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Die oberen Stockwerke



Ich sah mich nicht in der Lage, die Rechnung zu begleichen. Wie auch? Das schmale Tütchen Lohn reichte gerade mal eben so für die Bude und den wöchentlichen Einkauf bei Aldi, für die Reinigung meines Dienstanzuges und für den samstäglichen Umtrunk bei Stella’s, der reihum von einem von uns beglichen wurde. Bei Stella war es auch, dass Salvatore auf jene beschissene Idee kam, die mich so ins Minus gestürzt hat. „Wetten, dass wir ins NORDSEE einsteigen können, ohne dass uns jemand hindert?“ Der Plan war ebenso absurd wie bedeutungslos. Selbst wenn es uns gelänge, was würden wir damit bewiesen haben? Dass sich die Mitmenschen nicht um links und rechts scheren? Dass man das Alleroffensichtlichste tun kann, ohne dass es jemandem auffällt? Dass wir verdammt coole Jungs sind, die die Welt unter sich aufzuteilen verstehen? Mann, ich bin drauf eingegangen. Schande, Schande und nochmals Schande. Salvatore mit einem Brecheisen, Wolle mit einer lächerlichen Sonnenbrille, Ralf und ich mit einem Bolzenschneider schlendern kurz nach Ladenschluss die Meile runter. Sonnenuntergang, Eis essen, Skateboards, Feierabendschoppen, keiner nimmt Notiz von uns. Wir sehen halt total normal aus. Ich knack’ das Schloss, Salvatore stemmt die Tür auf, wir sind drin, lachen uns tot, die Leute flanieren. Wir hocken uns auf den Boden, spielen Karten in der Runde, jeder kann uns durch das Glas sehen. Es ist eine alberne Situation. Irgendwann wird es langweilig. Und plötzlich rücken dann doch die Bullen an. Jemand zieht mir eins über die Rübe, im Fallen seh’ ich meine lieben Freunde verduften, irgendwie haben sie noch die Scheibe nachträglich eingeworfen. Ende vom Lied: ich wach auf dem Revier auf. Blablabla. Bin nicht nur wiederholt vorbestraft, habe eine verdammte Rechnung für Tür und Schloss und Glasscheibe am Hals. Diese Stadt ist unwirtlich. Meine lieben Freunde lachen sich halb tot, wenn sie mich sehen. Wolle hat mich mit seiner Stiefelklinge bedroht und mir ein Geständnis bei den Bullen so richtig schmackhaft gemacht. Noch kann ich kellnern, aber das Fälligkeitsdatum rückt näher. Mit jedem Tag wird der Kaffee dünner. Ich beneide sämtliche Penner der Stadt, über die ich früher gelästert habe. Ich sitze auf der Bank und schaue blöd aus der Wäsche. Aber die Wohnung von alleine aufzugeben, den Hausrat aus billigem Pressholz zu verticken und mich unter die fröhlichen Zecher auf der anderen Seite zu mischen, das vermag ich nicht. Lieber dumm rum sitzen und alleine dumm aus der Wäsche schauen. Morgen soll es soweit sein. Verdammtes Geld! Natürlich habe ich daran gedacht, mich mit einer Karnevalskostümierung, z.B. Modell preiswerter Gummielch aus dem Citypoint, in Wolles Bude zu schleichen und seine Playstation mitzunehmen. Aber auch das wurde erfolgreich von meiner Besonnenheit, die ich in nüchternem Zustand mein eigen nenne, zu Nichte gemacht. Ich konnte mich überhaupt nicht über die letzten glorreichen Siege der Huskies mehr freuen. Dabei waren sie sportlich so beeindruckend, wie ich es mir als Junge in der Südkurve nur habe träumen lassen. Ich stand in der Meile, die alte Klampfe in der Hand und sang ein paar Nummern. Lächerlich. Die paar Piepen, die, wenn überhaupt nur von schätzungsweise 15-jährigen blonden Mädchen mit Cordanzug, in meinen Koffer gelegt wurden, reichten aus, um sich beim Rewe ’n Paket Ja-Frikadellen zu holen. Die standen mir inzwischen bis oben. Alles lief in diesem Augenblick darauf hinaus, dass ich die letzte Nacht in meiner Bude schlaflos auf einem gepackten, zerschlissenen Koffer verbringen würde. Ich überlegte, mich schon einmal den Pennern freundlich vorzustellen. Vielleicht mit einem kleinem Körbchen Brot und Salz auf gute Nachbarschaft. Da tauchten wie aus dem Nichts schon wieder Bullen auf. Dieselben wie an dem verhängnisvollen Tag. Sie grinsten mich aus teigigen Gesichtern an. „Na? Haben wir denn auch eine Schaustellgenehmigung?“ Natürlich hatte ich keine. Da ich wirklich nicht viel zu verlieren hatte, warf ich dem dickeren von den beiden kurz entschlossen die alte Klampfe vor dem Latz und rannte mit dem Kopf voran in den anderen Beamten rein. Ich rief: „Materazzi, deine Schwester ist für’n Arsch!“ Die Bullen kugelten sich übereinander. Überraschenderweise applaudierten einige Passanten. Ich musste lachen. Das gab irgendwie Auftrieb. Beflügelt rannte ich die Meile runter in der Spur der Straßenbahn, direkt vor ihr her. Sie bimmelte ununterbrochen, aber überholen konnte sie ja nicht. Ich lachte aus vollem Halse. Wie in Zeitlupe sah ich Leute winken, Schoßhündchen an den Leinen ziehen, eine Reihe Kids mit den Finger auf mich zeigen. Ein entfesselter Moment. Ich schaute nach oben, bemerkte zum ersten Mal Leben in den oberen Geschossen der Ladenzeilen. Keine zugezogenen Vorhänge, stattderer Lichter, Silhouetten, Geschäftigkeit. Ein Seil wurde mir von einem Balkon über dem Pimkie zugeworfen. Es leuchtete rosa. Ohne zu zögern, sprang ich an einen der vielen Seilknoten, um genau über den Köpfen einer schaulustigen Gemeinde zu pendeln und langsam nach oben gehievt zu werden. Ich verschwand durch ein Fenster in der Fassade. Ein Raunen ging durch die Menge. DaCapo-Rufe wechselten sich mit „Sei vorsichtig!“ und „Zeig’ dich, Herkules!“ Es war der reine Balsam. Ich trat auf den Balkon und warf Kusshände in die aufgeputschte Menge. „Macht’s gut!“ rief ich und ging wieder in die Wohnung. Die Leute zerstreuten sich. Die Polizisten fanden den Hauseingang nicht und suchten sich tot bzw. sie gerieten in einen Shoppingrausch, verführt von der glitzernden Ladenzone. Die Wahrheit: natürlich gibt es keine Hauseingänge zu den oberen Geschossen. Die Parallelgesellschaft, die ich in den nächsten Monaten kennenlernen sollte, hatte sie sämtlich an einflussreiche Ketten vermietet. Ich durfte bei ihnen hausen so lange ich wollte. Dort oben kannten sich alle. Es waren nicht viele von ihnen, die meisten sprachen ein altertümliches Hessisch. Alle Wohnungen waren direkt miteinander verbunden, es gab keine durchgehenden Trennwände. So offen sie zu einander waren, so abgeschottet lebten sie von dem Ladengeschoss. Als ich sie darauf ansprach und scherzhaft bemerkte, ich hätte den Eindruck, mich in dem einzigen Kibbuz von hunderten Kilometern Palästinenserland umzingelt zu befinden, verstanden sie nicht und blickten mich fragend an. Sie trieben irgendeinen merkwürdigen Informationshandel mit anderen städtischen Obergeschossen und ergötzten sich jeden Abend beim Halmaspiel. Von einem gewieften Falschspieler unter ihnen lernte ich so manchen Trick. Eines morgens, erleuchtet, verließ ich meine Gastgeber. Mit einer selbstgefertigten Strickleiter von meinem Haar kletterte ich aus einer Dachluke und an einer hinteren Fassade herunter und tauchte zurück, woher ich einst gekommen. Die Stadt schien sich überhaupt nicht verändert zu haben, ein bisschen grauer die Häuser, ein bisschen älter wirkend die Kinder in ihren jungen Jahren, dieselben Ketten wie vorher in der Ladenmeile, ich wollte um jeden Preis meine alte Bude sehen. Noch immer wurde in der Straßenbahn kaum kontrolliert, sodass es kein Problem für mich war, zu dem inzwischen verwaisten Haus zu gelangen. Es regnete. Ich hatte wenig auf dem Leib, ließ das ehemalige Heim jedoch links liegen, weil ich mit einem Mal doch keine Lust hatte und schlenderte, inzwischen bis auf die Haut durchnässt zu Stella rein, überlegte es mir aber anders, als ich am Tresen einige Typen hocken sah, die meinen lieben guten Freunden Wolle und Ralf entfernt ähnlich sahen. Nur ein wenig klapprig mit hängenden Gesichtern, aber ansonsten ganz die alten. „Schweinepriester!“ zischte ich wässrig hervor, der ganze Verrat wirbelte in meinem Kopf. Ich machte auf dem Absatz kehrt und griff an. Keiner hielt mich auf, die Anwesenden stierten in schales Bier, ich nicht faul, zog meinen beiden lieben Freunden mit zwei raschen Bewegungen die Hocker weg. Als sie mit dem Kinn voran, behäbig auf die prall gefüllten Aschenbecher krachten, war ich schon wieder zur Tür heraus und saß, Bruchteile später in der Straßenbahn zum Hauptbahnhof, eine tropfende Wasserlache unter meinem Sitz. Ich verließ diese Stadt für immer.

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Tag der Veröffentlichung: 29.03.2009

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