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Oh, man, das ist nicht fair! Es ist definitiv nicht mein Tag. Oder eher nicht mein Leben. Ich meine, gibt es überhaupt Gerechtigkeit auf dieser Welt? Würde es sie geben, dann würde es auch keine Kriege, keine Umweltverschmutzer geben. Die Schule wäre auf höchstens fünf Jahre verkürzt und mein Vater würde auch nicht der Vorsitzende des Schulelternrates werden. Er würde nicht diesen bescheuerten Ausflug zum kunsthistorischen Museum vorschlagen, um sich über die mongolische Ethnographie zu bilden.
Wen interessiert schon Mongolei? Reicht es nicht den Ulan Bator und Tschingis-Khan zu kennen? Ich finde, dass mein Allgemeinwissen dadurch mehr als genug beansprucht wird. Nun, das schlimmste ist ja nicht, dass wir uns den ganzen Tag Jurten und mongolische Trachten angucken müssen. Nein, das schlimmste ist, dass durch Beziehungen erstandene Freieintrittskarten und durch den Einfluss meines Vaters, uns die Alternative den ganzen Tag im Outlet-center zu verbringen und angeblich etwas über die freie Marktwirtschaft zu lernen entgangen ist. Den ganzen Tag Markenklamotten zu erschwinglichen Preisen!
Es ist amtlich, ich werde jetzt offiziell und, wie sogar ich glaube, zurecht von der gesamten Schule gehasst. In der gerechten Welt würde man mich um meinen Vater bemitleiden und nicht um meinen riesengroßen Pickel auf der Nase, den ich jetzt im Spiegel geradezu entsetzt anstarre.
Ausgerechnet heute! Die blöde Franzi hat Masern oder so was, liegt bestimmt mit Flecken übersäht im Bett und der Weg zum Patrick aus der Parallelklasse ist frei. Gott, der ist so süß!!! Und ich habe einen Pickel! Der ist so groß, der könnte glatt als ein Körperteil durchgehen.
Ich kann nicht mit. Auf gar keinen Fall darf ich mich so zeigen. Vortäuschen krank zu sein kann ich vergessen. Das habe ich zu oft gebracht, sie würden mich in Null-komma-nix entlarven. Was bleibt? Die Wahrheit? Na klar, »Mum, Paps, da ist so ein Junge, in den ich seit der fünften Klasse total verknallt bin.«
Ich versuch es lieber mit der Schadensbegrenzung. Meine getönte Creme für junge Haut bringt nicht annähernd den Effekt, den ich erreichen wollte. Ich schleiche mich ins Bad und durchwühle die Kosmetiktasche meiner Mutter. „Stark deckendes Make-up“ lese ich auf der Verpackung, wenigstens etwas Glück in meinem Leben. Das mich sofort verlässt, sobald ich die Dose aufmache. Leer.
Vielleicht war das nur das Licht? Vermutlich ist der gar nicht so groß, wie ich mir das einbilde. Ich schaue in den Spiegel im Bad. Er ist noch da, an der selben Stelle. Und ist es möglich, dass es noch mehr gewachsen ist? Ich bin ja sonst für die Farbvielfalt in der Natur, aber müssen sie sich alle auf meiner Nase zeigen?
Die weiß-gelbliche Mitte fasziniert mich für einen Moment, bis mir einfällt, dass die Selbige auch Andere aus der Schule faszinieren würde.
Verzweifelt und machtlos tu ich das, was auch andere Teenager in meiner Situation tun würden, zumindest in den Filmen. Ich nehme ein Pflaster.

Tja, der liebe Gott war nicht gnädig zu mir. Die Busse sind da. Drum herum versammelt stehen die A, B und C aller drei letzten Klassen. Nicht mal der Nieselregen schreckt sie davon ab mitzufahren, Hauptsache keine Schule.
Meine beste Freundin steuert direkt auf mich zu.
»Hey Denise! Sag mal, was hast du da an der Na… Oh mein Gott, die Franzi rückt an!«
Ich folge ihrem Blick und sehe die kerngesunde, blendend aussehende Franzi, die sich mit sicheren Gang und üblicher Eskorte von Tatti und Lilli uns nähert. Soviel zu Gerechtigkeit.
»Na, gespannt auf die Mongolei? Ihr habt ja einiges gemeinsam: Das Nomadenleben, Kleidungsstill, die kleinen Mandelaugen.«
Autsch, wie immer auf den Punkt.
»Solltest du nicht rot gepunktet und im Bett sein? Wenigstens Sam fällt noch etwas ein. Ich stehe nur dumm da.
»Ach weißt du, falscher Alarm.«
Wie passend zu der Matheklausur!
»Außerdem stehen mir die roten Punkte nicht. Diese Ehre überlasse ich gern deiner Freundin. Zumal sie den passenden Nasenschmuck bereits hat.«
Das Gelächter übertönt meine innere Stimme, die sich gerade die Seele aus dem Leib schreit. Ich such ganz verzweifelt nach dem Loch, das sich ganz bestimmt gleich vor mir auftut. Aber den Gefallen tut mir der liebe Gott auch nicht.
Ich drehe mich um und steige in den Bus. Die Aufschrift auf der Windschutzscheibe besagt »11 A und 11 B«. Super.
Die Parallelklasse steht noch draußen und hört sich die Anweisungen vom Herrn Reinold an, ihrem Klassenlehrer. Patrick sieht sogar im Regen zum Anbeißen aus.
Plan B. Ich such mir einen Platz so weit und so versteckt wie möglich. Letzte Reihe am Festeren scheint perfekt zu sein. Sam setzt sich daneben.
»Mach dir nicht draus. Hab ihr dafür einen gekauten Kaugummi in die Tasche geschmissen.«
»Danke, das macht’s aber auch nicht besser.«
»Was ist unter dem Pflaster? Pickel?«
Meine Antwort ist eindeutig: Kein Kommentar. Ich schaue aus dem Fenster. Unsere Klasse steigt gerade ein. Die B’s hinterher. Ich versuche mich noch kleiner zu machen. Bis jetzt blieb ich noch unerkannt. Keine Vorwürfe, keine bösen Blicke, kein Gelächter. Vielleicht wird es ja nicht so schlimm.
»Denise könnte uns doch etwas über die Erfahrungen ihrer Familie mit der Mongolei erzählen. Ich glaube ihr Vater hat mal erwähnt, dass er das Ziel aus privatem Interesse und besonderen Verbundenheit zu dem Land gewählt hat. Nicht war, Denise?«
Ich habe die Diskussion davor nicht mitbekommen. Die Frau Meyer muss gefragt haben, wie wir uns die Zeit verkürzen wollen. Wenn es nicht schon einen Namen für das Böse geben würde, würde es ganz sicher Franzi heißen.
Soviel zu meinem sicheren Platz. Fast fünfzig Augenpaare glotzen mich an und ich, die Gedanken nur an meinen Pickel gerichtet, laufe sofort dunkelrot an.
Zur meinem Glück oder Unglück steigt gerade mein Alter bei uns ein und die Frau Meyer spricht ihn doch tatsächlich auf sein Interesse zu Mongolei an. Das Leben ist unfair.
Mein Vater gehört einem Mongolenklub an. Was das ist? Ein Haufen alter Weltfremder, die sich einbilden in ihrer Freizeit Mongolen spielen zu müssen. D.h. wir haben tatsächlich eine Jurte im Garten und trockenes Pferdefleisch im Vorratskeller. Alles Sachen, die ich mit peinlich genauer Präzision von der Außenwelt verstecke. Alles zunichte. Mein Vater erzählt mit Stolz und Rage von seinen verkleideten Mitmongolen und vielen Abenteuern auf dem Grillplatz. Das Gelächter kriegt er noch nicht einmal mit, so sehr ist er in Einzelheiten vertieft.
Sam drückt verständnisvoll meine Hand und ich traue mich nicht hoch zu sehen und dem triumphierenden Blick von Franzi zu begegnen. Das war’s. Wir müssen umziehen. Andere Stadt, andere Schule: Anders ist der Schaden nicht zu beheben.
Ich fühle mich wie auf einem mittelalterlichen Folterrad. Mit jeder Einzelheit, die mein Vater preisgibt, wird das Rad noch weiter gedreht. Schier endlos scheinen seine Geschichten zu sein. Ganz zu Freude dieser Kuh. Wenn nur mal jemand das Thema wechseln würde!
Wir machen eine Pinkelpause auf der Raststätte. Ich weiß, es ist keine gute Idee, sich jetzt zu erheben, durch den ganzen Bus an allen Schülern vorbei zu laufen. Aber ich brauche frische Luft. Und ich muss wirklich mal.
Starr nach vorn guckend, drängle ich mich nach draußen und steuere ganz schnell auf die Raststatttoilette zu. Ich muss allein sein. Weg von allen und allem. Mir ist zum Heulen zumute. Aber den Gefallen tue ich ihr nicht. Ich muss nachdenken: Was ist zu tun? Was kann ich überhaupt tun? Gar nichts. Mein Leben ist vorbei. Vor reinem Selbstmitleid kommen mir doch noch Tränen.


Ich stehe am Rande der Autobahnraststätte und sehe mir an, wie der Bus an mir vorbeifährt. Ich sehe meinen Vater, der sich immer noch angeregt mit Frau Meyer unterhält. Ich sehe Samantha, die sich im Gang mal wieder mit der Tatti lauthals streitet. Ich sehe die Franzi, die mich als Einzige sieht und mir mit einem süffisanten Lächeln winkt. Ich sehe das Heck vom Bus, der immer kleiner wird.
Wie lange wird es wohl dauern, bis jemand außer Franzi merkt, dass ich nicht da bin? Ich gebe der Sam noch drei Minuten, bis sie ausrastet und handgreiflich wird. Zwei Minuten zum Auseinanderziehen, eine zum Durchschnaufen. Also sechs Minuten bis sie sich an ihren Sitz setzt, um mir ihre Version des Streits zu erläutern. Sechs Minuten bis sie Alarm schlägt. Die große neunzig auf dem Bus bedeutet wohl die Stundenkilometer. Also wenn ein Bus mit neunzig Stundenkilometer fährt, wie weit kommt er in sechs Minuten? Ich bin nicht hier um Matheaufgaben zu lösen, auf jeden Fall zu weit. Drehen auf der Autobahn ist auch schlecht.
Handy! Ich taste meine Jackentasche auf der nichtvorhandenen Jacke und erinnere mich, dass ich sie in Eile unter dem Sitz gelassen habe. Gleich neben dem Rucksack, indem mein Portemonnaie liegt.
Ich spüre leichte Panik in mir aufsteigen. Bow, hat der LKW-Fahrer da mir gerade zugewunken? Ist wohl keine gute Idee als junges Mädchen am Straßenrand zu stehen. Außerdem regnet es, glaube ich. Ist es kalt? Ich weiß es nicht. Ich habe überhaupt keine Empfindungen mehr, ich bin verwirrt. Ich sollte lieber reingehen, oder?
Beim letzten Umzug hatten wir unseren Kater Alex vergessen. So musste er sich auch gefühlt haben. Als wir zurückkamen, hatten wir ihn nicht mehr gefunden. Oh mein Gott! Was, wenn sie mich auch nicht mehr finden? Ich rühre mich nicht vom Fleck. Keinen Zentimeter.


Ich weiß, dass ich es dem Schock zu verdanken habe, dass ich alles in Zeitlupe sehe. Da ist eine Frau in roter Jacke, die Ihre zwei Kinder in den blauen VW Polo setzt. Die beeilt sich, weil der Regen zugenommen hat. Das jüngste Kind, vielleicht vier Jahre alt, albert rum und weigert sich freiwillig anschnallen zu lassen. Da ist ein Lieferwagen mit ausländischen Kennzeichen. Polen? Ukraine? Ich weiß nicht, aber der Fahrer sieht komisch aus. Das Gesicht ist irgendwie schmerzverzehrt, so als hätte er furchtbares Zahnweh oder so. Der kommt von der Fahrbahn ab und steuert mit unüberwindbaren Kräften geradezu auf den Polo zu. Wie ein Magnet. Schell, präzise, tödlich. Ich sehe die Augen der Frau, aufgerissen, gefüllt mit Entsetzten. Ich höre jemanden schreien. Ich glaube, mich.
Dann kommt der unvermeidbare Schlag. Das Geräusch wird mir ewig in Erinnerung bleiben. Ohrenbetäubend.
Wenn ich nicht bereits schockiert wäre, hätte ich mich jetzt ganz gewiss in einen Schockzustand versetzt, aus dem ich wohl die nächsten Jahre nicht herausgekommen wäre. Doch es hatte bei mir den Umkehreffekt. Ich bin aufgewacht.
Ich laufe los. Vorbei an der Frau in roten Jacke, der ich offensichtlich nicht mehr helfen kann. Vorbei an dem brennenden Laster, den letztendlich nur der Werbemast aufhalten konnte. Hin zu dem blauen Polo, der fast zehn Meter weiter geschleudert wurde und jetzt auf dem Dach liegend zum stehen kam.
Im Innern keine Bewegung. Ich versuche die Tür aufzukriegen. Keine Chance, zu verbeult. Ich schnappe mir einen Pflasterstein und schlage die Scheibe ein.
Gut, eins nach dem Anderen. Es ist immer gut ein Plan zu haben. Sie hat es noch geschafft, den kleinen anzuschnallen. O.K, erst die Glasscherben entfernen, dann den Kindersitz aufmachen, vorsichtig das Kind rausnehmen. Nicht so einfach wie gedacht. Vorsichtig und Kopfüber ist wirklich nicht vereinbar.
Geschafft. Weiterziehen, weit weg vom Auto. Weiß nicht warum, aber so machen sie es in den Filmen. Jetzt noch die andere Seite, anderes Fenster, andere Scherben. Das Kind ist größer, schwerer. Ich finde die Gurtschnalle nicht. Wie lange kann so ein Kind bewusstlos und kopfüber hängen? Lieber nicht nachdenken. Ich muss da rein. Ich klettere oder eher krieche in das Auto. Es fühlt sich komisch an auf dem Autodach auf allen vieren zu stehen. Ich platziere mich so, dass die Beine des Mädchens auf mein Rücken fallen, drücke seitlich gegen ihren Bauch und mache den Gurt auf. So weit so gut. Ich halte Ihren Kopf und lockere meine Seite.
»Gib sie her! Langsam! Ja, gut so!« Endlich. Ich bin nicht allein.
Ich klettere mit Hilfe eines Mannes, der wie typischer LKW-Fahrer aussieht: Schnurbart, Bierbauch und viel zu enge Jeans. Er zieht mich zur Seite, dahin wo sich bereits ein Paar Zuschauer und Helfer versammelt haben. Von Irgendwo sind die Sirenen zu hören.
Ich schaue auf die leblosen Körper der beiden Kinder. Kein Lebenszeichen, kein Atemzug. Die Menschen um mich herum stellen mir irgendwelche Fragen. Ich antworte nicht, ich höre sie nicht. Der Laster ist bereits ganz von Flammen umgeben. Der Mann hat bestimmt keine Zahnschmerzen mehr.
Ein weiterer Knall weckt mich aus meiner mentalen Abwesenheit. Ich sehe eine blaue Autotür fliegen. Der Polo brennt.
Noch vor einer Stunde war mein größtes Problem ein Pickel auf der Nase. War das real? Ist das real?
Die gestreiften Autos sind bereits da. Die Kinder werden untersucht. Jemand legt mir eine Decke auf die Schulter.
»Alles in Ordnung mir dir?«
»Ja«, flüstere ich nur, unfähig meinen Blick von den Kindern zu lösen.
Das Mädchen kommt zu sich. Puh, so eine Erleichterung habe ich selten empfunden. Sie weint.
»Der kleine ist noch im kritischen Zustand, aber noch am Leben.«
Am Leben! Das ist alles was ich hören wollte. Sie leben, beide. Sie werden es sicher schwer im Leben haben, so ohne ein Elternteil, aber sie leben.
Ich muss an meine Eltern denken. An meine liebe Mutter, die wohl nie sesshaft wird. Und an meinen Vater. Groß, streng, sonderbar, wunderbar.
Der Bus mit der Aufschrift „11A und 11B“ rollt langsam an. Ich laufe meinem Vater entgegen und umarme ihn ganz fest.
»Schatz, das tut mir so leid. Was ist passiert? Geht es dir gut?«
»Ich hab dich lieb, Paps«, bringe ich nur heraus.
Ich schaue durch die Tränen in die aufgerissenen Augen meiner Mitschüler. Nein, es ist definitiv mein Tag, definitiv mein Leben.


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Tag der Veröffentlichung: 05.06.2012

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