine Feststellung war.
„Wie heißt du?“
„Ich habe keinen Namen, Sir.“
Überrascht zog ich die Augenbrauen hoch.
„Keinen Namen? Nun gut. Wie nennt man dich?“
„Leora, Sir.“
„I-Ich bin Noe, Leora.“
Noe grinste sie glücklich an. Seine Wangen waren in einem leichten Rotton gefärbt. Sie lächelte freundlich, aber zurückhaltend zurück.
„Es freut mich Noe.“
Dieser fing an dauerhaft zu grinsen. Bei dem Anblick konnte ich mir ein Augenverdrehen nicht verkneifen, doch es verging mir, als ich das Gesicht von Leora sah. Sie hatte Schmerzen und ihre Beine zitterten immer mehr.
„Noe, bring sie in mein Zimmer. Sie kann sich dort ausruhen.“
Noe nickte schnell und ging langsam mit Leora los.
„Das Bett des Masters ist sehr weich und gemütlich. Es wird dir bald besser gehen, Leora!“
Ich blieb so lange in der Vorhalle stehen, bis ich Noe’s Gebrabbel nicht mehr hören konnte und Leoras Schritte verklungen war. Dann folgte ich Eliot in die Küche, wo verräterischer Rauch unter dem Tischschlitz hervor quoll. Langsam stieß ich die Tür auf. Die Küche stand nicht in Brand, gut. Doch der Herd wurde von Flammen verzerrt und Rosa versuchte mit einem Lappen die Flammen zu ersticken.
„Aaaah! OhmeinGott, ohmeinGott, ohmeinGott! Was ist, wenn der junge Herr das hier sieht?! AAHH!“
Panisch wedelte sie noch mehr mit dem Lappen rum, was das Feuer nur größer machte und den Raum noch stickiger. Eliot stand einige Meter hinter Rosa, schüttelte den Kopf und ging schnell zum Fenster, um es zu öffnen. Sofort zog der Rauch ab und Eliot machte sich daran, Rosalba vom Herd wegzubewegen, um das Feuer anständig zu löschen. Ich räusperte mich. Das Dienstmädchen drehte sich schockiert um.
„M-Master! I-I-Ich...“
„Ich dachte, Leora wollte Wasser und keinen Tee?“
Langsam ging ich in die Küche, nahm mir ein Glas aus dem Regal und füllte es mit dem kühlen Wasser aus der Leitung.
„I-i-i-ich ha-hatte gedacht, d-d-d-dass T-tee vielleicht b-besser wäre, Sir.“
„Aha.“
Ich drehte das Glas kurz herum, bevor ich Eliot damit beauftragte, die Küche zusammen mit Rosa aufzuräumen. Er erwiderte mit einem halben Lächeln, dass es wohl sicherer für uns alle wäre, wenn Rosalba einfach nur zusehen würde. Ich musste ihm wieder einmal Recht geben. In den vergangenen drei Monaten habe ich mehr Geld für Renovierungen, Porzellanservies’ und Möbel ausgegeben, als auf irgendetwas anderes. Ich wage sogar zu behaupten, dass ich im letzten Monat mehr ausgegeben habe, als meine Cousine Allison für Kleider! Und das soll schon was heißen.
Die Treppen knarrten etwas, als ich auf ihnen zum zweiten Stock ging. Dabei musste ich an ein großes Wandgemälde vorbei. Es zeigte meinen Vater in seinem Sessel. Neben ihm stand meine Mutter, die mich im Arm hielt. Ich verharrte einige Sekunden, um es besser in Augenschein zu nehmen. Seid dem Tod meiner Eltern habe ich es nicht mehr wirklich betrachtet. Es bringt zu viel Hass und Abscheu in mir hervor, als das ich es länger ansehen will. Während ich zu meinen Eltern hochsah, die arrogant und hochnäsig gerade aussahen, beschloss ich, das Bild abhängen zu lassen. Ein neues Bild kann da seinen Platz finden- vielleicht ein Portrait von mir? Von weiten hörte ich schon Noes aufgeregte, viel zu laute Stimme. Meine Mundwinkel zogen sich sofort nach unten, als ich die Tür erreichte und ich sie aufstieß. Das Mädchen Leora hatte sich auf mein Bett gesetzt und kicherte leise über etwas was Noe ihr gerade erzählt hatte. Er stand vor ihr und veranschaulichte seine Worte mit theatralischen Handbewegungen.
„Ich bringe das Wasser.“
Schnell, wie ein geölter Blitz, drehte sich Noe um.
„Ah! Master! Ich habe Leora gerade vo-“
„Interessiert mich nicht, Noe,“ zickte ich ihn an und reichte Leora das Wasser.
„Ich bin nur hier, um dem Mädchen etwas zu trinken zu geben. Rosalba hat wieder die Küche in Brand gesteckt.“
Noe legte den Kopf schief und runzelte die Stirn.
„Aber wie kann sie denn die Küche in Brand stecken, wenn sie den Herd gar nicht benutzen musste?“
„Hat sie aber anscheinend, Noe. Nachdenken.“
Mein Dienstjunge senkte den Kopf beschämend und nickte.
„Ja, Sir.“
Leora trank schweigend ihr Glas Wasser, aber ich konnte in ihren Augen lesen, dass es ihr nicht gefiel, wie ich mit Noe umging. Tja. Ihr Pech.
„Wie heißt du?“
Noe drehte sich zu Leora um. Mit seiner Hand tat er so, als ob er sich die Kehle durchschneiden würde, was wohl für sie heißen sollte, dass es eine nicht sehr angebrachte Frage war. Was ja auch stimmte.
„Belanglos. Aber du könntest danke sagen.“
„Zu wem? Und vor allem. Für was? Ist es nicht normal, dass man Menschen in Not hilft?“
„Nun, nein. Zuerst fragt man nach Hilfe und dann bekommt man sie- eventuell.“
„Du hättest mich also in deinem Foyer verbluten lassen?“
„Nein. Ich hätte dich vor meinem Anwesen verbluten lassen, aber irgendein Schwachkopf hat dich ja rein gelassen.“
„Noe ist kein Schwachkopf.“
„Darüber könnten wir nun weiter diskutieren, aber ich bin nicht in der Stimmung eine sinnlose Diskussion fortzuführen.“
„Ich weiß. Du willst dich lieber wieder auf deine sonnige Terrasse setzte, Tee schlürfen und so tun, als ob nichts wäre.“
„Ich schlürfe nicht,“ murmelte ich beleidigt und rümpfte meine Nase.
„Oh, pardon. Du trinkst. Verzeihung. Es ist ja so ein großer Unterschied,“ gab sie ziemlich ironisch zurück.
„Jetzt geht’s los.“
Noe setzte sich mit einem eher verzweifelten Gesichtsausdruck auf mein Bett und stützte das Gesicht in den Händen. Er wusste wohl, dass jetzt wieder ein Vortrag von mir kam. Ich konnte es halt nicht leiden, wenn ein Mensch, besonders Frauen, ihren Platz in der Gesellschaft nicht wussten. Vor allem hatte sie keinerlei Gründe mich zu belehren. Ich sollte eher sie belehren. Was ich darauf hin auch tat.
„Es ist ein Unterschied, Mädchen,“ begann ich und fing an dramatisch auf und ab zu gehen.
„Du musst wissen, wenn du schlürfst zeigt es allen, dass du schlecht Erzogen wurdest. Dein Ansehen wird somit weiter in den Keller sinken und du befleckst den Ruf deiner Familie mit Schande.“
„Und das alles, weil man schlürft?“
„Natürlich.“
Ich sah sie aus verengten Augen an.
„Aber so eine wie du kann das natürlich nicht wissen.“
„So eine wie ich?“ fragte sie empört und ihre schon eher hohe Stimme schaffte es, zwei Oktaven auf der Tonleider höher zu klettern.
„Was willst du damit sagen?“
„Ich möchte damit sagen, dass du wahrscheinlich vom niedrigen Rang bis.“
Noe murmelte etwas und tätschelte beruhigend Leoras Hand. Diese sah nämlich so aus, als ob sie mir an den Hals springen würde. Ich konnte mir darüber ein Schmunzeln nicht verkneifen. Wie oft habe ich diesen Ausdruck in den Augen von vielen anderen schon gesehen? Mehr als hundert Mal. Aber es macht mir nichts aus. So sehr sie mich auch umbringen wollen, so sehr sind sie auch an die Regeln der Monarchie gebunden. Ich stehe unter der Königin, ich bin ihre rechte Hand, so will man meinen. Mein angeblicher Tod, so gut man ihn planen möge, wäre eine Kriegserklärung an die Königin. Gut, so hart sollte man es nicht sehen, aber es wäre schon fatal für denjenigen. Außerdem hatte ich noch Eliot...
„Da wir das jetzt geklärt hätten, kann ich ja wieder gehen. Ich schlage vor, du gehst bald wieder. Das hier nichts für dich, Mädchen.“
„Ich habe einen Namen,“ zischte sie und kreuzte die Arme vor ihrer, wenn ich so sagen darf, nicht sehr entwickelten Brust. Ehrlich jetzt, was hatte sie? Körbchengröße A?
„Ich weiß. Ich will ihn nur nicht sagen.“
Ich hätte nicht gedacht, dass der Hass in ihren Augen stärker werden könnte, doch sie schaffte es irgendwie.
„Ich weiß gar nicht mehr, wieso ich hierher gekommen bin,“ murmelte Leora leise, als ich ihr den Rücken zugewandt hatte und zur Tür ging. Und ich wusste nicht mehr, wieso ich ihr mein Bett angeboten hatte. Jetzt musste ich in einem Gästezimmer schlafen- Bäh.

„Sag’ den Nolans ab, Eliot.“
„Wie Sie wünschen, doch wieso?“
„Ich mach mich doch nicht mit dem Mädchen in meinem Haus lächerlich! Ich wette, sie kennt nicht einmal den Unterschied von dem Brotmesser und dem normalen Messer...“
„Ich verstehe.“
„Die Nolans werden schon nichts dagegen haben. Aber du kannst ihnen gerne einen Ersatztermin geben.“
„Welcher Tag?“
„Such’ dir einen aus.“
„Ja, mein Lord.“
Eliot verbeugte sich, bevor er rückwärts aus dem Raum ging. Ich trommelte, sobald er aus dem Arbeitszimmer war, nervös mit den Fingern auf den dunklen Eichentisch, der mir als Schreibtisch diente. Dieses Mädchen... Was sollte ich nur tun? Rausschmeißen ging nicht mehr. Wenn jemand den ich kannte, davon erfuhr, dass ich ein scheinbar hilfloses Mädchen aus meinem Hause warf, wäre mein Ruf zerstört. Nein, es musste eine andere Idee her, obwohl es wirklich verlockend war, sie einfach in eine Kutsche in die nächste Stadt schicken zu lassen.

Abendessen. Wir saßen uns gegenüber. Ihre Augen sahen mich nicht einmal an. Ich sprach sie nicht an. Also, war es eigentlich ganz friedlich, bis auf das unaufhörliche Kichern von Noe, wenn Leora ihn einen Blick zu warf. Ich forderte meine Angestellten immer auf im gleichen Zimmer wie ich zu sein, wenn ich aß. Aus Höflichkeit mir gegenüber, versteht sich. Sie standen dann an der Wand, die Hände hinter den Rücken verschränkt und sollten still sein. Doch Noe’s Gekicher und Rosalbas wirklich alles andere als unauffälligen Blicke in Eliots Richtung, der neben mir stand, waren nicht das, was ich mir von einem friedlichen Abendessen erhofft hatte. Meine Hand verstreifte sich um die silberne Gabel, die ich gerade in einen sehr leckeren Haufen von Salatblättern mit Tomaten, Gurken und Pilzen gerammt hatte. Diese...
„Sag, woher kommst du, Mädchen?“
„Ich spreche nicht mit dir, solange du dich weigerst meinen Namen auszusprechen.“
„Ich kann dich auch rausschmeißen, Mädchen,“ entgegnete ich knurrend. Leora lachte nur kurz auf.
„Du würdest es nicht wagen. Ich weiß jetzt, wie wichtig dir dein Ansehen ist. Ich könnte doch zu Jemanden gehen und dich verpetzen?“
Ich schwieg genervt und auch, ja ich gebe es zu, ertappt. Sofort senkte ich meinen Blick und stocherte in dem Salat um. Kein Hunger.
„Sag’ es ihm doch einfach, Leo,“ sprach Noe unaufgefordert. Er grinste breit und Leora rümpfte kurz die Nase, doch dann sprach sie.
„Ich habe es vergessen,“ erklärte sie kühl. „Ich weiß nicht, woher ich komme oder wieso ich hierher gekommen bin. Ich bin mit der Wunde auf einer Landstraße aufgewacht und habe dieses Haus gesehen.“
„Villa.“
„Was?“
Ich hob den Kopf und sah sie an.
„Das ist eine Villa.“
„Du arroganter, egoistischer Schnösel!“ Leora sprang auf und ihr Gesicht färbte sich rot vor Empörung. Ihre Stimme war wieder um unbestimmte Oktaven hochgeklettert und ich hätte schwören können, dass mein Glas einen Sprung bekam.
„Bitte beherrschen Sie sich, Fräulein Leora.“
Eliot lächelte sanft und bedeutete dem Mädchen mit einer Handbewegung sich wieder zu setzten. Sie gehorchte widerwillig, dass konnte ich an ihrem Gesicht sehen.
„Mein Master mag vieles sein, doch ein Schnösel ist er nicht.“
Das lies mich aufhorchen. Langsam, aber bedacht, sah ich Eliot an und durchbohrte ihn mit meinem Blick. Hieß das etwa, dass er mich für arrogant und egoistisch hielt?!
„Nun, zurück zu dir, Mädchen.“
Ich faltete die Hände und lächelte sie, so wie ich hoffte, interessiert aber nicht zu neugierig an.
„Du hast gesagt, du erinnerst dich an gar nichts? Das ist... interessant.“
Leora sagte nichts.
„Ich schlage vor, du bleibst doch hier.“
„Niemals. Ich werde bei Morgengrauen abhauen und deinen Ruf in die Tiefen des Tartarus stoßen.“
„Nun, ich werde dich kaum gehen lassen.“
Leoras Ausdruck in den Augen verdüsterte sich.
„Dann werde ich wohl nachts aus dem Fenster klettern müssen.“
„Ich würde es nicht versuchen.“
„Wieso?“
„Nun, im Gegensatz zu mir, schläft Eliot wirklich wenig und das auch nicht besonders tief.“
Leoras Blick wich kurz zu Eliot ab, der sie sanft anlächelte.
„Du willst deinen Butler auf mich hetzen?“
„Natürlich.“
Das verschlug Leora die Sprache deutlich die Sprache und sie starrte mich an.
„So weit würdest du also gehen?“
Ich lachte kurz, bevor der frisch aussehende Salat Bekanntschaft mit meinem Mund machte. Ich kaute kurz, bevor ich die Gabeln niederlegte.
„Ja.“
„Nun, dann muss ich wohl bleiben.“
„Braves Mädchen.“
Leora schoss mir einen feindseligen Blick zu, bevor sie tief einatmete, sich beruhigte und die Augen kurz schloss.
„Wie heißt du überhaupt? Du hast es mir nicht gesagt, aber da ich ja jetzt hier bleiben muss, werde ich es wissen müssen.“
„... Es wäre besser, wenn du das nicht wüsstest, Mädchen.“
„Im Gegensatz zu mir würde ich dich nicht immer Bursche nennen.“
„Du hast mich noch nie Bursche genannt.“
„Ich werde aber gleich damit anfangen... Bursche.“
Ich presste die Lippen fest aufeinander. Ich hasste es, wenn man mich Bursche nannte.
„Du kannst mich Master Sankerds nennen.“
„Vorname. Ich will dich duzen.“
„Was du willst ist mir aber immer noch herzlich egal, falls es dir nicht aufgefallen ist. Außerdem ist das nicht angemessen..“
„Genauso wenig, wie, dass du mich Mädchen nennst. Also?“
„Aber wir sind nie im Leben gleichgestellt!“
„Natürlich sind wir das, Bursche.“
Leora lächelte siegessicher und warf ihr Haar über die Schulter.
„Wir sind doch alle Kinder Gottes.“
Ich verengte die Augen kurz. Mist.
„Wenn ich dich L-“
Ich holte tief Luft. Es widerstrebte mir sehr, ihren Namen zu sagen. Zu sehr.
„Leora,“ erinnerte sie mich und lächelte weiter.
„Hmpf. Ich weiß. Also, wenn ich dich Leora nenne, dann nennst du mich also Master Sankerds?“
„Ja, wenn es sein muss.“
„Gut, dann haben wir einen Deal, Leora.“
„Freut mich, Master Sankerds. Wenn ich sagen darf, es ist ein sehr außergewöhnlicher Name.“
„... Danke?“
Ich runzelte etwas verwirrt die Stirn und entlockte somit Leora ein Lachen. Es war kein schadenfrohes Lachen oder ein bitteres Lachen. Es war ein... fröhliches Lachen, was mich nur noch mehr verwirrte.
„Nun, danke für das Essen, ich ziehe mich zurück.“
Sie schob den Stuhl zurück, verbeugte sich kurz um sich danach aus dem Esssaal zu begeben. Eliot, Rosalba, Noe und ich sahen auf ihren Teller. Er war voll und weder Gabel und Messer wurden angerührt.


Teil eins: Wer gefunden darf behalten.
„Und wieso sind wir jetzt noch einmal hier?“
„Damit wir für dich etwas Passendes finden.“
„Passend für was oder für wen?“
„Für mich.“
„Sehe ich denn nicht passend aus?“
„Würde ich sonst für dich über hundert Pounds ausgeben?“
„Wahrscheinlich nicht.“
„Also, ich würde vorschlagen du gehst zu dieser Frau dort und fragst nach, was dir passen würde.“
„Ja, Sir.“
„Master.“
„Mir egal.“
Damit machte sich Leora zu der Frau auf, die offensichtlich die Besitzerin dieses Kleiderlandes war. Diese empfing sie lächelnd, nickte, als Leora ihr die Situation erklärte und führte sie zu den Umkleiden. Danach holte sie einen Stapel Kleider und reichte sie in die besagte Umkleide. Leora tat mir jetzt schon Leid. All die Kleider. Ich lachte etwas, setze mich auf einen gepolsterten Hocker und wartete. Eliot stand brav und höflich neben mir. Nach einer Weile kam Leora aus der Umkleide. Ihr Körper war in ein blaues Gewand gehüllt. Rüschen verzierten den Saum und die Ärmel. Um die Taille war ein blaues Band in einer Nuance dunkler, als das Kleid. Ihre Wangen waren rot, ich denke vor Scham.
„U-Und?“
„Und was?“
„Wie sehe ich aus, Sir?“
„Immer noch Master und es sieht gut an dir aus.“
„Die Farbe passt hervorragend zu Ihren schwarzen Haare, Fräulein Leora,“ meldete sich Eliot zu Wort. Das Mädchen wurde etwas röter und sah weg.
„Nächstes Kleid,“ kommandierte ich und schlug die Beine übereinander. Leora sah mich an, bevor sie geschwind in der Umkleide verschwand. Die Besitzerin lächelte mich die ganze Zeit übertrieben höflich an. Pah. Dafür würde sie sicherlich kein Trinkgeld bekommen... Sie fragte nicht einmal nach-
„Wollen Sie etwas trinken, Sir?“
Ich schmunzelte. Ach, jetzt wollte sie mir was anbieten? Etwas spät. Für das 'Sir' würde ich vielleicht sogar etwas weniger Geld geben.
„Ein Glas Wasser, ja. Eliot?“
„Nichts, Master.“
„Nur ein Glas Wasser, dann.“
Die Frau verbeugte sich und verschwand hinter einem Vorhang. Sobald sie dies getan hatte, wandte ich mich an Eliot. Dieser sah mit einem scheinheiligen Lächeln zu mir.
„Was ist passiert?“
„Wann, Master?“
„Zwischen Leoras Auftauchen und jetzt. Sie hat dich ziemlich verhasst angesehen, als du sie behandelt hast.“
„Nun, Noe hat sie in Ihr Zimmer gebracht. Ich würde schätzen siebzehn Minuten danach. Da-“
„Nein, dass meine ich nicht.“
„Nun, dass weiß ich, Master.“
Ich verengte die Augen wütend und Eliot lachte.
„Aber, aber. Hören Sie auf so zu schauen, Master.“
Er räusperte sich und fuhr fort.
„Ich habe Leora deswegen natürlich konfrontiert. Sie sagte mir, sie habe etwas gegen höllisch gute Butler.“
Ich wurde hellhörig.
„Ah, sie weiß es?“
„Was, Master?“
„Was du bist?“
„Nein, dass nicht. Ich sollte doch in der Lage sein, meine wahre Identität vor jemanden wie Miss Leora verbergen zu können.“
Er schmunzelte und rückte seine blutrote Krawatte zurecht. Ich schüttelte amüsiert den Kopf, lehnte mich zurück. Im Laufe von den nächsten dreißig Minuten schaffte es Leora uns zwei weitere Kleider vorzustellen:
Ein Abendkleid. Üppig, mit vielen Rüschen und Verzierungen. Und pink. Sie mochte es nicht, ich auch nicht. Eliot sagte nichts, aber seine Augen blitzen angewidert auf. Aber was sollte ich tun? Das Wasser schmeckte mehlig, ich wollte keine weitere Minute in diesen Laden sitzen und Leora brauchte ein Abendkleid. Danach zog sie etwas an, was mir gefiel. Damit konnte es sich leben lassen.
Dienstmagdoutfit. Es war schwarz, hatte eine blütenweiße Rüschenschürze und ihre Handgelenke waren verziert mit ebenso russschwarzen Handschuhen mit lockeren, weißen Manschetten.
Nicht, dass ich Dienstmagdoutfits besonders anstrebend fand oder hübsch, aber sie musste sich ihre Unterkunft schon erarbeiten. Leora zupfte etwas, an dem knappen Kleid rum und richtete sich ihre Haube zurrecht.
„Sind Sie sicher, Sir?“
„Master,“ knurrte ich und stand auf.
„Und ja, alles Bestens. Nun lass uns gehen.“
Unsicher kam die Besitzerin hervor. Sie rieb sich gierig die Hände und senkte den Kopf unterwürfig.
„D-Die Bezahlung, S-Sir?“
Ich verzog mein Gesicht etwas.
„Ach ja. Eliot?“
Eliot trat neben mich und reichte der Dame einen Beutel.
„Das Restgeld können sie behalten.“
Weil es keins gibt, dachte ich im Gedanken noch abschätzig hinzu, als ich den hoffnungsvollen Blick der älterlichen Frau sah.
Die Frau nickte immer wieder und drückte den Beutel an sich.
„Einen schönen Tag, wünsch ich Ihnen, Sir.“
Master, dachte ich wieder und ging aus dem Laden. Eine kleine Messingglocke über mir ertönte in einem feinen Klang und erschallte wieder, als Eliot zusammen mit Leora aus der Tür kam. Natürlich trug Eliot alles. Ich habe mir gedacht, dass Leora ihren einzigen freien Tag genießen sollte, bevor sie zusammen mit Rosa arbeitete. Und zusammen mit Rosa zu arbeiten wäre schon eine Strafe genug.
„Wohin jetzt?“
„Essen.“
„Ich habe aber keinen Hunger.“
„Das interessiert mich aber herzlich wenig, Leora.“
„Hmpf.“
„Wo wollt Ihr den speisen, Master?“
„Etwas Italienisches.“
„Darf ich mit?“
„Ich lass dich sicherlich nicht frei rumlaufen.“
„Was soll das denn heißen?!?“ konterte Leora schrill und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Dass du eine Gefahr für alle bist,“ antwortete ich lächelnd.
„Ach, ich bin eine Gefahr für alle, aber du mit deiner abgehobelten, arroganten Art nicht?!“
„Nein. Und jetzt komm, ich habe Hunger.“
Eliot lächelte mich ergeben an, bevor er sich schon auf dem Weg zu einem Restaurant machte. Ich folgte ihm und Leora sollte mir folgen. Tat sie aber, überraschender Weise (ich hoffe man bemerkt die Ironie), nicht.
„Leora?“
„Ich esse keine Spagetti.“
Ich gab ihr meinen berühmten Das- interessiert- mich- noch- weniger- als- deine- Lebensgeschichte- Blick und sie schenkte mir dafür ein Pech- gehabt- Blick.
„Eliot?“ knurrte ich und drehte ihr meinen Rücken zu. Mein Butler blieb stehen, sah mich etwas fragend an. Ich nickte in Leoras Richtung und ging einfach weiter. Ich hörte schon, wie sie ihren Mund öffnete, doch schneller als ein Blitz stand Eliot hinter ihr, legte ihr eine Hand auf den Mund und warf sie sich über die Schulter. Sie strampelte hilflos mit den Beinen- auch das hörte ich, denn ich wollte mir nicht eingestehen, dass ich etwas nach hinten linste, um zu sehen, was Eliot mit ihr tat. Dieser sah mich weiterhin fragend an, bevor ich zufrieden nickte und weiter ging. Leora gab den ganzen Weg hin nur noch murmelnde Geräusche von sich. Herrlich, diese halbe Stille. Die Menschen marschierten an uns vorbei, ihre Gesichter zu Boden gerichtet. Kutschen preschten über die holprigen Straßen. Ich hätte auch in einer sitzen könne, fiel mir dann ein. Aber dann dachte ich auch, dass es unsinnig wäre nur einmal um den Block zu fahren. Mein Lieblingsitaliener, der Giovanni DaMario gehörte, war genauso wie sein Besitzer: Groß, altmodisch und freundlich. Außerdem gefiel mir DaMarios gegenüber der Monarchie: reiche Gäste ließ gut bedienen und die weniger Reichen mussten manchmal eine gute Stunde warten, um überhaupt ihre Bestellung abgeben zu können. Ein hoch auf das Geld und die heute Gesellschaft!
„Ah, Senior Skanders, was für eine Freude Sie zu sehen.“
Die größte Betonung lag bei jedem zweiten Wort, welches Giovanni aussprach. Man gewöhnte sich nach einiger Zeit dran. Eliot setze die zappelnde Leora langsam ab, die hand jedoch immer noch vor ihrem Mund. Ihre Wut hätte in dem Moment meiner Meinung nach nicht größer sein können.
„Giovanni, wie schön zu sehen, dass Sie noch ganz der Alte sind. Haben Sie einen Platz für drei?“
„Aber für Sie doch immer, Senior Skanders. Bene, bene. Folgen Sie mir.“
Höchstpersönlich begleitete uns der Geschäftsführer zu einem runden Tisch in einer ruhigen Ecke, wo außer uns keiner mehr saß. Der Oberkellner zog schon den Stuhl zurück, ich ließ mich seufzend darauf nieder. Dann gab ich Eliot das Zeichen, dass er sich mit Leora ebenfalls setzen durfte.
„Das Gleich wie immer, Master?“ fragte der Oberkellner, der ohne Frage zu viel Rüschen am Kragen hatte, und ich nickte.
„Und für Sie, Madame?“
„Ich? Ach, ich nehm-“
„Sie nimmt nichts. Alles andere wäre auch nur die pure Verschwendung.“
Zuerst etwas irritiert wegen meiner harten Worte, aber dann nickend verschwand er im Nebenraum, wo die nicht speziellen Gäste aßen. Leora hatte wohl gelernt mir nicht zu widersprechen, denn sie hielt ihren Mund. Trotzdem vernahm ich einen nicht zu sanften Stoß gegen mein linkes Bein. Fragend sah ich sie an.
„Was willst du mir damit sagen?“
„Mit was?“ entgegnete sie zuckersüß, doch ihre Augen sagten das Gegenteil aus. Nichts war zuckersüß und friedlich. Zu allem Überfluss blinzelte sie noch kokett, bevor sie sich die Serviette schnappte und sie auf ihren Schoss legte.
„Mit dem Beinstoß.“
„Ach der. Tut mir Leid. Ich bin ausgerutscht.“
Ich wusste nicht ganz, was sie tat, oder versuchte zu tun, aber sie presste ihre Kiefer aufeinander und verengte die Augen in meine Richtung. Nett sah sie nicht aus.
„Ach so,“ meinte ich trotz alle dem und schenkte nun Eliot meine Aufmerksamkeit.
„Und? Schon etwas Neues gehört, Eliot?“
Mein Diener schüttelte den Kopf. Ein Lächeln machte sich auf seinen Lippen breit.
„Nein, Master. Alles scheint friedlich zu sein.“
Doch Eliot hatte sich geirrt, wie ich später feststellen musste. Nichts war zuckersüß und friedlich, wie schon Leoras Ausdruck in den Augen. Es war das erste Mal, dass mein Butler sich geirrt hatte und das beunruhigte mich später. Aber in diesem Moment hatte ich wirklich nur das Gefühl, dass Leben zu genießen. Aber man konnte das Leben nicht genießen, wenn das eigene Ende so nahe war. Nein, Gott würde es nicht zulassen, dass man sich auf die faule Haut legen würde. Und so kam es, dass unsere Pizza dampfend auf unserem Tisch abgestellt wurde und Mister DaMario uns, wohl eher mich, schmalzig anlächelte.
„Lassen Sie es sich schmecken, Master Skanders.“
„Hm.“
Eliot nickte dem dicken Mann zu. Dieser runzelte die Stirn, bevor er sich etwas verbeugte und sich aus dem Staub machte. Tse. Besser so. Leora nahm Messer und Gabel in die Hand und lächelte uns an.
„Guten Appetit alle zusammen.“
„Was denkst du tust du da, Leora?“
„... Essen?“
„Aber du hattest doch keinen Hunger.“
„Das heißt, ich darf nichts essen?“
„Genau.“
„Aber das ist eine riesige Pizza!“
Vorwurfsvoll sah sie auf die 20 cm Durchmesser Pizza belegt mit Salami, Champignons, Spinat und frischen Tomaten. Ach, und extra Käse.
„Ja und? Eliot hat auch Hunger.“
Skeptisch sah sie meinen Butler an, der ihr freundlich entgegen lächelte, doch in seinen Augen blitze etwas Diabolisches auf. Schadenfreude?
Man sollte dazu vielleicht wissen, dass Eliot Pizza liebt. Über alles. Ich weiß nicht, was an einer Pizza mit allem, ohne Schafskäse, Ananas etc außerordentlichgut sein soll, aber wenn es ihm gefällt...
„Lass es dir schmecken, Eliot.“
„Danke, Master.“
„Wie jetzt?! Er bekommt die ganze Pizza?“
„Ja?“
Beide sahen wir sie überrascht an. Das war doch wohl zu erwarten, oder?
„O-Oh...“
Sofort legte sie Messer und Gabel nieder, verschränkte die Arme vor der Brust und sah Eliot mit mehr hungrigen Augen an, als sonst etwas, was sich sonst in ihren Augen spiegelte: Hass, Verachtung, Skepsis oder Misstrauen.
Und dann legte Eliot los. Zuerst langsam, wie ich ihn kannte. Ein kleines Stück nach dem anderen. Und dann riss er die Pizza nur noch auseinander, schob sich sogar fast zwei Stück Pizza gleichzeitig in den Mund.
„Und du sagst ich hätte schlechte Manieren?“
„Wann habe ich das je behauptet, Leora?“
„Nachdem ich meinen Teller nicht aufgegessen habe gestern Abend.“
„Hm. Daran erinnere ich mich nicht.“
„Wieso wundert es mich nicht?“
„Keine Ahnung,“ entgegnete ich, wohl bewusst über der Ironie in ihrer Stimme.
So saßen wir da. Ich bekam noch Pasta mit Pesto und Parmesan. Und Leora bestellte sich auch noch eine kleine Portion Spagetti mit Bolognese, die ich aber nicht bezahlte. Beziehungsweise, ich gab vor sie zu bezahlen würde den Betrag jedoch einfach von ihrem monatlichen Einkommen abziehen.
„Guten Appetit,“ strahlte sie und fing an genüsslich ihre Spagetti zu essen, wobei sie sehr darauf achtete nichts auf ihr neues mit Rüschen besetztes Kleid zu bekommen. Eliot aß wie immer still, obwohl es sich normalerweise nicht gehörte, dass Bediensteten am selben Tisch wie ihre Heeren aßen. Das schändete den Bund, den sie hatten, doch es kümmerte mich wenig, was die ach so gehobelte Gesellschaft von mir und meinen eigenen Sitten dachte. Schon immer war ich dagegen gewesen und Eliot war ein Mittel zum Zweck es zu beweisen. Und wenn er schon am meinem Tisch saß, so konnte ich Leora ja nicht von mir weisen. Jedoch unterdrückt dies nicht das verlangende Glitzern in den Augen, sie an ihren Spagettis ersticken zu lassen. Aber sie gehörte nun mal mir. Und es war meine Aufgabe gut auf meine Haustiere aufzupassen. Ich seufzte und stocherte in meiner Pasta rum, bevor ich mir welche in den Mund schob. Ich sollte auf sie aufpassen. Keiner verbot mir ihnen Tod zu wünschen.

Teil zwei: Was meins ist, ist nicht gleich deins



„Ich sagte doch, ich will nicht!“
„Mein Lord es wäre nur zu Eurem Besten, wenn I-“
„Nein heißt nein,“ antwortete ich schrill und stampfte wie ein bockiges Kind auf den edlen Holzfußboden im Musikzimmer auf. Eliot seufzte. Es war die gleiche Prozedur wie jeden Tag in der Woche um halb sieben Uhr abends. Langsam fragte ich mich, wieso er sich nach so vielen Jahren überhaupt noch damit abmühte, mich zu überreden. Gerade wollte Eliot wieder etwas einwenden, etwas, dass wahrscheinlich vernünftiger klang als mein Rumgezetere, trat Leora durch die Tür, den Kopf sofort misstrauisch, wenn nicht auch leicht amüsiert, zur Seite geneigt. Sie trug immer noch das neue Kleid, blau mit Rüschen am Fußende, Ärmelsaum und Kragen. Es brachte ihre Augen noch mehr zum Vorschein, als schon das Kerzenlicht in dem Musikzimmer.
„Was willst du?“ keifte ich so unfreundlich wie nur möglich und verschränkte die Arme vor der Brust. Frauen waren ja so-
„Ich wollte nur fragen, ob du irgendetwas brauchst. Vielleicht eine Massage? Siehst ziemlich angespannt aus.“
Ich schnaubte als Antwort, bevor Eliot den Kopf leicht neigte. Auf seinen Lippen lag ein leichtes, jedoch höfliches Lächeln.
„Ich denke nicht, dass es das ist, was mein Lord braucht.“
„Was meinst du?“
Verwirrt kam sie noch einen Schritt rein, doch ich hob enerviert die Hand, meine Zähne fest zusammen gepresst um nicht ein bedrohliches Knurren von mir zu geben. Keine betrat meinen Musikraum, ohne meine Erlaubnis. Abgesehen von meinem Schlafzimmer war dieses Zimmer einer meiner Heiligtümer und ich würde es verteidigen wie ein Wolf sein Revier verteidigte.
Eliot warf mir einen beunruhigten Blick zu, sprach jedoch zögerlich weiter, seine Augen auf mich gerichtet.
„Master Adonis hat seine Schwierigkeiten mit einer besonderen... Lektion heute Abend.“
Schön umschrieben, musste ich ihm zugeben. Ich ließ meine Hand sinken, im Gedanken nun schon woanders, doch Leora kam weiter rein. Ich dachte mein nichtausgesprochenes Knurren hätte sie davor bewahrt weiter hinein zu kommen.
„Eliot, bring sie raus.“
„Aber, mein Lord,“ säuselte Eliot beschwichtigend, doch auf seinen Lippen lag ein schadenfreues Lächeln. So wie immer, wenn ich jemanden wehtat. Psychisch oder Physisch. Leora blieb nun doch stehen, verdattert.
„Was habe ich denn getan? Ich wollte doch nur nett sein.“
„Da hast du ja deine Antwort,“ giftete ich zurück, machte auf den Absatz kehrt und ging zu einem großen Fenster gegenüber der Tür. Daneben stand ein riesiger großer, schwarzer Flügel, der den halben Raum ausfüllte. Versteckt im Schatten lag jedoch meine besondere Lektion, die ich nicht anrühren wollte und auch nicht würde. Niemals in meinem Leben. Ein düsterer Ausdruck huschte über mein Gesicht, während die Sonne in einem roten Inferno unterging. Eliot trat leise an Leora heran, verbeugte sich leicht vor ihr, murmelte dann ein: „Darf ich bitten, Miss?“ Danach begleitete er die sture und sehr verwirrend aussehende Leora aus der Tür auf den Gang. Als diese leise ins Schloss fiel und Ruhe einkehrte, presste ich meine Lippen fest aufeinander und biss mir hart auf die Zunge. Nach einer Weile schmeckte ich etwas Salziges in meinem Mund, doch ich hörte nicht auf zu beißen. Meine Zähne lösten sich erst wieder von meiner Zunge, als ich das Gefühl hatte, nicht zu Boden zu sinken um verzweifelt zu weinen.

Leora sah mich von der Seite an. Ihr Blick war bohrend und stechend zugleich, doch es interessierte mich wenig, was sie dachte. Ich war müde, schlechtgelaunt und mich konnte auch wirklich das kleinste, schief hängende Gemälde aufregen. Also war ich so wie jeden Morgen. Doch heute Morgen war noch etwas anderes da- jemand anderes. Er saß in meinem Sessel, als ich mit meinem neuen Dienstmädchen zur Tür hinein kam. Sein Grinsen hätte nicht triumphierender sein können. Bastard. Schlich sich nun zum dritten Mal in einem Monat einfach so in mein Haus. Neben ihm stand eine hoch gewachsene Frau, doch sie verbeugte sich und huschte relativ schnell wieder aus der Tür, wobei sie sich an mir vorbei zwängen musste, da ich, anders als Leora, die schnell aus dem Weg der hübschen Frau huschte, mich nicht einen Zentimeter bewegte.
„Was machst du hier?“ fragte ich sofort los und machte einen Schritt auf den großen Ebenholzschreibtisch zu. Der Junge grinste weiter und strich mit einem Finger über den Samtbezug des großen Sessels hinter dem Tisch.
„Es ist auch schön dich zu sehen, Adonis.“
„Adonis?“ flüsterte Leora kaum merkbar und warf mir wieder einen Blick zu. Diesmal eher ungläubig und mit etwas Spott. Ich seufzte und wedelte mit der Hand, als ob ich eine Fliege vertreiben wollte. Im Großen und Ganzen wollte ich es auch, denn der Junge in meinem Sessel war nichts anderes als eine Fliege, die immer und immer wieder wiederkam.
„Das beruht wohl kaum auf Gegenseitigkeit, Claude. Und raus aus meinem Sessel-sofort.“
Ich unterstrich mein Verlangen noch einmal mit einem Lächeln, was hoffentlich so schaurig aussah, wie ich es mir vorstellte und kam noch einen Schritt näher. Claude zog nur eine Augenbraue hoch, bewegte sich jedoch nicht vom Platz. Der kleine, fast schon kindhaft winzige, Zylinder auf seinen Kopf war schief angebracht worden. Eine riesige dunkelgrüne Schleife war um sie herum gebunden, dessen übriger Stoff beinahe mit seinen goldenen Haaren zu verschmelzen schien. Am Leib trug er einen kurzen dunkelgrünen Samtblazer, ein weißes Hemd darunter und kurze in Carameltönen gefärbte Hose an dessen Saum sich sofort die edlen Wildlederstiefel, dunkelbraun, anschlossen. Normalerweise konnte man mehr als den Oberkörper nicht sehen, wenn man anständig im Sessel saß. Der Oberkörper ragte meist über den Schreibtisch, wie sonst auch, doch bei Claude war immer etwas anders. Zum Beispiel hatte er seine Stiefel nicht auf den Boden platziert, sondern auf meinem Schreibtisch, wobei er sie nicht auf einen freien Platz abgelegt hatte. Nein, sonst wäre er ja nicht Claude. Seine Stiefel thronten auf meinem Papierstapel, den ich mir heute noch durchlesen wollte. Oder ich hatte es vorgenommen. Diese Papierzettel würde ich nur noch über meine Leiche anfassen, wenn ich jetzt mit ansah, wie ein Dreckklumpen von dem Stiefelboden auf sie fielen. Iiih.
„Ich denke nicht, dass man so einen Gast behandelt, Adonis.“
„Du bist kein Gast,“ antwortete ich knapp darauf. Egal, was Claude sagte, bis jetzt konnte ich es immer kontern. Die Betonung liegt auf bis jetzt.
„Aber ja doch. Eliot hat mich rein gebeten, als ich kurz davor war die Fassade zum Büro hochzuklettern.“
Unter meinem Bürofester war ein kleines Beet mit Wildrosen. Daher kam also der Dreck an seinen Stiefeln.
„Eliot hat dich rein gebeten?“ fragte Leora skeptisch nach und runzelte die Stirn in anbetracht dessen, dass Eliot ohne meine Erlaubnis keinen in das Anwesen ließ.
„Sicher?“
„Ich denke, ich kann Menschen sehr gut auseinander halten, Miss...?“
„Leora.“
„Miss Leora,“ beendete Claude seinen Satz und lächelte Leora charmant an. Diese wäre vielleicht errötet, schließlich sah Claude nicht schlecht aus, wenn er nicht vierzehn Jahre alt gewesen wäre. Vierzehjahre alt und schon ein Arschloch. Er machte seinem Ruf alle Ehre, obwohl er mich niemals übertrumpfen könnte. Ich war schon mit acht ein Arsch gewesen. Ach ja, die guten, alten Zeiten. Sie waren so lange noch erinnerungswürdig, bis die schlechten, alten Zeiten kamen. Schlecht für mich, dass mehr als mein halbes Leben aus diesen schlechten Zeiten bestand. Wie zum Beispiel damals, als-
„Adonis? Hast du mir zugehört?“
„Hör ich dir jemals zu?“
„Ich dachte, heute käme der Tag, an dem du dich änderst.“
„Wenn du dich nicht ändern kannst, dann kann ich es doch auch nicht.“
„Ich versuche mich aber auch nicht zu ändern.“
„Ich auch nicht Claude. Wirklich verblüffend wir beide, oder?“
Claude schnaubte und stand tatsächlich von meinem Sessel auf, doch nicht um sich aus dem Fenster zu schmeißen und sich zu töten, nein, sondern um zu mir zu gehen und die Augen zu verengen.
„Adonis. Du bist sehr, sehr unverschämt zu deinem besten Freund.“
„Dein... bester Freund?“
Leora schmunzelte amüsiert, doch ich ignorierte es so gut es ging, wenn jemand direkt neben einen ins Gesicht grinst.
„Er ist ein Bekannter.“
„Auch genannt bester Freund,“ korrigierte Claude und legte seinen Arm um meine Schultern. Oh, wie ich ihn jetzt gerne töten würde. Obwohl... ihm dem Arm abzureißen würde auch helfen.
„Ich strenge mich jetzt nicht noch mehr an dich zu korrigieren, Claude.“
Das Mädchen sah uns an, lächelte wissend (obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass sie gar nichts wusste) und ging rückwärts wieder zur Tür.
„Ich geh’ dann mal. Viel Spaß euch beiden!“
Doch Claude ließ sie nicht so schnell aus seinen Fängen. Wenigstens nahm er dabei seinen Arm von meinen Schultern (was so oder so ziemlich lächerlich ausgesehen hatte, weil Claude gute zehn Zentimeter kleiner war als ich.) und hatte einen neuen Jemand zum Nerven gefunden. Ich nahm die Chance und schritt schnell zu meinem Schreibtisch, setze mich in den großen Sessel und versuchte die Papiere zu retten, die noch zu retten waren.
„Warte mal. Willst du gar nicht wissen, wie wir uns kennen gelernt haben? Das fragen die meisten.“
„Wie ihr euch-“
Leora warf mir einen schadenfrohen Blick zu, setzte das passende Lächeln auf und zupfte etwas n ihren Rüschen rum.
„Aber gerne.“
Claude’s grüne Augen begannen zu glitzern, nur kurz und ich seufzte resigniert. Oh Gott. Wie oft ich mir diese Geschichte schon angetan habe- dagegen war die eiserne Jungfrau nichts.

Der Junge steht am Hügel und sieht hinab. Das Dorf steht in Flammen, sein Dorf steht in Flammen. Wäre es irgendein Dorf gewesen, dann wäre es ihm egal gewesen. Total egal. Aber in diesem Dorf hatte seine Familie gelebt, waren seine Freunde aufgewachsen. Jetzt waren sie, so wie alles andere, nur Schutt und Asche.
Und es war seine Schuld gewesen. Die Flammen tanzen über den unfruchtbaren Boden, suchen weiteres Holz zum verzehren, damit es sich ernähren kann. Der Junge denkt sich, dass die Flammen ihm ähneln. Ohne neues Holz, würden die Flammen sterben. Ohne neue Grausamkeiten würde der Junge auch sterben.
Mit einem gehässigen Grinsen stößt er einen Stein den Hügel runter, beobachtet ihn und wartet. Er steht hier und wartet so lange, bis die Flammen aussterben und die Morgendämmerung anbricht. Er steht hier sogar noch, bis das letzte verkohlte Holzstück zu nichts mehr als Asche zerbröselt und er steht hier noch, als eine Kutsche den Weg entlang geprescht kommt auf der Suche nach dem Dorf, dass es nicht mehr gibt.
„Aber, dass ist doch-“ beginnt der Kutscher fassungslos, springt vom Kutschbock und stolpert beinahe auf die Lichtung zu, auf der der Junge steht. Der Kutscher trägt ein schwarzes Cape und einen großen, schwarzen Zylinder, der beinahe verrutscht als er sich hastig zu dem Jungen umdreht und ihn mit leicht aufgerissenen Augen ansieht.
„Oh Gott. Junge, geht’s dir gut?“
Der Junge grinst weiter, beinahe wie ein Besessener. Die Augen sind weit aufgerissen immer noch auf das verkohlte Dorf gerichtet.
„Junge?“
Doch er antwortet nicht. Stattdessen fangen seine Finger an zu zittern, seine Augen schließen sich langsam und er beginnt zu kichern.
„Sie sind tot... tot...tot...tot...“
Er spricht es wie ein Singsang. Immer und immer wieder.
„Tot, sind sie... tot... tot... Na? Wer sagt mir jetzt, dass ich schwach bin? Ja, wer? Tot seit ihr... na? Wie ist es? Schmort ihr in der Hölle? Hihi... hoffentlich... hoffentlich... ho-FASS MICH NICHT AN!“
Der Junge dreht sich mit einem Ausdruck von Raserei und blinder Wut um und schlägt die Hand eines weiteren Jungens weg, obwohl dieser älter ist.
„Master,“ haucht der Kutscher und steht sofort auf. Dem Jungen ist gar nicht aufgefallen, dass er sich hingekniet hat um mit ihm auf Augenhöhe zu sein.
„D-Der Junge... das Dorf! Oh, Gott das Dorf!“
„Beruhige dich, Lohman.“
Die Stimme des Älteren ist kühl, doch es hat auch etwas Beruhigendes. Als ob er mit einem gehetzten Tier sprechen würde und dieses versuchte zu besänftigen. Seine stechenden blauen Augen liegen jedoch auf den Jungen.
Es vergeht etwas Zeit, wo sich die zwei Jungen nur ansehen. Der eine, wahnsinnig und voller Hass, der andere kühl und beherrscht.
„Bring mir die Decke,“ erklingt die sanfte Stimme wieder. Da der blauäugige Junge selber einen Zylinder anhat und dieser leicht nach vorne geschoben ist, kann der Junge nichts erkennen. Kein Gesicht, kein Lächeln. Doch dank den Augen, die der Fremde ihm gezeigt hat, wweiß er, dass er lächelt.
Lohman, der Kutscher, nickt hastig, rennt zur Kutsche und zerrt etwas unbeholfen eine dicke Wolldecke hervor. Als er wieder kommt hat der Ältere dem Jüngeren aufgeholfen und bringt ihn nun langsam Lohman entgegen. Dieser wickelt genauso hastig und mit leicht aufgeregten Atemzügen die Decke um den verwahrlosten Jungen, streicht noch einmal kurz über den Arm und klettert dann wieder auf den Kutschbock.
„Wohin Master?“
„Heim,“ antwortet der Ältere, öffnet die Tür und lässt den schmächtigen, kleineren Jungen einsteigen. Dieser steigt zwar ein, doch legt sich sofort auf eine der zwei gepolsterten Bänke der nachtschwarzen Kutsche, kuschelt sich in die Decke und schließt die Augen.
„Wie heißt du?“
Das Rattern der Kutsche ist seid einiger Zeit das einzige Geräusch gewesen, was der Junge vernehmen konnte, doch jetzt, wo er gerade dabei ist einzuschlafen, stört sein Helfer ihn. Langsam öffnet er seine Augen einen kleinen Spalt, sieht aber nur die Knie und das Becken des Älteren und er war viel zu faul um dessen ins Gesicht zu sehen.
„Sag ich nicht.“
„Mein Name ist Master Skanders,“ spricht der Junge weiter. Jetzt klingt er nicht mehr kalt, sondern genau gegenteilig. Seine Stimme hat einen Hauch von Wärme angenommen.
„Von nun an passe ich auf dich auf.“



„Und so haben wir uns kennen gelernt,“ beendete Claude seine Geschichte und lächelte Leora überglücklich an. Das Mädchen sah ihn baff an und ich konnte nicht anders, als über ihres perplexes Gesicht zu lächeln. Es war zwar mehr ein Schmunzeln, als ein Lächeln, aber immer hin.
„Adonis hat dich aufgenommen? U-Und du hast... dein... Dorf...? Also du...“
Sie rückte weiter von ihm weg. Am Anfang der Erzählung hatten sich beide auf meinem Sofa niedergelassen, doch jetzt sah Leora so aus, als ob sie lieber stehen würde. Claude legte den Kopf schief, lächelte kurz, doch es verschwand schnell wieder. Antwortet tat er nicht. Weil sie diese nicht bekam sah Leora mich nun baff an und mein Schmunzeln verging ebenfalls.
„Du hast einen... einen... Killer

aufgenommen?!“
„Was mich eher stören würde,“ kam es von der Tür, als Eliot hinein trat mit einem Silbertablett auf der Hand balancierend, „ist, dass mein Master überhaupt irgendjemanden aufgenommen hat.“
Er lächelte Leora charmant zu, setzte das Silbertablett auf den braunen Holzsofatisch ab und goss Tee für beide ein.
„Zucker und Milch?“
„Au ja,“ jauchzte Claude zufrieden und klatschte wie ein Kleinkind, was er ja auch war, in die Hände.
„Und Sahne!“
Genauso wie ich unterdrückte Leora das Bedürfnis zu kotzen, jedoch bezweifelte ich, dass sie denselben Grund hatte wie ich.

„Oh, hush thee, my baby,
Thy sire was a knight,
Thy mother a lady,
Both lovely and bright;
The woods and the glens,
From the towers which we see,
They all are belonging,
Dear baby, to thee.
Oh, hush thee, my baby,
Thy sire was a knight,
Oh, hush thee, my baby,
So bonnie, so bright.
Oh, fear not the bugle,
Tho' loudly it blows,
It calls but the warders
That guard thy repose;
Their bows would be bended,
Their blades would be red,
Ere the step of a foeman
Draws near to thy bed.
Oh, hush thee, my baby,
Thy sire was a knight.“



Claude schaukelte auf dem Stuhl hin und her, ließ ihn kippeln und dann mit einem leisen dumpfen Aufschlag wieder nach vorne fallen. Und wieder von vorne.
Ich kannte das Lied. Es war ein schottisches Schlaflied, jedoch wusste ich nicht, dass Claude es wusste. Oder sich gar daran erinnerte.
„Warum denkst du singt man seinem Baby vom Tod?“
„Damit es die harte Realität schon im zarten Alter von einem Monat versteht,“ antwortete ich mit meinem trockenen Humor und sah von der Zeitung auf. Claude hatte seine Augen auf das Fenster hinter mir gerichtet und knabberte gedankenverloren an seiner Lippe rum.
„Oder um ihn wahnsinnig zu machen,“ flüsterte er halblaut. Ich wollte etwas erwidern, auch wenn ich nicht ganz wusste, was ihn in irgendeiner weise hätte trösten können, als Rosalba zur Tür herein kam. Auf ihren Arm lagen die gewünschten Utensilien, die ich bestellt hatte.
„Danke.“
Rosabla lächelte freundlich, rückte sich die viel zu große Brille zurecht und deponierte die Ware vor mir auf dem Schreibtisch. Claude hatte aufgehört zu kippeln und betrachtete meine Dienstmädchen neugierig von hinten.
„Kann ich noch etwas für Sie tun, Master Skanders? Noch eine Kanne Tee eventuell?“
„Sied dem letzten Tee, den du gemacht hast, habe ich immer noch Bauchschmerzen und Albträume.“
Ich sah sie nur kurz an, bevor ich zu Claude sah.
„Aber vielleicht stellt Claude deine Teekenntnisse auf die Probe?“
„Vielleicht ein anderes Mal,“ entgegnete er höflich und neigte den Kopf sogar etwas.
„Im Moment bin ich immer noch satt von meiner letzten Tasse.“
„Kein Wunder. Da war mehr Sahne als Flüssigkeit drin,“ murmelte ich sachlich und stöberte weiter durch die Zeitschrift. Ich spürte einen stechenden Blick auf mir und wusste, dass wenn Blicke töten könnten, ich schon längst unter der Erde liegen würde. Aber wahrscheinlich wäre Claude nicht der Erste gewesen, der sich diese Fähigkeit im Moment wünschte. Es gab noch viele, viele vor ihm, die mich so angesehen haben.
Rosalba machte eine kleine Verbeugung und huschte wieder aus dem Raum. Es erstaunte mich, dass sie diesmal nichts kaputt machte. Vielleicht-
Krack.
Langsam und bedacht sah ich hoch. Claude sah ebenfalls zur Tür, von der das Knacken kam.
Knack.
Dumpf.
Der Türknauf rollte von der Tür im Schneckentempo nach vorne und blieb vor Claude’s Stuhl stehen, welcher sich wiederum vor meinem Schreibtisch befand. Wir beide hatten den Türknauf beobachtet und tauschten nun einen Blick aus, bevor Claude leise anfing zu lachen.
Ich, natürlich, fand es mal wieder nicht zum Todlachen. Warum nur, warum nur?
„Was ist das überhaupt?“
Der dunkelblonde Junge war aufgestanden und inspizierte die Stoffklumpen, die Rosalba hochgebracht hatte.
„Klamotten.“
„Eher Lumpen.“
Claude runzelte die Nase, als er ein Lumpenteil mit spitzen Fingern aufhob und es drehte. Es war ein schwarzer Umhang, genau die richtige Größe für mich.
„Was willst du mit Lumpen?“
„Ich muss nach London,“ erwiderte ich, den Blick gesenkt um Claude ja nicht anzusehen. Er hatte die unangenehme Fähigkeit mich zum Reden zu bekommen, auch wenn ich es nicht wollte.
„Aha. London. In Lumpen?“
„Ja.“
„London. Lumpen.“
Claude betrachtete den Umhang skeptisch, bevor er triumphiert grinste.
„Du besucht sie wieder, habe ich Recht? Ui, ich muss Recht haben!“
Ich verengte die Augen, wich seinem Blick jedoch weiterhin aus. Woher wusste dieser Bastard das jetzt schon wieder?
„Darf ich mit kommen?“
„Ja.“
„Kommt Eliot auch?“
„Nein und jetzt hör auf zu fragen.“
„Noe?“
Ich musste fast lachen.
„Nein und Rosalba auch nicht.“
„Leora kommt mit?“
Es war eher eine überraschte Feststellung als eine Frage, deswegen beantwortete ich sie auch nicht. Claude brauchte auch keine Bejaung, oder eine Antwort, die dagegen sprach. Er wusste es einfach. Mit ebenso spitzen Fingern, wie er es aufgehoben hatte, legte er den Lumpen zurück.
„Dann brauch’ ich ja auch Lumpen,“ maulte er, doch in seinen Augen lag Begeisterung. Er hatte sie ebenso lange nicht gesehen wie ich. Nach einer Weile vermisste man diese Tradition, wenn man sie für ganze zwei Jahre nicht eingehalten hatte.
„Ich wette mit dir ich seh’ in meinen Lumpen besser aus als du!“
„Du kannst auch die Queen persönlich fragen, ob sie dir Lumpen aus feinster Seide schneidern lassen würde. Du würdest niemals besser aussehen als ich, Claude.“
„Warte du nur ab,“ Claude hob warnend seinen Finger und bemühte sich sichtlich nicht zu grinsen, sondern tot ernst auszusehen.
„Irgendwann wirst du Falten haben und dann sehe ich noch frisch und jung aus! Warte du nur.“
Wie gerne hätte ich gewartet. Wie gerne hätte ich den Tag miterleben wollen, wo Claude mich damit aufziehen würde. Nur leider würde ich es nie und das lag nicht daran, dass es rein theoretisch nicht dazu kommen würde, da ich immer besser aussehen werde. Mit oder ohne Falten. Claude würde das schon bald einsehen.

Die Nacht war kühl und nebelig. Ich hatte auf die Kutsche verzichtet- nun bis London durfte sie uns bringen aber von dort aus führte ich unseren kleinen Trupp alleine weiter. Leora hatte es aufgegeben mich auszufragen. Wer waren sie? Wieso kam sie mit? Was sollte sie da? Claude hatte nur still vor sich hergesummt. Ich hätte beinahe mitgesungen, alles nur um Leora’s Fragen auszuweichen, aber hätte ich es getan würden neue Fragen wieder auftauchen.
Wasser spritze auf mein Hosenbein, als wir durch eine schmale Gasse mit viel zu vielen Pfützen rannten.
„Wieso... rennen... wir... überhaupt?“ keuchte Leora, die größere Schwierigkeiten hatte als wir anderen ihre Kapuze auf dem Kopf zu behalten.
„Weil das, was wir tun, eigentlich nicht ganz legal ist,“ kicherte Claude erfreut und hüpfte eine kleinere Pfütze rüber, während ich um die Ecke bog, jedoch abrupt stehen blieb. Ich hob meine Hand, als Zeichen für Claude und Leora leise zu sein. Beide pirschten sich lautlos an mich von hinten heran und sagten kein Wort. Einige Meter vor uns auf einer Kreuzung stand ein Polizist. Die Laterne hoch gehalten und die Schritte, die durch die leeren Gassen hallten ging er auf und ab. In der anderen Hand hatte einen sehr schwer aussehenden Knüppel.
„Was jetzt?“ flüsterte Leora mir ins Ohr. Ihr Atem kitzelte meinen Nacken, was etwas irritierend war, doch es sagte nichts. Stattdessen ging in gebückter Haltung auf den Polizisten zu. Er hatte uns gerade den Rücken zugekehrt, inspizierte wahrscheinlich die große Mauer vor einer der vielen reichen Gebäuden in dieser Gegend. Ohne das er es bemerkte rannte ich hinter ihm vorbei, gefolgt von Claude in die Gasse gegenüber der Kreuzung. Leora war dicht hinter Claude gewesen, nur leider trat sie in eine Pfütze. Wie ein angeblendenes Reh blieb sie mitten auf der offenen Straße stehen und starrte den Polizisten an, der sich langsam umdrehte. Meine Gedanken rasten. Was tun? Ich konnte mich nicht zeigen, dass würde nur zu einer Verhaftung führen, besonders hier. Aber ich konnte Leora auch nicht da stehen lassen. Zum Glück, und das empfand ich auch nur in dieser Sekunde so, war Claude da. Er schnappte sich einen Stein und warf ihn in die Richtung des Polizisten. Er kam scheppernd einige Meter vor den Füßen des dickbäuchigen Mannes auf. Er verharrte in der Bewegung und beleuchtete dann doch den Stein. Ein rätselhafter Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Claude fuchtelte gerade zu mit den Armen und Leora kam zu uns gerannt- diesmal leise und ohne in eine Pfütze zu treten.
„Ich wusste es doch! Ich hätte dich nicht mitnehmen sollen.“
„Jetzt mecker nicht,“ fauchte Leora, die wohl von dem Adrenalinschub gereizt war.
„Dank Claude hat er mich nicht entdeckt-“ Zu Claude gewandt lächelte sie dann und meinte: „Danke schön. Ich steh’ wohl in deiner Schuld.“
Dieser grinste nur und wedelte mit der Hand.
„Ach was.“
„Doch, doch. Ich kann mal bei dir aushelfen, wenn du willst,“ schlug sie lächelnd vor und Claude nickte nach einiger Zeit.
„Kannste ruhig machen. Mir egal. Du gehörst ja zum Teil so oder so mir. Adonis und ich, wir teilen uns alles.“
Das brachte mich zum Stutzen. Ich hatte mich gerade umgedreht um weiter zu gehen, Claude kannte wen Weg und würde mir mit Leora folgen können, doch ich blieb dann doch stehen und verdrehte die Augen. Das Augenverdrehen galt ganz mir und meinen Gedanken, den ich kurz danach ausführte. Ich drehte mich auf den Absätzen um und sah meinen besten Freund mit einem stechenden Blick an.
„Ich teile nichts,“ erklärte ich seelenruhig, weswegen ich wahrscheinlich noch bedrohlicher wirkte.
„Was meins ist, bleibt meins. Und Leora gehört mir.“
„Ich denke, ich darf entscheiden, wem ich gehöre,“ zickte sie sofort los, ihr Blick noch stechender als meiner. Doch ich nahm ihn nur mit einem selbstbewussten Lächeln war.
„Ich habe dich gefunden. Du gehörst mir.“
„Aber-“, begann Claude wieder mit einer Schmolllippe, wie sonst auch, wenn er etwas von mir haben wollte, doch ich blieb kalt. Kalt und distanziert. So war es ohne hin besser.
„Was meins ist, ist nicht gleich deins, Claude.“
Damit drehte ich mich nun wirklich um und ging in die Dunkelheit. Konnten die beiden doch selber entscheiden, ob sie mir folgen würden oder nicht.

Teil drei: Please Don’t Stop The Rain



Sie sahen schlimmer aus, als das letzte Mal, als ich sie besucht habe. Ihre blonden Haare hingen schlaff runter, ohne Glanz und fettig. Ihre Augen waren dumpfer geworden und das eisblaue ihrer Augen war beinahe weiß. Doch das Lächeln war dasselbe. Es war genauso schaurig, aber auch erfreut wie immer, wenn sie mich sahen.
„Gute.“
„Nacht,“ begrüßten mich beide und mir kam es so vor, als ob sie beinahe in den See von Kissen und Decken untergingen.
„Was können wir.“
„Für dich tun?“
Ich verbeugte mich leicht, wobei mir die Kapuze vom Kopf fiel.
„Gute Nacht, Gab und Riel.“
Die zwei Mädchen schmunzelten und winkten mich näher an sich heran. Ich folgte ihrem Bitten, obwohl meine Augen sich immer noch nicht ganz an das schaurige Bild gewöhnen können. Zwei fragil aussehende Mädchen in einem riesigen Doppelbett, in dem man sie beinahe nicht sehen kann, wenn man nicht genau hinsieht. Das Doppelbett ist das einzige Möbelstück im ganzen Gebäude am Rande von London. Die Fenster stehen jedoch in jedem Raum offen und lassen Schnee, Sonne, Herbstblätter und Blüten hinein. Es wird niemals geputzt, trotzdem sieht das Haus aus wie neu. Und das, obwohl es schon älter als London sein sollte- Gab und Riel übrigens auch.
Auch in diesem Zimmer wehte der eisige Wind rein und verwuschelte die Haare der zwei Verkünderinnen im Bett, an das ich nun trat. Sie tauschten kurz einen Blick aus- ihre Art untereinander zu kommunizieren- und sahen mich dann mit diesen toten Augen an.
„Also? Was können wir für dich tun?“ fragte nun die Linke. Gab, wie ich gelernt habe nach einiger Zeit, hatte ein Muttermal auf der linken Wange, welches so aussah wie eine rote Träne. Riel hatte das gleiche Mal, jedoch rechts auf ihrer Wange und ihres ähnelte auch mehr einem ziemlich großen Punkt, gemalt von einem drei Jährigen.
„Ich wünschte nur die Information.“
„Nun, nach welcher Information dürstet es dich denn, junger Lord?“ Riel war schon immer die Förmlichere von beiden gewesen. Gab kicherte und flüsterte etwas, worauf auch Riel lächeln musste.
„Ich möchte-“
Gab kicherte wieder und schob sich eine Strähne hinters Ohr. Ich grummelte und versuchte wieder etwas zu sagen, doch nun fing Riel an zu lachen. Frustriert drehte ich mich um.
„Claude! Behalt deine Hände bei dir!“
Schuldbewusst nahm Claude seine Hand von Leora’s Arm, die bedrohlich weit zu ihrer Brust gewandert war und grinste leicht.
„Jetzt sei mal nicht so prüde, liebster Adonis.“
Ich knurrte nur und drehte mich wieder um. Leora war so geschockt von dem Anblick der beiden Zwillinge, dass sie gar nichts sagte.
„Darf ich nun meine Bitte äußern?“
Gab nickte eifrig.
„Aber bitte doch.“
„Ich möchte Informationen über Jack the Ripper haben.“
Von hinten ertönte ein gequältes Stöhnen. Dann hallten Schritte durch den Raum und der Kleinste von uns stand neben mir.
„Entschuldigung- aber nein, er möchte nichts über Jack, the Ripper wissen.“
„Doch-“
„Nein,“ unterbrach mich Claude mit einem festen Blick, den er nur selten zeigte.
„Es ist unsinnig, Adonis. Gab und Riel sind nicht immer für dich da und so etwas zu verlangen ist einfach nur undurchdacht. Er hat nur eine umgebracht.“
„Bis jetzt,“ erklang die Stimme von Riel, die sich normalerweise nicht einmischte. Claude sah sie überrascht an.
„Wie?“
„Jack, the Ripper wird wieder zuschlagen,“ kicherte Gab und gab Claude ein strahlendes Lächeln, was bei ihren schmalen und bleichen Lippen noch schauriger aussah, als sonst. Claude erwiderte das Lächeln zögernd, doch richtete seinen Blick sofort wieder auf mich.
„Dann sind es halt am Ende zwei tote Frauen-“
„Nein, nein. Nicht zwei werden es sein. Fünf, wenn es nicht aufgehalten werden kann. Fünf Tote im Monat des Oktobers,“ sprach Riel ihre Verse und faltete die Hände auf einem riesigen Kissen vor ihr. Das Mondlicht beschien nicht viel in diesem Zimmer, doch es reichte um die Farben der Decken und Kissen in ihrem Bett zu erkennen: Schwarz und blutrot.
„Doch aufzuhalten es nicht braucht von großer Planung. Etwas Verstand hier und etwas Gerissenheit und du hast ihn gefangen, Wachhund.“
„Das hilft nicht sehr viel,“ hörte ich Leora von hinten murmeln, doch Gab und Riel gingen nicht weiter darauf ein. Nun übernahm jedoch Gab das Reden, während Riel sich in dem Mondlicht zu sonnen schien.
„Das zweite Mal ist nicht mehr weit. Der Lösung wirst du durch’s Tanzen näher kommen.“
Und dann sprachen beide im Singsang weiter, was mir die Nackenhaare zu Berge steigen ließ:

Blaues Blut wird vergossen,
Öffnet das Tor zur Wahrheit.
Zwei Schlangen, die sich nicht trennen wollen,
Ein unendlicher Kreis des Bösen.
Links oder Rechts, wird die Frage sein
Geradeaus die Lösung.
Bedenke nicht nur Kopf und Verstand
Bedenke auch das Schlagen im Körper.

Freiheit wird dir nicht gewährt sein,
Dunkelheit deine Zuflucht ist.
Strahlende Sonne kann dich nicht mehr wärmen
Dafür, dass du schon zu tote bist.
Was seins ist wird er auch nehmen
Und nicht aufhören, bis du gegeben, was du versprichst.



Ich starrte die Zwillinge an. Ich wusste nicht, wie lange, doch irgendwann schlossen sie ihre Augen, lehnten sich in die Kissen zurück und erstarrten zu bewegungslosen Statuen, bis zum nächsten Mal, wo jemand aus den Gossen der Londoner Unterwelt kommen wird und Antwort sucht.
„Das war... gruselig.“
Leora schluckte, wahrscheinlich ihre Angst, und fing an mit zittrigen Händen an einer Haarsträhne rumzuspielen.
„W-Wer... waren die jetzt genau?“
„Gab und Riel. Sie sind Propheten aus der Zeit vor und nach Christi. Sicherlich hast du schon einmal vom Erzengel Garbiel gehört? In Wahrheit war Gabriel zwei Erzengel: Gab und Riel. Sie sind beides Seraphim,“ erklärte Claude, froh über sein Wissen anzugeben, was ich ihn eigentlich gegeben habe.
„Normalerweise verlangen sie auch einen Preis für ihre Voraussagung,“ ergänzte ich und streifte mir wieder die Kapuze über den Kopf.
„Und was war der Preis?“
Leora’s Frage kam nicht überraschend, trotzdem blieb ich stehen und verharrte dort einen Moment. Der Preis.
„Irrelevant für dich,“ sagte ich dann und hoffte, dass man die Unsicherheit in meiner Stimme nicht hörte.
„Darf ich noch etwas fragen?“
„Tust du das nicht so oder so?“
Leora’s Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln, obwohl ich es überhaupt nicht charmant oder freundlich gemeint hatte.
„Wieso ist es verboten hier her zu kommen?“
Claude klappte seinem Mund auf um zu antworten, schloss ihn dann jedoch und wurde nachdenklich. Ich sah Leora kurz an, bevor ich mit abwandte und ging. Ich hörte Claude noch, wie er mir hinterher rief und Leora, die dem Jüngeren irritiert fragte, was sie denn nun schon wieder falsch gemach hätte.
Nichts, dachte ich meine Antwort und biss mir auf die Lippe. Du hast nichts falsch gemacht. Aber ich.

Der Regen begrüßte mich. Nass und kalt. Mir folgte keiner und ich wollte mir auch nicht vorstellen, was Leora und Claude in einem dunklen Haus alleine machten. Mein Schatten wanderte über die feuchten Gemäuer von London, als ich mich langsam auf den Weg nach Hause machte. Ich könnte natürlich Eliot rufen, wozu hatte ich denn bitte sonst das riesige Mal auf meiner Brust? Doch ich ließ es sein. Ich konnte auch ohne meinen Butler für alles (wortwörtlich) leben. Außerdem tat es mir mal gute frische Luft zu schnappen und alleine zu sein.

„Jack, the Ripper?“
„Hast du je von ihm gehört?“
„Nur einmal von ihm gelesen, Master Skanders. Er hat eine Prostituierte umgebracht und ihre Gebärmutter entfernt. Es sollte sehr präzise durchgeführt worden sein.“
„Ein Arzt?“
„V-Vielleicht Master Skanders. Ich ... nun, weiß es nicht.“
„Ich weiß. Danke. Du kannst gehen und den Garten machen, oder was immer du auch mit deiner Zeit anstellen willst.“



Ein Arzt. Gab und Riel hatten nichts von einem Arzt erwähnt. Und sie hatten generell auch nicht von Jack, the Ripper gesprochen, als sie davon gesprochen haben, dass er sich nehmen würde, was ihm zusteht. Kein einziger Vers hatte so weit ich es wusste mit dem Mörder zu tun, der vor hatte vier weitere Frauen zu töten. Wenn es nicht um den Brief der Queen gewesen wäre, den ich letztens erhalten habe, dann würde ich mich gar nicht erst um Prostituierte kümmern. Was gingen mich Frauen an, die ihre Körper an noch hässlichere und deprimiertere Männer verkauften? Nichts. Aber wenn es die Queen beschäftigte, beschäftigte es leider Gottes auch mich.
Meine Füße blieben irgendwann stehen und ich stand auf der Brücke, die über die Themse führte. Das Wasser rauschte beinahe lautlos unter der Brücke hindurch, doch man konnte, wenn man ganz still war, trotzdem etwas vernehmen. Ich lehnte mich an die Brüstung und schloss die Augen. Vereinzelte Regentropfen fielen mir dabei ins Gesicht, doch es war mir egal. Sie rannten meine Nasenspitze entlang, tropften von dort aus runter oder befeuchteten meine Wange. Letzten Endes war es wie eine Dusche, die einen wachrüttelte.

„Schwörst du der Königin zu dienen und ihr jegliche Wünsche und Pflichten zu erfüllen?“
„Ich schwöre bei Gott.“
„Schwörst du die Königin zu beschützen und in ihrem Namen zu handeln und nicht in dem deinen?“
„Ich schwöre bei Gott.“
So ging es weiter und weiter. Immer und immer wieder. Ich schwöre bei Gott. Ich schwöre bei Gott. Verpflichte dich der Königin von England. Beschütze die Königin von England. Preise die Königin von England. Sei nur für die Königin von England da. Die Königin von England ist deine einzige Königin. Die Königin von England geht vor. Ich schwöre bei Gott. Ich schwöre.
Am Ende fragte ich mich doch: Wer zum Henker war Gott, dass ich bei seinem Namen schwören musste?



„Hey,“ kam es sanft von Jemanden vor mir. Ich öffnete meine Augen nicht, denn ich wusste wer es war. Es war schon immer ihr Lieblingsplatz gewesen.
„Hey,“ erwiderte ich und es kam ein leichtes Lachen. Dann spürte ich eine warme Hand an meiner Wange, die mir sanft unter die Augen strich.
„Du hast geweint.“
„Das ist der Regen,“ antwortete ich halblaut ziemlich erstickt, sodass es nicht wirklich überzeugend klang.
„Natürlich ist er es,“ flüsterte sie. Die Hand wanderte von meiner Wange zu meinem Hals, wo sie sich in meinen Nacken legte, wo schon Regentropfen runter geflossen waren.
„Ich vermisse dich,“ murmelte sie und ich spürte auf einmal ihre Stirn gegen meine Nasse. Ich zweite Hand strich mir kurz über den Arm. So eine vertraute Gestik. Meine Augen pressten sich schon wie von alleine fester auf einander zu und ich ballte meine Hände zu Fäusten.
„Ich vermiss dich wirklich,“ wiederholte sie und ihre Hand um meinen Hals verstärkte sich.
„Wieso hast du mich alleine gelassen, Adonis?“
Ich schüttelte nur weiter meinen Kopf und versuchte mich an die Wärme zu gewöhnen, die von ihr ausging. Die Wärme, die ich auch so vermisst hatte.
„Ich habe dich vermisst.“
„Ich dich auch,“ kam es ungewollt von mir und der Druck an meinen Hals ließ kurz nach. Nur ganz kurz, wobei ich spürte, wie sie ihre Lippen gegen meine Stirn presste. Ihr Körper war nur einige Zentimeter von meinem weg, ich wusste es und trotzdem brachte ich mich nicht dazu, sie zu berühren. Wie immer.
Doch dann wurde der Druck an meinem Hals größer und sie drückte mit ihrer Hand gewaltsam zu. Ich ließ sie gewähren. Der Regen wurde dazu auch noch schlimmer, es schien beinahe richtig zu schütten, doch der Druck verschwand nicht, genauso wenig wie die Hitze. Langsam ging mir die Luft aus, doch die Augen hielt ich geschlossen.
„Du hast mich alleine gelassen,“ kam es anklagend von ihr.
„Du hast mich alleine gelassen und bist einfach weggegangen! Und dabei habe ich dich so vermisst. Und ich vermisse dich. Wirst du mich wieder alleine lassen?“
Statt mich reden zu lassen drückte sie weiter zu. Langsam aber sicher wurde es unangenehm. Ich wusste, was ich sagen könnte, um sie zu stoppen. Was ich tun könnte, damit sie aufhörte. Doch mein Körper bewegte sich nicht. Gar nicht. Nur einen erstickten Laut konnte ich von mir geben, weil meine Lungen nach Luft verlangten, die ich ihnen nicht geben konnte.
Doch diesmal war etwas anderes. Normalerweise hörte sie auf, sobald ich am ersticken war. Heute nicht. Diesmal tat sie genau das Gegenteil. Sie presste meinen Rücken weiter gegen die Brüstung, sodass ich mich so verbiegen musste, dass ich beinahe von der Brücke fiel. Ihr Griff ließ nicht locker.
„Ich vermisse dich,“ flüsterte sie weiter. Ich hob langsam meine Hände und berührte sie. Zum ersten Mal nach unseren Begegnungen berührte ich sie an der Schulter und schob etwas. Es kostete mich ziemlich viel Willenskraft meine Augen nicht aufzureißen und sie wie ein Wilder von mir zu drücken. Sie ging kurz darauf ein und lockerte ihren Griff, damit ich etwas Luft in meine Lungen pumpen konnte. Ich erwartete eigentlich, dass sie weiter drückte, schließlich war ihre Intension klar, doch sie ließ es sein. Ihre Hand wanderte von meinem Hals zu meinem ausgestreckten Arm und berührte die Hand, die ich gegen ihre Schulter gelegt hatte.
„Ich vermisse dich. Und du vermisst mich auch, dass weiß ich,“ schluchzte sie nun. Sie weinte. Ich wollte nicht, dass sie weinte, schließlich vermisste ich sie auch. Nun schlug ich doch meine Augen auf und sah sie nur für eine Blitzsekunde. Die grauen Augen, das wellende, dunkelblonde Haar und die leicht bebräunte Haut. Und das traurige Lächeln von damals. Dann war sie verschwunden und zurück blieb nur der Regen und der Geruch von Lavendel, den ich so geliebt hatte.
„Du hast Recht,“ sagte ich dumpf in die Nacht.
„Ich vermisse dich.“
Ich hatte noch nie dafür gebeten, seit ich in London war, doch jetzt tat ich es. Ich flehte Gott, oder wer auch immer der grausame Herrscher oben im Himmel war, an den Regen nicht aufhören zu lassen. Denn sonst müsste ich mir wirklich eingestehen, dass es nicht der Regen war, der meine Wange so feucht werden ließ.

Impressum

Texte: Joycelyn Brooks
Tag der Veröffentlichung: 30.09.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch meiner geliebten Lektorin mit dem reizenden Decknamen Panem. Außerdem komme ich nicht darum herum dieses Buch den fleißigen Lesern zu widmen: Danke!

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