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Mein Name ist...



Ich weiß es nicht! Ich öffne meine Augen; es ist, als ob ich gerade geträumt hätte und mich nun an nichts davon erinnern kann. Ich laufe los, als ob es das letzte Mal wäre, bevor ich sterben muss. Ich habe Angst! Angst davor, dass mich jemand erwischt. Mir ist nicht klar wieso ich das denke… ich laufe schneller. Sehr schnell! Ich habe das Gefühl, mich viel schneller als sonst zu bewegen…

Dort wo ich gerade hinsehe, sehe ich nur meine Hände. Doch halt, was ist das? Da sind keine Finger. Da sollten doch Finger sein?!
Es sind mit dichtem Haar bewachsene Pfoten! Ich habe keine Ahnung, warum ich Pfoten habe. Mein Blick ist weich gezeichnet und trüb. Wurde ich verhext? Es ist für mich nicht möglich klar zu sehen, auch wenn ich mich noch so anstrenge.
Das sind meine Pfoten mit denen ich laufe. So ungewöhnlich scheint das gar nicht zu sein. Ich fühle, das gehört zu mir…
Ich befinde mich in einem Treppenhaus. Überall wo ich hinsehe, erkenne ich Platten aus poliertem Stein. Auf allen Vieren springe ich abwärts. Irgendwo muss doch der Ausgang sein! Wo bin ich hier eigentlich? Die Wendeltreppe sieht aus, als wäre sie in einer Jagdhütte gebaut, jedoch ist diese viel länger und steiler als gewöhnlich. Kann eine Jagdhütte so viele Stufen und Etagen haben? Die Treppen sind aus Holz gefertigt, ebenso das Geländer. Das Treppenhaus ist in orange-braunes Licht getaucht. Ich werde schneller, weil ich nicht weiß, was eine Jagthütte ist!
Was ist das auf meinem Rücken? Es hüpft auf und ab und ist an meinem Rücken mit einem breiten Gurt befestigt. Ist das ein Beutel?
Es gibt sehr wenig Licht. Wo kommt her? Es sind keine Fenster oder andere Lichtquellen zu erkennen. Ich kann mich nicht daran erinnern jemals ein so hohes Gebäude betreten zu haben, geschweige denn, überhaupt ein Gebäude betreten zu haben! Komisch: Ich weiß was ein Gebäude ist.
Ich überspringe gerade einige Stufen auf einmal um mehr Geschwindigkeit zu erreichen. Obwohl ich niemanden sehe, habe ich das Gefühl, dass mich jemand verfolgt. Ich muss hier raus!
Wie spät ist es? Was bedeutet der Gedanke Zeit? Was ist Zeit?
Was rieche ich da: Blut? Ja! Es ist Blut und Schweiß. Sehr intensiv. Meine Nase scheint sehr gut zu funktionieren. Bin ich verletzt?!
Was ist das? Ein Lichtschimmer von grellem, weißen Licht… Ist das der Ausgang aus dieser gigantischen Hütte?!
Woher kommt dieser plötzliche Schmerz?!
Lass das, nein! Ich rufe: „Nein!“
Es ist nass! Hört auf damit! Wer wagt es mich nass zu machen? Die weiß schimmernde Flüssigkeit brennt auf meinem Fell…
Wo ist das Fell hin? Meine Haut brennt an den Stellen, an denen mich die Flüssigkeit getroffen hat! Das ist kein Wasser. Was war es dann?!
„Gib mir die Téoplatten!“, schreit ein Mann, den ich kaum erkennen kann. Meine Sicht ist immer noch trüb, aber etwas klarer als zu vor, viel klarer! „Aber sofort!“, setzt der Mann energisch nach und fuchtelt mit einer Art von Wasserpistole, wie wild, herum.
Sein Gesicht formt sich bedrohlich zum Ausdruck absoluter Entschlossenheit. Angsterfüllt schreie ich den Mann an: „Ich habe deine Téoplatten nicht!“ Ich erinnere mich plötzlich an den Beutel auf meinem Rücken, in dem ich etwas Hartes, aber nicht allzu schweres, spüre. Etwas, das Téoplatte genannt wird, hört sich sehr schwer an. Außerdem spüre ich auf meinem Rücken – was auch immer in dem Sack enthalten ist – nur ein einziges Ding! Das können keine Téoplatten sein.
Meine Angst verändert sich in Besorgnis, da der Mann, welcher um die 60 Erdenjahre sein muss, und ein langes, schmales Gesicht mit Spitzkinn hat, Gesichtsformen annimmt, welche mich vermuten lassen, dass er mir nicht glaubt.
„Gib sie mir sofort, oder ich bin gezwungen dich auszuschalten! Du bist es nicht Wert zu leben, aber dennoch brauchen wir dich. Trotzdem: einer weniger kann nicht schaden. Diese Missgeburt!“
Ich habe keine Ahnung was eine Missgeburt ist, aber es hört sich nicht nett an, was der Herr da brüllt! Ich bin so verwirrt und verstehe nicht, was der Mann von mir will! Ich taste mich mit angsterfüllter Stimme vor: „Hier, nimm den Sack! Sieh nach wenn du mir nicht glaubst!“
„Aurelius! Sei vorsichtig!“, schreit eine alte Frau am Fuße der Treppe, „Das ist ein Trick! Er wird dich töten und die Téoplatten trotzdem stehlen!“
„Warum sollte ich?“, schreie ich verzweifelt in Richtung der Frau, „Ich habe keine Ahnung, was Téoplatten sind! Im Sack ist etwas drin, aber ich bin mir sicher, dass es keine Téoplatten sind!“
„Was ist es dann?“, blafft Aurelius, und setzt, „Hast du einen Quato im Beutel?“, energisch nach.
„Ich weiß nicht, was in dem Beutel enthalten ist! Ich weiß nur…“, sage ich wahrheitsgemäß, „…dass ich ausschließen kann, dass es sich um Téoplatten handelt… Ich habe keine Ahnung was im Sack ist, so glaub mir doch!“. Ich weiß natürlich auch nicht was ein Quato ist. Ich traue mich gar nicht näher nachzufragen was das ist.
„Wie könnte ich dir glauben, immerhin weißt du auch, dass es keine Téoplatten sind!“, so Aurelius.
Aurelius’ Gesichtsausdruck verändert sich. Er wirkt sehr verzweifelt! „Magda, falls Äthyl etwas versucht, auch nur eine falsche Bewegung macht, musst du uns Beide töten! Das weißt du?!“
Ist Äthyl mein Name? Woher kennen die mich! Wieso wollen die mich umbringen? Bin ich ein Verbrecher!? Was habe ich nur getan?! … Ich kann mir das nicht vorstellen! Würde ich die beiden fressen wollen? Ich habe das Gefühl, dass ich keiner Fliege etwas zu leide tun könnte! Die wirren Gedanken in meinem Kopf, ich will, dass sie aufhören!
Magda schreit und beginnt dabei heftig zu weinen „Nein!“, schluchzt sie, „Ich kann das nicht zulassen… Ich kann dich nicht töten, wegen dem da!“
Sie meint mich! Liebt sie ihn? „Du musst! Sei gefasst und nimm meine Leg-Pistole…“, meint Aurelius zu Magda bestimmend, während er das Ding mit dem ich vor wenigen Augenblicken noch beschossen wurde, Magda, ohne den Blick von mir abzuwenden, übergibt.
Aurelius scheint mehr als ich verzweifelt zu sein. Ich verstehe nicht warum, aber es beruhigt mich auf eine gewisse Art und Weise. Er hat Angst um sein Leben, und das wegen mir. Er ist offenbar bereit dazu, alles was er hat zu verlieren…
„Gerne gebe ich dir den Beutel! Ich habe keine Ahnung was darin enthalten ist!“, höre ich aus meinem Mund. Ich hätte nie geglaubt, dass ich das so ruhig sagen kann, obwohl bis eben noch, die Anspannung ins Unermessliche ging!
Behutsam greife ich mit der rechten Hand in Richtung des Riemens, bereitwillig, Aurelius den Beutel zu überreichen.
Aurelius schreit: „Lass deine Hand wo sie ist!“ Er dreht sich blitz schnell zu Magda um und blafft: „Hab ich nicht gesagt, du sollst uns beide töten wenn er etwas versucht?“. Magda ist gelähmt vor Schreck.
Jetzt nur bloß nicht bewegen… Es ist still. Ich kann meinen eigenen Herzschlag hören, so still ist es.
Magda erklärt Aurelius, unter Tränen, aber mit ruhiger, zittriger Stimme, dass sie meine Bewegung nicht gesehen hätte. Aurelius fordert sie energisch auf sich an das was er gesagt hatte zu halten, und zwar, uns beide zu töten, falls ich eine falsche Bewegung mache. Der alte Mann dreht den Kopf nun langsam zurück zu mir, als hoffe er, dass ich mich nicht rühre…
„Äthyl! Gib mir jetzt den Beutel!“
Was hat Magda vor, sie bewegt sich… Sie kommt die Treppe hoch. Mit der auf mich gerichteten Leg-Pistole in der Hand. Mit klaren Fingerbewegungen signalisiert Aurelius mir nun, dass ich ihm den Beutel geben soll. Ich greife erneut langsam mit der rechten Hand zum Riemen des Beutels, umschließe ihn mit den Fingern und hebe diesen langsam von Links über meinen Kopf.
Der Beutel baumelt am Riemen. Ich gebe ihn Aurelius.
„Bleib ja ruhig Äthyl“, ermahne ich mich im Geiste selbst, „gib Magda keinen Grund uns beide zu töten.“
So ruhig als möglich sage ich: „Hier hast du den Beutel… Kann ich jetzt gehen?“. Aurelius zögert mit der Antwort. Denkt er über die Frage nach? Was geht ihm durch den Kopf? Bedeutet das etwas Gutes?
„Nein, noch nicht! Zuerst sehen wir nach, was im Beutel ist. Wenn, dann sterben wir alle gemeinsam. Wenn du hier bleibst, ist das Beweis genug für mich, dass der Inhalt des Beutels ungefährlich ist. Ihr könnt euch nicht selber töten. Dazu seid ihr nicht in der Lage!“
Wen meint er mit ihr? Kann ich mich nicht selber töten? Ich will mich gar nicht selber töten! Wieso sollte ich auch?! Wie kann sich Aurelius sicher sein, dass der Inhalt des Sackes ungefährlich ist? Bis vor wenigen Augenblicken wusste ich gar nicht, dass ich überhaupt existiere!
Langsam und vorsichtig öffnet Aurelius den Beutel. Magda kommt, mit immer noch zielgerichteter Leg-Pistole, näher und erreicht nun dieselbe Stufe der Treppe auf der Aurelius steht. Er fasst mit der Hand in den Beutel. Nichts geschieht.
Ich möchte zwar weg, aber irgendetwas hält mich. Erhoffe ich mir, dass der Inhalt des Beutels meine Situation aufklärt?
Er schließt gerade seine Finger um etwas, das sich im Beutel befindet.
Warum grinst Aurelius? Er zieht etwas aus dem Sack. Aurelius schließt seine Augen und neigt seinen Kopf theatralisch nach oben. Sein Grinsen im Gesicht wird breiter… Plötzlich verändert sich die Farbidylle des Treppenhauses von duster bräunlich nach blau-silber funkelnd.
Was ist es? Es scheint aus Glas zu sein… Ein Gefäß?
„Welch Ironie!“, hält Aurelius fest und bricht damit das Schweigen. „Tarator hat volle Arbeit geleistet und ich hätte dich wegen dem Ding fast getötet!“.
Ratlos frage ich Aurelius: „Wer ist Tarator und von welcher Ironie sprichst du?“
„Tarator ist böse!“, wirft Magda ein, während sie die Leg-Pistole senkt und in ihrer Tasche, welche an zusammengenähte Lumpen erinnert, vorsichtig, vergräbt. Sie schüttelt dabei emotionslos den Kopf.
„Er ist der, der dir, Äthyl, das angetan hat.“, sagt Aurelius. Er fuchtelt während er dies sagt mit dem scheinbar aus Glas gemachten Gefäß herum. Die an der Wand durch das Gefäß projizierten Lichtpunkte beginnen zu flackern und sich auf der Wand zu bewegen, ähnlich wie die Spiegelungen von Wasseroberflächen, die in der Sonne glänzen.
„Du hilfst mir nicht weiter, du sprichst in Rätseln für mich!“, antworte ich, zwar nicht minder verzweifelt als zu vor, aber jetzt völlig angstfrei.
„Ach, ja!“, lächelt Aurelius behutsam, „Du kannst dich nicht erinnern. Er hat all deine Erinnerungen in dieses Gefäß gesperrt. Mir ist nicht klar, wie er das geschafft hat, da er für uns, die Mitglieder des Rates der Ältesten von Téo, seit einiger Zeit nicht auffindbar ist und ich hätte nie gedacht, dass er so machtvoll ist und so etwas aus der Ferne bewerkstelligen könnte… Falls dem so ist, muss er einen Weg gefunden haben, hier unbemerkt eindringen zu können und auch wieder zu verschwinden!“
Aurelius scheint Tarator fast für seine Macht zu bewundern. „Eine sehr böse Macht!“, ergänzt Magda in theatralisch-ehrfurchtsvollem Ton, „Vielleicht gibt es Komplizen?“
„Eine sehr dunkle Kraft“, fährt Aurelius fort, ohne Magda zu beachten. Er ignoriert sie sogar. Hat er etwas zu verbergen? Warum macht mich die Situation so misstrauisch?
„Eine Macht, die ursprünglich aus dem Fluss der schwarzen Magie mit dem Namen Téodex entsprang. Es ist der schwarze Fluss der durch Téo, unserem Land, fließt.“
Ich merke, wie ich langsam ungeduldig werde. Für mich wirkt es so, als wäre ich gerade erst geboren worden! Ich möchte etwas über mich erfahren, nicht über Mächte, Flüsse und Ländereien! Ich muss mich zusammenreißen und schweigen, vielleicht erfahre ich etwas, sofern ich nur geduldig genug bin…
„Das Solosax…“, Aurelius hält das gläserne Gefäß in die Höhe, damit ich es besser sehen kann. Seine Augen wirbeln wie wild in seinen Augenhöhlen. Seine Stimme hat sich verändert, er spricht sehr monoton, wie auswendig gelernt: „…ist ein schwarzmagisches Gefäß für Erinnerungen und wurde nur zu diesem Zweck geschaffen… Es bewahrt diese auf und kann nur mit Hilfe des Schlüssels von Hexyl geöffnet werden. Es ist praktisch unzerstörbar. Nach dem es mit Hilfe des Schlüssels von Hexyl geöffnet wurde, zerstört es sich von selbst!“
Warum hat er so komisch gesprochen? Sein Gesichtsausdruck ist nun ganz leer. Seine Augen haben sich wieder beruhigt. Er sieht mich relativ normal an und spricht:
„Es ist Ironie, dass Tarator dir das Gefäß überlassen hat… So hast du die Erinnerung bei dir und kannst sie nicht abrufen. Für deine Art wäre es fatal wenn du dich nicht mehr an dich und deine Aufgaben erinnerst… Es steht noch mehr auf der Téoplatte… oh Nein!“, unterbricht Aurelius seine eigene Erzählung. Pure Enttäuschung, als ob er gerade einen Fehler gemacht hätte, steht ihm ins Gesicht geschrieben: „Mit jeder Information die du von mir erhältst, die deine Vergangenheit betrifft, schwindet aus dem Solosax eine Erinnerung. Und zwar jene Erinnerung, die ich dir verraten habe. Das ist das Los desjenigen, der das Solosax das erste Mal nach Erstellung berührt hat. In den falschen Händen, könnten deine Erinnerungen von Anderen in deren Gedächtnis übertragen werden und – das ist das Letzte was ich dir aus deiner Vergangenheit verraten werde – du bist einer der Wichtigsten Wesen deiner Art…Nachdem die Erinnerungen wieder an dich übertragen sein werden, wirst du dich an diese eine Erinnerung nicht mehr erinnern können. Sie ist unwiderruflich gelöscht. Du wirst aber anderen Glauben schenken, die dir bestätigen, dass du einer der Wichtigsten deiner Art bist. Neue Erinnerungen bleiben dir erhalten…“
Ich bin verwirrt! Ich will mehr wissen, auch wenn ich es nachher wieder vergessen werde… Aurelius wirkt relativ abwesend.
„Zu welcher Art von Wesen gehöre ich?“, frage ich ihn. Aurelius setzt an zu antworten, in dem er den Mund öffnet. Magda fällt ihm ins Wort: „Pssst! Aurelius, du hast schon zu viel gesagt! Meine Antworten sind ungefährlich! … Äthyl, du gehörst zur Rasse der Onyiccson. Einer Art von Gestaltwandlern, die sich von der menschlichen Gestalt in ein Tier, es wird bei der Geburt durch den Rat der Ältesten von Téo festgelegt, verwandeln können.“
„Werde ich nicht meinen Namen, oder meine ganze Vergangenheit wieder vergessen? Du hast meinen Namen mehrmals genannt, nach dem du das Solosax berührt hast!“, frage ich Aurelius mit fixiertem Blick.
„Nein, ich nannte deinen Namen bereits bevor ich das Gefäß berührt habe. Das Betrifft nur alte Erinnerungen, über die ich, seit dem ich das Solosax berührt habe, mit dir gesprochen habe, oder noch sprechen werde.“
Stille kehrt ein.
Aurelius fixiert mit starrem Blick meine Augen und nickt, als ob er wüsste, dass ich ihn fragen wollte, ob ich nun endlich gehen könne.
„Das Solosax behalte ich hier! Ich werde es für dich versteckt halten und mit meinem Leben, vor Tarator und den Bestien von Téo, beschützen. Niemand weiß, wie der Schlüssel von Hexyl aussieht. Trotzdem: es ist ein schwarzmagischer Gegenstand. Mach dich auf zu den Aloc-Mönchen, sie werden dir möglicherweise helfen können… Nun geh, die Zeit drängt!“, spricht Aurelius bestimmt.
Still, ohne ein Wort zu sagen, gehe ich an den Beiden vorbei, die Treppe hinab, in Richtung Ausgang. Am Ende der Treppe bemerke ich zum ersten Mal den Spiegel, direkt neben dem Ausgang. Wer ist das? Bin das ich? Äthyl der Onyiccson?
Das ist das erste Mal, dass ich mich selbst sehe, seit ich mich, an das was ich jetzt bin, erinnern kann. Es ist, als wäre ich wiedergeboren, ohne Erinnerung an früher. Ich bin schockiert, verwirrt und fasziniert zugleich.
Aurelius sagte, ich habe ein Leben in Téo, eine von Tarator genommene Vergangenheit und ich habe diese bis vor kurzem noch auf meinem Rücken, in einem Sack, getragen. Wie lange habe ich den Sack schon bei mir getragen?
Alles an was ich mich erinnern kann, auch wenn ich es noch so verbissen versuche, ist das Treppenhaus und die damit verbundene, sehr merkwürdige und verwirrende Geschichte. War Aurelius ehrlich zu mir?
Für mich ist es normal Pfoten zu haben, die sich in Finger verwandeln können. Wenn ich mich so im Spiegel betrachte, stelle ich fest, dass ich mir selbst sehr gut gefalle… Das Einzige was ich definitiv weiß ist, dass ich diesen Schlüssel von Hexyl benötige, um alles aufzuklären.

Es wird Zeit zu gehen. Ich öffne die Tür des Ausgangs. Als die Tür vollständig geöffnet ist, spüre ich einen leichten Windstoß aus dem Inneren des Gebäudes. Die Téoplatten – was immer die auch genau sein mögen – scheinen völlig an Bedeutung verloren zu haben. Eebenso irrelevant scheint der Grund dafür, warum Aurelius uns Beide lieber hätte töten wollen… Ich öffne die Tür der Hütte und gehe – in tierischer Gestalt – hinaus…

Die getarnte Gaststätte



Fragen über Fragen… Wer bin ich? Was waren früher meine Aufgaben? Wieso bin ich für diese Welt so wichtig? Wem gegenüber trage ich diese Verantwortung? Welche Erinnerungen machen mich zu Äthyl, dem Onyiccson?!

Ich habe keine Ahnung wohin ich gehen soll. Vielleicht macht es Sinn von anderen Leuten oder Wesen gesehen zu werden. Vielleicht erkennt mich jemand und vielleicht weiß dieser Jemand auch, wo ich die Aloc-Mönche finde…
Die Tür der großen Hütte fällt, beinahe lautlos, ins Schloss.
Das ist ein wunderschöner Garten. So weit das Auge reicht erstrecken sich gigantische Ländereien. Endlich kann ich klar sehen. Jeder Grashalm verströhmt seinen eigenen Geruch.
Ich atme tief ein. So etwas Wundervolles habe ich noch nie erlebt. Wusste ich dies auch schon zu schätzen, als ich mich noch daran erinnern konnte? Ist dies das Land Téo von dem Aurelius sprach?
Ich drehe mich um, um, ein letztes mal bevor ich gehe, die Hütte anzusehen. Ich kann nicht erkennen, wie weit sich diese tatsächlich nach oben erstreckt.
Sie scheint unendlich hoch zu sein. Wolken in der Höhe versperren mir die Sicht. Der Himmel ist beinahe wolkenfrei. Nur ein kreisförmiges Wolkenband hängt in der Höhe, entlang der gigantischen Hütte.
Ich höre ein leises Quato-Quato, ausgehend von Tieren, die aus den Wolken kommen. Was sind das für Wesen in der Luft? Sind es Vögel? Sie wirken durch ihre riesigen Krallen bedrohlich, aber gleichermaßen beschützend durch die wundervollen, weichen, schneeweißen Flügel! Ich habe das Gefühl, dass ich mich vor diesen Wesen nicht zu fürchten brauche… Was ist, wenn ich mich irre?! Immer diese Zweifel…
Ich glaube, dass mich meine Reise, hier bald wieder zurückführen wird… Es ist mein Anfang... Die Hütte allen Anfangs!
Ich drehe mich um, damit ich die Hütte vorerst vergessen kann, und um Leute zu finden, die mir meine Fragen beantworten können, laufe ich los.
In der Ferne erkenne ich einen Zaun. Ein Zaun aus Fichtenholz? Ja, aus dem Material muss er gemacht sein. Obwohl ich weit und breit keine Fichten sehe, weiß ich, dass es ein Fichtenzaun ist. Ein Jägerzaun.
Habe ich das gerade erfunden, oder hat Tarator nicht alles aus meiner Erinnerung in das Solosax übertragen können? Ich laufe weiter und sehe, dass der Zaun an manchen Stellen zu einem Gehege zusammengefasst ist. Alle Gehege sind leer. Doch halt, hier ist eines, darin bewegt sich etwas. Es sind Tiere…
Ich komme näher: krebsartige Wesen, so groß wie ausgewachsene Menschen. Mit zwei großen Scheren an Stelle von Händen und mit Füßen, wie die von Menschen.
Das Gefiepe und Scherengeklapper wird immer lauter, je näher ich komme. „Hallo, ihr da!“, höre ich mich gedankenlos und zuversichtlich rufen!
Ich habe damit die Aufmerksamkeit der, jetzt wo ich mir das recht überlege, sehr bedrohlich wirkenden Gesellschaft erreicht. Nach dem sie mich bemerkt haben sind sie alle leise geworden. Es müssen um die 50 Geschöpfe sein. Eines bedrohlicher als das Andere!
Sie bewegen sich nicht und starren mich mit ihren auf Fühlern befindlichen Augen an, so, als würden sie meine Fragen erwarten. Ich werde langsamer. Zurückhaltend bleibe ich fünf Meter vor dem Gehege stehen. „Ich habe eine Frage…“
„Was willst du hier? Du bist hier nicht willkommen!“, zischt plötzlich eines der Wesen durch sein aus Chitinzangen bestehendes Maul. „Ich“ – „Schweig! Du hast hier nichts verloren! Geh zu deines Gleichen oder wir werden dich töten!“, röchelt ein Anderes.
Wieso sind diese Geschöpfe so voller Hass? Ruhig und trotzdem bestimmt beginne ich meine Frage zu formulieren „Warum…“
„Das war die erste und auch die letzte Warnung! Wir Vodaf scherzen nicht…Tötet ihn! Lasst euch viel Zeit! Macht es so schmerzhaft wie möglich für ihn! Er hat es verdient!“
Was um Himmels Willen habe ich den Kreaturen angetan? „So schmerzhaft wie möglich, so schmerzhaft wie möglich…“, rufen die Vodaf im Chor, während ich meine Beine in die Pfoten nehme und wahllos im Zick-Zack wieder einmal davonlaufe.
Erst gerade eben habe ich meine Angst verloren, nun kommt sie zurück.
Warum wollen diese Wesen mich töten? Was habe ich ihnen getan?! Wieso habe ich es verdient?
In großen Sprüngen bewegen sich die Krabbenwesen, dicht an meinen Fersen, fort. Wachsam riskiere ich Blicke zu den Wesen während ich versuche, so schnell als möglich, zu laufen.
Ein lautes Brüllen!
Was war das?! Eines der Wesen wurde soeben von etwas katzenartigem mit einem Prankenschlag getötet. Nur ein Hieb und es hat das Vodaf in meinem Augenwinkel zerfetzt.
Wie aus dem Nichts erscheint plötzlich vor mir eines der Krabbenwesen.
Instinktiv hebe ich meine Pfote und springe auf das Vodaf zu. Mit der rechten Vorderpfote streife ich das Vodaf an der linken Schulter. Es zerfällt in tausenden von Stücken. Anstrengen musste ich mich nicht dazu. Das war ja nur ein leichter Wink mit der Pfote! Sehr empfindlich, diese Vodaf!
Die anderen Krabbenwesen bleiben wie angewurzelt stehen…
„Es kommt der Tag an dem wir dich töten werden; dann sind wir frei! Du Mörder tötest wahllos! Du Bestie!“, ruft eines der Vodaf.
Tu ich das wirklich? Bin ich ein Mörder? Ist das der Grund warum sie mich so hassen? Ich kann nichts dafür, dass sie so zerbrechlich und empfindlich sind. Sollte es mir lehren, ein Buch nicht nach dem Einband zu bewerten, oder sollte ich misstrauisch bleiben? Stecken diese Wesen mit Tarator unter einer Decke? Hat dieser mir deshalb mein Gedächtnis genommen?! Ich bin kein Mörder. Ich weiß das! So bin ich nicht!!
Noch einmal dasselbe, laute Brüllen…
Wie von einem Löwen! Es lässt mir das Mark in den Knochen gefrieren. Ist es das katzenartige Wesen aus meinem Augenwinkel von vorhin?
Ja, es ist ein Löwe, ich kann ihn in der Ferne erkennen… Daneben befindet sich ein Tiger. Was haben sie vor? Sie laufen auf mich zu. Die Situation wirkt so bedrohlich auf mich!
Bin ich wirklich hier, um ständig davon zu laufen?
Ist vielleicht besser, sie erwischen mich nicht! Vielleicht sind das die, vor denen ich in der Hütte allen Anfangs davongelaufen bin; besser ich riskiere nichts… Nicht jetzt, wo ich zumindest einen Grund habe zu existieren: meine Aufgabe! Ich benötige den Schlüssel von Hexyl. Ich kann es einfach nicht riskieren das zu verlieren was ich habe, nämlich mich selbst!
Ich drehe mich um und laufe in Richtung der Hütte allen Anfangs… Zum Glück ist diese von weitem sichtbar und gut für mich zu erkennen. Sie holen auf!
Oh nein! Ein Stacheldrahtzaun versperrt mir den Weg! Sie treiben mich in die Enge!! Ich kann nicht mehr fliehen. Ich drehe mich um und knurre, so laut es geht. Ich fletsche meine Zähne. Bin ich ein Hund!?
Vor meinen Augen verwandelt sich plötzlich der Löwe in einen jungen Mann. „Ruhig Blut… Ich bin es, Retsam, dein Bruder! Hast du mich nicht erkannt? Machst du deshalb auf bösen Wolf?“
Mein Herz rast wie verrückt. Ich fühle, er spricht die Wahrheit. Es verwandelt sich auch der Tiger.
„Oh ZuMitezu!“, schreit die Frau, „Äthyl, was ist geschehen! Erkennst du mich denn nicht mehr? Ich bin es, Yks! … Was ist los mit dir, du siehst mich gar nicht an… Warst du zu lange bei Ydna?! Ich spreche mit dir!! … Erkennst du mich nicht?!“
Eine wunderschöne Frau, die Schönste, an die ich mich bisher erinnern kann. Doch da ist mehr, ich weiß es, das fühle ich! Ich sehe sie an und empfinde eine tiefe Verbindung mit der Frau. Sie sieht mir in die Augen und ich weiß, sie und ich gehören zusammen!
„Ich bin es, deine Frau!“
Meine Frau? Spricht sie die Wahrheit? … Sie wirkt so aufgebracht und beinahe so verwirrt und durcheinander wie ich… Ihre Ohren und Lippen… Das muss meine Frau sein! Sie passt zu mir!
Ich fühle, dass ich den, für mich unbekannten, Leuten vertrauen kann. Kein logischer Grund, obwohl Retsam mich vor einem Vodaf beschützt hat. Sein Brüllen ist mir immer noch in Erinnerung und bei so viel Leidenschaft, muss auch etwas an meinen Gefühlen gegenüber dieser Frau, sie nennt sich Yks, dran sein. Meine visuelle Wahrnehmung verändert sich plötzlich…
„Es macht Spaß, den Vodaf so richtig einzuheizen!“, sagt Retsam, als er sich mit der Hand seine langen, mähnenartigen Haare ausschüttelt.
„Bist du sicher, dass wir sie gleich umbringen sollten?“, frage ich ihn während ich bemerke, dass ich meine menschliche Gestalt angenommen habe, „Es scheint ja irre einfach zu sein, diese Vodaf zu töten.“
„Wen interessieren schon diese Vodaf! Ich möchte wissen, was mit dir los ist, Äthyl!“ „Diese Zauberwesen…“, erklärt Yks widerwillig, „sind nur zur Unterhaltung unsererseits vom Rat der Ältesten von Téo erschaffen worden. Du weißt doch, als der Rat beschlossen hat, auf die Elektrizität zu verzichten, musste sich der Rat eine Alternative zu den vor tausenden von Jahren benutzten, elektronischen Spielen einfallen lassen…“
Dumm und unwissend komme ich mir vor. Ich beginne langsam zu verstehen…
Retsam und Yks vergeht allerdings das Lachen, über meine Unwissenheit, schlagartig, nach dem ich meine bisherigen Erlebnisse geschildert habe.
Ein leerer Blick ist nun in ihren Gesichtern zu erkennen. Ratlosigkeit macht sich breit.
„Beim Rat der Ältesten von Téo, wie kann man nur zulassen, dass jemand alleine so viel Macht besitzt?!“, sagt Retsam bestürzt, als er dabei an Tarator denkt.
„Und meinem Mann das Gedächtnis rauben…“, unterbricht Yks.
„Es gibt jedoch, so habe ich bemerkt, Teile meines Gedächtnisses, welche er mir nicht nehmen konnte. Ich empfinde zu euch Vertrauen, weiß was ein Jägerzaun ist und weiß, dass ich mein Gedächtnis benötige um das Land vor etwas Schrecklichem zu bewahren. Leider habe ich vergessen was. Nein! Nicht vergessen, es hat mir jemand geraubt und in das Solosax gesperrt.
„Ja, da gibt es etwas, wofür du geboren bist! Genau so, wie auch alle Anderen! Unser aller Leben ist vorbestimmt. Die dazu erstellte Prophezeiung ist nur demjenigen vorbehalten, der sie übergeben bekommen hat. Wir tragen selbst die Verantwortung für den Inhalt der Prophezeiung und über die Konsequenzen, unseres Tuns. Eine vorzeitige Verlautbarung der Prophezeiung bewirkt ein Ungleichgewicht der Mächte von Téo und bewirkt die Verbannung in die Sümpfe von Ras, sowie den Tod aller an deiner Prophezeiung beteiligten Personen. So will es das Gesetz von Téo, welches vom Rat der Ältesten vor Urzeiten so verabschiedet wurde…“, erklärt Retsam verärgert, „Mit mir hast du darüber nie sprechen dürfen! Der Einzige, der neben den Erstellern der Prophezeihung noch von deiner Prophezeiung weiß, ist Aurelius. Er hat sie dir damals übergeben. Er ist Mitglied des Rates und dafür zuständig, die Dokumente des Rates zu archivieren, oder Schriftrollen an die betreffenden Personen zu übermitteln. Er hat dir die Prophezeiung als Schriftrolle übergeben, welche, nach dem du sie gelesen hattest, sich unwiderruflich selbst zerstörte…“
Bei der Übergabe wurde die Prophezeiung also nicht ausgesprochen. Das Böse im Land ist nicht nur ironisch sondern auch auf höchstem Niveau intelligent. Hätte doch Magda das Solosax aus dem Beutel gezogen, so hätte Aurelius mir von der Prophezeiung erzählen, und mir gegenüber den Inhalt aussprechen können. Ich weiß, wenn er das jetzt macht, werde ich mich nach Übertragung meines Gedächtnisses an das, was die Prophezeiung anbelangt nicht mehr erinnern können.“
„Der Rat von Téo hat dafür gesorgt, dass jeder, der eine Prophezeiung erhalten hat, diese für sich behalten muss, um das Gleichgewicht der Mächte nicht zu stören. Aurelius könnte weder dir, noch Magda das Geheimis der Prophezeiung weitergeben.“, meint Yks betrübt.
Dazu Retsam: „Wenn er das täte würde er in die Sümpfe von Ras verbannt werden und alle an der Prophezeiung beteiligten Personen müssten auf qualvolle Art sterben… Bevor du fragst… Bisher hat noch niemand überlebt, der uns davon hätte berichten können!“
Wie ich es auch drehe und wende, es ist verzwickt.
„Leute… Ich muss diesen Schlüssel von Hexyl finden, damit ich gemeinsam mit Aurelius das Gefäß öffnen kann, damit ich mein Gedächtnis wieder zurückerhalte und mich auf die Mission meiner Vorbestimmung machen kann! Habt ihr eine Vermutung wo ich die Aloc-Mönche finden kann?“
Retsam antwortet: „Die Mönche des Aloc-Ordens treffen wir auf der Hochebene von Bótan in der Stadt Tan… Da fällt mir ein: du sagtest Gestern, falls etwas außergewöhnliches passieren sollte, soll ich dich zu Ydna, welcher in der Stadt Zarg wohnt, bringen! Du sagtest auch, dass er ein Passwort hat, welches wir in Tan benötigen könnten…“
Namen über Namen… verwirrend; es kann sich niemand ein Bild davon machen, wie es momentan in meinem Kopf, wegen dieser Zwangsamnesie, zugeht… Ich muss zustimmen, das bin ich mir – und meiner persönlichen Mission – schuldig…
So wie ich das verstanden habe, gibt es Leute, die sich auf Grund meiner persönlichen Prophezeiung auf mich verlassen und ich habe das Gefühl, dass diese Aufgabe sehr wichtig ist. Besonders für jene, die ich liebe und die mich lieben: „Bringt mich zuerst zu Ydna, ich folge Euch!“…
„Äthyl!“, wirft Yks ein, „Du wirst zusammen mit Retsam alleine gehen müssen… Du hast es vergessen, aber Ydna kann mich nicht ausstehen. Er würde sofort Verdacht schöpfen, dass etwas nicht stimmt, falls du mich mitbringst! Du hast mich noch nie zu ihm mitgenommen… In der Zwischenzeit werde ich zu Onicchu, eurem Vater, welcher sich zur Zeit in eurem Heimatdorf Ydál befindet, gehen und ihm von den Vorfällen erzählen, damit dieser sich auf die neue Situation einstellen kann. Ich verabschiede mich von euch mit jenem Spruch, der mir bereits seit meiner Geburt immer wieder Glück gebracht hat… Mein Vater, wer auch immer er war, hat ihn für mich in ein Medaillon prägen lassen. Er ist aus meiner Muttersprache: Go¨ópi – Saa¨ – Ipó¨og“
Mit der letzten Silbe verwandelt sich Yks in ihre tierische Gestalt. Sie hebt den Kopf leicht nach oben und zwinkert zum Abschied mit dem linken Auge. Sie dreht sich um und läuft so schnell sie kann los…
„Es ist ein weiter, beschwerlicher Weg!“, sagt Retsam, „Stell dich darauf ein, dass du diesen nur in deiner tierischen Gestalt bewältigen können wirst. Egal was du hörst oder siehst, vertraue deinem Gefühl und verlass dich auf dein Herz! Ich werde nicht immer die Möglichkeit haben dir mit Worten zu helfen…“
Ich spüre, wie sich mein Körper schmerzlos, völlig automatisch, verändert. Meine visuelle Wahrnehmung wird weicher, und meine Umwelt taucht sich in das wunderschöne Leuchten, ähnlich wie ich bereits in der Hütte allen Anfangs und dem davor liegenden Garten, zu Beginn meiner Reise, wahrgenommen habe.
Ich begreife langsam, dass mir diese Wahrnehmungsunterschiede in Zukunft helfen werden können. Der Geruch schärft sich, jeder Grashalm erhält sein unbestechlich, eindeutiges Aroma. Plötzlich höre ich eine Melodie aus weiter Ferne, welche ich vor der Verwandlung nicht hören konnte.
„Wir folgen dem Gesang!“, sagt Retsam, „Dieser führt uns direkt zu Téodex, dem schwarzen Fluss von Téo!“
Instinktiv laufen wir, dem Gesang folgend, direkt auf einen Hügel zu, welcher so hoch wie ein Berg vor uns in den Himmel ragt und vereinzelt mit Bäumen bewachsen ist.
Was sich wohl dahinter verbirgt? Téodex, der schwarze Fluss? Ich kann keine Hütten oder Häuser erkennen, oder etwas Anderes, was auf die Existenz von Zivilisation hindeutet. Dennoch höre ich den Gesang!
„Es sind die Bäume, die du hörst!“, antwortet Retsam auf die Frage, die ich ihm gerade stellen wollte.
„Wir, die Onyiccson, nennen es die weisen Gesänge von Téo. Sie haben sich in den letzten Tagen verändert. Es ist, als ob die Bäume geahnt hätten, dass etwas Schreckliches passieren wird. Viele Legenden und Märchen erzählen, dass die Bäume voller Weisheit sind und uns bereits im Vorfeld, vor schrecklichen Gefahren, warnen. Ich selbst habe den Kindergeschichten keinen Glauben geschenkt. Erst jetzt, mit meinen 29 Jahren, glaube ich mich geirrt zu haben…“
„Wie haben sich die Gesänge von Téo verändert?“, frage ich Retsam gespannt.
„Vor wenigen Tagen noch haben die Bäume bei weitem nicht so tief gesungen. Die Melodie ist gleich geblieben, lediglich die Tonhöhe hat sich verändert. Die Töne sind so tief geworden, dass ich sie auf diese Entfernung kaum mehr wahrnehmen kann. Allerdings jagt mir die Tiefe der Töne ein Unbehagen in die Knochen. So tief haben sie seit meiner Geburt noch nie gesungen… Die Legenden beschreiben, dass, je tiefer die Gesänge von Téo sind, desto größer ist die Gefahr, welche von den Bäumen erfühlt wird…“
„Gibt es keine Möglichkeit die Bäume dazu zu bringen uns zu sagen woher diese Gefahr, die sie spüren, kommt?“
„Nein! Die Bäume benutzen keine gesprochene Sprache wie wir. Die Gesänge von Tèo werden benutzt um Stimmungen und Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Überlieferungen aus der Vergangenheit erzählen, dass die Bäume der Auffassung sind, dass Sprache nur jene Wesen benötigen, die auch bereit sind zu lügen… Die Bäume empfinden die Sprache des Körpers als eindeutig. Erst die vom Geist veränderte, gesprochene Sprache soll laut der Überlieferung zum Lügen befähigen… Deshalb distanzieren sich die Bäume von sämtlicher Kommunikation mittels gesprochener Sprache…“
„Willst du mir damit sagen, dass die Bäume uns durchaus verstehen, bzw. zuhören können, aber nicht bereit sind mittels artikulierten Wörtern zu antworten?“
„Ja mein Bruder. Wie die Onyiccson sich, aus Rücksicht zu anderen Wesen, von der Nutzung der Elektrizität verabschiedet haben, haben die Bäume, welche meiner Meinung nach die weisesten Geschöpfe im Lande Téo sind, darauf verzichtet zu sprechen. Und das, schon lange bevor es Menschen oder Onyiccson auf unserem Planeten gab.“
Ich bin beeindruckt. Es zeugt durchaus von Intelligenz, auf bestimmte Prinzipien zu verzichten, sofern man dies zum Wohle der Gesamtheit macht. Aber: „Würden die Bäume es dann nicht riskieren selbst ausgelöscht zu werden, sofern sie uns nicht über die große Gefahr in Kenntnis setzen?“ frage ich Retsam.
„Dies nehmen die Bäume in Kauf… Eine der Legenden lässt mich dies glauben, denn die Geschichte erzählt von Bäumen, die sich der großen Sache opfern, um der Gesamtheit zu dienen. Es macht den Bäumen nichts aus, gefällt zu werden. Sie haben damit abgeschlossen, denn sie sehen sich als vollkommen und notwendig für den Kreislauf des Lebens… Sieh dir unsere Hütten an. Obwohl wir die Bäume dazu benutzen um für uns Häuser und Hütten zu bauen, teilen uns die Bäume trotzdem über ihre Gesänge ihre Gefühle und Stimmungen mit. Es scheint ihnen bewusst zu sein, dass sie durch ihr Leben, weiteres Leben fördern.“
Die Gesänge werden lauter. Am Fuße des Hügels angekommen, bemerke ich einen großen, steinalten Baum. Seine Blätterkrone wiegt sanft im Wind. Plötzlich höre ich den tiefsten Ton von allen bisher gehörten Tönen. Ein unglaublich lauter Ton. Großes Unbehagen breitet sich in mir aus…
„Das ist So¨áa¨, der älteste Baum am Hügel nach Zarg.“, erklärt Retsam, „Der Baum wird, seit ich denken kann, von uns so genannt. Den Namen erhielt er, da die Lautfolge So¨àa¨ an seine ganz persönliche Melodie erinnert. Diese Tontiefe habe ich von ihm allerdings noch nie gehört… Er muss sich sehr große Sorgen um dich machen. Erst als du näher gekommen bist, hat er die Tonhöhe seiner Melodie verändert… So¨àa¨ gilt als weisester Baum am Hügel nach Zarg. Früher als wir noch klein waren, haben wir in seine Rinde Botschaften geritzt… Sieh mal hier, diese könnte wichtig sein!“
Retsam deutet mit seiner rechten Vorderpranke auf eine kleine Nachricht, welche in Körperhöhe eines Kindes in die Rinde geritzt steht:

Egal was auch geschieht,
So¨áa¨, oh weiser Baum, hilf mit!
Wenn du dir machst auch viele Sorgen,
halte sie vor uns nicht verborgen!
Deine Gesänge, teile sie uns mit,
ob wir kommen Einzeln, zu Zweit oder auch zu Dritt!
In einem Jahr erhalten wir die Prophezeiung,
und zwar genau in dieser Reihung:

Äthyl, Retsam & Ydna

„Äthyl, Retsam und Ydna!“, höre ich mich gedankenlos sagen. Der Baum heult tiefer als je zu vor, als ich den Namen Ydna sage.
„Die Legenden…“, fährt Retsam, nach dem ich die Botschaft einige Male gelesen hatte, fort „…besagen weiters, dass man die Bäume um Hilfe bitten kann, sofern man sich Sorgen macht, oder Ängste hat. Wir haben damals über ein Jahr bevor wir jeweils die Prophezeiung erhalten haben solch große Angst davor gehabt, dass wir in kindlicher Verzweiflung, als wir zehn Jahre alt waren, diesen Spruch in die Rinde geritzt haben… Du als Ältester von uns, du kamst elf Wochen vor mir auf die Welt, solltest die Prophezeiung als Erster erhalten. Elf Wochen danach ich, und elf Monate später Ydna.“
„Wir sind wirklich Brüder?“, frage ich Retsam erstaunt, da ich überhaupt nicht den Eindruck hatte, dass wir Beide, als ich mich an das Spiegelbild erinnere, im Entferntesten äußerliche Ähnlichkeiten hatten. Der Altersunterschied scheint auch sehr knapp zu sein.
„Halbbrüder“, sagt Retsam knapp, „wir haben denselben Vater, aber unterschiedliche Mütter“…
Die Gesänge verstummen. Es ist so, als hätten die Bäume aufgehört, ihre Gefühle mitteilen zu wollen. „Ich denke die Bäume möchten, dass wir weiter gehen. Unsere Anwesenheit ist nicht weiter erwünscht.“, meint Retsam.
Der beschwerliche Weg, der Hügel nach Zarg ist sehr steil, der Weg steinig, man kann sich kaum auf den Pfoten halten, ist lang und wir kommen nur langsam voran.
Retsam scheint mit seiner Vermutung recht gehabt zu haben. Alle Bäume, die wir passiert haben, beginnen, ab einem bestimmten Abstand zu uns, wieder zu singen. Etwas höher als zuvor, aber trotzdem noch relativ tief…
Endlich. Die Spitze des Hügels ist erreicht. Retsam hatte recht! Es wäre unmöglich gewesen diesen Weg in menschlicher Gestalt zu überwinden. Nur Dank meiner Wolfspfoten und Retsams Löwenpranken scheint das Erklimmen möglich gewesen zu sein…
Eine schier unendliche Weite zeigt sich. Lediglich eine sanfte, durch den Sonnenuntergang erzeugte, okkafarbene Linie trennt den Himmel vom Land am Horizont.
„Siehst du den Fluss am Fuße des Hügels?“, fragt Retsam, „Das ist Téodex, der schwarze Fluss von Téo, die magische Quelle all jener Kreaturen, die die schwarzmagischen Kräfte nutzen!“
Obwohl der Fluss so tief schwarz ist, kann ich aus der Ferne das Licht, welches sich auf der Oberfläche bricht, funkeln sehen. Im Tal muss eine leichte Briese wehen, welche die kaum merkbaren Wellen dazu bringt, das Licht zu brechen.
„Ja, der Fluss, er sieht wunderschön aus. Er zieht mich auf eine gewisse weise an. Ich möchte da hingehen!“, höre ich mich gedankenlos zu Retsam sagen, während wir schon damit beginnen in Richtung Téodex zu gehen…
„Kein Wunder! Auch du, mein Bruder, bist ein magisches Wesen. Es ist deine Entscheidung, ob du aus diesem Fluss magische Kräfte beziehst. Du kannst dich momentan nicht daran erinnern, es ist jedoch sehr wichtig für dich, das zu wissen… Die Onyiccsson gehören großteils zu jener Art von Wesen, welche sich der so genannten guten, weißen Magie verschrieben haben. Es ist kein Wasser, das du in Téodex siehst. Der Inhalt des Flusses ist pure schwarze Magie. Eine Quelle schier unendlicher Macht, welche niemals aufhört zu fließen. Eine Macht, welche vom Rat der Ältesten von Téo seit Urzeiten verwaltet wird… Gaia, die Urmutter der Erde, und Oberin des Rates, gab dem Rat den Auftrag dazu! Die Mitglieder des Rates sind die einzigen Wesen in unserem Land welche, nicht zwischen guter und böser Absicht unterscheiden können, und somit unbefangen die Machtverhältnisse verwalten können…“
„Ich komme mir so dumm vor. Es fehlen mir so viele Informationen, die wir alle wahrscheinlich im Laufe unserer Ausbildungszeiten erfahren haben… Retsam, wer ist das, direkt am Flussufer?“
„Mach dir nichts draus, so haben wir tolle Gesprächsthemen, während wir auf dem Weg nach Zarg sind… Um deine Frage zu beantworten, das ist Inorf, der Hüter des Flusses Téodex. Er ist das elfte Mitglied des Rates der Ältesten von Téo… Er ist dafür zuständig, dass die Besucher unbeschadet über den Fluss kommen. Wie du siehst, gibt es keine Brücken. Dies hat den Grund, weil niemand in der Lage ist, eine Brücke über einen magischen Fluss zu bauen. Bisher sind sämtliche Versuche gescheitert, weil keines der uns bekannten Materialien stark genug ist, der unendlichen Macht des Flusses, stand zu halten… Wesen mit Flügel haben es einfacher, diese können über den Fluss hinweg fliegen. Wir Landbewohner sind auf die Hilfe von Inorf angewiesen… Gegrüßt seiest du oh Inorf, oh Hüter des Flusses!“…
Inorf wirkt bedrohlich. Sein Kapuzenmantel ist ebenso tief schwarz wie der Fluss selbst. Der Mantel weht sanft im Wind. Unter der Kapuze lugt ein Verband hervor, welcher mumienhaft die Augen von Inorf bedeckt. Seine Haut strahlt wie ein Mond in dunkler Nacht. Die Wangenknochen sind eingefallen.
In der rechten Hand hält er einen armdicken, und gut zwei Meter hohen, grauen Stab. Unter dem Mantel lugen knochige, kreidebleiche Füße hervor. Auf seinem rechten Fuß hat Inorf sechs Zehen, im Gegensatz dazu Fünf am Linken. Unglaublich, dass dieses schrecklich aussehende Wesen Mitglied im Rat der Ältesten von Téo sein soll.
Inorf spricht langsam, ohne dabei seinen, wenn man das was ich als Lippen erkennen kann auch Lippen bezeichnen kann, Mund dabei zu bewegen: „Gegrüßt seit ihr, Äthyl und Retsam…“, spricht Inorf, röchelnd, als würde er jeden Moment ersticken, „Ich sehe, ihr seid auf dem Weg nach Zarg. Äthyl… Dein Kopf ist leer… und doch bist du so verwirrt… Es ist also alles das passiert, was wir vorhergesehen haben… Du wirst in Zarg belogen werden… Du weißt auch von wem, der Baum So¨áa¨ hat dich bereits gewarnt! Vertraue seinem Gesang… Auch ich möchte dich davor warnen… Stell keine Fragen, ich werde sie dir nicht beantworten… Auch wenn ich es nicht verhindern kann, du wirst dir Vorwürfe machen… Glaube an deine Visionen… Er hält sich nur an seine Prophezeiung… Schon bald hat er seine erfüllt… Gehe in die Dunkelheit und vertraue niemandem. Halte dich an deine Familie… Geht nun über den Fluss, ich lasse euch passieren!“
Er bewegt den Stab in Richtung Flussoberfläche. Retsam steigt mit seiner Vorderpfote auf die Wasseroberfläche. Knapp über der Oberfläche, tritt Retsam ins Leere und erhält trotzdem Halt. Eine Art unsichtbare Brücke? Ich folge ihm, obwohl es mir schwer fällt zu glauben, nicht in die Flüssigkeit zu fallen. Mit zugekniffenen Augen gehe ich hinter Retsam her. Das mulmige Gefühl lässt nach, da ich jetzt Grasbüschel unter den Pfoten spüre. Ich öffne die Augen und finde mich auf der anderen Seite des Flusses wieder. Ich drehe mich zu Inorf um…
„Stell keine Fragen… Doch wirst du es nachher brauchen, um wieder gehen zu können!“, höre ich Inorf leise rufen, während ich denke, ob vielleicht er meine Prophezeiung erstellt hat, „Du fühlst die Antwort… sei vorsichtig beim zweiten Mal… Sei weise… um wieder gehen zu können!“
Warum will Inorf mir meine Fragen nicht beantworten? Ist es ihm nicht erlaubt? Kann er diese nicht beantworten? Wo muss ich hingehen?
Außer Sichtweite von Inorf angelangt frage ich Retsam danach. Die Antwort darauf, er sei ein neutrales Wesen und müsse sich darum kümmern, dass Chancengleichheit zwischen den Mächten herrscht, war im Nachhinein zwar klar, trotzdem hätte ich doch gehofft, dass es wenigstens hier eine unkomplizierte Antwort geben könnte…
Es wird sehr schnell Nacht. Kaum hat die Dämmerung eingesetzt, ist es auch schon dunkel.
„Es wird Zeit, dass wir eine Unterkunft suchen!“, so Retsam, „Am Besten werden wir die Nacht schlafen, damit wir morgen gut ausgeruht in die Stadt Zarg gehen können. Die Stadt befindet sich direkt hinter dem Berg, bei der getarnten Gaststätte dort drüben.“
Retsam zeigt dabei mit seiner rechten Pranke in Richtung einer sehr schwer erkennbaren Hütte, welche doppelt so breit wie die Hütte allen Anfangs ist, aber nur elf Stockwerke hat. Sie scheint aus demselben Material zu bestehen, wie die Umgebung selbst. Es wirkt, als ob die Besitzer der Hütte vermeiden wollten, Gäste zu erhalten.
„Wir werden Morgen als Durchgang die Höle nach Zarg verwenden. Ydna ist gewitzt und hat, begründet mit seiner Prophezeiung (der Rat ist total Sauer auf ihn), einiges ausgefressen und wir können nicht riskieren, dass er bemerkt, dass dir das Gedächtnis geraubt wurde. Also ist es besser, wenn wir bei der Begegnung ausgeschlafen sind.“
In menschlicher Gestalt nähern wir uns der getarnten Gaststätte.
Der Besitzer und Wirt der Hütte, ein gut 25 Jahre alter Mann, mit ganz kurzen Haaren und flachem Bauch, öffnet uns, in Lumpen gekleidet, die kaum erkennbare Türe, als ob er bereits Besuch erwartet hätte… Er bittet uns mit den Worten „O¨ Retsam! O¨ Äthyl. Oko o¨a!“, formuliert mit leicht verkühlter Stimme, herein. Es ist, als ob ich die Sprache noch nie gehört hätte, dennoch habe ich jedes einzelne Wort genau verstanden.
Die getarnte Gaststätte lässt von außen nicht vermuten, welch herrlicher Platz sich darin verbirgt.
Retsam geht vor und setzt sich an einen der hölzernen Tische, an denen bereits Besteck, Trinkgefäße und Teller warten. Einladend, denke ich, und folge Retsam zu Tisch. „Anabe tomu, todir Ydna, iipos belmio LuRa¨ Zarg?“, höre ich den Wirten fragen, nach dem wir uns gesetzt hatten.
„Ja, wir sind auf dem Weg zu Ydna in die schöne Stadt Zarg. Habe ich dir davon erzählt?“, antworte ich ihm, als ich bemerke, dass ich in einer anderen Sprache antworte.
„Ja, das hast du.“, sagt der Wirt, „Du meintest das letzte Mal als wir uns gesehen haben du würdest ihn, das nächste Mal wenn wir uns wieder sehen, besuchen… Du sagtest mir auch, ich solle dich nochmals daran erinnern ihm zu sagen, er soll endlich seine Schulden bei mir begleichen! Wirst du ihn dazu, wie versprochen, erinnern?“
„Natürlich werde ich das tun! Ich soll nicht Äthyl sein, sollten meine Versprechen wertlos sein.“, antworte ich, da ich fühlte, dass die Aussage des Wirtes bezüglich meines Versprechens wahr war.
Retsam sieht stolz aus… Mit dieser Antwort hatte er offensichtlich nicht gerechnet. Spreche ich normaler Weise so mit Anderen?
„Néiláti, wir haben zwar heute nicht reserviert, benötigen jedoch einen Platz zum schlafen.“, sagt Retsam, gesprochen in der fremdartigen Sprache, dem Wirt Néiláti zugewandt, „Etwas zu Essen wäre auch toll, damit wir nicht hungrig einschlafen müssen… Und die getarnte Gaststätte wäre da unserer Meinung nach perfekt dazu!“
„Natürlich Retsam, für euch haben wir immer Betten frei… Magda ist bereits in der Küche und arbeitet seit Stunden an einem Quato-Braten. Sie ist heute über eine Stunde zu spät zur Arbeit erschienen… Sie wird immer unverlässlicher… Magda sagte, Aurelius hätte einen Auftrag für sie gehabt und das wäre so wichtig gewesen, dass sie sogar riskiert hat, dass der Quato-Braten heute gar nicht mehr fertig wird… Ungewöhnlich! Ein so altes Weib ist doch nicht mehr auf Ausreden angewiesen. Sie kann ja sagen, dass sie in Aurelius verliebt ist!“
Mit diesen Worten dreht sich Néiláti um und geht in Richtung Küche…
Magda? Ob das dieselbe Magda ist, der ich heute bereits in der Hütte allen Anfangs begegnet bin?
Meine Frage bleibt nicht lange unbeantwortet. Nur einige Minuten später serviert Magda, welche ich heute bereits getroffen habe, den Quato-Braten.
„Äthyl! Was machst du denn hier? Ich hätte nicht damit gerechnet, dass wir uns so schnell wieder sehen! Wie ich sehe bist du mit deinem Bruder unterwegs. Bin ich froh, dass du gleich jemanden gefunden hast, der dir in deiner Situation weiterhelfen kann… Lasst euch den Quato-Braten schmecken, und…“, Magda beginnt ganz leise zu flüstern, während sie schwungvoll die Teller aus großer Entfernung ziemlich zielsicher befüllt, „…viel Erfolg auf der Suche nach dem Schlüssel von Hexyl!“
Der Wirt Néiláti, beladen mit Trinkgefäßen und Zotelweinflaschen, auf dem Weg zurück zum Tisch, bemerkt das Flüstern und Magda beginnt unmittelbar wieder lauter zu sprechen und improvisiert, damit der Wirt denkt, sie würde wiederholen, was sie eben gerade gesagt hat:
„Hast du es im Gefühl, landet das Essen mit Kalkül… Eure Zimmer sind im ersten Stock, falls ihr Nachschlag haben wollt, es ist noch genügend da… Und da uns per Zufall sowieso niemand hier findet und für heute keine Reservierungen mehr vorgemerkt sind, könnt ihr den Braten gerne aufessen… Tschüsseli und vergesst nicht bald wieder vorbei zu kommen!“
Magda rauscht wie wild in die Küche. Wieso hat sie es so eilig? Vielleicht möchte sie nicht mit Néiláti über die Vorgänge in der Hütte allen Anfangs sprechen? Mir soll es recht sein, so gerate ich nicht in Erklärungsnot. Inorf hat mir geraten sehr vorsichtig zu sein und nicht mit jedem über die Vorkommnisse zu sprechen.
Das Essen ist vorzüglich… Der Quato-Braten zergeht wie Butter auf der Zunge und der Zotelwein harmoniert herrlich zum Gericht. Unglaublich, dass ich mich momentan an den herrlichen Geschmack nicht erinnern kann.
Vom Geschmack verzaubert, lege ich das Besteck bei Seite, während ich den letzten Bissen des Quato-Bratens schlucke.
„Wir sollten bald zu Bett gehen“, sagt Retsam, nicht minder begeistert vom Braten. Beide nehmen wir den letzten Schluck aus unseren Trinkgefäßen, stehen auf und gehen in den ersten Stock zu unseren Zimmern.

Ich liege im Bett und denke sehr lange über meinen ersten Tag als Äthyl nach…

Ydna und das Geheimnis der Stadt Zarg



Jetzt, wo mich gerade die ersten Sonnenstrahlen des Tages geweckt haben, fühle ich mich, obwohl ich sehr schlecht geschlafen habe, sehr entspannt und ausgeruht. Zum ersten Mal denke ich an absolut nichts…

„Äthyl!“, höre ich vor meinem Zimmer von Retsam rufen, „Bist du schon wach?“ „Ja, mein Bruder, ich bin soeben aufgewacht.“, antworte ich ihm.
Nach dem Frühstück (kalter Quato-Braten vom Vortag, wir konnten einfach nicht widerstehen!) erinnert mich der Wirt Néiláti an mein Versprechen.
Ich bestätige ihm, dass ich Ydna umgehend von seinen Schulden in Kenntnis setzen werde, damit uns der Wirt gehen lässt. Retsam gibt dem Wirt noch schnell etwas Geld, um seine Aufwände zu entgelten. Nach dem Néiláti hinter uns die Tür geschlossen hat, verwandeln wir uns zurück in unsere tierische Gestalt. Retsam hat mir zu verstehen gegeben, dass wir die Höhle in menschlicher Gestalt nicht betreten können, da diese im aufrechten Gang nicht zu bewältigen ist.
Ein finsterer Ort… Die Höhle, ohne Licht, ohne Ausweg nach Links oder Rechts ist mehrere Kilometer lang. Eine Abkürzung sollte es sein und wir würden uns eine tagelange Reise, um die Bergkette herum, ersparen. Der Weg ist gesäumt von gefährlichen Felsvorsprüngen. Plötzlich fällt mir der Traum von gestern Nacht wieder ein, welcher der Grund dafür war, dass ich in der Früh an gar nichts denken konnte und in der Nacht so schlecht geschlafen habe.
„Retsam… Gestern habe ich etwas merkwürdiges geträumt! Ich träumte davon, dass eine Person, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, am Rande des schwarzen Flusses stand und Inorf in die Fluten stürzte… Darauf hin wuchs die Person auf das Zwanzigfache seiner ursprünglichen Größe an und riss im Anschluss daran, neben dem Fluss, ein großes Loch in den Boden. Ich hörte alle Bäume so tief singen, dass die Erde bebte! Die Person benutzte den Zeigefinger seiner rechten Hand und zog zwischen dem gegrabenen Loch und dem Fluss Téodex eine Furche, um einen Teil des Flusses umzuleiten… Nachdem das Loch mit schwarzer Magie gefüllt war, benutzte er einen Teil der bei Seite geschaufelten Erde dazu, um den Zulauf wieder zu schließen. Die Person lachte darauf und schrie mit hoher, schriller Stimme, dass es nun, für alle Wesen von Téo, zu spät wäre, und ihn nun niemand mehr aufhalten könne! … Was kann das bedeuten und wer könnte die Person sein, die ich gesehen habe?“
„Ich bin mir nicht sicher, mein Bruder… Aber es scheint so, als hättest du deine persönliche, magische Kraft wieder entdeckt… Du hast früher Visionen gehabt. Visionen, die für dich bestimmt waren, um Situationen zu verhindern, die Unheil über das Land gebracht hätten…“
Die Höhle wird steiler und noch schwieriger zu besteigen.
Plötzlich fällt mir Inorf ein. Er hat von meinen Visionen gesprochen! „Die Person, die ich in der Vision sah, sah so schrecklich aus… Das Gesicht…“, versuche ich mich zu erinnern, „…es sah aus, als wäre es aus zwei verschiedenen Gesichtern, welche der Länge nach halbiert sind, zusammengesetzt! Könnte das Tarator gewesen sein?“
„Schwer zu sagen… Niemand, der Tarator je zu Gesicht bekommen hat, hat bisher überlebt… Es gibt Gerüchte… Aber lass uns später darüber reden, sieh her, da ist das Ende der Höhle! Am Ausgang beginnt die Stadt Zarg und wir müssen uns noch seelisch auf die Konfrontation mit Ydna vorbereiten! Er darf von deiner Amnesie nichts merken!“, antwortet Retsam schwer außer Atem kurz vor dem Ausgang der Höhle.
Fast am Ende unserer Kräfte kommen wir in der Stadt Zarg an:
„In dieser Hütte wohnt Ydna?“, frage ich Retsam, während ich noch über meine Vision nachdenke…
Als sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt haben, sehe ich zum ersten Mal die Stadt, und alles was mir durch den Kopf geht, tritt plötzlich in den Hintergrund.
Die Stadt Zarg ist überwältigend. Erstaunlich strukturiert errichtet. Die Stadt wirkt beinahe, als wäre sie von einem Architekten über mehrere Jahrhunderte im Voraus geplant und errichtet worden.
Meter für Meter verbaut mit ländlichen Hütten. Jede Hütte hat genau elf Stockwerke. Ich werde das gefühl nicht los, dass die Zahl Elf zur Ordnung des Landes Téo gehört. Es scheint fast so, als käme Téo ohne die Zahl Elf nicht aus. Offenbar eine Notwendigkeit!
„Hast du mir nicht zugehört? Ich fragte ob dies die Hütte ist, in der Ydna wohnt!“, sage ich bestimmt, obwohl ich beinahe selber die Frage vergessen hätte…
Retsam wirkt abgelenkt, abwesend und irgendwie nervös! Er schüttelt nachdenklich den zu Boden geneigten Kopf. Er beginnt mit niedergeschlagener Stimme zu sprechen: „Ich bin nur müde, Äthyl… Die Reise durch die Höhle war sehr anstrengend… Ja, hier wohnt Ydna… Wir sollten hinein gehen…“
Ich spüre, dass Retsam nicht in diese Hütte hinein gehen möchte. Hat er Angst? Er wirkt so verunsichert. „Sollte ich besser alleine gehen?“, frage ich ihn.
„Nein, auf keinen Fall! Auf Grund meiner Erfahrung und deiner Amnesie ist es besser wenn ich mitgehe. Du hast alles vergessen und Ydna nutzt dies aus, sofern er es bemerkt. Außerdem wurdest du sogar von Inorf deshalb gewarnt… Du bezeichnest Ydna zwar als Freund, aber er kann sehr schnell zur bösen Schlange werden.“, flüstert Retsam in nicht minder müdem Ton.
Retsam ist mein Bruder und irgendwas in mir, sagt mir, dass ich ihm vertrauen muss. Er macht sich Sorgen um mich. Retsam möchte nicht, dass mir etwas passiert. „Gut mein Bruder, ich möchte, dass du mich zu Ydna begleitest. Ich weiß, dass du nie zulassen würdest, dass mir etwas passiert. Ich spüre zu dir eine tiefe Freundschaft… Ich danke dir, dass du mich unterstützt!“
Trotz allem werde ich das Gefühl nicht los, dass Retsam mir etwas verschweigt und es sich in Wahrheit um einen anderen Grund handeln muss, wieso Retsam, Ydna meiden möchte.
Retsam atmet einige male lange und tief durch und klopft, nach dem er sich in seine Menschengestalt verwandelt hat, viermal an die Eingangstür der elfstöckigen Hütte. Nichts passiert. Wieso wundert mich das nicht und wieso denke ich, dass er genau viermal klopfen muss?
Nun klopft er zwei Mal. Es passiert wieder nichts. Warum habe ich das Gefühl, dass sogar noch ein paar Mal öfter geklopft werden muss? Intuitiv hebe ich meine rechte Hand und klopfe, nach dem auch ich meine Menschengestalt angenommen habe, genau fünf Mal gegen die Tür.
„Woher wusstest du, dass wir insgesamt elf Mal an die Tür klopfen müssen? In genau dieser Reihen- und Abfolge? War das eine Erinnerung die Tarator nicht in das Solosax sperren konnte?“, fragt mich Retsam verwundert.
„Ich kann dir das nicht beantworten. Ich musste einfach klopfen!“
Die Tür der Hütte öffnet sich. „Hallo Èleg“, höre ich aus Retsams Mund, der eine junge, blonde Frau, beinahe gelangweilt, ohne ihr dabei in die Augen zu sehen, begrüßt.
Die etwas untersetzte Frau, in schrillem Outfit steht direkt vor uns, und hält etwas Seltsames in der Hand.
„Kommt rein! Ihr schafft es jedes mal wieder genau in dem Moment aufzutauchen, wo ich am wenigsten Zeit für euch habe. Aber zum Glück besucht ihr nicht mich! So hab ich zumindest die Zeit das zu tun, was ich am Besten kann: putzen! Und mir Sorgen um Ydna machen! Irgendwann wird ihn der Rat der Ältesten von Téo verbannen wenn er so weiter macht…“
Merkwürdige Person. Vielleicht sollte ich einfach mitspielen und so tun, als ob ich genau weiß von was sie spricht. Ein kurzer Blick zu Retsam bestätigt mir mein Vorhaben.
Ein Gefühl verrät mir, dass es an der Zeit ist, Èleg aufzuziehen… „Die einzige Sorge, die du dir zu machen brauchst ist, dass Ydna irgendwann vom Rat der Ältesten von Téo nicht mehr gefunden wird, so wie die Bude hier aussieht!“. Innerlich lache ich, das hat gesessen.
„Er ist im Raum von Fumé“, schnaubt sie, während sie mit dem komischen Teil, welches aussieht, als wäre es ein Kochlöffel mit abschließendem Wattebausch versucht, einen Fleck von einer Lampe im Eingangsbereich zu schrubben. „Geht schnell, bevor der Dreck zu hoch wird!“, fährt sie sarkastisch fort, während sie fast über einen Stuhl stolpert.
Retsam geht voraus, und murmelt: „Gut gemacht mein Bester! Genau das hat sie erwartet!“
„Was hast du gesagt, Retsam?“, kommt es scharf von Èleg aus Richtung des Eingangsbereiches.
Darauf Retsam mit nicht minder sarkastischem Ton: „Ich sagte, wenn sie in dem Schneckentempo weiterputzt, trocknet das Ding in ihrer Hand aus, bevor sie die schmutzige Stelle erreicht hat!“ … Wir stapfen (zugegebener Maßen, über den astrein geputzen Boden) weiter, bis ans Ende des Ganges.
Retsam berührt mit dem Zeigefinger seiner linken Hand eine Klinkenlose Tür. Er schließt die Augen und tastet diese, ohne dabei den Finger von der Tür zu lösen, streichend wie ein Dirigent im Vier-Viertel-Takt, ähnlich wie die Umrisse eines auf dem Kopf stehenden Ypsilons, ab.
Als sein Finger die Ausgangsposition der Bewegung erreicht, springt die Tür aus dem Schloss. Mit leichtem Druck, schiebt er die Tür mit den Worten „Ydnas Zeichen“ zurück.
Wir betreten den Raum, welcher getränkt in weißem Dunst, die Sicht zur Raummitte versperrt.
„Hey Alte… Mach die Tür zu, oder willst du, dass der Rat mich hier findet!“, schallt es verraucht, mehrmals durch Husten unterbrochen, aus der Raummitte! „Ydna, wir sind es!“, versucht Retsam zu erklären, während er selbst ein Husten unterdrückt. In der Mitte des Raumes sitzt ein kleiner, in giftgrünem Gewand gekleideter, Mann. Er hat ein spitzes Gesicht mit einer langen, dünnen Nase und blondes, schütternes Haar am Kopf, welches, fein säuberlich um seine Halbglatze angereiht, wie halb eingeschlagene Nägel in einem Nagelbrett, der Reihe nach absteht.
„Ah, meine Freunde!“, beginnt Ydna in schlangenhaft, schleimerischem Ton, „Äthyl und Retsam. Ich hätte es wissen müssen… So oft hättet ihr bereits dem Rat der Ältesten verraten können, wo man mich finden kann. Doch habt ihr es nie getan. Dennoch kommt ihr mich besuchen. Ihr braucht immer wieder meine Hilfe und akzeptiert, dass ich vom Rat – ich machte nie ein Geheimnis draus, es ist zu Recht – verfolgt werde… Wahre Freunde, oder liegt es vielleicht doch daran, dass ich in euren Prophezeiungen eine wirklich wichtige Rolle spiele? … Was führt euch zu mir?“
„Ja! Genau deshalb sind wir hier, und du fragst uns jedes mal wieder, wenn wir uns sehen!“, antwortet Retsam. „Und jedes mal wieder, können wir dir keine Antwort darauf geben!“, fühle ich ergänzen zu müssen, während ich beobachte, dass Retsam immer auf den Boden sieht, so, als ob er Ydna nicht in die Augen sehen könnte.
„Wie wahr, wie wahr! Das werden wir wohl nie erfahren, außer es kommt zur Erfüllung der Prophezeiung. Das letzte Mal kamst du alleine, Äthyl. Das kann nur bedeuten, dass deine schlimmsten Befürchtungen eingetroffen sind…“
Oh nein! Ich hoffe er hat noch nicht bemerkt, dass ich mein Gedächtnis verloren habe. Ydna fährt fort: „Also warum seid ihr hier? Wieso schaut ihr mich so ratlos an? Habt ihr etwa etwas vergessen? Etwas sehr wichtiges? Seit ihr deshalb gekommen?!“
„Nein!“ beginne ich zu lügen, „Wir haben nichts vergessen. Nicht so wie du, der bei Néiláti, dem Wirten der getarnten Gaststätte, noch einige Rechnungen offen hat… Wir sind zu dir gekommen, weil es einen Auftrag für uns gibt!“, was durchaus zur Wahrheit gehört… Ich hätte nicht damit gerechnet, so schnell mein Versprechen dem Wirt gegenüber einlösen zu können. So setze ich mit der Wahrheit, da ich denke, dass es nun angebracht ist die Wahrheit sprechen zu lassen, fort: „Wir holen den Schlüssel von Hexyl!“
„Ich wusste doch, dass ihr hier seid, weil ihr meine Hilfe braucht! Wie so oft… Aber, redet doch nicht so geschwollen… Schlüssel von Häxüüül… Ha!“, äfft Ydna, „Sagt doch gleich, dass ihr das Passwort wollt… Ich kann euch das Passwort aber nicht geb…“ – „Natürlich kannst du das!“, unterbreche ich ihn einfach, „Deshalb sind wir ja hier!“
„Ich werde das Gefühl nicht los, dass hier etwas nicht stimmt! Zuerst kommst du zu mir, alleine ohne Retsam, und gibst mir, egal ob du mir in Wirklichkeit vertraust oder nicht, das Passwort; ich meine natürlich deinen Hexülschlüssel, zum Betreten der Stadt Tan…“
Passwort zum Betreten? Ydna denkt nach, als ob er versucht die nun folgenden Worte genau abzuwägen. Eine Ader auf seiner Stirn tritt pochend hervor. Eine unerträgliche Stille, doch er setzt fort:
„Nun tauchst du wieder zusammen mit Retsam auf und erwartest von mir, dass ich dir dein Schlüsseldings einfach wieder so mir-nix-dir-nix gebe… Das ergibt keinen Sinn!“
„Doch, Ydna, es ergibt einen Sinn!“, antworte ich, während dessen ich versuche mir für Ydna eine gute Ausrede einfallen zu lassen, welche nur er mir glauben kann.
„Da bin ich gespannt mein Freund“, antwortet Ydna erwartungsvoll und zynisch gleichermaßen.
„Du weißt, dass wir über die Prophezeiung nicht sprechen dürfen. Erklärungen, welche mit meiner Prophezeiung zu tun haben, stürzen mich, sowie alle weiteren beteiligten in tiefes Unheil!“, sage ich, während ich stolz darauf bin, eine so gute Ausrede gefunden zu haben. Auch wenn es zufällig stimmen würde, weder Ydna, noch jemand Anderes könnte das Argument widerlegen.
Verärgert reißt Ydna seinen Kopf in Richtung Eingangstüre und brüllt lauthals: „Èleg, komm her! Ich muss dich was fragen! … Èéééleeeeg!!“
Hat er die Ausrede geschluckt? Er neigt den Kopf zurück in meine Richtung und fährt wie zuerst ebenso ruhig, wie zynisch fort:
„Mein Freund… Das mit den Prophezeihungen ist so eine Sache. Zugegebener maßen, betrifft mich dies auch. Das Dilemma kenne ich… Dennoch! Du bist irgendwie verändert… Èleg wird mir meine Fragen beantworten…“
Innerlich beginne ich mir leichte Sorgen zu machen. Hat er doch etwas bemerkt? Weiß er mehr, als er zugeben möchte?
„Du hast gerufen, mein Schatz?“, fragt Èleg unterwürfig, gerade so als hätte sie sich am liebsten noch elfmal dabei verbeugt.
„Sag mir, wie hat sich Retsam dir gegenüber verhalten, als sie herein kamen?“, fragt Ydna im selben schleimerisch-zynischen Ton wie zuvor.
„Wie soll ich sagen, so wie immer, schätze ich!“, und nickt unterwürfig.
„Meinst du damit, dass er dich nach bestem Wissen und Gewissen verarscht hat?“, fragt Ydna scharf. Seine Ader ist fast am Platzen. Beschämt beantwortet Èleg die Frage mit einem traurigem, sehr lang gezogenen und gehauchtem „Ja“. Sie tut mir leid. Hat sie mir sonst auch Leid getan, als ich noch wusste, dass es normal war Èleg zu veralbern?
Ydna bohrt weiter: „Und Äthyl? … Wie hat sich Äthyl verhalten?“
Èleg hebt den Kopf langsam zu Ydna hoch und antwortet unter Tränen: „Er hat damit angefangen!“. Mit Ausnahme von Èlegs leisem Wimmern ist kaum etwas zu hören… Es ist beinahe so, als ob man den rauchartigen Nebel im Raum an den Wänden kratzen hören kann. Èleg durchbricht das Schweigen: „Kann ich jetzt gehen? Ich muss noch den Dreck wegmachen, damit die alten Téo-Räder wenigstens im Haus die Chance haben dich zu finden, sofern diese hier mal die Tür öffnen können!“
„?!? … Was immer du meinst mein Schwesterherz!“, Ydna dreht seinen Kopf in meine Richtung und setzt fort: „Vielleicht sollte sie nicht zu lange Zeit im Raum von Fumé verbringen. Sie spricht hier drin fast nur wirres Zeugs. Aber eigentlich nur dann, wenn ihr Beide das Gesprächsthema seid… Sie hat Recht, es ist alles so wie immer! Ich wollte nicht an euch zweifeln, meine Freunde, aber in diesen Tagen kann man nicht vorsichtig genug sein… Das Passwort ist: Go¨ópi, aus der Sprache der Aloc-Mönche in Bótan. Du hast mir zwar nicht verraten wollen, was es bedeutet, aber so hast du es mir beim letzten Mal mitgeteilt.“
„Ich hoffe, du hast sonst niemandem davon erzählt!“, spricht Retsam scharf, „Es wäre fatal, wenn die Information in falsche Hände gelangt ist!“
„Das würde ich nie tun!“, antwortet Ydna erpicht!
Ich kann ihm die Aussage nicht glauben. Er hat mir dabei bewusst nicht in die Augen gesehen. „Jetzt geht, ihr habt einen Auftrag, der für euch sehr wichtig erscheint…“
„Das passt zu Ydna. Zuerst zweifeln, dann auf guten Freund machen und zum Schluss das Gespräch mit einer klaren Lüge beenden!“, sagt Retsam, nach dem Èleg die Eingangstür zur Hütte hinter uns gut verschlossen hat und Retsam sich sicher war, dass Èleg davon nichts mehr mitbekommt.
„Ich hatte auch das Gefühl, dass Ydna log, als er sagte, er hätte niemandem sonst von dem Passwort erzählt. Ich habe große Bedenken, dass der Weg zu den Aloc-Mönchen einfach werden wird. Natürlich rechne ich mit dem Schlimmsten! Warum habe ich nur Ydna das Passwort anvertraut, und nicht dir, Retsam?“
„Wahrscheinlich ist es genau so wie du Ydna gesagt hast. Vielleicht hat es mit deiner Prophezeiung zu tun. Du konntest mir nichts davon verraten, um das Machtgleichgewicht nicht zu zerstören… Da fällt mir ein, du hast mich in der Höhle etwas bezüglich Tarator gefragt und das passt ganz gut dazu: Wie oft, ich weiß du kannst dich daran nicht erinnern aber ich denke, die Information ist für dich sehr wichtig, geschah es, dass Wesen versucht haben, die Macht an sich zu reißen. Mal mehr, mal weniger erfolgreich… Trotzdem entschieden die, die ich jetzt meine, sich offensichtlich bewusst gegen die eigene, persönliche Prophezeiung und hatten ihren eigenen Plan zu verwirklichen… Sie wollten sich über die Macht des Rates der Ältesten von Téo sowie den anderen Geschöpfen von Téo hinwegsetzen.“
„Wen bzw. was meinst du damit, Retsam?“ frage ich neugierig, obwohl ich die Antwort bereits zu kennen glaube.
„Zuletzt versuchten es die Brüder Tarasin und Bator gemeinsam, indem sie sich zu einer Person vereinten… Erinnere dich an deine Vision: das Gesicht, wie aus zwei Gesichtshälften zusammengesetzt…“
Plötzlich sehe ich die Vision vor mir, als würde ich sie nochmals durchleben. Ich setze an, etwas zu sagen… „Nein, lass mich ausreden! Die Brüder vereinten sich zu Tarator, der dir das angetan hat, was dir passiert ist! In deiner Vision ist dir etwas gelungen, was Andere nicht überlebt haben… Du hast ihn gesehen! Durch die Vereinigung haben sich die Brüder den jeweils gültigen Prophezeiungen widersetzt! Tarator, als künstliches Geschöpf, bekam nie eine eigene Prophezeiung, wohl aber die Einzelpersonen. Im Lande Téo gilt dies als das große Geheimnis von Zarg, denn in dieser Stadt ist die Verschmelzung passiert. Nur wenige wissen darüber Bescheid… Auch du hast es gewusst, bevor Tarator dir diese Erinnerung genommen hat und bevor du über die schreckliche Vision im Traum das Wissen zurückerlangt hast…“
Schön langsam beginnt die Geschichte für mich Sinn zu ergeben. Tarator kann nur deshalb so viel Macht besitzen, weil dieser einen Weg gefunden hat, um die für Tarasin und Bator gültigen Prophezeiungen zu umgehen.
Für ihn als Tarator gab es keine Prophezeiung, an die er sich halten musste, da keine für Tarator vorgesehen war. Daher hat er die Möglichkeit sich ohne Regeln des Rates durch das Land zu bewegen… Ob Aurelius davon gewusst hat, als er damals Tarasin und Bator die Schriftrollen überreicht hatte, oder jetzt als er mein Solosax das erste Mal berührte?
„Wie lange wird es dauern, bis die Vision meines Traumes wahr wird, und wie hat sich der Rat der Ältesten von Téo verhalten, als sie erfuhren, dass die Brüder einen Weg fanden sich der jeweils persönlichen Prophezeiung zu widersetzen?“, frage ich meinen Bruder.
„Mach dir keine Gedanken über die Vision. Die Sonne wird noch einige Male aufs Neue unser Land erhellen… In der Vergangenheit war es so, dass es erst ernst wurde, als du selbst in der Vision vorkamst. Dies war aus deiner Erzählung nicht herauszuhören, also haben wir noch Zeit… Erinnere dich auch daran was Inorf zum Thema Visionen gesagt hat. Viel wichtiger ist es, deine zweite Frage zu beantworten: Der Rat war außer sich! Es wurde ein Tribunal einberufen, bestehend aus je einem Vertreter der Mächte. Ein Protast, vertreten durch die Onyiccson, welcher als Nutzer der weißen Magie gilt, ein Negost, vertreten durch einen Aloc-Mönch, welcher als Anwender der schwarzen Magie gilt und ein Neutrist Namens Aikón, welcher die Waage zwischen den guten und bösen Mächten halten sollte. Der Bund des Tribunals wurde im magischen Kampf innerhalb kürzester Zeit durch Tarators Einfluss soweit geschwächt, sodass es dazu kam, dass das Tribunal sich auflöste… Der Rat hat dabei angeblich einen der Ältesten verloren. Seit dem gibt es laut dem Gerücht nur noch Zehn Älteste im Rat von Tèo…“
„Schrecklich, wie vorsätzlich, eigennützig, unmenschlich und gut organisiert das Brüderpaar als Tarator vorgeht!“, staune ich, fast bewundernd, ähnlich wie Aurelius, als er die Macht von Tarator in der Hütte allen Anfangs beschrieb.
„Niemand hat mit der hinterhältigen Intelligenz des Bündnisses der Brüder gerechnet… Nun ist ein weiteres Gerücht entstanden, nach dem es ein besonderes Wesen geben soll, welches als Einziges die Weisheit besitzt um das Bündnis der Brüder zu durchbrechen, um die Brüder dazu zu zwingen sich ihren jeweils gültigen Prophezeiungen zu stellen… Niemand, mit Ausnahme von Aurelius (aber seine Zunge ist an das Gesetz des Rates gebunden, weiß etwas über die Einzelheiten der Prophezeiungen der Brüder… Eines sollte klar sein: dadurch, dass die Brüder sich vereint haben, müssten diese von den jeweils erhaltenen Prophezeiungen wissen… Sobald diese von einander getrennt sind, müsste, sofern es nach den Regeln des Rates von Téo geht, es von selbst geschehen, dass die Brüder nach Ras verbannt werden… Sie haben die Regeln gebrochen, in dem sie gegenseitig von den Prophezeiungen bei der Zusammenführung zu Tarator erfahren haben. Bei der Verbindung zu Tarator wurde sämtliches Wissen der Brüder in einer Person vereint…“
Sind das wirklich nur Gerüchte? Ich kann mich zwar an so vieles nicht erinnern, aber könnte es sein, dass es etwas mit meiner Prophezeiung zu tun hat?
„Wenn ich es richtig verstanden habe…“, meine ich zu Retsam, „…müssen die Mitglieder des Rates von Téo, alle Neutristen sein… Inorf ist Mitglied des Rates, ihn habe ich am schwarzen Fluss Téodex kennen gelernt!“, Retsam nickt und ergänzt, dass sie alle sehr weise sind und jedes Mitglied für sich besondere Fähigkeiten hat. Es scheint so, als erwartet er weitere Fragen.
„Angenommen wir würden den Gerüchten Glauben schenken, warum hat Aurelius mir in der Hütte allen Anfangs gesagt, dass er mich am liebsten töten würde?“. Nach dem Retsam mich darüber aufgeklärt hat, dass es sich bei der Hütte allen Anfangs um das Alte Archiv von Téo handelt, setzt er fort: „Ich kann lediglich selbst nur vermuten… Aurelius sagte, er würde dich töten wollen, aber er könne es nicht tun, weil du zu wichtig wärst… Vielleicht, wir sind nach der Vereinigung von Tarasin und Bator geboren, baut deine Prophezeiung auf der Vereinigung der Brüder zu Tarator auf… Eventuell sieht Aurelius eine Möglichkeit, dass dich Tarator dazu bringen könnte, dich ihm, oder den dunklen Kräften anzuschließen. Wahrscheinlich hat Tarator dir die Erinnerungen genommen, um dich schwach zu machen; dich anfällig auf all jenes zu machen, was deine Neugier weckt.“
„Wie könnte ich das?! Meine Erkenntnisse steigen mit jeder Minute. Wenn dies so ist, wie du vermutest, muss auch Aurelius ein Neutrist und Mitglied im Rat sein… Um mich zu töten, fällt mir für Aurelius nur eine einzige Begründung ein, und zwar dann, wenn ich das Machtverhältnis zerstören würde. In dem Fall würde er nach seinem Auftrag als Ältester handeln… Ich bin froh darüber, dass Tarator eines vergessen hat zu berücksichtigen: den Entzug meiner Gefühle… Viele meiner bisherigen Bauchentscheidungen waren zwar zuerst durch Angst etwas getrübt, dennoch habe ich mich, sofern ich mich auf mein Herz verlassen habe, bisher immer richtig entschieden… Tarator hat in seinem diabolischen Plan etwas entscheidendes vergessen! Da ich keine Erinnerung an meine Prophezeiung habe, kann ich diese wissentlich auch niemandem verraten. Er hat mir somit eine Waffe zur Verfügung gestellt, auch wenn es von ihm nicht beabsichtigt war. Ich kann mich somit, ähnlich wie er selbst, außerhalb der Regeln bewegen… Es ist, als hätte ich nie eine Prophezeiung erhalten und es scheint so, als wäre dadurch das Machtverhältnis auf gewisse Art und Weise wieder hergestellt worden!“, sage ich zu Retsam.
„Dies wird auch der Grund dafür sein, warum sich der Rat nicht weiters in das Geschehen einmischt und nicht mit Gewalt die Mächte verteilt… Komm Bruder, wir müssen los! Lass uns keine Zeit verlieren, die schwarzmagischen Aloc-Mönche warten bereits auf uns. Die Eindrücke sind vielfältig und manches davon muss nach wie vor sehr verwirrend für dich sein… Aber vergiss nicht, wir müssen schnell dafür sorgen, dass du den Schlüssel von Hexyl und somit auch deine Erinnerungen zurück erhältst!“, antwortet mein Bruder.
Ich bin sicher, dass wir nicht das letzte Mal von Ydna gehört haben. Einige Steine werden am Weg liegen, davon bin ich überzeugt… Trotzdem denke ich, dass jede andere Person, als Hüter des Passwortes, noch viel gefährlicher gewesen wäre…
Verwirrt? Ja bin ich! Besonders deshalb, weil ich vom Hüter der schwarzen Magie Informationen zum Schlüssel von Hexyl erhalten soll… Ich finde es sehr witzig, dass Ydna dachte, dass das Passwort der Schlüssel von Hexyl ist. Wer weiß, für was das gut war…
„Du hast Recht. Gehen wir!“, sage ich zu Retsam bestimmt.

Mich interessiert zwar brennend, wieso Retsam es nicht wagte, Ydna in die Augen zu sehen, aber da ich tief in meinem Herzen fühle, dass dies einen sehr persönlichen Grund hat, entschließe ich mich, die Frage nicht zu stellen.

Die Hochebene von Bótan



Ein staubiger und holpriger Weg! Ich hätte mir nie gedacht, nach dem ich so viele schöne Ländereien gesehen habe, dass es in Téo Gegenden gibt, welche ich am Liebsten meiden würde… Als wir die Stadtgrenze von Zarg verlassen hatten, begann die Dunkelheit, als ob jemand das Licht mit einem Schalter abgedreht hätte… Kahle Bäume stehen vereinzelt, völlig gesangslos, in der Gegend herum… Ich bin sicher, sie sind tot!

Den Weg entlang sehe ich vertrocknete Büsche und dornige Sträucher. Ob hier jemals die Sonne scheint? Hat sie hier jemals geschienen? Es scheint so, als ob die Finsternis im Lande Téo seinen eigenen Platz erhalten hat… In der Ferne kann ich ein großes Gebäude erkennen. Ob hier die schwarzmagischen Aloc-Mönche leben?
„Dies ist Bótan…“, erklärt Retsam, „…der meiner Meinung nach schrecklichste Landstrich in Tèo! Viele der schwarzmagischen Geschöpfe leben und arbeiten hier. Da die meisten Geschöpfe sich der Dunkelheit verschrieben haben, hat Gaia, die Urmutter der Erde, und Oberin des Rates beschlossen, die Sonne fort zu schicken. Immerwährende Dunkelheit ist das Los dieses Landstriches… Das was du am Plateau, dort am Horizont, erkennen kannst, ist die Stadt Tan, welche innerhalb dieses riesigen Gebäudes errichtet ist… Das Plateau wird die Hochebene von Bótan genannt. Wir müssen dort sehr vorsichtig sein, da viele der Geschöpfe hier es nicht besonders gut mit Fremdlingen meinen. Du wirst sehen, dass die Bedenken wegen Ydna unser geringstes Problem sein werden. Viele hier wissen, dass wir uns der weißen Magie verschrieben haben und das ist Grund genug für sie uns zu töten… Mit Ausnahme der schwarzmagischen Aloc-Mönche ist hier niemandem so wirklich bewusst, dass ein Ausgleich der Mächte unsere Welt zu dem lebenswerten Platz macht, den wir alle benötigen. Trauriger Weise muss ich der Fairness halber ergänzen, dass es bei uns in Ydál auch so ist.“
„Was erwartet uns in Tan?“, frage ich Retsam neugierig.
„Da Ydna im Zusammenhang mit dem Passwort das Betreten von Tan erwähnt hat, macht es Sinn, ohne Umwege zu Ispép zu gehen. Er ist der Anführer in Tan und gleichzeitig der Vorsitzende der Aloc-Mönche… Was uns hier alles erwarten wird, ist schwer abzuschätzen… Ydna hat uns das Passwort gegeben, allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass er das Passwort nicht für sich behalten hat. Falls er das Passwort Èleg gegeben hat, dürfte nicht all zu viel passieren, da sie es wahrscheinlich für ein neues, außergewöhnliches Putzmittel hält. Das Portal von… Was war das?!?“
Ein lauter Knall, wie von einer Explosion, lässt uns erstarren!
Am Horizont, dort, wo gerade noch die Stadt Tan zu sehen war, steigt eine riesige Säule aus grünem Licht in den Himmel. Die gesamte Umgebung wird durch das grüne Licht erhellt. Das Licht ist so stark, dass es im ersten Moment dafür gesorgt hat, dass ich die darin befindliche Stadt, für einen Augenblick, für verschwunden gehalten habe! Schön langsam gewöhnen sich die Augen an das Licht.
„Bewohner von Bótan! Ba¨ LuAko ójokodi¨, bajokowa ane pipoqa! Soeben hat das neue Zeitalter begonnen…“, hören wir eine Stimme über das Land hinweg schallen.
Eine Stimme, die ich bestimmt schon mal gehört habe, ich weiß es…
„Es wird Zeit! Schon bald werde ich die Verteilung der Macht in die Hand nehmen und somit zu meinen Gunsten den Kampf von Helligkeit gegen die Dunkelheit entscheiden! Ich werde den Rat zerstören, sowie die weiße Magie vernichten! Ich, meine Brüder und Schwestern der schwarzen Magie, werde euch in das neue Zeitalter führen. In das Zeitalter, in dem das Böse triumphiert, ja, nur das Böse existiert!! Schon bald werde ich Téodex, den schwarzen Fluss, dazu benutzen um meine Macht zu verstärken… Ich lasse euch die Wahl. Ihr könnt sterben oder im Zeitalter der Dunkelheit mit mir zusammen regieren! Ihr habt elf Tage… Entscheidet euch…“
Mit einem grauenhaften Lachen beendet die Stimme die Ansprache. Nun ist mir auch klar, wer die Ansprache gehalten hat. Dasselbe Wesen, welches in meiner Vision so schrecklich gelacht hat: Tarator!
Retsam und ich beginnen wie wild auf die Stadt Tan, in tierischer Gestalt, zuzulaufen… „Ich hoffe, niemandem ist etwas passiert!“, brüllt Retsam! Schwer nach Luft ringend, setzt er fort: „Wie hat es Tarator nur geschafft in die Stadt zu kommen? Die Einwohner von Tan verlassen nie ihre Stadt. Besuch von außerhalb bekommt das Passwort entweder vom Portal von Tan, oder direkt von Ispép, dem Anführer des Aloc-Ordens und einzigem, der die Stadt aus diplomatischen Gründen verlässt! … Abgesehen davon…“
„Ich habe zwar mein Gedächtnis verloren, aber du weißt genau so wie ich, dass Ydna das Passwort verraten hat. Darum kümmern wir uns später… Jetzt ist es wichtig, dass wir so schnell als möglich Ispép finden!“
Das Licht wird immer greller, je näher wir der Hochebene von Bótan und der Stadt Tan kommen… „Ist das ein Schutzschild, können wir hindurch gehen?“, frage ich Retsam. „Ich habe keine Ahnung, so etwas sehe ich zum ersten Mal… Komm, wir versuchen mal, den Stein dort drüben gegen die Lichtwand zu werfen. Wenn er durchfällt, dann besteht die Chance, dass wir hier unbeschadet durch können!“
Gesagt, getan… In Menschengestalt versuchen wir gemeinsam den von Retsam anvisierten Stein gegen den Lichtwall zu schleudern. Der Stein prallt von der Lichtwand ab, als ob wir versucht hätten ein Stück Brot gegen eine Felswand zu werfen… Ich zermartere mir mein Gehirn darüber, wie wir da durch kommen. Die Wand aus Licht hat es in sich…
„Vielleicht“, so Retsam, „sollten wir entlang der Stadtmauer nachsehen, ob es Stellen im Lichtwall gibt, die durchlässig sind…“ - „Gute Idee!“
Wir laufen, so schnell wir können, in tierischer Gestalt los.
Nach hunderten von Metern entdecken wir eine Stelle, welche verhindert, dass der Lichtwall den Boden berührt… „Sieh, hier ist eine Stelle! Etwas lenkt den Lichtwall ab!“, quält sich Retsam, völlig außer Atem. Ein großer Steinbogen hält das Licht davon ab den Boden zu berühren und ermöglicht uns den Durchgang zur Innenseite des Lichtwalls.
Nicht weit des Durchgangs erreichen wir den Zugang zum Portal von Tan. Starke Winde, erzeugt vom Lichtstrahl, machen es uns schwer über die zum Portal reichende Hängebrücke zu waten. In der Tiefe sind Felsspitzen zu erkennen. Schon mancher Besucher scheint von der Brücke gestürzt zu sein. Eindeutige Überreste, wie Gebein und Schädelknochen, lassen mich dies glauben… Wenige Augenblicke vergehen, und Retsam und ich stehen vor dem Portal von Tan.
Eine leise, piepsige, quietschfidele Stimme haucht: „Du hast drei Versuche mir das Passwort zu nennen. Liegst du falsch wird ein Versuch abgezogen. Beim dritten Versuch, und falscher Antwort, seid ihr des Todes! Bei korrekter Antwort lasse ich euch ein!“
„Zum Glück wissen wir das Passwort!“, sage ich zu Retsam! „Dein genanntes Passwort ist falsch! Du hast noch zwei Versuche!“, höhnt das Portal!
Mist! Ich könnte mich selber ohrfeigen! Das Portal nimmt das ganz schön genau mit den Antworten. Ich hoffe, Retsam sagt jetzt nichts darauf… Was hat Ydna gesagt, wie war das Passwort? Ich muss mich konzentrieren.
Das Passwort verlässt meine Lippen: „Go¨ópi“
Nichts passiert. Ob das Portal von Tan noch etwas erwartet? Es lässt sich lange Zeit um zu antworten… Viel länger als beim ersten Versuch, obwohl das keine Kunst ist… Ich weiß, da war noch mehr was Ydna gesagt hat… „Das Passwort ist falsch. Du hast einen letzten Versuch bevor ihr beide sterben dürft!“, piepst das Portal belustigt.
Jetzt wird es knapp. Der genaue Wortlaut muss her!
Plötzlich fällt mir der Satz von Ydna wieder ein. Soll ich es riskieren? Ich sehe Retsam fragend an. Retsam zuckt ratlos mit den Schultern, nickt aber dann doch hoffnungsvoll ohne ein Wort zu sagen. Ich nehme all meinen Mut zusammen und spreche den vollständigen Satz von Ydna aus: „Go¨ópi, aus der Sprache der Aloc-Mönche in Bótan!“
„Tritt ein, auch wenn du ein Feind bist! Du hast das Passwort genannt und es ist korrekt!“, sagt das Portal, genau so piepsig wie zu vor, aber offensichtlich sehr enttäuscht darüber uns nicht umbringen zu dürfen. „Um die Stadt verlassen zu können, merke dir das Passwort, um wieder gehen zu können!“ … Wortlos treten wir als tierisches Selbst in die Stadt Tan ein.
Im Gegensatz zum Landstrich außerhalb von Tan, scheint die Stadt selbst nun innerhalb der gebauten Mauern, voller Leben zu sein. Ein buntes Treiben, denke ich, während mein Blick über das Getümmel hinweg streift. Kaum zu glauben, dass hier großteils nur Anhänger der schwarzen Magie leben sollen.
Die Innenseite der Mauer, welche von außen wie die eines Gebäudes aus Stein wirkt, ist innen aus purem Gold. Liebevoll erarbeitete Reliefs, zeigen bei näherem Hinsehen detailgetreue Nachbildungen von Menschen vergangener Tage. Dort wo in freier Natur der Himmel wäre, befindet sich eine Decke, welche tiefe Nacht zeigt. Mit einem Halbmond und unzähligen Sternen. Die kalte Steinmauer von Außen ist nicht zu sehen. Verträumt blicke ich hoch… „Gefällt sie dir?“, fragt Retsam. „Hä? Was meinst du?“, frage ich zurück, als Retsam mich in meinem Tagtraum unterbricht.
„Die Decke der Stadt.“, setzt Retsam nach. „Ja, sie ist wunderschön…“, sage ich verträumt.
Retsam beginnt zu erzählen: „Das ist die außergewöhnliche Decke von Tan. Ein Produkt der schwarzen Magie. Sie wurde, unter der Genehmigung des Rates, von einem schwarzmagischen Aloc-Mönch Namens Gnilwòr errichtet, um den Leuten von Tan ein Leben, wie in freier Natur, zu ermöglichen… Die Decke zeigt den Tag, sowie auch die Nacht. Auch Regen und Schneefall sind Witterungen, die von der Decke erzeugt werden können… Der Zauber der Decke nutzt den natürlichen Tag-Nacht-Wechsel, und ergänzt die Witterung in dem sie die Gefühle der Einwohner von Tan analysiert. Momentan scheint die Stimmung klar und friedvoll zu sein…“
Ich wende den Blick von der Decke ab. Erstaunt blicke ich die Hauptstraße entlang und stelle fest, dass diese, im Gegensatz zur Außenwelt, staub- und schmutzfrei ist. Ob die schwarze Magie auch dies bewerkstelligt?
„Die gesamte Stadt wurde, mit Ausnahme der Decke, sowie dem Mahnmal von Tan, vom Anführer der Aloc-Mönche errichtet, ohne dabei auch nur einen einzigen Stein mit den Händen zu berühren… Rébél, der Hüter der Weisheit, im Rate der Ältesten von Téo, er war unser Lehrer, hat uns dies in seinem Unterricht erzählt…“
Beeindruckend! Unglaublich, dass die schwarze Magie so bösartig sein soll, wenn man bedenkt, welch wunderbare Dinge damit vollbracht werden können: „Ist das da vorne das Mahnmal von Tan?“, frage ich Retsam, „Das Gebäude sieht ganz anders aus, als die Anderen.“
Tiefschwarz, ähnlich gefärbt wie der Fluss Téodex, ragt es mit zweiundzwanzig Stockwerken in der Ferne empor.
„Ja, es ist das Mahnmal von Tan. Es ist kein Gebäude, auch wenn es so aussieht… Das Mahnmal wurde von ¦éilf (Mitglied es Rates und Hüter des Mahnmales) errichtet, um die Besucher der Stadt Tan daran zu erinnern, wie wichtig es ist, dass ein Gleichgewicht zwischen den Mächten besteht, um den Frieden in unserer Welt zu erhalten… ¦éilf wählte die Stadt Tan für das Mahnmal, da hier die meisten Anwender der schwarzen Magie leben… Die schwarze Magie ist sehr verführerisch! Viele Leute denken, dass sich mit der schwarzen Magie vieles relativ schnell und einfach lösen lässt…“
Ich fühle mich ertappt… Ja, ich habe die schwarze Magie auch gerade sehr bewundert und hätte nebenher beinahe vergessen, wieso diese schwarze Magie genannt wird… Unglaublich, wie verführerisch die schwarze Magie ist!
„In frühen Tagen unserer Gesellschaft herrschten harte Machtkämpfe zwischen der weißen und schwarzen Magie. Es dauerte sehr lange, bis die Gesellschaft von Téo erkannte, dass nur ein gesunder Machtausgleich Frieden bringen kann und dies nur mit Hilfe der unbefangenen Neutristen möglich ist… Viele, die anderer Ansichten sind, egal ob sie Anwender der weißen oder schwarzen Magie sind, haben versucht das Mahnmal zu zerstören, um den Machtausgleich in Vergessenheit zu bringen, und um ihre Interessen, auch mit Gewalt, durchzusetzen… ¦éilf hat sich dazu verpflichtet, das Mahnmal zu schützen und notfalls auch zu verteidigen. Er hat dies in der Vergangenheit bereits des Öfteren getan…“
„Ist man zu schwarzer oder weißer Magie geboren? Ist es einem in die Wiege gelegt, gut oder böse zu sein?“, frage ich Retsam, während wir das Ende der Hauptstraße erreichen.
Die Hauptstraße, welche uns vom Portal, am Mahnmal vorbei, in Richtung Kloster bringt, mündet in einem großen, runden Platz, auf dem sich viele verschiedene Wesen tummeln… Ein Marktplatz… Das bunte Treiben lenkt mich etwas von meiner soeben gestellten Frage ab… So viele Leute auf einem Fleck… Es wird reger Handel mit magischen Gütern betrieben; offensichtlich ein Treffpunkt der schwarzmagischen Welt.
An einem der Marktstände wird Quato-Braten gegessen, an wieder einem Anderen wird in ausgelassener Stimmung etwas gefeiert… Ich bekomme Hunger. Kaum zu glauben, dass vor kurzem noch Tarator wie verstärkt aus tausend Stimmen über dem Platz seine Ansprache verkündet hat. Die Leute hier scheint das nicht beeindruckt zu haben… Das Wetter würde sonst anders aussehen.
„Nein“, sagt Retsam, während ich vor lauter Hunger fast meine Frage vergessen hätte, „Es ist jedem Wesen in Téo freigestellt sich für eine der zwei Seiten zu entscheiden. Lediglich die Neutristen sind dazu geboren, neutral zu sein. Sie haben keine Wahl, da sie nicht im Stande sind sich für eine Richtung zu entscheiden… Es wird bald Zeit für uns in das Kloster zu gehen. Vielleicht hast du es schon gesehen… Es ist das große, runde Gebäude in der Mitte des Platzes…“
„Ja, habe ich… Komisch… Die Leute scheinen überhaupt nicht beeindruckt davon zu sein, dass Tarator gerade noch ein Ultimatum verkündet hat… Eigentlich bin ich sehr hungrig. Ich denke, wir sollten etwas essen, bevor wir in das Kloster gehen.“
„Äthyl, in der Stadt Tan wird jeden Tag irgendein Ultimatum gestellt. Die Leute sind das hier gewöhnt… Es ist nicht ratsam in der Stadt Tan etwas zu essen. Ich möchte niemandem etwas unterstellen, aber wir sind Wesen weißer Magie und sollten kein Risiko eingehen… Du selbst hast mich immer wieder davor gewarnt hier etwas anzunehmen…“
„Gut, dann lass uns zuerst in das Kloster gehen um Ispép zu suchen. Der Schlüssel von Hexyl ist wichtiger…“, sage ich zu Retsam, obwohl mein Magen gerade so laut geknurrt hat, dass ein Hund in meiner Nähe zurückknurrte.
Um das kreisrunde, kugelförmige Kloster zu erreichen, schlängeln wir uns durch eine Reihe von Marktständen. Eine lange, steinerne Treppe führt zum Eingang des kugelförmigen Klosters hinauf.
Oben angekommen, sehen wir nun die ganze Pracht der Stadt.
Über der Tür des Klosters, am Türrahmen angebracht, stehen in goldenen Buchstaben drei Worte:

Go¨ópi - Saa¨ - Ipó¨og

Was das wohl bedeuten mag? Wenn nicht mal Ydna die Bedeutung des Wortes Go¨ópi kannte, dann habe ich es wahrscheinlich auch nicht gewusst. Aber irgendwo habe ich das schon einmal gehört. Ich weiß es! Wenn ich mich bloß daran erinnern könnte… Ich weiß nur, dass ich beim Klang der Worte an etwas Wunderbares denken muss… „Sie liegen mir süß im Ohr!
Ich werde Ispép fragen, sobald ich ihn sehe“, denke ich, während wir durch die Tür in das Innere des Klosters gehen. Retsam voran, er scheint den Weg zu kennen…
Nach Durchschreiten des Einganges wird es schlagartig finster… Die einzige Lichtquelle ist ein breiter, am Boden befindlicher Strom aus weißer Flüssigkeit… „Es ist der Fluss Téodid“, höre ich Retsam sprechen, ohne ihn dabei auf Grund der Finsternis sehen zu können. „Es ist der weiße Fluss von Téo, und der zweite, magische Strom unseres Landes.“
Je näher wir dem Fluss Téodid kommen, desto besser wird die Sicht auf alles in meiner Nähe. „Ist der, den ich da sehe, das was ich denke?“, frage ich Retsam, nach dem ich am Ufer des Flusses ein in Weiß gekleidetes Wesen erkenne…
„Ja, Äthyl, einer der Neutristen. Es handelt sich hier um Sirób. Er ist, wie du bereits zweifellos vermutet hast, der Hüter des weißen Flusses. Er wird uns über den Fluss geleiten…“
„Ich habe euch erwartet!“, spricht Sirób langsam, als wir vor ihn treten. Er sieht aus, als wäre er der Negativ-Foto-Abzug eines Bildes von Inorf. Auch er hat elf Zehen. Seine sechste Zehe ist jedoch am linken Fuß.
Geheimnisvoll spricht er weiter: „Ich sehe, meine schlimmsten Visionen haben sich erfüllt… Äthyl… Du bist mit deinem Bruder gekommen, um den Schlüssel von Hexyl zu finden… Ich habe es gesehen… Inorf… es wird ihm nichts geschehen… Mach dir darüber keine Gedanken… Bald schon werden auch deine Visionen deutlicher, viel deutlicher… Dir fehlen die Erinnerungen… ich habe es vorhergesehen… Inorf hat es vorausgesehen… Stell keine Fragen… ich werde sie dir nicht beantworten… Die Prophezeiung… Ich habe dem Rat mein Versprechen gegeben… Ydna hat unsere Welt in Unheil gestürzt… es hat so kommen müssen… Der Rat hat es gewusst… Es war Bestimmung… Er hat seine erfüllt… Es war so geplant… Mach dir keine Vorwürfe… Der Vater… Behalte das Passwort, um wieder gehen zu können... Inorf hat es bereits gesagt!“
Sirób nimmt seinen grauen Stab und deutet auf die Oberfläche der weißen Flüssigkeit und zeigt damit, dass wir über den Fluss gehen sollen… Ohne ein Wort zu sagen, überqueren wir den Fluss!
Auf der anderen Seite angekommen, hören wir Sirób nachröcheln: „Ich bin nicht im Stande dir zu Antworten… Es ist mir nicht möglich! … Behalte das Passwort, um wieder gehen zu können… sonst seit ihr des Todes!“
Wirre Gedanken durchstreifen meinen Kopf… Er sagt, er kann meine Fragen nicht beantworten… Wenn ich mir das richtig überlege, hat er mehr Fragen beantwortet, als ich ihm stellen wollte… Macht es Sinn die Fragen zu seinen Antworten zu suchen? Die Vision von letzter Nacht zeigte, dass Tarator, Inorf in den schwarzen Fluss gestürzt hat… Er wird also daran nicht sterben… Ich bin sicher, dass Sirób und Inorf mir Beide auf ihre Art mitgeteilt haben, dass es Teil von Ydna’s Prophezeiung ist, sich so zu verhalten wie er es getan hat… Sofern er das Passwort verraten, oder was auch immer sonst noch so getan hat; es musste also so sein…
Wieso sollte ich das Passwort vergessen? Hat das Portal von Tan unbemerkt ein neues Passwort, als wir die Stadt betreten haben, festgelegt? Möchte mich Sirób darauf hinweisen? Wenn ja, wie lautet das neue Passwort? Hat es, ähnlich wie beim Eingangs-Passwort, mit der genauen Formulierung des Satzes zu tun? Kann Ispép mir die Frage beantworten? Er soll der Einzige sein, der das Passwort immer kennt… Und was bedeuten die goldenen Worte am Eingang des Klosters? Und wo sind die Aloc-Mönche? Ist niemand da? Es ist dunkler geworden, seit wir den Fluss Téodid immer weiter hinter uns gelassen haben… Zappenduster!
„Wir sind da.“, sagt Retsam, „Hier treffen wir Ispép und die Mönche des Aloc-Ordens. Bevor wir die Halle der Mönche betreten, muss ich dich darauf hinweisen, dass du den Blick von ihnen abwenden musst. Die Mönche sehen es als äußerst unhöflich an, wenn du ihnen direkt in die Augen siehst. Wir treten in menschlicher Gestalt ein, da die Mönche die Sprache der Tiere nicht verstehen können… Sprich nur, wenn du gefragt wirst. Antworte so wahr und so knapp wie nur möglich. Die Mönche sind keine Freunde von langen Unterhaltungen, aber dafür von extrem langen Monologen!“
Retsam öffnet die Tür zur Halle. Als ich meinen Blick senke, sehe ich gerade noch, wie sämtliche Blicke auf uns gezogen werden. Absolute Stille begleitet uns, während wir in die Mitte des kahlen, schwarzen Raumes gehen.
„Ihr seid gekommen…“, höre ich eine sehr tiefe Stimme, aus der Mitte des Raumes. Durch die Kahlheit des Raumes ist ein leichtes Echo zu hören. Weder Retsam noch ich sagen darauf etwas, noch heben wir die Köpfe in Richtung der Stimme…
„Ihr seid gekommen, um den Schlüssel von Hexyl zu suchen… Ihr seid zu Zweit… Dies bedeutet, dass die Vorhersagen eingetroffen sind… Deinen Bruder hast du mitgebracht… Ein wahrer Freund und Wegbegleiter… Der Schlüssel, den du bei mir zu finden erhoffst, hat den Platz gewechselt, war aber nie bei mir… Die Zeiten haben sich geändert… Der Rat hat festgestellt, dass auch du zu einem Geschöpf wurdest, welches die Regeln des Rates nicht mehr befolgen muss… Es ist, als ob du nie eine Prophezeiung erhalten hättest… Zwei Wesen, ein Vertreter der schwarzen Magie, sowie ein Vertreter der weißen Magie, müssen sich nun nicht mehr an die Regeln des Rates halten… Das Machtgleichgewicht ist, auch wenn es von Tarator nicht beabsichtigt war, durch Entnahme deiner Erinnerungen wieder hergestellt worden. Allerdings, wird Tarator mehr an Macht gewinnen! Er sucht nach Anhängern; er versucht andere Abzuwerben… Du befolgst die Gepflogenheiten der Aloc-Mönche… Du wendest den Blick ab und stellst keine Fragen… Ich weiß, dass du tiefen Respekt gegenüber allen Lebewesen verspürst, unabhängig davon, ob diese gut oder böse sind, und erkannt hast, dass du derjenige bist, der unserer Welt nicht nur das Machtgleichgewicht zurückgebracht hat, sondern auch den Neutristen helfen wird, die Stärke der Macht gleichmäßig unter den Anwendern zu verteilen… Ich gewähre dir jetzt zwei Fragen… Überlege gut und weise… Enttäusche mich nicht!“
Ist das alles? Zwei Fragen? Ich hätte erhofft, mehr Fragen stellen zu können… Nur was frage ich ihn? Was ist wichtig genug, beantwortet zu werden? Vielleicht sollte ich Fragen stellen, die meiner persönlichen Mission (Äthyl, der ich mal war und wieder sein möchte) dienlich sind… Ist das überhaupt meine Mission?
Wahrscheinlich ist es wichtiger Fragen zu stellen, die der Gesamtheit der Wesen von Téo nützen… schwierig… Erschwerend kommt hinzu, dass die Fragen kurz und bündig gestellt werden müssen, denn es gehört zu den Gepflogenheiten… Ist es wirklich wichtig zu wissen, wo sich der Schlüssel von Hexyl befindet?
Ich hebe leicht den Kopf, ohne Ispép dabei in die Augen zu sehen, und beginne meine erste Frage zu formulieren: „Wie kann ich die Neutristen unterstützen?“
Ispép denkt sehr lange über die Frage nach und antwortet: „Eine weise Frage, genau so, wie ich sie von dir erwartet habe… Geh zu deinem Vater!“
Fast enttäuscht keine ausführlichere Antwort bekommen zu haben, nehme ich die Antwort zur Kenntnis… Ich werde immer neugieriger. Soll ich jetzt fragen, wieso ich zu meinem Vater gehen soll?
Besser nicht. Ich werde es ohnehin erfahren, nach dem ich bei meinem Vater angelangt bin… Was ist mit der Bedeutung der Worte am Eingangstor zum Kloster? Macht es Sinn dies zu erfahren, wenn es eventuell wichtigere Fragen gibt, die beantwortet werden müssen? Weise sollten die Fragen sein! „Streng dich an Äthyl!“, sage ich in Gedanken zu mir selbst!
„Wie lautet das aktuelle Passwort für das Portal von Tan?“, frage ich Ispép, in der Hoffnung, dazu den ersten Schritt machen zu können, welcher notwendig ist um meine Mission zu sichern. Was hilft es, wenn wir sterben, bevor wir die Stadt verlassen…
„Um wieder gehen zu können…“, meint Ispép. Ich antworte: „Ja, um wieder gehen zu können …“
Ispép reagiert, obwohl ich mir keiner Schuld bewusst bin, sehr zornig: „Schweig! Du hast nicht zu sprechen, ohne das du gefragt wurdest! Geh jetzt zu deinem Vater, deine Anwesenheit ist hier nicht mehr erwünscht!“ Schweigen tritt ein. Verwirrt sehe ich zu Retsam. „Das war doch eine Frage, oder nicht?!“, denke ich verwundert… Ohne ein Wort zu sagen, drehen wir uns um in Richtung Ausgang und gehen hinaus.
Nachdem wir die Halle verlassen haben, den Fluss Téodid überquert, das Kloster verlassen, den Marktplatz (ohne etwas zu essen, diesmal knurren mehrere Hunde zurück) passiert und nun gut 100 Meter vor dem Portal von Tan auf der Hauptstraße auf Grund eines vorbeifahrenden Gefährtes zum Anhalten gezwungen waren („Passt doch auf ihr Idioten! Das ist eine Straße!!“), bricht Retsam das Schweigen:
„Was sollte das jetzt? Ich dachte, Ispép hätte dich gefragt, ob du das Passwort zum Verlassen der Stadt meinst… Aber jetzt wird mir einiges klar! Das Portal hat als Passwort den Satz Um wieder gehen zu können festgelegt. Gut zu wissen… Ispép hat uns einige unserer Vermutungen bestätigt und ich denke, dass die Frage nach dem Passwort die weiseste Frage war, die du stellen konntest. Zumindest hilft uns deine Frage, die Stadt Tan zu verlassen und wir müssen vielleicht erst außerhalb der Stadt sterben!“
Wir sehen uns beide tief in die Augen und beginnen herzhaft zu lachen. Trotz all der schrecklichen Dinge, die in den letzten Tagen passiert sind, haben wir wenigstens unseren Humor nicht verloren.
Wieder einmal stehen wir, ohne ein Wort zu sagen, muxsmäuschenstill, vor dem Portal.
„Wie lautet das Passwort?“, fragt die leise, piepsig-hämische Stimme des Portals, „Ich erkenne euch wieder! Ihr habt heute schon zwei mal falsch geantwortet. Euch bleibt nur ein Versuch!“
Jetzt bloß nichts darauf sagen, dieses fiese Portal will nur eine Aussage provozieren, um uns töten zu können! Schnell antworte ich „Um wieder gehen zu können!“
„Auf Wiedersehen, ihr weisen Männer der weißen Magie!“, sagt das Portal, offensichtlich maßlos darüber enttäuscht, dass wir wieder überlebt haben, „Seit vorsichtig, ich hoffe, dass euch etwas… öööhm… ich meine nichts passiert…“
Während Retsam und ich uns noch über das hinterlistige Portal lustig machen, und uns fragen, welcher Teil von „Seit vorsichtig, ich hoffe, dass euch etwas… öööhm… ich meine nichts passiert“, nun das neue Passwort sein könnte, genieße ich zum ersten Mal, seit ich meine Erinnerungen verloren habe, den Fakt, dass ich am Leben bin… Die Tatsache, dass der Lichtwall zwischenzeitlich seine Farbe von Grün nach Feuerrot verändert hat, scheint uns völlig egal zu sein…
Retsam hat mir erzählt, dass die Stadt Tan ständig bedroht wird. Aus unerfindlichen Gründen ist mir völlig klar, dass es vielleicht besser ist, wenn bestimmte Wesen sich ihr Gefängnis selbst aussuchen…
Den Schlüssel von Hexyl konnte mir der Neutrist Ispép zwar nicht geben, aber er hat mir dennoch sehr viel über mich verraten können… Natürlich erhoffe ich mir, mehr von meinem Vater zu erfahren… Vielleicht weiß Vater, wo der Schlüssel von Hexyl zu finden ist… Retsam meint, dass wir zu Fuß einen Tag benötigen, um zu Vater zu kommen. Am Weg liegt die getarnte Gaststätte…
„Falls ich jetzt nichts zu essen bekomme, werde ich den nächsten Passanten verspeisen!“, sage ich zu Retsam fröhlich. Der Hunger ist gigantisch. Länger kann ich nun wirklich nicht mehr warten… In der getarnten Gaststätte habe ich bereits schon einmal gegessen, da spricht jetzt bestimmt nichts mehr dagegen…
„Ja Äthyl, gute Idee… ich habe auch schon einen Bärenhunger! Wir brauchen einen Schlafplatz! Wir sollten uns ausruhen… Außerdem kannst du dich auf Morgen freuen, da treffen wir nicht nur Vater, sondern auch…“ „Yks!“, ergänze ich träumerisch…

Néiláti der Wirt, öffnet die Tür! „Äthyl und Retsam! Herzlich Willkommen in der getarnten Gaststätte. Danke, dass ihr Ydna an seine Schulden erinnert habt. Er ist vor einer halben Stunde eingetroffen und hat gerade seine Schulden, vollständig beglichen…“

Echte Freundschaft



Ydna ist hier?! Ich dachte er müsse sich vom Rat der Ältesten verstecken. Eine Überraschung, mit der ich nicht gerechnet habe… Wie soll ich mich ihm gegenüber verhalten? Sirób, der Wächter des Flusses, der weißen Magie Téodid, hat mir gesagt, ich sollte mir keine Gedanken machen, weil er lediglich seine Prophezeiung befolgt hat… Andererseits, kann ich nicht verstehen, warum er es zugelassen hat, dass er uns alle so hintergangen hat… Immerhin sind wir, zumindest teilt mir das mein Bauchgefühl mit, Freunde…

Ich hätte ihm über meine Prophezeiung auch nichts verraten dürfen… Ist er ein Verräter? Ist er eine Marionette im Plan der Vorsehung? Hat er sich dazu bewusst entschieden böse, aber trotzdem mit mir befreundet, zu sein?
„Hallo Äthyl!“, höre ich die bekannte, verrauchte Stimme von dem Tisch aus sprechen, an dem das letzte Mal Retsam und ich gespeist haben… Es ist Ydna… Ich erkenne ihn, obwohl der Raum in dem ich ihn zum letzten Mal gesehen habe sehr neblig war, sofort wieder. „Wie geht’s dir? Alles in Butter?“, setzt Ydna vergnügt fort.
„Ydna… So trifft man sich wieder…“, sage ich halb zynisch, halb sarkastisch um Ydna bewusst ein schlechtes Gewissen einzureden und um ihm zu zeigen, dass ich weiß, dass er das Passwort verraten hat. „Ich hätte nicht damit gerechnet, dich je wieder zu sehen…“
„Meine Prophezeiung…“, Ydna schluckt in geheuchelt, reumütigem Ton und hält einen Augenblick inne bevor er fortsetzt, „…Ich bin dankbar, dass ich diese bereits erfüllen konnte… Der Preis dafür war sehr hoch, dafür bin ich jetzt frei…“
„Es ist keine Zeit für lange Reden…“, sage ich zu Ydna, „Du hattest, wie jedes Wesen in Téo, eine Wahl… Du hast dich entschieden… Ich möchte es von dir wissen! … Ydna, für was hast du dich entschieden? Für das Gute, oder das Böse… Bist du Feind, oder Freund?!“
Ydna starrt mich wortlos und ohne mit den Augen zu blinzeln an. Währenddessen spüre ich, wie wütend ich werde. Auf die letzte Frage hätte ich ein, wie aus der Leg-Pistole geschossenes, Freund erwartet…
„Schämst du dich nicht, Ydna?!“, wirft Retsam ein!
Ich hebe meine Stimme, „Bist du der Seelen-Bruder für den du dich ausgibst? Hast du dich dazu entschlossen deine wahren Freunde zu verraten? Was war der Preis dafür? … Was hast du dafür bekommen?? … Denkst du nicht auch, dass es einfach ist, alles auf deine Prophezeihung zu schieben? … Was ist das für ein Gefühl, irgendwann völlig alleine zu sein?!?!“
Ydna, welcher offensichtlich seine schlangenhaft, schleimige Art, welche er sonst so an den Tag legt, in Aufrichtigkeit eingetauscht hat, antwortet, als er mir tief in die Augen sieht, mit einem ruhigen: „Es tut mir leid!“
Was?! Eine Entschuldigung? Keine Erklärungen oder Ausflüchte? …
Es ist ruhig geworden… So ruhig wie jetzt, war es in der getarnten Gaststätte wahrscheinlich noch nie.
Selbst Néiláti dem Wirten vergeht, obwohl es bisher so aussah, als könne ihm das nie passieren, das Lächeln. Ein unerträgliches Schweigen erdrückt den Raum. Ich nehme mir fest vor abzuwarten, bis Ydna das Schweigen bricht…
Ydna setzt ruhig, tief in meine Augen blickend und ohne zu blinzeln, fort: „Mir ist bewusst, dass es nicht darum geht, dass das Böse das Passwort von mir erhalten hat… Das Böse im Lande Téo hätte dieses auch aus anderer Quelle erhalten können… Immerhin sind die schwarzmagischen Aloc-Mönche direkt vor Ort… Ich habe dich enttäuscht, indem ich das Vertrauen zu dir ausgenutzt habe und zugelassen habe, dass das Böse sich in unsere Freundschaft einmischen darf… Meine Prophezeihung hat sich erfüllt. Ich habe es für dich getan…“
Für mich? Wie gebannt hören alle zu.
„Ein Jahr, nach dem wir unsere Bitte in die Rinde des Baumes So¨àa¨ geritzt haben, hat mir Aurelius zu meinem elften Geburtstag eine Schriftrolle überreicht. Darin stand eine Botschaft, welche in drei unterschiedlichen Handschriften verfasst war. Aurelius hat mir gesagt, dass ich mir die Botschaft gut einprägen müsse, damit ich den Inhalt nicht vergessen würde…“
Ich blicke durch die Runde und bemerke, dass ihm die Anderen nickend zustimmen, so als ob, es bei deren Überreichung der Prophezeihung auch so gewesen wäre.
„Ich habe mir den Text der Prophezeihung so gut als möglich eingeprägt. Die Botschaft konnte nur einmal gelesen werden… Nach dem ich sie gelesen hatte, flammte die Schriftrolle kurz auf und die Botschaft ging damit in Rauch auf.“
„Nun komm schon! Sag uns endlich, was auf der Schriftrolle stand!!“, unterbricht Retsam die Erzählung von Ydna ungeduldig.
„Ist ja schon gut…“, meint Ydna ruhig.
Mit voller Konzentration beginnt er zu rezitieren: „Im ersten Teil der Prophezeihung stand: Es wird der Tag kommen, an dem du dazu beitragen wirst, dass die uns bekannte Welt an den Abgrund geführt wird. Du wirst stehlen, lügen und betrügen!“
„Das hast du auch mit aller Kraft gemacht!?“, ergänze ich sarkastisch. „Was wäre mir denn anderes übrig geblieben? Ich habe mit aller Kraft versucht, mich vor der Prophezeihung zu drücken. Nur leider sind alle Versuche gescheitert.“
„Lasst uns später darüber sprechen, ich möchte wissen, was noch in der Prophezeihung stand!“, unterbricht Retsam erneut.
„All das wirst du aus tiefstem Herzen und aus Liebe zu einem Freund tun, dem es dadurch ermöglicht werden wird, die uns bekannte Welt zu retten…“, setzt Ydna fort, „Im Dritten und letzten Teil stand: Das Gleichgewicht der Mächte wird leiden: Sobald das Doppelgesicht das Ultimatum stellt und sich danach der Horizont von Grün nach Rot färbt, ist deine Pflicht erfüllt.“
Wieder einmal ist es still… Sehr still.
Ydna bricht das Schweigen: „Viel wichtiger für mich ist zu wissen, ob du Äthyl, mir das alles verzeihen kannst… Ja, ich bin ein Freund… Ich bin ein wahrer Freund für dich… Meine Prophezeihung hat sich erfüllt und ich bin sehr froh darüber, denn es war ein langer und harter Weg für mich.“
Welchen Freundschaftsbruch werfe ich Ydna eigentlich vor? Ich war es, der Ydna kein Vertrauen entgegen gebracht hat! … Wie könnte ich ihm vorwerfen, dass er mein Vertrauen ausgenutzt hat, wenn ich ihm kein Vertrauen entgegen gebracht habe…
„Ydna!“, sage ich, da mir gerade bewusst wurde, welchen Fehler ich gemacht habe, „Ich war ein schlechter Freund für dich. Es wurde mir gerade bewusst.“
„Was meinst du damit?“, fragt Ydna zurückhaltend.
„Tarator hat mir vor Tagen mein Gedächtnis geraubt… und ich habe es dir verschwiegen, da ich entschieden habe, dir nicht zu vertrauen!“, sage ich nicht minder zurückhaltend.
„Er hat was?!“, schreit Ydna theatralisch! Etwas übertrieben wirkt es schon, aber wenn er etwas zu erzählen hat, wird er es wohl hoffentlich ab sofort tun…
Es ist sehr spät in der Nacht, als ich damit fertig bin, Ydna die bisherigen Erlebnisse zu erzählen… „Du hast Recht! Gebunden an meine Prophezeihung hätte ich das Wissen wahrscheinlich gegen euch benutzt.“, sagt Ydna. „Ich verspreche dir, dich ab jetzt so zu unterstützen, als wäre es meine eigene Mission! … Das bin ich dir als Freund und Seelen-Bruder schuldig!“
„Morgen müssen wir, noch bevor die Sonne aufgeht, zeitig aufstehen! Der Weg zu Onicchu, unserem Vater, ist zwar nicht so anstrengend wie der Weg nach Tan, allerdings müssen wir, um ihn zu erreichen, die Stadt Batátu passieren.“, sagt Retsam mit einem gedankenverlorenem Blick zu Ydna, kurz bevor er Anstalten macht in den ersten Stock zum Schlafen zu gehen…
Ich habe mich in der Zwischenzeit daran gewöhnt, nicht alles zu verstehen oder zu wissen, daher frage ich, besonders auch deshalb weil ich selbst schon sehr müde bin, nicht nach, warum die Stadt Batátu von Ydna offensichtlich als Lähmend empfunden wird… Im Großen und Ganzen reicht es mir zu wissen, dass Ydna, als er den Namen der Stadt Batátu gehört hat, ziemlich gelangweilt ausgesehen, und geseufzt hat… Morgen treffe ich Vater. Vielleicht weiß er, wo ich den Schlüssel von Hexyl finden und damit auch meine Erinnerungen zurückerhalten kann!

Müde folge ich Retsam und Ydna in den ersten Stock hinauf. Magda hat die Zimmer bereits vorbereitet… Fast bin ich etwas neidisch darauf, dass Ydna seine Prophezeihung schon erfüllen konnte… Hätte ich das Ganze doch auch schon alles hinter mir… Seelenruhig schlafe ich ein…

Batátu und die Statuen



Es ist mitten in der Nacht! „Oh nein!“, höre ich mich selbst wie am Spieß schreien! Schweißgebadet bin ich soeben von meinem eigenen Aufschrei aufgewacht! Mein Herz rast wie wild! … „Um Himmels Willen! Was war das?!“, höre ich aus dem Nebenzimmer, meinen Bruder Retsam, rufen, „Äthyl, ist alles in Ordnung mit dir?“

Als ich antworten möchte, übergebe ich mich beinahe… Immer noch komplett durcheinander antworte ich durch die dünnen Wände: „Ja! Es geht mir gut… Ich hatte gerade eine Vision…“
Der Schweiß läuft über mein Gesicht wie in Bächen!
Plötzlich steht Retsam, nach dem ich zwei Türen laut knallen gehört habe, vor mir… Während ich ihm geantwortet habe, hat er seine Beine in die Hand genommen um so schnell wie möglich zu mir zu kommen!
Er steht vor meinem Bett. Nun kniet er sich nieder, legt seine Hände auf meine Schultern, sieht mir tief in die Augen und sagt mit ganz ruhiger Stimme: „Erzähl! … Was hast du gesehen…“
Ich nehme mir kurz Zeit, über das was ich gesehen habe, nachzudenken… In der Zwischenzeit habe ich mich etwas beruhigt und beginne zu erzählen:
„Tarator, mit dem Gesicht wie aus zwei Hälften, stürzte den am Rande des Flusses befindlichen Hüter in die Fluten… Er wuchs auf das Zwanzigfache seiner ursprünglichen Größe an und riss in den Boden neben dem Fluss ein großes Loch… Knapp daneben stand eine Person, die so aussieht wie ich, nur gut 30 Jahre älter ist! Eine Person, die in meiner ersten Vision noch nicht vorkam… War ich das? Habe ich mich selbst in der Vision gesehen? Mein älteres Ich?“, frage ich Retsam besorgt.
„Ich kann mir das nicht vorstellen. Du siehst unserem Vater sehr ähnlich. Sein Alter ist nicht bekannt, äußerlich würde ich ihn auf 60 Jahre schätzen… Außerdem hast du früher nie Visionen gehabt, die weiter als elf Tage in die Zukunft reichten… Die Zukunft ist sehr unbeständig, da sie sich ja jede Sekunde ändern kann…“
Zum Glück bin ich in der Vision nicht vorgekommen. Wir haben also noch Zeit. Etwas beruhigter, aber immer noch schockiert über das was ich in der Vision gesehen habe, erzähle ich weiter:
„Tarator nahm seine riesige Hand und holte sich damit unseren Vater… Er nahm ihn bei den Beinen und schleuderte ihn so oft gegen den Boden, bis dieser bewusstlos war… Er legte Vater zwischen das Loch und den Fluss-Lauf und begann die Furche, die ich auch bei der letzten Vision schon gesehen habe, zwischen dem Fluss und dem soeben gegrabenen Loch zu ziehen… Vater lag genau dazwischen… Tarator schlitzte Vater mit seinen rasiermesserscharfen Fingernägeln von Kopf bis Fuß auf… Ich kann das Blut immer noch riechen, welches, überlaufen durch den Fluss der Magie, nach und nach verschwand… Nach dem das Loch mit Magie gefüllt war, deckte er den Zulauf wieder mit der überschüssigen Erde ab und verkündete, dass ihn nun niemand mehr aufhalten könne…“
„Das ist schrecklich! Wir müssen Vater, wenn wir bei ihm sind, sofort warnen!“, sagt Retsam schockiert!
„Das ist noch nicht alles…“, sage ich zu Retsam, „Ich weiß nicht wie ich es dir erklären soll… Die Vision war sehr merkwürdig… Ich kann nicht genau sagen, an welchem Fluss diese geschehen ist… Die Farbwelt der Umgebung wechselte ständig zwischen Schwarz und Weiß… Als würde die Szene aus einer Fotografie bestehen, welche zwischen der Positiv- und der Negativ-Ansicht hin und her wechseln würde. Aus Schwarz, wurde Weiß und umgekehrt… Ob es sich bei der Umgebung um den Fluss der schwarzen Magie Téodex mit seinem Hüter Inorf handelt, oder im Gegensatz dazu um den Fluss der weißen Magie Téodid mit seinem Hüter Sirób, kann ich nicht mit Bestimmtheit festlegen… Lediglich Vater und Tarator änderten nicht die Farbe! Der Wechsel zwischen den Farben begann ganz langsam und wurde zum Schluss hin immer schneller. Als Tarator verkündete, dass ihn niemand mehr aufhalten könne, hüllte sich die Farbwelt um den Fluss in einheitliches Grau. Selbst der Fluß nahm diese Farbe an. Dem grauen Fluss entstieg, ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, Inorf oder Sirób… Beide hatten sie, als ich sie getroffen habe, einen grauen Stab mit dem sie uns über die jeweiligen Flüsse geleiteten… Der, der in einem grauen Kapuzenmantel den Fluten entstieg hatte einen Stab, welcher auf der rechten Seite weiß und auf der linken Seite schwarz gefärbt war… Der Hüter sagte, bevor ich aus meiner Vision erwachte, Go¨ópi - Saa¨ - Ipó¨og! … Ich verstehe die Bedeutung der Wörter nicht, da ich die Sprache nicht verstehen kann. Aber ich weiß, ich habe die Worte schon einmal gehört, und auch bei den Aloc-Mönchen in Tan am Eingang zum Kloster gelesen!“
„Also der Reihe nach! Es scheint so, als ob vorherbestimmt wäre, dass Tarator sich an beiden Flüssen vergreifen wird, um seine Macht zu verstärken… Zur Grau-in-Grau-Umgebung fällt mir nichts ein, eben so wenig zum Stab in Schwarz und Weiß… Die Bedeutung der Worte Go¨ópi - Saa¨ - Ipó¨og ist mir nicht klar, aber ich kann dir beantworten, wo du diese schon mal gehört hast… Es war Yks, die die Worte zum Abschied von uns benutzt hat, bevor sie zu Vater in das Dorf Ydál gegangen ist… Ich bin sicher, dass sie die Bedeutung der Worte kennt, immerhin kommen sie aus ihrer Muttersprache…“
Jetzt weiß ich, wieso ich, jedes mal wenn ich an die Worte denke, ein warmes Gefühl rund um mein Herz spüre!
„…Dennoch scheint sich der Kosmos noch nicht darüber einig zu sein, an welchem Fluss unser Vater sterben soll…“
Mein Gesichtsausdruck verändert sich zu einer Mischung aus Besorgnis, Angst, sowie der Verwunderung darüber, wie nüchtern Retsam über den vorausgesehenen Tod unseres Vaters spricht. Retsam bemerkt dies und fährt behutsam fort: „Eine schreckliche Vision! Es wird schwierig, diese objektiv zu analysieren, da Vater darin vorkommt… Aber trotzdem, es ist eine Vision, also noch nicht passiert…Wir haben die Chance es zu verhindern! Gut, dass wir zu Vater unterwegs sind… Ispép scheint dies bereits geahnt zu haben, dass wir in Ydàl gebraucht werden!“, sagt Retsam, und nimmt mir damit die Angst, Vater zu verlieren.
„Du hast recht, wir werden Vater warnen und verhindern, dass er sterben muss! Ich hoffe, dass ich Yks auch bald wieder sehen kann, ich habe das Gefühl, dass sie mit ihrem sprachlichen Wissen auch einiges zur Aufklärung der Vision beitragen kann… Am liebsten würde ich sofort aufbrechen… Komm, wir wecken Ydna!“
Retsam nickt. Gemeinsam gehen wir, in eines der Nachbarzimmer… Neben Ydna hätte eine Bombe explodieren können, so tief und fest schläft er. Retsam hat einiges zu tun, um Ydna wach zu bekommen… „Was ist los?“, fragt Ydna gähnend und etwas verärgert, weil Retsam eine Karaffe mit Wasser über Ydna entleert hat… „Keine Zeit für Erklärungen… Das machen wir unterwegs! Wir müssen los, Äthyl hatte eine Vision!“
Kurz nach Sonnenaufgang treffen wir in der Stadt Batátu ein. „Das Zentrum der weißen Magie!“, grummelt Ydna gähnend, während ich die Bauten aus weißem Marmor bewundere, „Endlich sind wir hier. Ich dachte schon wir würden nie ankommen!“
In der Zwischenzeit habe ich mir auch schon einen Spaß daraus gemacht, Gebäude in Téo zu suchen, welche nicht elf Stockwerke haben…
„Dies ist der Hauptplatz von Batátu.“, spricht Retsam, nach dem wir einen quadratischen, leicht überschaubaren Platz betreten haben.
Eine Putzkolonne macht sich gerade über eine aus schwarzem Marmor gefertigte Statue her, welche zusammen mit zehn weiteren Statuen auf einer steinernen Erhöhung in der Mitte des Platzes steht. Bei näherem Hinsehen fällt mir auf, dass es sich offensichtlich um Inorf, dem Hüter des Flusses Téodex, handelt, dem gerade die Zehen gereinigt werden…
Neugierig frage ich Retsam: „Sind das Nachbildungen aus Stein vom Rat der Ältesten von Téo?“ - „Oh nein!“, seufzt Ydna, „Jetzt geht das los…“
„Gut kombiniert, Bruder!“, sagt Retsam, der sich aufgefordert fühlt, über den Rat zu erzählen und Ydnas Seufzer dabei völlig ignoriert:
„Ganz vorne, in der Mitte, in erdfarbenem Marmor, ist Gaia, die Urmutter der Erde. Sie ist die Entscheidungsträgerin und Oberin des Rates. Ohne ihre Erlaubnis, führt der Rat keine Aktionen aus…
Aurelius, die Statue in grünem Marmor, kennst du bereits. Er ist dafür zuständig, Prophezeiungen zu übergeben, sowie die Dokumente des Rates zu lesen und in seinem fotographischen Gedächtnis aufzubewahren. Früher, bevor die Talente von Aurelius vom Rat erkannt wurden, hat der Rat die Dokumente ausschließlich auf so genannten Téoplatten abgelegt… Das alte Archiv von Téo, ist das höchste Gebäude in unserem Land. Es scheint schier unendlich in den Himmel zu ragen…
Inorf in schwarzem und Sirób in weißem Marmor, jeweils links und rechts von Aurelius zu sehen, sind die Hüter der magischen Flüsse. Sie sind zuständig für die Erstellung der Prophezeiungen…
Aikón war, du erinnerst dich an die Geschichte über das Tribunal, zuständig für den Machtausgleich zwischen Gut und Böse. Es ist der in magentafarbenem Marmor. Laut den Gerüchten ist er tot…“
„Ist das unser Vater?“, frage ich Retsam, als ich glaube die Person aus meiner zweiten Vision wieder zu erkennen…
„Der in rotem Marmor? Ja, es ist Onicchu! Er ist Anführer der Onyiccson, sowie Hüter der weißen Magie. Gleich daneben, die Statue aus gelbem Marmor, repräsentiert Ispèp. Er ist Anführer der Aloc-Mönche in Tan und Hüter der schwarzen Magie! Apropos Tan: Dort habe ich dir schon von ¦éilf, hier in violettem Marmor dargestellt, erzählt. Er ist Erbauer des Mahnmales von Tan, sowie der Hüter des Selbigen…“
„Bist du jetzt endlich mit deinem Monolog fertig?“, unterbricht Ydna, Retsams Ausführungen, grantig, „Genau das ist der Grund dafür, warum ich die Stadt Batátu hasse! Jedes mal, wenn wir hier sind, quasseln wir stundenlang darüber, wie toll der Rat ist… Es langweilt mich… So! Das musste mal gesagt sein!“
„Du bist nur angewidert, weil der Rat dich lange Zeit verfolgt hat!“, sagt Retsam zu Ydna, „Keine Sorge, wir gehen ja schon…“
Retsam macht Anstalten zu gehen, als ich plötzlich unter den verbleibenden Statuen etwas entdecke…
„Warte Retsam! Wer ist das in grauem Marmor? Er sieht aus wie Inorf oder Sirób… Kommt dir das auch bekannt vor? Meine Vision! Sieh dir den Stab an: er ist jeweils zur Hälfte aus schwarzem bzw. weißem Marmor!“
„Du hast Recht, das Detail mit dem Stab ist mir noch nie aufgefallen! Über dieses Mitglied des Rates ist mir leider nicht viel bekannt... Ich weiß lediglich seinen Namen. Ilókorb…“
„Ich bin froh, dass du bei deiner Ausbildung so gut aufgepasst hast!“, sage ich zu Retsam, „Ilòkorbs Auftauchen in meiner Vision hat bestimmt eine spezielle Bedeutung!“
„Das bestimmt!“, bestätigt Retsam, „Dank Rébél, der in blauem Marmor, kann ich dir diese Informationen überhaupt erst geben. Er ist der Vorstand der Lehrerschaft in Téo und Hüter der Weisheit und war, du erinnerst dich an meine Erzählung in Tan, unser Lehrer!
„Und wer ist der Letzte, damit wir endlich weiter kommen?!“, unterbricht Ydna zum zweiten Mal, diesmal völlig genervt.
„Èppus… Über ihn weiß ich, bis auf seinen Namen leider auch nichts. Ich habe Aurelius in früher Kindheit einmal gefragt, wieso dieser in transparentem Marmor dargestellt ist, und warum man keine Gesichtszüge erkennen kann… Aurelius meinte, es habe seine wortwörtliche Bedeutung… Aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob man über eine Person sagen kann, dass sie transparent ist, bzw. für Transparenz sorgt…“
Ydna, der das erste Mal seit dem Retsam begonnen hat über die Mitglieder der Ältesten des Rates von Téo zu sprechen, Interesse an der Unterhaltung zeigt, meint: „Vielleicht ist er dafür zuständig, die anderen Mitglieder des Rates zu überwachen, oder zu kontrollieren? Vielleicht soll damit bewirkt werden, dass die anderen Mitglieder des Rates sich den Wesen von Téo gegenüber, oder zumindest untereinander sich fair und vor allem neutral verhalten… Gesichtslos ist er deshalb, damit ihn niemand erkennt!“
„Wie kommst du darauf?“, meint Retsam zu Ydna neugierig, während wir weiter in Richtung des Dorfes Ydál gehen und die Statuen des Rates der Ältesten von Téo immer weiter hinter uns lassen…
„Im Raum von Fumé habe ich sehr viel Zeit gehabt darüber nachzudenken. Ich habe gestern erwähnt, dass ich mich vor meiner Prophezeihung drücken wollte. Unter Anderem habe ich versucht die Mitglieder des Rates gegeneinander aufzuhetzen… Aus irgendeinem Grund gingen alle Pläne den Rat auszutricksen schief. Es war wie verhext… Die Mitglieder wussten ständig über sämtliche Aktionen meinerseits Bescheid! Es war, als gäbe es jemanden, der über sämtliche Vorgänge im und um den Rat Bescheid wüsste… Dieser Jemand sorgte sozusagen für Transparenz im Rat… Ihr könnt euch gar nicht vorstellen wie sauer die Mitglieder des Rates auf mich waren! … Jeden Falls wurde mir klar, Èppus könnte praktisch jedes Wesen sein.“
Das ergibt Sinn! „Jetzt, wo wir gerade so aus dem Nähkästchen plaudern! Wem hast du, mal abgesehen von Tarator, noch vom Passwort erzählt?“
„Ich habe das Passwort Éleg gegeben, damit jemand da ist, der euch das Passwort geben kann, falls der Rat mich hops genommen hätte. Ich habe es zwar erhofft, aber ich wusste nicht wie gut der Raum von Fumé als Schutz funktioniert.“, antwortet Ydna, „Ich habe Éleg eingeredet, es handelt sich um ein neues Putzmittel, welches die schwarzmagischen Aloc-Mönche verwenden um die Straßen in Tan sauber zu halten!“
„Sonst niemandem?“, frage ich Ydna belustigt, nachdem Retsam und ich aufgehört haben lauthals über Èleg zu lachen…
„Nein“, antwortet Ydna, verwundert darüber warum wir gelacht haben… Ich bringe es nicht übers Herz ihm zu erzählen, dass wir in Tan bereits etwas Ähnliches vermutet hatten…
„Wir sind bald da…“, weicht Retsam schnell der nicht ausgesprochenen Frage von Ydna aus. „Hinter der nächsten Kurve ist Ydál, das Heimatdorf der Onyiccson!“
In tierischer Gestalt betreten wir das Dorf Ydál…

Zum ersten Mal, seit ich das alte Archiv von Téo verlassen und meine Erinnerungen verloren habe, sehe ich, dass der Rat der Ältesten von Téo, bei der Geburt von Ydna, die Hyäne als seine tierische Gestalt festgelegt hat…

„Go¨ópi - Saa¨ - Ipó¨og“ und der Schlüssel



Es duftet herrlich nach Quato-Braten! Am frühen Nachmittag betreten Ydna, Retsam und ich, die Stube des Oberhauptes der Onyiccson. Schwer vom Duft des herrlichen Bratens verzaubert, werden wir von Vater begrüßt…

„Endlich seid ihr hier… Ispép hat mir mitteilen lassen, dass ihr kommt! Ich habe mir schon Sorgen um euch gemacht, da ihr so lange gebraucht habt um nach Ydál zu kommen!“, sagt Vater.
„Wir wurden in Batátu aufgehalten… Retsam hat es für notwendig erachtet, Äthyl eine Nachschulung in Sachen Mitglieder des Rates der Ältesten von Téo zu geben.“, sagt Ydna gelangweilt!
„Um uns?“, sagt Retsam. Er ignoriert die Aussage von Ydna wieder, „Wir haben uns Sorgen um dich gemacht! … Äthyl hatte zwei Visionen. In einer davon hast du dein Leben verloren…“
Vater scheint nicht allzu überrascht darüber zu sein, dass Retsam so direkt ist. Ich persönlich ziehe es vor jemanden schlechte Nachrichten wie einen warmen Wintermantel anzuziehen, an Stelle die Fakten wie einen nassen Lumpen ins Gesicht zu werfen…
Vater antwortet kühl und völlig angstfrei: „Bevor ich mir die Inhalte der Visionen von euch schildern lasse…“, der Duft des Quato-Bratens ist herrlich, der Hunger wird unerträglich, „…ist es mir ein Bedürfnis euch mitzuteilen, dass…“, Yks kommt aus der Küche und hat einen riesigen Quato-Braten dabei, mir wird ganz heiß, mein Herz beginnt wie wild zu rasen… Yks und Quato-Braten, eine teuflische Kombination, „…die Mitglieder des Rates nicht sterben können! Verletzungen, egal wie schwer diese sind, heilen innerhalb kürzester Zeit. Dafür hat Gaia, die Urmutter der Erde, als sie den Rat beschlossen hat, mit ihrer magischen Kraft der Liebe, gesorgt! … Haut rein Leute, lasst es euch schmecken!“
Mir fällt die Gabel aus der Hand. „Willst du uns damit sagen, dass die Mitglieder des Rates unsterblich sind?“ frage ich erstaunt!
„Ja!“, sagt Vater, „Nun esst, bevor es kalt wird… So viel Zeit haben wir in jedem Fall, um unseren Quato-Braten in Ruhe zu genießen!“
Während ich den Braten esse, kann ich kaum meine Augen von Yks lassen. Mein Herz hüpft in alle Richtungen… Ich muss mich auf meine Aufgaben konzentrieren, ermahne ich mich selbst! Um mich abzulenken, blicke ich zu Retsam, und bemerke, dass er den selben Blick im Gesicht hat, wie Yks, wenn sie mich ansieht, während er Ydna in die Augen sieht.
Ich sehe wieder zu Yks. Vater hat zwar etwas dagegen, dass wir über die Mission beim Essen sprechen, aber plötzlich fällt mir etwas ein. Ich wende mich näher zu Yks: „Ich kann meine Augen nicht von dir lassen.“, sage ich zu Yks, während dessen Vater mich fest mit den Augen fixiert.
„Ich weiß!“, sagt Yks ganz leise und beginnt zu grinsen, „Unglaublich, dass dir dein Gedächtnis geraubt wurde! In dem Fall verhältst du dich nicht anders als sonst…“, die Mundwinkel von Yks gehen leicht nach unten, „Ich werde das Gefühl nicht los, dass du etwas am Herzen hast, Äthyl!“
Sie kennt mich offensichtlich wirklich sehr gut. Ich bin froh, dass sie es anspricht. Ich hätte nicht gewusst, wie ich anfangen soll!
„Ja Yks, da gibt es etwas… Als du dich von uns in der Nähe des alten Archivs von Téo verabschiedet hast, hast du dies mit den Worten Go¨ópi - Saa¨ - Ipó¨og gemacht, und dazu gesagt, dass sie aus deiner Muttersprache stammen. In Tan, habe ich die Worte in großen, goldenen Lettern über der Eingangstüre zum Kloster der Aloc-Mönche gelesen… Ispép der Hüter der schwarzen Magie und Anführer der Aloc-Mönche gewährte mir nur zwei Fragen. Ich konnte ihn nicht nach einer Übersetzung fragen… Kennst du die Bedeutung der Worte?“
„Natürlich, kenne ich die Bedeutung der Worte Go¨ópi - Saa¨ - Ipó¨og. Die wortwörtliche Übersetzung aus der Sprache der Aloc-Mönche ist hell - ausgewogen - dunkel… Es steht für die Ausgewogenheit der zwei Richtungen der Macht in Téo. Diese Phrase wird bei uns zur Begrüßung und zur Verabschiedung verwendet.“
„Du meinst drei Richtungen der Macht!“, wirft Vater ziemlich genervt ein, „Kinder! Wollten wir nicht zuerst den Quato-Braten essen, bevor wir über Visionen, Missionen oder Übersetzungen reden wollten?“
Vater sieht Retsam tief in die Augen…
Lediglich Geklapper und Geklimper des Geschirrs ist, mal abgesehen vom Aufstoßen des einen oder anderen Quato-Braten-Genießers, zu hören. Niemand wagt auch nur ein Wort zu verlieren, so lange noch Braten am Teller ist…
Es scheint, als wäre nun ein Wettkampf ausgebrochen, wer den Quato-Braten am Schnellsten aufessen kann…
Vater lässt sich beim Essen am längsten Zeit. Er sieht Yks und Ydna abwechselnd tief in die Augen… Es ist, als würde er ganz genau wissen, dass er die Neugier aller am Tisch sitzenden Personen geweckt hat…
Schon längst ist das gesamte Geschirr, mit Ausnahme des Geschirrs von Vater, er ist gerade den letzten Bissen des Bratens, verräumt. Im Raum macht sich Ungeduld breit… Kaum ist der letzte Bissen von Vater geschluckt, sprudelt es quer von allen Seiten auf ihn ein:
„Drei Mächte?“, „Ich dachte es gibt nur zwei Mächte!“, „Gibt es zwischen Gut und Böse noch etwas Anderes?“, „Gibt es einen Hüter dieser Macht?“, „Ist das Èppus oder Ilókorb, einer der Ältesten über die es nur Gerüchte gibt!?“, „Die Mitglieder des Rates sind alle unsterblich?!“…
Vater hört sich das Ganze eine Zeit lang an, fixiert uns, jeden für sich mit den Augen, und beginnt zu lächeln.
Plötzlich ist es schlagartig still. Jeder von uns erhofft sich, die lang ersehnten Antworten zu erhalten. „Habt Geduld meine Lieben!“, sagt Vater, „Ich werde gerne eure Fragen beantworten… “
Geduld? Es ist nicht einfach geduldig zu sein… Ich muss auch noch Vater die Visionen erzählen… Wir dürfen keine Zeit verlieren! Ich bin gespannt, wie er die Visionen deutet…
Das Wichtigste hätte ich beinahe vergessen… Den Schlüssel von Hexyl! Vielleicht weiß Vater wo dieser zu finden ist. Immerhin hat Ispép mich zu Vater geschickt…
„Äthyl!“, beginnt Vater zu sprechen, „Bevor dir von Tarator dein Gedächtnis geraubt wurde, hast du als einziger in unserer Familie meine magische Kraft gekannt… Du hast damals, als Elfjähriger, kurz nach dem du deine Prophezeiung erhalten hast, deine erste Vision gehabt, welche dir zeigte, dass ich die Fähigkeit besitze, die Gedanken anderer zu lesen…
Jetzt, 18 Jahre später, spreche ich zum zweiten Mal mit dir darüber… Ich vertraue darauf, dass Yks, Retsam und Ydna das Geheimnis für sich behalten, da die Information in falschen Händen für alle gefährlich sein kann…“
„Willst du uns damit sagen, dass du bereits alles weist, was wir dich fragen möchten?“, fragt Retsam. Vater nickt.
Plötzlich färbt sich Retsams Gesicht leicht rötlich: „Du hast das immer schon gewusst, alles?!“
„Ja, das habe ich… Auch damals, als du dafür verantwortlich warst, dass der Rat der Ältesten von Téo zwei Wochen lang Durchfall hatte, weil du den Quato-Braten, welcher anlässlich des Geburtstages von Gaia serviert wurde, etwas verfeinert hast, um dich dafür zu rächen, weil dir damals dein Taschengeld gekürzt wurde!“
Lautes Gelächter lockert die Stimmung der Runde etwas. „Doch, lasst uns sachlich bleiben… Ich habe die Visionen von Äthyl gesehen, genau so, wie er sie gesehen hat, und zwar während dessen wir den Braten gegessen haben… Um mich darauf besser konzentrieren zu können, war es notwendig, dass ich nicht durch Gespräche gestört wurde… Es tut mir leid, wenn ich etwas schroff war, aber es war schwierig genug in der Zwischenzeit sämtliche Gedanken, die ich von euch gehört habe, für mich dabei auszublenden… Besonders auch deshalb, weil so viel Liebe am Tisch sitzt!“. Ich spüre, wie mein Gesicht heiß wird. Als ich so durch die Runde blicke, sehe ich, dass neben Yks auch Ydna und Retsam rot im Gesicht wurden.
„Natürlich bin ich nicht allwissend… Die Informationen, die ich euch jetzt zukommen lasse, basieren auf meinen persönlichen Erfahrungen im Land Téo, sowie meiner jahrtausende langen Mitgliedschaft im Rat der Ältesten von Téo… Nein Äthyl“, er sieht mich dabei streng an, „ich weiß du hast Fragen, aber bitte unterbrich mich jetzt nicht… Keiner von euch sollte dies jetzt tun!
Als Erstes, möchte ich euch in Erinnerung rufen, dass es den Rat von Téo in erster Linie deshalb gibt, um einen gesunden Ausgleich zwischen Gut und Böse zu bewirken. Unsere Welt wäre nicht der lebenswerte Platz der er ist, wären alle Wesen gut oder im Gegensatz dazu alle böse… Abgesehen von den Mitgliedern des Rates haben dies bisher nur die Bäume begriffen… Ich sprach zuerst von der dritten Macht. Die dritte Macht, ist die mächtigste im Land Téo. Es ist die Neutralität. Je besser der Ausgleich der Mächte funktioniert, desto mehr magische Flüssigkeit fließt durch Téodom, dem geheimen und versteckten Fluss der neutralen Kraft…
Der Fluss befindet sich, ihr werdet dieses Wissen benötigen, unter den Statuen des Rates in Batátu…. Der Hüter der neutralen Macht und somit Quelle aller Neutralität ist Ilókorb…
Äthyl hat ihn am Ende seiner Vision aus dem Fluss Téodom entsteigen sehen. Seine Worte Go¨ópi - Saa¨ - Ipó¨og verstehe ich als Hinweis auf die drei Mächte. Der Machtausgleich ist eindeutig in Gefahr! Es ist damit zu rechnen, dass ein Symbol des Ausgleiches der Macht von Tarator angegriffen, oder zerstört wird! Ich vermute, dass es entweder das Mahnmal in Tan, oder die Statuen in Batátu treffen wird. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass Tarator den Baum So¨àa¨ zerstören wird, denn abgesehen vom Rat, und jetzt auch euch, weiß niemand vom Symbol der neutralen Kraft. Meinen Tod in der Vision sehe ich gelassen, da ich, wie bereits gesagt, nicht sterben kann…
Das bedeutet, dass auch der Tod eine Metapher sein muss…
Wie ich gesehen habe, hat in der zweiten Vision von Äthyl der Schauplatz der Vision ständig zwischen Téodex und Téodid gewechselt bis sie letztendlich farblich in die Umgebung des geheimen Flusses Téodom überging… Lediglich Tarator und ich haben uns farblich, bis zum Schluss hin, nicht verändert… Ich verschwand im Strom des grauen Flusses… Mein Tod in der Vision zeigt an, dass Tarator die weiße Magie schwächen möchte um das Ungleichgewicht zu erzeugen.
Tarator verspricht sich mehr Macht zu erreichen, in dem er Flüssigkeiten aus den Flüssen Téodex und Téodid abzapft um diese für seine Zwecke zu verwenden…. Ich glaube, dass unser Schlüssel der Vision der Fluss Téodom ist…
Unsere Aufgabe, und deshalb hat Euch Ispéps Rat zu mir geführt, besteht darin, einen Weg zu finden, wie wir die Flüsse Téodex und Téodin neutralisieren können, um Tarator sämtliche magische Energie wegzunehmen.
Die Macht der schwarzen Magie hat das Brüderpaar zu Tarator gemacht. Ohne schwarzer Magie, verliert Tarator seine Kräfte… Dies bedeutet, dass Tarator, sofern wir erfolgreich sind, sich zwangsläufig zurück in die Brüder Tarasin und Bator trennt…
Wichtig ist, dass die Flüsse gleichzeitig neutralisiert werden, damit der geheime Fluss Téodom seine Macht behält und das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse nicht gestört wird!!
Falls uns dies gelingt, verlieren sämtliche Wesen, welche sich für die weiße, oder schwarze Magie entschieden haben, auf unbestimmte Zeit, ihre Kräfte… Neutristen, welche ihre Macht ausschließlich aus dem Fluss Téodom beziehen, sind davon nicht betroffen…
Gut und Böse sind Sichtweisen und Entscheidungen.Wenn Tarator erfolgreich ist, verlieren nicht nur die Anwender der weißen Magie ihre Kräfte, sondern auch die Neutristen. Dies wäre das Ende vom Rat der Ältesten.
Den Schlüssel von Hexyl hat Magda an mich übergeben, kurz nach dem, du Äthyl, das alte Archiv von Téo verlassen hast.
Natürlich wusste Magda nicht, dass es sich um den Schlüssel von Hexyl handelt… Sie dachte, es wäre das Kind eines Ältesten, welches sie noch am selben Tag zu mir bringen wollte… Für Magda nichts Ungewöhnliches, da Magda schon früher Findelkinder zu uns ins Dorf Ydál gebracht hat… Magda dachte, dass der Schlüssel von Hexyl ein weiteres Kind von Ispép ist…“
Es ist Yks anzusehen, dass auch sie plötzlich mehrere Fragen zu haben scheint. Obwohl sie beinahe am Platzen ist, reißt sie sich am Riemen und lässt Vater weitersprechen.
„Der Rat der Ältesten von Téo hat verboten darüber zu sprechen, es sei denn, die Machtverhältnisse geraten aus den Fugen… Somit ist der Tag der Wahrheit gekommen… Ja, Yks! … Das Medaillon ist ein Geburtssiegel der Ältesten… Ispép, der Hüter der schwarzen Magie, ist dein Vater… Die Sprache der Aloc-Mönche ist dir, wie jedem aus deiner Familie, in die Wiege gelegt… Du wurdest damit geboren! … Retsam und Äthyl, ihr habt auch ein Geburtssiegel, verfasst in der Sprache der Onyiccson. Da ihr euren Vater kennt, habe ich es nicht als notwendig empfunden, euch die Siegel zu geben…
Aurelius weiß, dass die logische Konsequenz aus dem Solosax auch der Schlüssel von Hexyl ist. Er hat ein fotografisches Gedächtnis und hat die Information als Archivar aus seinem Gedächtnis abgerufen, als er das Gefäß als Solosax identifiziert hatte… Ähnlich wie Magda, wusste er nicht, wie der Schlüssel aussah… Wohl aber, dass es einen geben musste! Daher hat er dich auf die Suche danach geschickt!
Euer nächster Weg ist zu Aurelius. Er hat dir versprochen auf das Solosax zu achten bis du mit dem Schlüssel wiederkehrst. Im alten Archiv werdet ihr gemeinsam das Solosax öffnen. Es ist immer noch nicht klar, welche Téoplatten aus dem alten Archiv von Téo verschwunden sind. Magda konnte mir diesbezüglich keine Erinnerungen anbieten. Allerdings habe ich bei Ydna gesehen, dass er euch gestern Abend diesbezüglich noch nicht alles erzählt hat. Dies sollte er bei Aurelius nachholen.“
Ydna nickt unterwürfig und schuldbewusst. Ohne Kommentar von Ydna spricht Vater weiter: „Doch zurück zum Schlüssel: Magda war nicht bewusst, dass sie den Schlüssel von Hexyl im Kuppelzimmer des alten Archives von Téo gefunden hat… Keine Sorge, der Schlüssel von Hexyl ist hier bei mir im Haus und wohlauf…“
Wohlauf?! …Vater überreicht mir jenen aus Lumpen bestehenden Beutel, den ich bereits im alten Archiv von Téo bei Magda gesehen habe…
„Bevor du den Beutel öffnest, es ist dein persönlicher Schlüssel! Er erinnert an das Schönste im Leben… Es ist an der Zeit, dass du ihn bekommst. Es sind nun genügend Erinnerungen im Solosax gefestigt. Erinnerungen, die du nie mehr verlieren wirst… Du hast in wenigen Tagen für dich erfahren, dass es Personen gibt, die sich auf dich verlassen… Du hast gelernt, wie wichtig es ist, dass in unserer Welt ein Machtausgleich zwischen Gut und Böse stattfindet und, dass man von Freunden Vertrauen erwarten, und selbigen auch entgegen bringen muss… Obwohl du keine Erinnerungen hattest, hast du bemerkt, wie stark das Feuer zwischen dir und Yks, sowie anderen Wesen, lodert. Öffne nun den Beutel!“
Ich luge in die Öffnung des Beutels von Magda. Darin enthalten ist die Leg-Pistole, sowie… „Was?!“, sage ich laut, „Ist das der Schlüssel von Hexyl?“
Ich lege den Beutel vorsichtig auf den Tisch und nehme noch vorsichtiger die Lumpen an der Öffnung des Beutels bei Seite, um den Inhalt unbeschadet zeigen zu können… Zum Vorschein kommt ein Säugling, nicht älter als wenige Tage. Er scheint seelenruhig zu schlafen… Um den Hals trägt er eine Kette mit einem goldenen Anhänger. Der Anhänger hat die Form eines Dreiecks. An jeder Spitze ist eine silberne Perle angebracht. Auf jeder silbernen Perle ist ein anderes Symbol zu erkennen. In der Mitte des Anhängers ist eine durchsichtige Perle angebracht. Darin enthalten sehe ich den selben Anhänger, in dem sich in der Unendlichkeit, innerhalb der durchsichtigen Perle der Anhänger wieder und wieder befindet…
„Der Schlüssel steht für die Unbekümmertheit deiner Kindheit, er wird niemals aufwachen, altern oder sterben… Er sieht nicht aus wie ein Schlüssel, dennoch ist er das Einzige was dein Solosax öffnen kann.“, ergänzt Vater, „Morgen Früh, wenn ihr den Schlüssel zu Aurelius bringt, werde ich zwischenzeitlich Gaia, aufsuchen, und sie bitten, den Rat einzuberufen… Lassen wir Tarator gewähren, so wird er in sieben Tagen die uns bekannte Realität zerstören. … Das Treffen des Rates wird hoffentlich so schnell als möglich angesetzt! … Es wird Zeit, dass ihr zu Bett geht… Morgen wird für euch ein anstrengender Tag… “

Müde und erschlagen von der Fülle an Informationen gehen wir, mit Ausnahme von Vater, sehr früh zu Bett…

Ein erinnerungswürdiger Tag



Es ist sehr früh am Morgen, als wir uns alle beim Frühstück in der Küche des Hauses unseres Vaters treffen. Der gestrige Abend war sehr informativ, aber hat offensichtlich nicht nur mich sehr intensiv zum Nachdenken gebracht.

Vater beendet als Erstes das Frühstück. Völlig in Eile packt er, aus verschiedenen Schubladen und Kästen, Kleinigkeiten in einen Beutel. Als er sich von uns verabschiedet ist uns allen klar, dass er sich auf den Weg zu Gaia macht. „Äthyl, es ist so weit.“, sagt Yks in liebevollem Ton zu mir, „Wir müssen uns auch auf den Weg machen.“
„Ja meine Liebe, du hast Recht.“, werfe ich ihr nach, während sie ihren Teil des Frühstücksgeschirrs in die Küche bringt. Völlig bezaubert von ihrer Schönheit, nehme ich das restliche Geschirr („Hey, ich esse noch!“ – „Mann!“) in die Hände und folge ihr verträumt.
„Schau mal!“, sage ich zu Yks, als sie gerade ihr Geschirr mit klarer Flüssigkeit abwäscht. Als sie sich umdreht und in meine Richtung blickt, gebe ich ihr einen herzhaften Kuss auf den Mund. „Äthyl!“, sagt sie belustigt, „Schön, dass du es mir gezeigt hast… Gib mir das Geschirr, ich werde mich zwischenzeitlich darum kümmern. Dann kannst du die Beiden dazu überreden sich für die Abreise fertig zu machen.“ … Ich lächle und drehe mich ohne etwas zu sagen um, um in Richtung des Esszimmers zu gehen.
„Ja, ja! Zuerst nimmst du uns das Frühstück weg!“ – „Und jetzt kommandierst du uns herum!“, wehren sich Retsam und Ydna, als ich sie darum gebeten habe, sich für die Reise fertig zu machen. „Seit nicht so kindisch! Es ist ja nur eine Stunde Fußmarsch.“, ergänze ich um die Beiden zu motivieren. Widerwillig gehen sie nach oben.
Pünktlich, nach elf Minuten, stehen wir Vier vor der Eingangstüre von Vaters Haus. Ein Löwe, ein Tieger, eine Hyäne und ein Wolf. Genau 60 Minuten später sind wir da.
In den wenigen Erinnerungen, welche ich seit Beginn meines Abenteuers habe, schwelgend, öffne ich die Tür zum alten Archiv von Téo. Der Spiegel, in dem ich mich vor ein paar Tagen betrachtet habe, zeigt nun mich, Yks, Ydna und meinen Bruder Retsam.
„Beim Rat der Ältesten von Téo!“, höre ich aus Richtung der Treppe von Aurelius rufen, „Schön, dass ihr unversehrt bei mir angekommen seid! Habt ihr den Schlüssel von Hexyl gefunden?“
„Hallo Aurelius!“, ertönt es, wie im Chor: „Ja, wir haben ihn!“, höre ich mich selbst aus tiefster Erleichterung sprechen, „Magda hatte ihn im Beutel der Leg-Pistole und brachte ihn zu Vater. Vater hat den Schlüssel als solchen erkannt und ihn mir in Ydál übergeben…“
Ich öffne den Lumpenbeutel und hebe vorsichtig den Schlüssel von Hexyl heraus. „Das ist er! Der Schlüssel von Hexyl! Das Symbol…“, plaudert Aurelius beinahe gedankenverloren, als ob er selbst alles rund um sich gerade vergessen hätte, „…ist einzigartig und spiegelt das Innerste deiner Seele wieder. Er ist wunderschön! Bisher habe ich davon nur auf einer der alten Téoplatten gelesen…“
Aurelius holt eben so vorsichtig das Solosax aus seinem Umhang mit der rechten Hand hervor und legt es in seine Linke.
„Äthyl, lass uns keine Zeit verlieren: Gib ihn mir…“, verlautbart er mit theatralischem Funkeln in seinen Augen und erwartungsvollem Gesicht. Mit den knochigen, langen, dünnen Fingern seiner rechten Hand deutet er nun an, den Schlüssel haben zu wollen. Die Lichtreflexionen des Solosax‘ schimmern an der Wand des großen Archivs von Teo: „Es ist ein besonderer Moment für mich. In den tausenden von Jahren in denen ich nun lebe, hatte ich noch nie die Ehre einen Schlüssel von Hexyl mit einem Solosax zu vereinigen.“
Ich überreiche ihm erwartungsvoll den Schlüssel und sehe ihm tief in die funkelnden Augen. Aurelius nimmt den Schlüssel von Hexyl behutsam mit der rechten Hand entgegen und streckt seine beiden Arme waagrecht von sich weg. Von meiner Position aus gesehen, sieht er nun aus, als wäre er ein steinernes Kreuz. Er hält inne und senkt seinen Kopf zu Boden.
Mit einer ruckartigen Bewegung streckt Aurelius plötzlich seinen Kopf nach Oben als würde er die Sterne am Himmel durch das Dach des alten Archivs von Teo beobachten wollen. Langsam führt er seine Arme nach oben, über seinen Kopf hinweg und führt den Schlüssel von Hexyl, mit dessen Oberseite voran, in die Öffnung des Erinnerungsgefäßes ein.
Ein gleißend greller Schein, ausgehend vom Solosax, blendet unerträglich hell. Es wird begleitet von einem schrillen, ohrenbetäubenden Geräusch, gepaart mit Tönen so tief, wie vom Gesang der Bäume am Hügel nach Zarg.
Nun ist es dunkel und still. Ich kann nichts erkennen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich aus der Perspektive eines Jugendlichen meinen Vater. „Du must mir versprechen, niemandem von meiner Fähigkeit zu erzählen!“, höre ich. Plöztlich verwischt das Bild vor meinen Augen. Ich sehe Yks, verhüllt in einem weißen, mit Ornamenten besticktem Kleid: „Falls Sie diese Frau zu ihrer rechtmäßigen Frau nehmen möchten, so antworten Sie mit ja.“ Als ich gerade ja-sagen möchte, verwischt die Szene vor meinem geistigen Auge. „In einem Jahr erhalten wir die Prophezeihung, genau in dieser Reihung!“ … „Es ist das Los desjenigen, der das Solosax zum ersten Mal berührt hat!“ …
„Retsam!“, höre ich eine mir unbekannte, männliche Stimme brüllen. „Oh ja! Wie schön!“… Als ich auf die Stimme zu gehe, erkenne ich durch den Nebel der Erinnerung eine Tür, die mir den Blick versperrt. Ich blicke durch das Schlüsselloch. Ich sehe meinen Bruder als Löwen, sowie eine Hyäne. Retsam leckt zärtlich die Intimbereiche der Hyäne mit seiner mächtigen Zunge… „Jah!“, schreit die Hyäne voller extase. Ich spüre, wie ich lächle.
„Es ist vollbracht!“, höre ich plötzlich Aurelius ehrfurchtsvoll, wie durch Watte gesprochen, verlautbaren: „Äthyl! Du müsstest dich wieder an alles erinnern können!“ … Ich öffne die Augen. Wie aus dem Nichts erscheint plötzlich direkt vor Aurelius ein Ball aus Licht, welcher auf mein Gesicht zurast. Ich kneife meine Augen zu.
Schmerzlos trifft mich der Lichtball; ein wohlig warmes Gefühl durchströmt meinen Körper. Mein Sichtfeld verwischt wieder. „Retsam, mumi tikitaki muju! Ich liebe dich so sehr!“, schmachtet die Hyäne meinen Bruder an. Retsam antwortet mit sanfter Stimme: „Ich liebe dich über Alles! Ich weiß, es werden schwere Zeiten auf uns zukommen, doch mein Herz verspürt ewige Dankbarkeit dafür, dass es dich gibt.“ Während dessen, beginnt die Hyäne damit, Retsam seine Zuneigung zu zeigen, in dem er seine rechte Vorderpfote sanft auf Retsams Bauch legt, ihn streichelt, und seinen Kopf auf die riesige Löwenbrust legt. Ich bin so dankbar dafür, dass nun auch Retsam die Liebe seines Lebens gefunden hat. Aber wieso hat Retsam mir seine große Liebe nie vorgestellt?
Schlagartig öffne ich meine Augen. Sie gewöhnen sich langsam wieder an die orange-braune Idylle des Archives von Tèo, welche kurz zuvor noch durch die Lichtreflexionen des Solosax‘ durchbrochen wurde. Ich erkenne Yks, meine Frau und große Liebe. Aurelius, den Hüter des alten Archives von Téo und Retsam, meinen Bruder. Doch halt, wer ist das?!
„Wer bist du?“, frage ich einen kleinen, blonden Mann mit Halbglatze, in giftgrünem Gewand. „Äthyl, ich bin es, Ydna…“
Ich beginne zu lächeln, da es sich um die selbe Stimme handelt, wie die Stimme aus dem Zimmer der Erinnerung von eben. „Erkennst du mich nicht?! Ich…“
„Du warst es!!“, brüllt Aurelius den kleinen Mann namens Ydna an. Das Gesicht von Aurelius ist rot vor Zorn, „Du hast das Solosax in Äthyls Beutel gelegt und es als Erstes berührt, nach dem das Solosax erstellt wurde!“
„Ja, das habe ich, Tarator hat mir befohlen es zu tun! Woher weißt du das?!“, brüllt Ydna zurück. Aurelius antwortet ruhiger als zu vor aber immer noch so, als hätte ihn eine Kleinigkeit verärgert: „Äthyl hat dich vergessen!“, seine Augen beginnen wie wild in den Augenhölen zu wirbeln. Monoton setzt er fort: „Es ist das Los desjenigen, der das Solosax zum ersten Mal nach Erstellung berührt hat!“
„Wenn ich das gewusst hätte?!“, spricht Aurelius nun wieder völlig ruhig, geprägt von Selbstvorwürfen, „Äthyl, ich war nicht der Erste, der das Solosax nach dessen Erstellung berührt hat… es war Ydna! Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dir alles erzählen können, ohne Angst haben zu müssen, dass meine Informationen dich lebenswichtige Erinnerungen kosten werden!“
Verwirrt blicke ich in Richtung Aurelius. Zögerlich beginne ich: „Mag sein, dass ich mir viel Leid und viele Anstrengungen ersparen hätte können. Aber bitte verstehe, dass ich froh und dankbar darüber bin, dass ich meine Erinnerungen wieder habe.“
Ich drehe mich zu Retsam und sage mit klarer Stimme: „ZuMitezu zum Dank hat Ydna durch die Liebe meines Bruders zurück in meine Erinnerung gefunden.“
Retsam wird rot im Gesicht, spricht allerdings kein Wort. Habe ich ihn beschämt? Ydna bricht das Schweigen: „Es wird Zeit, dass ich etwas aufkläre. Als ich klein war, haben meine Schwester Éleg und ich über die Liebe gesprochen. So hat sie im Gespräch erfahren, dass ich Retsam aus tiefstem Herzen liebe. Als ich jung und dumm war, wollte ich diese Liebe verheimlichen und ich habe Èleg gezwungen es als Geheimnis für sich zu behalten. Doch sie hat geplaudert. Tarator nutzte das Wissen um mich zu erpressen. Falls ich die Téoplatten“, er dreht sich zu Aurelius und ergänzt, dass es zwei Téoplatten waren, „nicht stehlen würde, würde er dafür sorgen, dass alle Geschöpfe von Téo von meiner tiefen Liebe zu Retsam erfahren würden…“
„Wie kommst du darauf, dass es etwas schlimmes ist?“, wirft Yks ein. „Liebe ist doch grenzenlos!“, ergänzt Aurelius schwärmerisch. Wie in einer meiner Visionen sehe ich plötzlich Magda vor meinem geistigen Auge, die verliebt in Richtung Aurelius blickt. Als Ydna wieder zu sprechen beginnt, verblasst meine Vision von Magda: „Ja, das weiß ich nun auch. Im Nachhinein kann ich es mir selbst nur so erklären, dass für mich Liebe, wenn sie zwischen zwei Wesen stattfindet etwas tief persönliches ist, das man nicht mit allen teilen möchte… Dass das es etwas Schlimmes sein soll, habe ich mir von Tarator einreden lassen. Ich war so dumm! … Äthyl, woher wusstest du das eigentlich? Gibt es eine Fähigkeit von dir, die wir nicht kennen?“
„Nein Ydna, ich habe mich daran erinnert, wie schön es war, als ich beobachten konnte, wie sehr ihr Beide euch liebt!“
Retsam scheint seine Stimme wieder gefunden zu haben: „Du hast uns durchs Schlüsselloch beobachtet? Wieso hast du mit mir darüber nie geredet?“, fragt er zaghaft. „Es ist genau so, wie Ydna gesagt hat. Es ist eure Liebe und eure Angelegenheit, sie mit der Welt zu teilen… Und ganz ehrlich: bei so viel Liebe im Raum konnte ich einfach nicht widerstehen…“, antworte ich mit einem Lächeln auf den Lippen. Die Runde stimmt in das Lächeln mit ein.
Ich bin sehr froh darüber, dass ich nicht das einzige Wesen bin, das dazu beigetragen hat, die Situation im Lande Téo zu verkomplizieren. Es ist sehr schön zu wissen, dass wir alle unsere Unzulänglichkeiten haben… Ich nehme mir in jedem Fall fest vor, viel mehr über mich und meine Unzulänglichkeiten zu sprechen, vielleicht werden Andere diesem Beispiel folgen, und wir tragen so dazu bei, uns besser zu verständigen.
„Gut, dass wir das besprochen haben!“, unterbricht Aurelius meine Assotiationen. Er dreht sich zu Ydna und setzt fort: „Welche Téoplatten wurden von dir aus dem Archiv entnommen? Ich habe jeden Winkel des Archivs durchforstet, konnte aber nicht feststellen, welche Téoplatten fehlen.“
Ydna beginnt zu erklären: „Tarator hätte alle Platten entfernen lassen können, ohne das du gewusst hättest, welche Platten fehlen. Er gab mir ein Gefäß, mit schwarzer Flüssigkeit, sowie ein Dokument auf dem ein Spruch stand, mit. Er erteilte den Auftrag, das Gefäß an Stelle der Téoplatte zu positionieren, und den Spruch zu rezitieren. Dies hatte die Auswirkung, dass die Platte am Ursprungsort dupliziert wurde. So lange dieses Duplikat niemand aus dem Archiv entfernen wollen würde, wäre der Schwindel auch nicht aufgefallen. Als ich bemerkt hatte, dass das Glas aus schwarzer Flüssigkeit bestehen blieb und sich in nichts verwandelt hatte bzw. nicht verschwand, kam ich auf die Idee, das Glas ein zweites mal zu benutzen. Ich wendete die selbe Vorgehensweise noch ein zweites mal, für eine andere Téoplatte, an…“
„Jetzt komm schon! Welche Platten hast du mitgenommen?“, fragt Aurelius ungeduldig.
„Um mich vor dem Rat zu schützen und um mich effektiv zu verstecken, habe ich die Téoplatte mit der Aufschrift Raum von Fumé mitgenommen. Nur jene, die meinen Aufenthaltsort kannten, konnten mich darin aufsuchen. Gleichzeitig hat der Spruch der Téoplatte dafür gesorgt, dass niemand der wusste, wo ich war, es auch weitererzählen konnte. Die Information musste aus meinem Mund stammen. Deshalb habe ich in unregelmäßigen Abständen die getarnte Gaststätte besucht, um mich mit meinen Freunden zu treffen und um mit Retsam auch alleine sein zu können…¨
„Du weißt genau, dass uns diese Platte am wenigsten interessiert! Weswegen wurdest du her geschickt?“, unterbricht Aurelius beinahe ungehalten.
„Ich kann dir nicht sagen, was der Inhalt der Platte war. Es ging alles so schnell… Ich war am höchsten Punkt des Archivs angelangt, als plötzlich Äthyl hinter mir stand und mich aufforderte, mich umzudrehen. Im selben Moment erschien wie aus dem Nichts Tarator aus einer schwarzen Wolke. Mit den Worten ZuMinom katuke¨ polzomio Äthyl lähmte er Äthyl und murmelte etwas so leise, dass seine Worte die Lippen kaum verließen. Danach wurde es völlig dunkel. Plötzlich schimmerte es blau an den Wänden des Kuppelzimmers und ich konnte ein Gefäß erkennen, von dem der Schimmer ausging, sowie ein am Boden liegendes, schlafendes Baby sehen. Tarator warf mir einen Beutel zu Füßen und befahl mir ihm die Trimagische Téoplatte, sowie das Solosax in den Beutel zu legen, und ihm auch alle anderen Artefakte zu geben. Gerade als ich ihm alles überreichen wollte, hörten wir die Stimmen von Aurelius und Magda. Mit den Worten Ich überlasse dich deinem Schicksal verschwand Tarator ebenso, wie er aufgetaucht war und ließ mich mit Äthyl alleine. Die Trimagische Téoplatte konnte er mir gerade noch vor dem Verschwinden entreißen und mitnehmen. In Windeseile schnallte ich den Beutel auf Äthyls Rücken und wendete mit Hilfe der schwarzen Flüssigkeit, bei mir selbst, einen Tarnspruch an, um nicht entdeckt zu werden. Das Baby ließ ich zurück. Ich hatte panische Angst davor, dass es mich durch lautes Weinen verraten könnte. Zu dem Zeitpunkt wusste ich nocht nicht, dass es der Schlüssel von Hexyl ist, der immerwährend schläft!“ Gebannt hören die Anwesenden zu. Aurelius scheint völlig vergessen zu haben, dass er so ungeduldig war.
„Jetzt weiß ich“, werfe ich ein, „wieso ich mich, als ich die Treppe runterrannte, so fühlte, als würde mich jemand verfolgen.“
„Ja, Äthyl! Ich war dicht an deinen Fersen. Als du vom Strahl der Leg-Pistole getroffen wurdest, war ich froh, dass du vor mir gestanden hast. Der Strahl aus weißer Magie hätte die Wirkung des Zaubers der schwarzmagischen Flüssigkeit neutralisieren und mich offenbaren können. Als ihr über die verschwundenen Téoplatten gesprochen habt, konnte ich unbemerkt an euch vorbei laufen.“ Aurelius wirft ein: „Das unsachgemäße Berühren der Téoplatten hat den Alarm ausgelöst! Wir mussten kommen!“
„Ich wartete an der Tür, und als Äthyl sie geöffnet hatte und innehielt, konnte ich an ihm vorbei, und lief nach Hause. Dort habe ich die Wirkungsweise der schwarzmagischen Flüssigkeit aufgehoben und sofort den Raum von Fumé heraufbeschworen um mich vor dem Rat zu schützen.“
Es ist ruhig. Alle in der Runde scheinen sehr nachdenklich geworden zu sein. Aurelius, der sich bisher sehr zurückgehalten hat, bricht als Erster das Schweigen: „Das Trimagische Phänomen…“, beginnt er mit ruhiger Stimme zu rezitieren. Das altbekannte Wirbeln seiner Augen zeigt mir, dass er ab nun aus seinem Gedächtnis den Inhalt einer Téoplatte wiedergibt. Monoton setzt er fort: „Das Land Téo kennt drei Mächte. Das Positive, das Negative, sowie das Neutrale; symbolisiert durch die drei Flüsse der Macht, geschützt durch deren Hüter und dessen Helfern. Das Gleichgewicht dieser Kräfte hängt von einander ab. Sind die positiven und negativen Kräfte gleich stark verteilt, hält es sich die Waage mit der neutralen Kraft. Entsteht ein Ungleichgewicht zwischen der positiven und der negativen Kraft, schwindet die Kraft der Neutralität. Heben sich die positiven, sowie die negativen Kräfte gegenseitig auf, so entsteht ein Vakuum, welches lediglich die Neutralität, verbunden mit absolutem Stillstand, kennt.“
Aurelius‘ Augen haben sich wieder beruhigt. Er spricht völlig ruhig weiter. „Was kann das nur bedeuten?“
Ich glaube die Antwort zu kennen und beginne meine Gedanken mit der Runde zu teilen: „Tarator möchte das Gleichgewicht zwischen den Kräften verändern, um die positive, sowie die neutrale Kraft zu schwächen. In Bótan hat er, bei seinem Ultimatum, mitgeteilt, all jene, die nicht mit ihm sind, zu vernichten. Offenbar versucht er so viele Wesen wie möglich dazu zu bekommen, die Kräfte der schwarzen Magie zu nutzen, um seine Pläne der Machtverschiebung durch zusätzliches Anwerben zu untermauern.“
„Daran habe ich auch gerade gedacht.“, ergänzt Retsam, „Denke daran, was Vater dazu gesagt hat, als er über deine Visionen sprach. Tarator hatte Flüssigkeiten aus allen Flüssen entnommen. Es scheint so, als ob er auf diesem Weg unser aller Schicksal besiegeln möchte, um mit Hilfe der neutralen Kraft die positive Kraft aufzuheben. Jetzt verstehe ich auch, wieso in deiner letzten Vision die Szene aus den beiden Flüssen ständig hin und her wechselte und zum Schluss in der Umgebung des Flusses der neutralen Kraft, Téodom, endete. Die Zukunft ist in Bewegung. Es ist noch nicht besiegelt, ob sein Plan funktionieren wird.“
Aurelius blickt, als ob er nur Bahnhof verstanden hätte. Nach dem wir ihm nun unsere Erlebnisse in Ydál und jene Teile von Vaters Monolog geschildert hatten, die wir auch erzählen durften, beteiligt er sich wieder am Gespräch: „Onicchu ist nicht umsonst der Anführer der Onyiccson. Wir müssen einen Weg finden, Tarator zuvorzukommen. Wir müssen dafür sorgen, dass Tarator seine Kräfte verliert, in dem wir positive, sowie die negative Kraft aufheben.“
„Wie sollen wir das anstellen?“, fragt Yks, die offenbar genau das ausspricht, was sich in dem Moment alle gedacht haben. Aurelius antwortet: „Nun, wir wissen durch die Téoplatte, dass die neutrale Kraft bestehen bleibt, wenn sich die beiden anderen Kräfte, gegenseitig aufheben. Unsere Aufgabe ist es nun einen Weg zu finden, die Kräfte so aufzulösen, als das sie danach wieder von selbst entstehen können. Wir brauchen etwas, das uns in die Lage versetzt, den Stillstand der Neutralität zu umgehen. Wie Onicchu bereits festgestellt hat, wird Tarator in die beiden Brüder zerfallen, und in die Sümpfe von Ras verbannt werden. Aber was, wird uns die Flüsse der positiven und negativen Kräfte zurückgeben und gleichzeitig das Gleichgewicht der Kräfte erhalten?“
Eine sehr gute Frage, überlege ich gerade, als plötzlich die Eingangstüre des Archives durch eine Orkanartige Windböhe aufgestoßen wird. Eine große, weiße Wolke schiebt sich durch die Tür in den Raum.
Eine liebliche Stimme ist zu hören: „Der Rat der Ältesten wurde von Gaia soeben einberufen. Sie sind alle geladen, daran teilzunehmen. Treten sie in das Wolkenportal ein, um in den Sitzungssaal zu gelangen.“
Gebannt und wie unter Hypnose treten wir geschlossen, durch die Wolke in den Sitzungssaal des Rates ein.
Ich sehe mich im Saal um. Silberne, hohe Wände grenzen den Raum ein. Auf den ersten Blick erkenne ich viele Mitglieder des Rates im hektischen Getümmel wieder. Alle nehmen so schnell als möglich auf farbigen Marmor-Stühlen Platz. Erst jetzt bemerke ich, dass ich mich nicht bewegen kann. Die Stühle haben jeweils die selben Farben, wie die Marmorstatuen in Batátu. Im Augenwinkel kann ich erkennen, dass sich weder Retsam noch Yks, noch Ydna bewegen können. Wie angewurzelt, starren alle in die selbe Richtung.
„Tretet näher!“, löst uns Gaia mit ihren Worten aus der Starre, „Nach nun hundertelftausendeinhundertelf Treffen des Rates ist es an der Zeit den Fortbestand der Existenz zu bestimmen und zu entscheiden, ob und wie der zukünftige Verlauf der Geschichte stattfinden wird. Vorweg meine Lieben, möchte ich euch mitteilen, dass ich seit Anbeginn der Zeit sehr alt geworden bin. Trotzdem liebe ich all meine Geschöpfe so sehr, dass ich trotz aller Qualen bereit dazu bin, weiter zu lieben! Ich habe in die Seelen von euch allen geblickt und weiß, dass es der Verdienst von jedem Individuum ist, warum ich so sehr liebe… Onicchu hat mir zu verstehen gegeben, dass die Liebe in Gefahr ist. Manchen meiner Geschöpfe wurde sogar glaubhaft versichtert, es wäre ein Fehler zu lieben. Manch Anderen wurde glaubhaft gemacht, es wäre sogar falsch jenes Wesen zu lieben, das man liebt. Liebe ist grenzenlos… Ich bin sehr traurig. Manches mal denke ich sogar, ich hätte Wesen geschaffen, die selbst mich nicht lieben können. Ich habe gelernt, dass diese Wesen lediglich von sich selbst enttäuscht sind, den Mut verloren oder auch einfach vergessen haben zu lieben.“
Sie macht eine kurze Pause und sieht verträumt an die Decke des Saals. Niemand kommt auf die Idee etwas zu ergänzen oder zu sprechen. Es ist muxmäuschenstill im Saal. Sie setzt fort: „Ihr erwartet von mir eine Lösung dafür, wie die Mächte der positiven, sowie negativen Kräfte, nach deren Aufhebung wieder hergestellt werden können. Es ist unmöglich.“
Plötzlich brechen, wie auf Kommando, alle Anwesenden das Schweigen. Aus dem wilden Stimmengewirr kann ich hören: „Kann das sein!?“, „Sind wir nun alle verloren?“, „Wird unsere Welt zukünftig vom Stillstand beherrscht?“, „Ist unsere Existenz hoffnungslos?“, „Gibt es keinen Sinn für unsere Existenz?!“.
„ZuMitezu ma tazaúna maka araka¨, Go¨opi, Saa¨, Ipo¨og! Wumi tikitaki puju plu puju tikitaki wumi!“, spricht Gaia mit Tränen in den Augen. Es ist schlagartig still, als hätte jemand den Ton abgeschalten, „Ich dachte, ich hätte euch gelehrt, dass alles nur durch die Liebe selbst entsteht! Macht euch keine Gedanken darüber, wie die Kräfte neu entstehen werden können, sondern tragt sorge dafür, dass die Liebe sie einfach entstehen lässt! Die Sitzung ist beendet!“ Ein lauter Knall katapultiert uns aus dem Saal.
Wo bin ich jetzt? Es ist nicht das alte Archiv von Téo!
Eine komische Lichtstimmung prägt die Umgebung. „Ist jemand verletzt?“, höre ich Yks durch die dichten Staubwolken, wie in Watte sprechend, fragen. Ydna antwortet, „Mir geht es gut!“
„Mir auch!“, sagt Retsam, der dabei etwas hustet. Als sich der dichte staubige Nebel schön langsam lichtet, kann ich erkennen, dass Aurelius nicht bei uns ist. „Wo sind die Anderen?“, frage ich meine Freunde. „Ich weiß es nicht.“, greift Retsam den Anderen vor, „Mich würde ehrlich gesagt mehr interessieren, wo wir sind! So einen Ort habe ich noch nie gesehen!“
„Ich auch nicht!“, ergänzt Ydna, der mir dadurch bestätigt, dass wir zumindest nicht im Versteck von Tarator gelandet sind. Ich bemerke, dass meine Wahrnehmung anders ist, als wie sie noch vor dem Ende des Treffens des Rates war.
„Seht dort! Da drüben!“, ruft Retsam, der wie Wild auf etwas Großes aus Stein an der Decke zeigt. „Ist das der Sockel der Statuen in Batátu?“, fragt Retsam. „Ja!“, ruft Ydna, „Mich haben Retsams stundenlange Monologe über die Mitglieder des Rates zwar immer genervt, aber ich habe den Sockel aus lauter Langeweile heraus so oft angestarrt, der Marmor ist einzigartig, es muss der Sockel sein!“
„Wenn dem so ist, muß hier irgendwo der Fluß der neutralen Kraft sein, Vater hat uns davon in Ydál erzählt. Nur, wo ist er?“, rufe ich in die Runde.
„Da!“, schreit Yks hysterisch, „Schaut hier rüber! Da liegt jemand am Boden!“ … Ruckartig drehe ich mich um, um zu sehen, wohin Yks deutet. Ich folge ihrem Finger und sehe etwas mit einem grauen Karpuzenmantel bedeckt, am Boden liegen. Daneben liegt ein Stab aus schwarz-weißem Holz. „Es muss Ilókorb sein. Ist er tot?“, frage ich.
„Oh ZuMitezu, wie konntest du das nur zulassen!“, schreit Yks mit Tränen in den Augen, „Der Fluß der Neutralität ist versiegt, und Ilókorb… Er ist… TOT!“
Beim letzten Wort kann sich Yks nicht mehr auf ihren Beinen halten und sackt voller Verzweiflung zu Boden. In diesem Moment kracht es sehr laut. Der Sockel der Marmor-Statuen ist mitsamt allen Statuen durch die Decke gebrochen und auf den Boden gekracht. „Ich habe es geschafft! Der Rat ist vernichtet!“, hören wir die hohe, piepsige, fiese Stimme von Tarator brüllen: „Sie sind alle tot! Ich habe die Kraft und die Macht und die Herrlichkeit bis in alle Ewigkeit!!“ … Gefolgt von einem krankhaftem Lachen zeigt er mit seinem Zeigefinger der rechten Hand auf Yks, die immer noch am Boden liegt, und schreit: „stirb!“
Ein roter Lichtblitz schießt aus seinem Finger und trifft Yks, durch den Rücken, direkt ins Herz. Reglos bleibt sie neben Ilókorb liegen. Starr vor Schreck sehe ich, wie angewurzelt zu, wie sie einfach so da liegt. „stirb!“, höre ich nochmals, und Retsam fällt ebenso zu Boden. Ydna schreit. „Wie kannst du uns, nach all dem, was ich für dich getan habe, das antun!? Äthyl liebt Yks, ich liebe Retsam. Das weißt du genau!“
Er rennt auf Tarator in tierischer Gestalt zu, als ob er ihn gleich zerfleischen möchte. Tarator lacht verhasst und voller Hohn. Als Ydna direkt vor Tarator angekommen ist, fällt dieser nachdem Tarator ein leises, belustigtes stirb gemurmelt hat um, als ob er ein Sack, gefüllt mit Quatobraten wäre. Schon wieder überkommt mich das Gefühl, dass die Vorkommnisse der Szenen, die ich gerade wahrnehme, eher wie ein Traum sind, und keines Falls der Realität entsprechen können. Ist das eine meiner Visionen?
Tarator erhebt theatralisch seine Stimme: „Ja, Äthyl!…“, er sieht mir jetzt direkt in die Augen, „…Jetzt bist du an der Reihe! Aus deiner Liebe heraus wird nichts mehr entstehen können! … Stirb!“
Der gleißende Lichtblitz rast auf mich zu. Ich schließe meine Augen, um dem Tod entgegen zu treten.
„Ich sagte, die Sitzung ist zu Ende… Sieh Äthyl, deine Freunde sind schon auf dem Weg zum Wolkenportal. Du kannst auch gehen!“, höre ich Gaia ermahnend sagen. Ich blicke durch den Saal, und kann keinen der Fluss-Wächter sehen. Die Stühle aus schwarzem, weißem und grauem Marmor sind leer. Zu meiner Überraschung sehe ich Néiláti, den Besitzer der getarnten Gaststätte, vor einem Stuhl aus transparentem Marmor stehen.
„Es tut mir sehr leid, ich hatte gerade meine dritte Vision in Folge, seit ich im Archiv von Téo meine Erinnerungen verloren habe. Eine Vision, in der ich selbst Teil der Handlung war. Ich mache mir große Sorgen! Kannst du uns bitte helfen, in dem du uns, an Stelle des Archives von Téo, nach Batátu bringst? Ich habe das Gefühl, dass unsere Zeit drängt!“
„Ja, das kann ich für euch tun. Du musst aber verstehen, dass ich persönlich mich als neutrales Wesen nicht in die Vorgänge einmischen kann.“ Gaia taucht ihre beiden Hände in ein Gefäß direkt vor sich ein. Erst jetzt fällt mir auf, wie groß Gaia gewachsen ist, „Ich muss das Schicksal für uns alle annehmen, und zwar so, wie es kommt. So wurde es mir Seinerzeit von ZuMitezu auferlegt. Nehmt euch jeweils eine dieser Kommunikationskugeln und ihr werdet Kraft eurer Gedanken mit einander verbunden sein. Schreitet nun durch das Wolkenportal, ihr werdet dort ankommen, wo ihr erwartet werdet.“

Da ich mich nun wieder an den Inhalt meiner Prophezeihung erinnern kann, weiß ich, dass das Gleichgewicht der Mächte wieder gestört ist. Falls wir Erfolg haben, werde auch ich bald meine Bestimmung erfüllt haben und davon erzählen können. Falls wir scheitern, wird Tarator uns, ich habe es in der Vision gesehen, alle töten. Selbst jene, die glauben unsterblich zu sein! Mit einem Blick zurück zum Saal, schreite ich, nach dem ich mir meine Kommunikationskugel genommen habe, als Letzter durch das Wolkenportal.

Der letzte Tag



Als ich meine Augen öffne, stehe ich zusammen mit Retsam, Yks und Ydna vor den Statuen in Batátu. Wir sind nicht alleine. Auch Néiláti, der Wirt der getarnten Gaststätte, ist anwesend.

„Jetzt, wo meine wahre Identität enthüllt ist, werde ich die getarnte Gaststätte aufgeben, und mir eine neue Tarnung ausdenken müssen.“, sagt Néiláti betrübt. Als er sein letztes Wort gesprochen hat, verwandelt er sich in sein durchsichtiges Selbst namens Éppus.
„Jetzt weiß ich wenigstens, wieso meine Pläne den Rat zu hintergehen immer gescheitert sind.“, lacht Ydna, „Ich hätte bei dir nicht so viel Zotelwein trinken sollen!“
„Du wirst bestimmt schon bald eine neue Aufgabe finden.“, ergänze ich. Retsam, der sich bisher zurückgehalten hat und seit der Verwandlung von Èppus im Gesicht rot, wie eine Nachttischlampe leuchtet, stammelt: „Kannst du uns sagen, wie wir zum Fluß Téodom kommen? Vater hat uns gesagt, dass hier der Eingang sein soll.“
„Natürlich… Um in die geheime Kammer zu gelangen, müsst ihr den Stab von Ilókorb elf Mal gegen den Uhrzeigersinn drehen. Seit vorsichtig. Direkt vor seiner Statue wird sich eine Falltüre öffnen… Ich mache mich jetzt auf den Weg zu eurem Vater. Er hat bereits angekündigt, dass er meine Hilfe benötigt… Auf Bald!“
Nach dem wir uns von Èppus verabschiedet haben, stellen wir uns zu Viert hinter die Statue von Ilókorb. Ydna, der sich noch nie für die Statuen interessiert hat, scheint eine völlig neue Leidenschaft entwickelt zu haben. Wie wild dreht der den Stab, so schnell er kann, elf mal gegen den Uhrzeigersinn. Ein leises Knarren kündigt an, dass die Falltüre sich eben geöffnet hat.
„Sieh mal, es hat geklappt.“, sagt Yks beeindruckt, „Siehst du schon etwas?“
„Ja!“, sagt Ydna, der aufgrund seiner Körpergröße am Nähesten bei der Falltüre ist, „Ich sehe den Fluss, und Ilókorb ist auch gut zu sehen. Nur, wie kommen wir hier runter?“
Retsam beugt sich zur Falltür hinab, streckt seinen Kopf hindurch und brüllt: „Ilókorb, kannst du mich hören?“
„Ja, Retsam! Ich habe euch bereits erwartet! Benutzt einfach die Treppe“
„Treppe?“, flüstert Ydna, „Ich habe vorhin keine Treppe gesehen!“
Retsam zieht seinen Kopf aus der Öffnung, verwandelt sich in den Löwen, und steigt mit seiner Pranke in die Öffnung. Seelenruhig steigt er eine unsichtbare Treppe hinab. In Wolfsgestalt verwandelt, sehe ich nun, dass Retsam eine Treppe benutzt, die offenbar nur in tierischer Gestalt sichtbar ist.
„Gegrüßet seist du, Ilókorb“, sagen wir, wie aus einem Munde. „Hallo allerseits!“, antwortet der Wächter des neutralen Flusses. Er spricht ganz anders, als die anderen Wächter denke ich so bei mir, als Ilókorb zu antworten beginnt: „Ja Äthyl, ich bin anders als alles Andere was du kennst… Natürlich, auch ich bin Neutrist und kann dir deine Fragen nicht beantworten. Aber ganz ehrlich: Ich habe so selten Besuch in dieser Höhle, dass ich, wenn ich Leute da habe, so viel wie möglich kommunizieren möchte; und das mache ich eben so, wie mir der Schnabel gewachsen ist!“
Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, dass das, was in seinem Gesicht Lippen andeutet, gerade lächelt.
„Nun“, spricht er weiter, „Ich musste auf euch ja nur um die 19 Jahre warten. Ein Klax im Vergleich zur Ewigkeit! In dieser kurzen Zeit hatte ich nicht mal die Möglichkeit Quatobraten und Zotelwein zu besorgen!“, sein Röcheln erinnert mich irgend wie an humorvolles Lachen, „Doch lasst uns ernst bleiben. Äthyl, du hast deine Erinnerungen wieder und weißt, dass sich bald deine Prophezeihung so, oder so erfüllen wird… Wie immer der Kampf zwischen der positiven und der negativen Kraft enden wird, werden wir wohl oder übel unser Schicksal annehmen müssen. Deine letzte Vision habe ich mir auch angesehen. Das Einzige, was dir helfen kann, ist ein Wunder. Dieses Wunder muss zum Einen die Flüsse Téodex und Téodin aufheben und zum Anderen die Flüsse neu entstehen lassen. Ich habe so viel in all euren Gedanken, Wünschen und Erinnerungen gelesen, und beschlossen, meine Position im Rat der Ältesten aufzugeben.“
„Du hast was?!“, schallt es, wie im Chor durch die Höhle.
„So lange ich unparteiisch bin, werde ich euch nicht helfen können. Das ist der Grund dafür, wieso ich mich dazu entschlossen habe, für euch die erste Hälfte dieses Wunders, das ihr so dringend benötigt, zu sein. Um helfen zu können, muss ich aus allen drei Flüssen gleichzeitig meine Macht beziehen. Ich weiß, dass ich nach diesem Regelbruch in die Sümpfe von Ras verbannt werde. Aber mir macht dies nichts aus. Ich habe bereits so lange in dieser Aufgabe verweilt, es wird Zeit für etwas Neues. Außerdem würde ich, falls ich euch nicht helfe und ihr mit eurer Mission scheitert, sowieso sterben… Es dauert nicht mehr lange, dann wird Tarator hier eintreffen, da er den Fluß der neutralen Kraft austrocknen lassen möchte… Es ist unmöglich für mich, diesen Platz zu verlassen. Auch meine beiden Brüder können ihre Flüsse nicht verlassen.“
Ich greife in den Lumpenbeutel und hole die Kommunikationskugel heraus. „Hört ihr mich?“, frage ich in die gläserne Kugel. Ein Gewir aus vielen Stimmen antwortet mir. „Vater, wo bist du?“
„Ich bin beim Fluss Téodid in Tan, Èppus ist gerade eingetroffen, um uns hier zu unterstützen!“. Erneut spreche ich in die Kugel: „Ispép, wo bist du?“
„Ich bin am Fuße des Hügels nach Zarg, beim schwarzen Fluß Téodex! Wo bist du Äthyl?“
„Ich bin zusammen mit Yks, Retsam und Ydna bei Ilókorb… Sind neben den Flüssen Löcher in den Boden gegraben worden?“
„Ja, Äthyl!“, antwortet Ispép. Vater ergänzt: „Genau so, wie du es in deiner Vision gesehen hast!“
Besorgt frage ich: „Gibt es eine Möglichkeit, die Flüssigkeiten der Löcher zum Fluss Téodom zu transferieren?“ Die monotone, altbekannte Stimme von Aurelius ist zu hören: „Der Transfer von magischen Gütern und Personen über weite Entfernungen kann mit Hilfe der Katokawolke durchgeführt werden. Das Gesetz erlaubt die Benutzung zum Einberufen des Rates und anderen Teilnehmern. In Ausnahmesituationen können auch andere Güter oder Personen damit transportiert werden. Der Einsatz kann nur von Gaia gestattet werden…“, seine Stimme normalisiert sich wieder, „Gaia, kannst du bitte das Wolkenportal entsenden? … Danke für deine schnelle Reaktion!“
Soeben bemerke ich, dass Ydna, Yks und Retsam in tierischer Gestalt, bereits daran arbeiten, zwei große Löcher neben den Fluss Téodom zu graben. Plötzlich erscheint das weiße Wolkenportal. „Können wir liefern?“, höre ich meinen Vater. „Ja!“ schreit Yks, die gerade zusammen mit Ydna das erste Loch fertiggegraben hat.
Der Raum erhellt sich, während die Flüssigkeit aus der Katokawolke läuft. Retsam und ich graben so schnell wir können am zweiten Loch. Die Wolke ist verschwunden.
„Was war das?!“ schreit Ydna, der sich vor dem lauten Geräusch, ebenso wie alle Anderen in der Höhle, erschreckt hat, als der steinerne Sockel samt der Statuen des Rates auf den Boden gekracht war.
„Ich werde euch jetzt alle töten!“, schreit die hohe, fiese Stimme, dessen Besitzer ich nun das erste Mal außerhalb meiner Visionen sehe. „Ob ihr könnt oder nicht, wir liefern jetzt!“, höre ich Ispép. Das weiße Wolkenportal schiebt sich zwischen Tarator und uns. Die schwarze Flüssigkeit läuft aus dem Portal in das Loch. Retsam und ich können uns gerade noch, in letzter Sekunde, vor der schwarzen Flüssigkeit in Sicherheit bringen.
„Jetzt Ilókorb, JETZT!“, schreie ich, so laut ich kann. „Stirb!“, ruft Tarator aus Leibeskräften. Ein roter Lichtblitz rast auf Ilókorb zu, der mit seinem linken Fuß in der schwarzen Flüssigkeit steht, und mit dem Rechten in der Weißen. Ilókorb breitet erwartungsvoll seine Arme aus, als würde er sich freuen, weil gerade ein Freund aus der Ferne auf ihn zukommt. Er öffnet den Mund und schluckt den Lichtblitz. Nichts geschieht. „Es wird Zeit“, spricht Ilókorb zu Tarator, „dass du deine ganz persönliche Prophezeihung erhältst… Du kennst die Regeln. Falls du sie erzählst, bevor sie erfüllt ist, werden alle Beteiligten sterben und du wirst in die Sümpfe von Ras verbannt.
Tarator sieht, starr vor Schreck, in Ilókorbs Richtung, als plötzlich vor ihm eine Pergament-Rolle erscheint. Seine Augen bewegen sich von Links nach Rechts. Plötzlich flammt das Pergament auf. Entgeistert fällt Tarators Blick auf Ilókorb, welcher mit seinem Stab einen Verbindungsgraben zwischen den beiden magischen Flüssigkeiten zieht und sagt, „Nicht einmal Aurelius wird dir aus dieser Prophezeihung helfen können. Er kennt sie nicht. Wir sind die einzigen, die wissen, was am Pergament stand. Ich weiß, dass du den Inhalt niemandem verraten wirst, deshalb werde ich es tun…
Tarator zeigt wie wild mit seinem Finger auf Ilókorb und schießt mit jedem „stirb“, das er brüllt, Lichtblitze auf ihn. Doch ohne Wirkung. Er scheint, geschützt durch die Flüsse, immun dagegen zu sein.
„Die Prophezeihung von Tarator beschreibt, dass er völlig alleine existieren wird. Es gibt niemanden, der an seiner Prophezeihung beteiligt ist, außer ihm selbst. Sobald die beiden magischen Flüssigkeiten ineinanderlaufen, wird er aufhören zu existieren, da er sämtliche Kraft verlieren wird. Seine Prophezeihung wird sich am letzten Tag seiner Existenz erfüllen, und zwar genau dann, wenn die Flüssigkeiten ineinander gelaufen sind und sich so gegenseitig aufheben.“
Alle Blicke fallen auf Tarator. Die beiden Gesichtshälften klaffen auseinander. Das Wesen schreit wie am Spieß! Durch das Gewicht des Oberkörpers, reißt sein dunkler Umhang in zwei Hälften. Er fällt in der Mitte auseinander. Reglos liegen Tarasin und Bator am Boden.
„Der Fluss ist ausgetrocknet!“, höre ich von Vater. „Unserer auch!“, ergänzt Ispép.
„Ich weiß nicht, ob wir uns jemals wieder sehen werden, aber ich danke dir, dass du dazu beigetragen hast, dass ich gelernt habe, zum Wohle Aller, meine eigenen Entscheidungen zu treffen!“, sagt Ilókorb, während ihn, zusammen mit Tarasin und Bator ein grüner Schimmer verhüllt, „Ich freue mich auf neue Herausforderungen in Ras. Vielleicht schreibe ich euch eine Postkarte!“
Nach einiger Zeit der Stille höre ich plötzlich aus dem Kommunikationsglas: „Alles in Ordnung bei euch? Hallo? Jemand da?“
„Ja!“, bei uns ist alles in Ordnung, sagt Yks!
„Humorvoll bis zum Ende! Meine Prophezeihung hat sich gerade durch diesen dämlichen Satz erfüllt!“, sagt Retsam, der das Schweigen bricht und offensichtlich immer noch nicht fassen kann, was er von Ilókorb zum Abschied gehört hat, „Ich bin echt froh, dass das endlich vorbei ist!“
„Ich bin auch sehr froh! Meine hat sich auch genau deshalb erfüllt! Ich hätte nie gedacht, dass das bezüglich der Postkarte, ein Ältester jemals sagen wird, schon gar nicht, während die Flüsse der schwarzen und weißen Magie ausgetrocknet sind.“, sage ich, als ich die vielen Jubelstimmen durch das Kommunikationsglas in meinem Kopf wahrnehme.
Als ich mich in Richtung Yks drehe, stelle ich fest, dass sie ihren Kopf zu Boden gesenkt hat, und weint.
„Mein Herz. Ilókorb… Er ist ein sehr großer Verlust.“, sage ich behutsam.
Yks antwortet zögerlich: „Ich bin überwältigt… Aber das ist es nicht: Ich konnte bislang meine Prophezeihung noch nicht erfüllen… Ehrlich gesagt hätte ich nie geglaubt, dass der Beginn jemals eingeleitet werden würde… Heute war sozusagen mein letzter Tag, an dem ich frei entscheiden konnte.“, schluchtzt sie.
„Hat das, was du meinst, auch mit dem letzten Satz von Ilókorb zu tun?“, frage ich.
„Ich darf nicht vom Inhalt der Prophezeihung sprechen… Du weißt doch: Tod, Unheil und die Sümpfe von Ras - das alte, leidige Thema…“

Nach einer Weile hat sie sich etwas beruhigt und setzt fort: „Lass uns von etwas Anderem sprechen. Ob wir mit unserer Liebe genug Kraft aufbringen können, um die magischen Flüsse wieder aufzufüllen, und zwar bevor unsere Welt endgültig in den Abgrund stürzt?“
Ich nehme meine Frau in den Arm und küsse sie aus tiefstem Herzen.

Yks schaut mir tief in die Augen und lächelt: „Wenn wir es alleine nicht schaffen…“, sie deutet mit ihrem Kopf auf Retsam und Ydna, die sich gerade wie wild in den Armen liegen und leidenschaftlich mit einander knutschen, „…bin ich mir sicher, dass uns die Beiden tatkräftig dabei unterstützen werden!“


E N D E

Anmerkungen / Copyright



2008–2012
Sonderauflage - Bookrix-Format
Exklusive Geschenksedition, 1. Dezember 2012

Urheber:
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Impressum

Texte: Johannes (Phillip) Hinterberger
Bildmaterialien: Johannes (Phillip) Hinterberger
Tag der Veröffentlichung: 07.12.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich allen, die es gerne lesen möchten. Falls es sich um die gedruckte Ausgabe handelt, und Sie das Buch nicht mehr benötigen, oder es nie haben wollten, senden Sie es bitte ausreichend frankiert zurück an den Urheber. Es wird Menschen geben, die es gerne haben möchten – auch wenn sie es noch nicht wissen :D Die erste Auflage des Buches entstand in den Jahren 2008-2012. Besonders danken möchte ich meiner Familie: Allen voran, meinem riesen Schatz – Gerhard „Zucki“ Zuckerstätter – der mich nie alleine gelassen hat und in einer meiner Geschichten schon, bevor ich ihn 2008 kennen gelernt hatte, vorkam! Ebenso danke ich Hannes, Lydia, Andi, Magda und Tobi! Ich habe sie am schönsten Urlaubsort der Welt (dem Leichtsinn in Salzburg, Elisabethstraße 1) kennen gelernt. Sie haben dafür gesorgt, dass die Sprache LaLu Vokabel erhalten hat und mich weder verhungern noch verdursten lassen. Ciwan (der in der Zwischenzeit zu meinem besten Freund geworden ist) möchte ich sipas Dikim sagen! Natürlich danke ich auch allen, die maßgeblich an den Charaktären meiner Geschichten „schuld“ sind, diese verursacht haben (dabei auch das eine oder andere Trauma ausgelöst haben), oder verkörpern. Ohne euch gäbe es keine einzige Zeile in diesem Buch: Ariel & Azrael, ich grüße euch! Zum Schluß möchte ich anmerken, dass alle Zeilen dieses Buches auf ihre Art und Weise vollkommen wahr sind… Go¨ópi - Saa¨ - Ipó¨og, Johannes (Phillip) Hinterberger

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