Es war wenige Tage nach der Umschiffung des Kaps der Guten Hoffnung, als das Meer ihn fraß. Der Sturm war inmitten der Nacht wie aus dem Nichts gekommen. Ich weiß noch genau, wie ich mich an die Wanten klammerte, während sich das Schiff unter mir bog und von den Wogen hin und her geworfen wurde. Unter mir brüllte ein Seemann, ich solle meinen Hintern schneller nach oben bewegen. Ich folgte seinem Befehl, verkrampft, die Wanten fest umklammernd. Sie waren der einzige Halt in jener Nacht. Wir mussten das große Marssegel einholen, sonst drohte bei diesem Sturm der Mast zu brechen. Ich erreichte die Mars, die erste Plattform des Großmastes, und war dankbar, dass ich nicht noch weiter nach oben klettern musste. Beinahe zwanzig Meter unter mir lag das Deck, das in diesem Moment von einer riesigen Welle überspült wurde. Zwei Seemännern, die sich nirgends festgehalten hatten, wurde wie Käfer gegen die Reling geschwemmt. Von der Mars kletterte ich nach draußen auf die Marsrah. Fünf Mann mussten auf der Steuerbordseite raus, fünf auf der Backbordseite. Dann mussten wir zu zehnt das mittlerweile völlig durchnässte Marssegel einholen. Regen klitschte in mein Gesicht. Ich sah kaum etwas. Mit den Füßen ertastete ich das Seil, auf dem man stehen musste, wollte man das Ende der Rah erreichen. Nur das Seil unter den Füßen, die klammen Hände irgendwo Halt suchend. Ich schloss die Augen. Nie war meine Heimat ferner als in jenem Moment. Das rote Bauernhaus tauchte auf. Unser Haus. Das meiner Familie. Die Sonne schien von blauem Himmel. In der Tür stand Lina, meine kleine Schwester. Sie lächelte und winkte.
„Zieht an!“, tönte eine mächtige Stimme.
Mir brach ein Fingernagel ab, als wir wieder und wieder in das Segel griffen und es Stück für Stück nach oben zogen. Schließlich gelang es uns. Während ich es an der Rah festband, hörte ich den Schrei. Vom Wind wurde er durch die Takelage getrieben, sodass ich nicht sagen konnte, woher er gekommen war. Er klang fern und doch ganz nah. Ein Schrei. Ein Todesschrei. Ganz kurz, dann war er wieder vorbei. Stattdessen tönte nun die tiefe Stimme, die ich nur zu gut kannte: „Mann über Bord! Mann über Bord!“
„Wo liegst du jetzt, Erik?“, dachte ich mir, während die Dutzenden felsigen Inseln langsam am Schiff vorbeizogen. „Irgendwo auf dem Meeresboden vor Afrika?“
Erik durfte seine Heimat nicht wiedersehen. Er durfte nicht einmal China sehen, dieses merkwürdige bunte Land so weit im Osten. China, das Ziel unserer Fahrt. Und nun waren wir zurück in Göteborg. Nach über dreißig Monaten. Was war das nur für eine Fahrt? Erst die schlechten Winde, als wir an der Westküste Afrikas gen Süden gesegelt waren. Mehrere Wochen hatten wir dadurch verloren. Dann der Sturm, den Erik und drei weitere Seemänner nicht überlebt hatten. Wir waren viel zu spät nach Java gekommen, wo wir frisches Wasser und Lebensmittel aufgenommen hatten. Die Monsunwinde, die uns nach Kanton tragen sollten, hatten wir verpasst, weshalb wir ein halbes Jahr auf Java vor Anker lagen. Ich hatte die Zeit genutzt, um mir von einem mitreisenden Händler das Lesen und Schreiben beibringen zu lassen. Dann endlich hatten wir Kanton erreicht. Diese wimmelnde Stadt, die so bunt, so aufregend, so anders war als alles, was ich aus Schweden kannte. Für mich war Göteborg eine riesige Stadt gewesen. Doch welches Nest war sie im Vergleich zu Kanton. Schiffe aus aller Welt lagen im Hafen. Holländische, britische, französische. Wir kauften Tee, Seide, Porzellan, Kräuter und vieles mehr. Bis auf den letzten Zentimeter wurden die Lasträume gefüllt. Die Stimmung an Bord war wieder blendend. Doch dann mussten wir abermals auf Java mehrere Monate auf den richtigen Wind warten, ehe wir westwärts Richtung Afrika weitersegeln konnten, um das Kap herum, dann nach Norden. In Cadiz stoppten wir noch einmal und dann war es nicht mehr weit bis nach Schweden.
Dreißig Monate auf dem Meer. Dreißig Monate Enge, Einsamkeit, harte Arbeit. Welch Segen war es, jetzt die wohlvertraute schwedische Küste wiederzusehen. Die kargen Felsen, die kleinen roten Holzhäuschen der Fischer, die sich zwischen ihnen versteckten, die unzähligen Inseln vor der Küste. In der Ferne schimmerte die Brüstung der Älvsborgsfestung im Dunst. An ihr mussten wir vorbeisegeln, dann sieht man bereits den Hafen, die hunderten jubelnden Menschen, die uns begrüßen. Ich werde mich auf den Heimweg nach Alingsås machen und schon morgen liege ich meinen Eltern in den Armen.
Ich stand an der Reling. Die Sonne schien warm vom Septemberhimmel. Eine leichte Brise wehte durch mein vom Salz verklebtes Haar. Ich lächelte glücklich. Ich hatte es geschafft. Ich war zu Hause. Noch aber hatte ich einen Plan auszuführen. Bestimmt löste ich mich von der Reling, drehte mich um und wandte mich der Treppe zu, die hinunter aufs Kanonendeck führte.
Es war der 12. September 1745.
Die von Kiel kommende Fähre brummte träge an ihrem Schlauchboot vorbei. Lars Hammergren zog die Taucherbrille über die Augen und gab den anderen das Zeichen, dass er bereit war. Auch wenn er sich nicht eingestehen wollte, musste Hammergren feststellen, dass er aufgeregt war. Bisher hatten sie nur an der Oberfläche gekratzt. Doch was würden sie finden, wenn sie tiefer gruben? Er war sich wohl bewusst, dass sein Team heute und in den kommenden Tagen einen Teil der schwedischen Geschichte fortschreiben konnte. Ein Gefühl von Größe überkam ihn, welches er rasch beiseite wischte. Sie hatten so lange auf das grüne Licht des marinearchäologischen Instituts gewartet. Jetzt endlich hatten sie es erhalten. Die Gelder waren bewilligt. Nun konnten sie zur Tat schreiten. Rücklings ließ er sich ins Wasser fallen. Er musste nicht tief tauchen, dann sah er die ersten Planken aus dem Morast ragen.
Als ich die ersten Stufen der Treppe hinuntergestiegen war, sah ich mich um, doch niemand schien mich zu beachten. Alle waren viel zu sehr damit beschäftigt, mit heißen Worten die Küste zu begrüßen, Segeln einzuholen und emsig das Deck zu schrubben. Schließlich wollte man einen glanzvollen Eindruck abgeben, wenn man gleich im Hafen einlief. Eben stieg der Lotse über die Reling. Von einem Ruderboot war er über die hinuntergelassene Strickleiter nach oben geklettert. Er würde das Schiff nun sicher in den Hafen geleiten. Der Lotse wankte, woraufhin ein Matrose ihm zur Seite sprang und ihn stützte. Dann stiegen sie die steile Treppe zum Oberdeck hinauf. Der Lotse hatte große Probleme damit. Er schien nicht ganz nüchtern zu sein. Doch darum wollte ich mir jetzt keine Gedanken machen. Ich hatte anderes zu tun.
Das Kanonendeck war wie leergefegt. Alle waren oben auf dem Wetterdeck. Schwer hing die Luft unter der niedrigen Decke. Irgendwo gackerte ein Huhn, das sich glücklich schätzen konnte. Einen Tag länger auf See und es wäre wohl im Kochtopf gelandet. Ich schlich zwischen den Hängematten, die dicht an dicht nebeneinander hingen, hindurch, bis ich die gesuchte gefunden hatte. Hier in diesen Hängematten hatten wir 30 Monate lang geschlafen. Wie würde sich ein hartes steifes Bett anfühlen? Hastig blickte ich mich um. Niemand war zu sehen. Von oben tönten die markigen Befehle der Offiziere. Ich kniete mich auf den Boden unter der Hängematte und hatte die lose Planke schnell gefunden. Mit der Klinge meines Messers fuhr ich in die hauchdünne Ritze, die sich zwischen den zwei nebeneinanderliegenden Holzbohlen befand, drückte das Messer zur Seite und hob damit die lose Planke an. Mehrfach hatte ich ihn heimlich beobachtet, wenn er sich hier zu schaffen gemacht hatte. Jetzt war es ein Kinderspiel, sein Versteck zu finden und zu öffnen. Die Zeit der Rache war gekommen. Erneut schaute ich mich um, doch niemand war zu sehen. Würde ich erwischt, wären mir viele Stockhiebe sicher. Vielleicht sogar Schlimmeres. Doch ich musste es tun; ich war es mir schuldig – und Erik. Ich drückte die Planke weiter nach oben und langte in den schmalen Hohlraum, der darunter lag. Meine Finger ertasteten den ledernen Sack, griffen zu und zerrten ihn heraus. Rasch öffnete ich ihn und überschlug, wie viele Münzen in dem Säckchen lagen. Es waren weniger, als ich erhofft hatte. Den Rest hatte er versoffen und verhurt, dachte ich verbittert. Aber dennoch würde es reichen, eine Familie den ganzen Winter über zu ernähren.
Die Hand legte sich schwer und völlig unerwartet auf meine Schulter. Ich wirbelte herum, doch die Pranke hatte meine Schulter fest im Griff. Ein spöttisches Grinsen höhnte mir entgegen. Dunkle Augen stachen böse. Die buschigen Brauen, die über ihnen saßen, waren bedrohlich nach unten gezogen. Die Haut war von der Sonne ledern und braun. Ein wilder Bart bedeckte Wangen, Kinn und Hals. Sein Dreieckhut hing schräg über die Stirn. Olof. Wie aus dem Nichts war er hier aufgetaucht. Fauliger Mundgeruch waberte mir entgegen, als er sagte:
„Na, wen haben wir denn da? Wer vergreift sich hier an meinem Geld?“
Sein Geld! Dass ich nicht lachte. Es war das Geld, das er zuerst Erik, dann mir abgepresst hatte von unserem Lohn. Unser Geld, das er versoffen, mit dem er sich in den Häfen billige Frauen gekauft hatte, unser Geld! Es sollte nicht Olofs Geld bleiben, das hatte ich mir geschworen. Doch jetzt stand er grinsend vor mir und wusste, dass ich ihm ausgeliefert war. Ich war der Dieb. Niemand würde mir glauben, wenn ich sagte, dass ich nur mein und Eriks Eigentum zurückholte. Warum auch? Ich war nur ein lausiger Schiffsjunge, Olof ein angesehener Seemann. Ich würde ihm das Geld zurückgeben und wenn ich versuchen sollte, irgendjemand von Olofs Schuld zu überzeugen, dann wäre ich wohl bald genauso tot wie Erik. Erik hatte zum Kapitän gehen und ihm alles erzählen wollen. Die Erpressungen, die Schläge, wenn er nicht tat, was Olof von ihm wollte, die ständigen Herabwürdigungen. Er hatte Olof damit gedroht, zum Kapitän zu gehen. Das war sein Fehler. Einen Tag später war er im Sturm von der Takelage gestürzt. Es sei durchaus möglich, dass mir ein ähnliches Schicksal bevorstünde, wenn ich seinen Forderungen nicht nachkäme, hatte Olof gemeint, als er wenige Tage später bei mir fortsetzte, was er bei Erik begonnen hatte. Dreiviertel des Lohnes, den wir bereits auf See oder an den Häfen erhielten, musste ich ihm abgeben. Dafür würde er mir immer beistehen, wenn es mal Ärger unter den Seemännern geben sollte. Als ich gemeint hatte, dass er mich mal könne mit seinem Angebot, hatte er mich zuerst mit seinen Fäusten, dann mit dem Bericht, wie Erik zu Tode kam, davon überzeugt, es trotzdem anzunehmen. Die schlimmste Zeit waren die Monate auf Java. Während ich Hunger litt, prahlte er mit den Abenteuern mit seinen Hafenprostituierten. Die er von meinem Geld bezahlte. Olof war widerwärtig. Ich hasste ihn. Aber jetzt hatte er mich in der Hand. Er hatte mich auf frischer Tat beim Stehlen erwischt.
„Gib mir mein Geld zurück, wenn dir dein Leben etwas wert ist!“, knurrte er.
Für einen Moment stand ich wie erstarrt, dann rammte ich ihm mein Knie mit aller Wucht dorthin, wo es Männern besonders weh tut. Olof klappte mit einem lauten Stöhnen zusammen, sein Griff um meine Schulter lockerte sich, ich befreite mich und rannte unter den Hängematten übers Kanonendeck zur Treppe. Ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte, wohin ich sollte. Mich irgendwo verstecken? Über Bord springen und zur nächsten Insel schwimmen? Schon hörte ich Olof fluchend hinter mir. Er hatte sich von meinem Schlag schneller erholt als erwünscht. Just in dem Augenblick, als ich die Treppe nach oben stürmen wollte, kamen zwei Männer mit einer schweren Kiste entgegen, die damit die Stufen versperrten. Ich wandte mich in die andere Richtung und stolperte die steile Treppe ins Unterdeck hinunter, riss die erstbeste Türe auf und stand in einem stockdunklen Laderaum. Hektisch tastete ich mich nach vorne, kletterte die übereinandergestapelten Kisten hinauf und legte mich ganz flach obenauf. Der flackernde Schein einer Öllampe erhellte den Raum schwach, als Olof hereinkam.
„Junge, das Versteckspiel hat doch keinen Sinn. Hier drin bist du gefangen“, sagte Olof. „Gib mir das Geld und ich will die Sache vergessen. Hörst du?“
Ich hob den Kopf leicht und sah auf Olof herunter, wie er vor den Kisten stand. Jegliche Flucht war unmöglich. Olof schaute nach oben und da entdeckte er mich. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem fiesen Grinsen.
„Da bist du ja. Und jetzt gib mir das Geld! Ansonsten wird man bald einen gemeinen Dieb kielholen. Und glaub mir, das ist wirklich eine äußerst unangenehme Strafe.“
Ich sagte nichts und kroch noch etwas weiter nach hinten. Aber was brachte das schon? Entkommen würde ich ihm dennoch nicht. Nachdem Olof es mit lieben, mit drohenden, mit säuselnden, mit beleidigenden Worten versucht hatte, dass ich ihm das Geld gebe, ich mich aber noch immer nicht regte, geschweige denn etwas sagte, begann auch er, die Kisten emporzuklettern. Ich musste etwas tun, sonst würde ich mein geliebtes Göteborg nicht mehr lebend sehen. Als er die oberste Kiste erreicht hatte, trat ich mit den Füßen gegen sie, stieß und schob, bis sich die schwere Kiste in Bewegung setzte. Noch ein Stück, dann kippte sie, stürzte nach unten und riss Olof mit sich. Ein wüstes Brüllen hob an. Rasch kroch ich nach vorne und sah Olof direkt in sein schmerzverzerrtes Gesicht. Die Kiste lag über seinen Beinen, er konnte sich nicht rühren, aber er schrie vor Schmerz.
„Das wird dich an den Galgen bringen!“, brüllte er und ich war mir sicher, dass er damit Recht hatte. Unschlüssig, was ich tun sollte, lag ich oben auf den Kisten, als ein Donnern und Krachen Olofs Brüllen übertönte. Das ganze Schiff erzitterte, Kistenstapel stürzten ein, ich wurde herumgewirbelt und musste kurz das Bewusstsein verloren haben.
Vom Schiff, das über dem Schlick lag, war nicht viel übriggeblieben. Die Kanonen und der größte Teil der Ladung hatten in den Wochen und Monaten danach geborgen werden können. Doch was unterhalb des Schlicks verborgen war, konnte ihnen viel über die Schifffahrt im 18. Jahrhundert erzählen, dessen war sich Lars Hammergren sicher. Taucher hatten mit schwerem Gerät bereits viel Sand abgeräumt, als er zum Wrack hinabtauchte. Im fahlen Scheinwerferlicht konnte er Porzellanteller entdecken, er fand Besteck, Münzen und vereinzelt Holzplanken, die dem nagenden Zahn der Zeit widerstanden hatten. Dass das Wrack in keinem guten Zustand sein würde, das war ihm schon lange klar gewesen. Und dennoch durfte Hammergren seinen Traum wahr werden lassen. Er durfte den Ostindienfahrer Götheborg bergen. Er war verantwortlich dafür, dass ein Stück schwedischer Geschichte wieder an die Oberfläche kam. Hammergren träumte den Traum weiter: Was wäre, wenn dieses Schiff, das hier vermodert und verfallen vor ihm lag, wieder zu neuem Leben erweckt würde – ein Nachbau, der als Botschafter Schwedens über die Weltmeere segelte. Hammergren lächelte. Dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu, die im trüben Wasser unter ihm lag.
Als ich wieder zu mir kam, strömte Wasser durch ein klaffendes Loch in der Schiffswand. Olof jammerte. Eine weitere Kiste war auf ihn gefallen. Er konnte sich nicht regen.
„Hilf mir!“, wimmerte er. „Das Schiff… es geht unter.“
Mein Kopf dröhnte. Das Wasser im Lastraum stieg. Jetzt merkte ich auch, dass das Schiff deutliche Schräglage hatte. Wie damals im Sturm, als Erik starb, dachte ich. Olof blickte mich mit großen Augen an.
„Hilf mir!“, bettelte er erneut.
Ich schaute ihn an. Das Schiff knarzte und knarrte. Es legte sich noch schräger. Immer mehr Wasser strömte durch das Leck hinein. Ich fühlte den Geldsack in meiner Hand. Dann drehte ich mich um, ging die Treppe hinauf und ließ mich auch von den wilden Flüchen, die mir hinterhergeworfen wurden, nicht aufhalten.
Auf dem Wetterdeck herrschte ein heilloses Durcheinander. Männer liefen scheinbar ziellos umher, jeder rief und brüllte und schrie etwas, die Beiboote waren bereits zu Wasser gelassen, manche sprangen über die Reling ins Meer.
„Was ist geschehen?“, fragte ich einen Matrosen, der an mir vorbeirannte.
Mit irrem Blick schaute er mich an.
„Bist du blind? Wir sind auf Grund gelaufen. Von Bord mit dir, aber schnell!“
Ich verstand nicht. Doch ich verstand so viel, dass ich über die Reling stieg, eine Strickleiter hinunterkletterte, ins Wasser sprang und mit hektischen Bewegungen vom Schiff wegschwamm, bis mich ein Fischer, der zufällig in der Nähe war, aus dem Wasser zog. Atemlos kauerte ich am Boden des Fischerbootes, den Geldsack fest an mich gepresst. Ich blickte zurück zur Götheborg. Zu dem Schiff, das dreißig Monate lang mein Zuhause war. Der goldene Löwe, der vorne am Bug prangte, reckte stolz seinen Kopf in die Höhe, während das Heck bereits unter Wasser lag.
Es waren nur wenige hunderte Meter zum Hafen. Nach abertausenden Meilen waren nur noch wenige hunderte Meter zu segeln. Ich starrte auf das Schiff, das stolze, und weinte. Ich weinte um das Schiff. Um Olof weinte ich nicht.
Lars Hammergren war von dem Wrack nicht nur aus beruflichen Gründen fasziniert. Seine eigene Geschichte verband ihn mit diesem Schiff. Vor wenigen Jahren hatte er begonnen, einen Familienbaumstamm anzulegen. Bis in das 16. Jahrhundert hinein konnte er seinen Vorfahren nachspüren. Ein Detail, das er nicht lösen konnte, hatte ihn allerdings besonders gepackt. Den Bruder seines Urururururgroßvaters hatte er auf einer Beschäftigtenliste der Schwedischen Ostindienkompanie wiedergefunden. Er hatte auf einem Schiff namens Götheborg angeheuert. Nach dem Untergang des Schiffs war ihm sein Lohn ausgezahlt worden. Danach hatte sich seine Spur aber irgendwo verloren.
Ein Taucher winkte ihm zu. Hammergren tauchte zu ihm und betrachtete, worauf der Taucher zeigte. Im Schlamm lag eine verhältnismäßig gut erhaltene Kiste, in der sich vermutlich Kostbarkeiten aus China befanden. Doch das war nicht das, was Hammergren interessierte. Unter der Kiste war ein Stiefel eingeklemmt und in dem Stiefel steckte ein Stück Stoff, wahrscheinlich eine Hose, die durch den Schlick konserviert worden war. Hammergrens Herz pochte schneller. Auch wenn er wusste, dass es keine Toten beim Untergang der Götheborg zu beklagen gab, schien das Wrack doch so manches Rätsel aufzugeben.
Ich, aber nicht mein Schiff, hatte unseren Zielhafen erreicht. Doch ich nahm Göteborg nicht wahr. Obwohl ich seit Monaten nichts sehnlicher herbeigewünscht hatte, als endlich wieder meinen Fuß in diese Stadt zu setzen, schien sie mir jetzt weit weg zu sein. Noch immer zitterte ich am ganzen Leib. Was war nur geschehen, dass das Schiff so kurz vor dem Hafen auf Grund gelaufen und gesunken war? Es war unmöglich, unwirklich. Die Stadt war in heller Aufregung. Hunderte Menschen standen am Hafen und diskutierten laut, wie es zu diesem Unglück kommen konnte. Ich drückte mich zwischen den Menschen hindurch und suchte den Weg zum Kontor der Ostindienkompanie.
Es hatte Stunden gedauert, denn auch hier herrschte Chaos und Durcheinander. Doch dann stand ich vor dem Mann, der die Löhne auszahlte. Die Männer sollten ihre Löhne schnell und unbürokratisch bekommen, das war die Anweisung von oben. Also stand ich da, sagte meinen Namen und erhielt meinen Lohn. Dann legte ich einen Brief vor, in dem in krakeliger Handschrift, die ganz offensichtlich die eines schreibungewohnten Matrosen war, stand:
Bin schwer verletzt durch den Untergang der Götheborg, befinde mich daher im Hospital der Christine-Kirche. Mein Lohn soll dem Schiffsjungen Johann Söderstedt, der jetzt vor Ihnen steht, ausbezahlt werden. Er wird ihn mir überbringen. Danke. Gezeichnet, Olof Hammergren.
Der Mann hinter dem Schreibtisch beäugte mich misstrauisch, las den Brief ein zweites und ein drittes Mal, dann öffnete er die Truhe, die vor ihm stand, und händigte mir Olofs Lohn aus. Ich bedankte mich artig und trat vor die Tür. Dann machte ich mich auf den Weg zu Eriks Eltern, um ihnen die traurige Nachricht vom Tod ihres Sohnes und eine frohe Botschaft in Form eines kleinen Geldsacks zu überbringen.
Niemand kam beim Untergang der Götheborg ums Leben. So heißt es. Mich hat ja niemand gefragt.
Texte: Jo W. Gärtner
Bildmaterialien: Jo W. Gärtner
Tag der Veröffentlichung: 08.07.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Diese Geschichte ist dem großartigen Nachbau der Götheborg und der ebenso großartigen Crew des Schiffes gewidmet, die einen historischen Traum zum Leben erweckt haben.