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Gefahr der Trolle

 

 

 

 

Emily die Traumwandlerin

 

Kapitel 1-5

 

von © Jonathan Dilas, 2013

 

 

 

Kapitel 1

 

Gefahr der Trolle

 

 

 

Er stand am Fenster und blickte auf die Straße. Sein Hut war tief ins Gesicht gezogen.

"Weißt Du", begann er seinen Satz, "ich sehe in diesem Moment 9 Autos und 7 Häuser, aber

keinen einzigen, verdammten, scheiß Troll!"

Emilys Augen fixierten schon lange keinen Punkt mehr. Sie suchte nach einem Ausweg, jetzt, nachdem ihre Finte mit den Trollen nicht funktioniert hatte.

Was wollte dieser Mann nur von ihr? Und wie war er überhaupt in ihr Haus gekommen, ohne bemerkt zu werden?

Der Mann wandte sich vom Fenster ab und schaute direkt in Emilys Augen.

"Ich bin Eric. Du musst mir helfen!"

Emily war völlig perplex, denn sie hatte die Situation ganz anders eingeschätzt. Sie dachte, der Mann war gekommen, um sie zu entführen oder um ihr weh zu tun, aber nun bat er sie um Hilfe?

"Sie... äh, du siehst nicht so aus, als bräuchtest du Hilfe...", sprach Emily laut ihren Gedanken aus.

"Die Königin hat meine Tochter entführt. Nur du kannst mir helfen, sie zu befreien."

"Wie sollte ich das anstellen? Ich habe keine Waffen im Haus und meinen Panzer haben sie mir weggenommen!", scherzte sie.

Eric setzte sich auf die Fensterbank und nahm seinen Hut ab. Nun konnte sie ihn ein wenig besser erkennen. Er hatte dunkles Haar, hellblaue Augen und einen Dreitagebart. Eigentlich sah er aus wie einer dieser Abenteurer, die man in Kinofilmen bewundern konnte.

"...und überhaupt: Was für eine Königin? Aus England?"

"Nein", antwortete er, "diese Königin existiert nicht in eurer Welt, sondern in der Welt, aus der ich komme. Die Königin hat meine Tochter entführt und hat sie an einen Ort gebracht, den nur sie kennt!"

Emily rümpfte ihre Nase. Was konnte sie gegen eine andere Welt anrichten und dazu noch gegen eine Königin, die diese Welt offensichtlich regierte?

"Was kann ich schon tun?", sagte sie und schaute Eric argwöhnisch an.

"Ganz einfach! Du bist eine Traumwandlerin. Du wirst..."

"Moment mal! Eine Traumwandlerin? Was soll das sein?", unterbrach sie ihn.

"Das ist ein Wesen, das in der Lage ist, in die Träume anderer Menschen einzudringen. Du wirst also deine Fähigkeit benutzen, um in die Träume der Königin einzudringen. Dann spionierst du den Ort aus, an dem sie meine Tochter gefangen hält und teilst es mir mit. Als Belohnung erhältst du dann 100 Goldmünzen. Die sind in eurer Welt bestimmt viel wert."

"Ich und eine Traumwandlerin? Das kann nicht sein. Ich kann mich doch noch nicht einmal vernünftig an meine Träume erinnern und dann soll ich in der Lage sein, in die Köpfe anderer Leute einzudringen? Nein, nein, das ist mir zu blöd!"

Nun schaute der Mann traurig zu Boden: "Du warst meine letzte Rettung, meine Tochter zu befreien."

Für einen Moment spürte Emily Mitleid, als er so traurig zu Boden schaute. Sprach denn Eric die Wahrheit? War er auf der Suche nach seiner entführten Tochter? Konnte sie wirklich in die Träume anderer Menschen oder Königinnen eindringen, nur wusste sie nichts von ihrer Fähigkeit?

"Woher weißt du denn, dass ich das kann, also in die Träume anderer Leute eindringen?"

"Ich habe unser Orakel befragt. Es hat mir den Weg zu dir gezeigt. Woher sollte ich sonst von dir wissen?"

"Was hat dieses Orakelteil denn gesagt?", wollte Emily wissen.

"Es sagte: Suche nach Emily. Die Trolle haben ihr einst das Gedächtnis gestohlen. Sie hat die besondere Fähigkeit des Traumwandelns."

Gespannt lauschte Emily Erics Worten. Irgendwie kam sie sich ein wenig auf den Arm genommen vor. Seine Worte waren so lieblos daher gesagt, als er von dem Orakel sprach.

"Bring mich zu diesem Orakel! Das will ich mir selbst anhören!"

"Es tut mir leid, das Orakel existiert nicht mehr. Die Königin hat es vernichtet...", sagte Eric.

"Na toll!"

“Du glaubst mir nicht...”

“Tut mir leid, dass mir das nicht jeden Tag passiert, dass ein Fremder in mein Zimmer spaziert und mir von einer anderen Welt und von seltsamen Fähigkeiten erzählt!”, sagte Emily bestimmt. Nach kurzem Überlegen fügte sie hinzu: “Und das Orakel hat wirklich gesagt, dass die Trolle mir das Gedächtnis gestohlen haben? Ich meine, ich stelle mir oft Trolle vor. In meinen Vorstellungen sehen sie immer anders aus, aber ich weiß irgendwie immer, dass es Trolle sind. Aber du sagst nun, dass es sie wirklich gibt. Wie kann ich mir sicher sein, dass du mich nicht auf den Arm nehmen willst?”

Eric wurde allmählich ungeduldig und versuchte mit aller Kraft, es Emily nicht zu zeigen. Wenn er doch bloß gewusst hätte, dass dieses Mädchen klug und vorsichtig ist, dann hätte er sich besser vorbereitet.

“Wie kann ich wohl ihr Vertrauen erlangen?”, überlegte sich Eric. Doch da er wusste, dass wenig Zeit blieb, fuhr er einfach mit dem Gespräch fort: “Dass dich die Trolle in deinen Gedanken verfolgen, war voraussehbar, denn solch ein Gedächtnisverlust hat meistens irgendwelche Nebenwirkungen. Sind sie dir denn schon oft gedanklich begegnet?”

“Ähm... ja, schon eigentlich, aber immer nur wenn ich allein war. Ich sah sie in Bäumen sitzen oder die Wolken nahmen ihre Formen an und...” während sie sich richtig warm redete wurde sie von Eric unterbrochen:

“Emily, wir können auf dem Weg reden. Wenn wir noch länger warten, dann kommen die Trolle und werden auf deine Eltern und uns losgehen! Und jetzt schnapp dir einen Pullover und komm mit! Wir haben weniger Zeit, als du denkst. Ich verspreche, dir wird nichts passieren!”

Eric hoffte inständig, dass Emily zustimmen und mitkommen würde. Tatsächlich hatte er Emily überzeugen können, denn sie war schon auf dem Weg zu ihrem Kleiderschrank.

Eric setzte seinen Hut wieder auf und zog ihn tief in die Stirn. Anschließend öffnete er das Fenster hinter sich und gab Emily ein Zeichen, dass sie zu ihm kommen soll. Plötzlich verstand sie, was er vor hatte und wurde nervös.

“Können wir nicht lieber die Tür nehmen?”, fragte sie fast ein wenig ängstlich.

“Bist du verrückt? Das wäre zu gefährlich.”

“Gefährlich? Wenn ich aus dem zweiten Stock springe, ist es nicht gefährlich?”

“Wir springen nicht, wir nehmen das Seil, mit dem ich zu dir nach oben geklettert bin. Vor der Tür lauern wohl möglich die verdammten Trolle, also müssen wir schnell sein. Und jetzt los und stell keine Fragen mehr!”

Emily kletterte auf Erics Befehl hin nach unten und wartete auf ihn, der den Abstieg jedoch dreimal so flink schaffte. Dann nahm er ihre Hand und rannte los.

Emily hatte das Gefühl, schon eine Ewigkeit gerannt zu sein, als Eric inmitten eines dunklen Waldes plötzlich ihre Hand losließ und stehen blieb. Hilflos griff Emily wieder nach seiner Hand und traute sich endlich die Frage zu stellen, die ihr seit Verlassen des Hauses durch den Kopf hämmerte: “Was hast du jetzt vor?”. Und bevor er etwas antworten konnte flüsterte sie ängstlich: “Ich habe Angst...”.

 

*

 

Im Wald war es mittlerweile sehr dunkel geworden. Nur noch der Vollmond ließ ein wenig Licht durch die Bäume dringen. Eric hatte sie zu einer Lichtung geführt und war einfach stehen geblieben. Was hatte er jetzt vor?

Unkontrolliert fing Emily plötzlich zu zittern an. Langsam wurde ihr bewusst, dass sie sich gerade aus dem Haus ihrer Eltern geschlichen hatte und einem völlig unbekannten Mann gefolgt war. Vielleicht hatte er ganz andere Dinge mit ihr vor als das, was er ihr offenbart hatte. Gab es eventuell gar keine Tochter oder steckte er mit den Trollen unter einer Decke und sie hatten diesen Mann engagiert, um sie endlich in die Falle zu locken. Es könnte doch sein, dass die Trolle einen Weg gefunden hatten, sich zu verwandeln. Emily hatte einmal in einem Buch gelesen, dass Trolle sich miteinander verschmelzen und dann eine Gestalt formen können. Diese Gestalt war dann durchaus mit einem Menschen zu verwechseln.

Jetzt, wo sie Eric in der Dunkelheit misstrauisch beobachtete, fiel ihr im Gegenlicht auf, dass seine Augen nicht mehr blau waren. Sie waren nun dunkelbraun und diese Feststellung ließ sie innerlich noch mehr zittern.

"Vielleicht...", stammelte sie, "sollte ich doch wieder nach Hause gehen."

"Hab keine Angst, Emily. Dir wird nichts geschehen. Du kannst jetzt auch nicht mehr zurück."

"Warum?", fragte sie.

"Weil die Trolle aufmerksam geworden sind und dich suchen werden. Wenn du zu Hause bleibst, bringst du deine Familie in Gefahr. Sie würden das Haus stürmen und deine Familie vernichten."

"Und was, bitte schön, sollte sie davon abbringen, das jetzt nicht mehr zu tun?", fragte sie entrüstet.

"Ganz einfach: Die Trolle spüren deine Anwesenheit in der Welt, in der du dich grad aufhältst. Wenn wir jetzt diese Welt verlassen und in meine gehen, werden sie dich hier nicht mehr spüren können und uns dorthin folgen“, erklärte Eric.

"Ich hasse mich jetzt schon für das, was ich hier tue!"

„Sodann lass uns von hier verschwinden!“, meinte Eric und wandte sich Eric der Lichtung zu und breitete seine Arme zum Himmel aus.

"Ka tandra, e perico ka mandra. Tor!"

Das letzte Wort rief er laut hinaus und in dem Augenblick entstand ein Loch mitten in der Luft, keine zwei Meter von ihnen entfernt. Emily sprang erschrocken einige Meter zurück und konnte nicht glauben, was sie hier sah!

Dieses Tor leuchtete in einem hellen Weiß und strahlte über die ganze Lichtung. Für einen kurzen Augenblick hätte man glauben können, hier wäre ein UFO gelandet und es wurde gerade die Landeklappe ausgefahren. Doch langsam dämmerte ihr Erics Vorhaben.

"Nein... nein...", begann Emily zögerlich ihren Satz, "das kannst du dir abschminken! Ich... ich geh da nicht rein!"

"Emily, wir müssen! Denk an deine Eltern! Auch wenn es nicht wichtig ist, was aus ihnen wird, denn sie sind nicht deine wahren Eltern", offenbarte Eric, wobei er den letzten Satz eher vor sich hin gemurmelt hatte und Emily ihn somit kaum hätte verstehen können.

Dann ergriff er Emilys Hand und rannte mir ihr los!

Es war ein schreckliches Gefühl, das nun über Emily kam. Für einen Moment glaubte sie, von diesem Licht verbrannt zu werden und in diesem tausend Tode sterben zu müssen. Alles in ihr kam für einen Augenblick zum Stehen. Sie war wie eingefroren. Ihr Körper, ihre Gedanken, ihr Geist, einfach alles gefror für einen winzigen Augenblick, als wollte eine magische Kraft sie in einen Kristall verzaubern, doch im nächsten Moment fühlte sie sich schon wieder normal und stand unvermittelt auf einer riesigen Blumenwiese.

"Wir sind da!", meinte Eric trocken und ging einfach los.

"Moment mal! Du magst das hier vielleicht jeden Tag zwanzig Mal machen, aber für mich ist es das erste Mal! Lass mich doch erst einmal hier ankommen! Wo sind wir hier überhaupt und wo willst du mit mir hin?"

Nun sprudelten die Fragen nur noch so aus Emily heraus. Sie musste sich ihrer eigenen Angst stellen und jetzt, wo sie es geschafft hatte, sich selbst zu überwinden, fühlte sie sich für einen Augenblick stärker. Sie spürte förmlich, wie das Adrenalin ihren Körper flutete.

"Los, sag schon! Los!"

Eric blieb stehen, als wäre diese Aufforderung für ihn wie zu einem Befehl geworden.

"Wir werden zum verbotenen Ort der Undinen gehen."

"Was?", fragte Emily verstört.

Sie blickte sich um. Wald, Wiese, Hügel, alles sah so aus wie in ihrer Welt. Hätte sie nicht dieses leuchtende Tor gesehen und wäre sie nicht hindurchgegangen, wäre ihr vermutlich gar nicht aufgefallen, dass sie sich nun in einer anderen Welt befand.

"Es gibt hier einen Ort, an dem die adligen Naturgeister leben. Sie wollen nichts mit Menschen zu tun haben. Die Menschen haben sie enttäuscht."

"Was haben wir denn getan?"

"Was ihr getan habt?", rief er plötzlich laut aus. "Ihr habt früher mit uns in Harmonie zusammen gearbeitet. Wir haben Hand in Hand diesen wunderschönen Planeten aufgebaut und was ist nun? Ihr habt euch von uns abgewandt, zerstört die Natur und beutet sie aus. Ihr seid zu Raubtieren geworden! Kein Wunder, dass euch die Trolle jagen, wenn sie die Möglichkeit finden und ebenso ist es kein Wunder, dass die kraftvollen Sylphen und Undinen nichts mit euch zu tun haben wollen. Ganz zu schweigen von den weisen Baumgeistern, die ihr, anstelle von ihnen zu lernen, abholzt und vernichtet."

Emily standen plötzlich die Tränen im Gesicht. Vielleicht waren die Trolle gar nicht die Bösen in diesem Spiel, sondern die Menschen? Betrübt schaute sie zu Boden und dachte über Erics Worte nach.

"Ich bin aber nicht verantwortlich für die Industriebosse, die diese Welt ausbeuten und für die korrupten Politiker, die ihnen hörig sind oder für die Wissenschaftler, die von ihnen bestochen werden."

"Ich weiß, ihr habt den freien Willen. Und weil ihr ihn habt, war es überhaupt irgendwie möglich, dass ihr euch abgekehrt habt."

"Wann war denn das? Wann hat das alles angefangen?", wollte Emily nun wissen.

"Eure großen Autoren und Dichter aus dem 19. Jahrhundert standen teilweise noch gedanklich mit den Naturgeistern in Kontakt, aber das waren schon die letzten. Christian Andersen und E.T.A. Hoffmann waren zum Beispiel jene, die noch eine mentale Verbindung besaßen, aber auch sie sind nach einiger Zeit stumpf geworden. Mit den Jahrzehnten habt ihr euch immer mehr abgewandt. Jetzt ist es so, dass ihr nur noch in einem Märchen von uns hört und das ist alles. Glauben wollt ihr nicht mehr an uns. Euer Verstand hat die Macht in eurer Welt übernommen und dieser belügt euch unaufhörlich, dass wir nur Märchen sind."

"Und was ist passiert?"

"Nichts ist passiert! Ihr Menschen habt nun eine verschissene Amnesie! Ihr seid ahnungslose Tölpel, die wie Zombies durch die Gegend laufen und nichts mehr mitbekommen. Gäbe es nicht einige unter euch, die noch aktiven Kontakt zu uns haben, dann hätten sie euch schon längst allesamt getötet."

"Wie kann ein Naturgeist, den wir nicht wahrnehmen können, uns töten?", wollte Emily wissen.

"Das ist ganz einfach. Jeder Mensch hat einen Naturgeist aus der Welt der Naturgeister in sich. Er begleitet euch von Leben zu Leben, formt euren Körper und plant eure Matrix. Er könnte euch mit einem Fingerschnippen vernichten. Wenn irgendwann einmal die Naturgeister entscheiden sollten, nicht mehr mit euch zusammen zu arbeiten, dann seid ihr am Arsch!"

Mittlerweile waren Emily und Eric schon ein ganzes Stück gelaufen. Tränen liefen über ihr Gesicht. Die Ereignisse der letzten Stunden waren zu viel für sie gewesen. Erics Worte hatten sie hart getroffen. So schien ihr diese Welt doch stets gut gewesen zu sein mit Menschen, denen sie vertrauen konnte. Doch nun erkannte sie die andere Seite der Medaille. Ihre Alltagswelt hatte auch eine unangenehme Seite voller Habgier, Egoismus und Ignoranz.

In der nächsten Stunde wechselten die beiden kein Wort mehr. Emily wollte keine weiteren Vorwürfe mehr hören und Eric spürte, dass er ihr in den letzten Stunden zu viel zugemutet hatte.

Irgendwann unterbrach Eric die Stille: "Wir sind da."

In einigen hundert Metern Entfernung nahm Emily eine alte Hütte wahr. Niemand hätte gedacht, dass dies der verbotene Ort der Undinen sein könnte.

"Das soll der verbotene Ort sein? Das ist doch nur eine alte Hütte!"

Eric schüttelte den Kopf und antwortete gar nicht auf ihre Frage.

Als sie vor der Hütte standen, öffnete Eric die Tür und Emily glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Dahinter befand sich eine gigantische Höhle! Irritiert schaute sie noch einmal auf die Hütte, die sicherlich nicht größer als 60 m³ war, doch hinter der Tür befand sich eine riesige Höhle mit einem See!

Geschockt lief Emily einmal um das ganze Haus. Sie konnte es einfach nicht glauben, was sie dort sah! Eric schaute laut lachend dabei zu und rief ihr hinterher:

"Ich weiß gar nicht, wo ich bei dir beginnen soll", meinte Eric. "Es gibt so Vieles, das man dir beibringen könnte, aber dafür würde dein kleines Leben nicht ausreichen."

Ehrfürchtig betrat Emily die Höhle. Sie war in ein tiefblaues Licht getaucht und an vereinzelten Stellen vernahm sie tropfendes Wasser, das von der Decke auf den See fiel. Das Geräusch des tropfenden Wasser wirkte wie ein hypnotischer Singsang in ihren Ohren, der ihre Gedanken beruhigte. Noch immer konnte sie nicht fassen, wieso die Hütte um ein Vielfaches kleiner war als das innere. Wie konnte es nur möglich sein, dass eine gigantische Höhle und ein See in diese unscheinbare, kleine Hütte passten? Eric spürte Emilys Gedanken, aber er ging nicht mehr auf sie ein. Die Undinen aufzusuchen und sie nach dem weiteren Vorgehen zu befragen, erschien ihm nun wichtiger.

"Dort in dem See leben die Undinen. Es sind feenartige, weibliche Wesen, die im Wasser umher schwimmen. Wenn sie dich akzeptieren, dann kommen sie so eben an die Oberfläche und lauschen deinen Worten. Wenn wir keine von ihnen anlocken können, dann haben wir keinen Anhaltspunkt, wo wir beginnen können", erklärte Eric.

"Was sollen wir sie denn fragen? Ich dachte, ich soll in die Träume der Königin eindringen und dort den Ort ausfindig machen, wo sie deine Tochter gefangen hält."

"Das ist richtig, Emily, aber wir müssen zuerst von den Undinen erfahren, von welchem Ort aus dieser Einsatz am besten funktionieren wird. In unserer Welt muss man alles Wichtige von einem Ort aus machen, der eine besondere Magie besitzt und einem die notwendige Kraft verleiht. Wenn wir den falschen Ort auswählen, könnten die Trolle kommen und dich hindern oder verletzen. Es könnte sein, dass die Königin Verdacht schöpft und Wesen losschickt, um deinen Körper zu stehlen, während du nicht in ihm bist."

"Brrr...", meinte Emily, "das wäre wirklich blöd!"

Eric nickte ernst und blickte nun in den See. Er schien sehr tief zu sein. Sein kaltes, blaues Wasser war sehr still. Nur manchmal fiel wieder ein Tropfen von der Decke auf seinem langen Weg ins Wasser.

Nichts geschah. Keine der wunderschönen Wasserfrauen zeigte sich.

"Hab ich was falsch gemacht?", fragte Emily leise.

"Ja, du bist ein Mensch. Das reicht für gewöhnlich schon aus!", lästerte er.

“Ich könnte vor der Hütte auf dich warten”, überlegte Emily. “Du bist ihnen doch vertraut, nicht wahr?”

“Ach Emily, für wie dumm hältst du die Undinen denn? Nur, weil sie andere Wesen als ihr Menschen seid, heißt das nicht, dass sie dich nicht hören können. Im Gegenteil, sie können sogar deine Anwesenheit spüren”, erklärte Eric, der immer unsicherer wurde, da sein Plan ständig irgendwelchen Verzögerungen unterlag.

Während Emily in Gedanken versunken nach einer Lösung für das Problem suchte, da sie ihm beweisen wollte, dass sie nicht dumm sondern nur unwissend ist, befand sich Eric wieder auf dem Weg zum Ausgang der Höhle. Dabei dachte er ebenfalls angestrengt nach und murmelte: “Und ich habe wirklich geglaubt, dass die Undinen aufgrund unseres Vorhabens zu uns halten würden...”

Emily wollte Eric gerade bedrückt nach draußen folgen, als sie hinter sich Stimmen vernahm. Sie waren ganz hoch, hell und sehr leise.

“Wirst du jetzt komplett bescheuert??”, fragte sie sich selbst und lief weiter, doch schon erblickte sie Eric wieder neben sich. Wie war er wohl so schnell wieder in die Höhle gekommen, ohne dass sie es bemerkt hatte?

“Sie haben wohl nur Zeit gebraucht”, flüsterte er. Seine kurz aufkeimende Ungeduld schien ihm ein wenig peinlich zu sein.

Als sie sich umdrehte fügte er hinzu: “Du musst jetzt ganz leise und vorsichtig sein. Wenn wir sie verscheuchen, ist nicht mehr mit ihrer Hilfe zu rechnen! Lass mich einfach nur reden”.

Sie nickte, denn sie hatte nicht vor gehabt, etwas zu sagen. Wie in Trance blickte sie nun auf den See. Das Wasser schien nun noch blauer zu sein und die ganze Höhle glänzte wie verzaubert in diesem wunderschönen Licht, dessen Quelle sie nicht bestimmen konnte.

Langsam schritt sie wieder bis zum Rand des Sees und blickte auf die ruhige Oberfläche. Plötzlich sah Emily, wem diese verführerischen Stimmen gehörten: Wundervolle Wesen schwammen durch das magische Gewässer. Ihre Haut war blass und ihr Haar bewegte sich, als würde das Wasser lebendig werden und mit ihm spielen. Emily war sich sicher, dass sie so etwas Schönes noch niemals zuvor gesehen hatte.

Eine Stimme hob sich auf einmal hervor: “Seid gegrüßt, Fremde! Was wünscht ihr? Teilt es uns mit.”

Und eine zweite schloss sich an: “Aus welchem Anlass dringst du bei uns ein... Ein Menschenkind an diesen Ort?”

Eric erklärte ihnen in ähnlicher Weise, wie er auch Emily von seinem Vorhaben berichtet hatte und machte ihnen dabei bewusst, dass die beiden ohne die Hilfe der Undinen keine Chance hätten, den magischen Ort zu finden. Doch nachdem Eric endete, kam keine Antwort an ihn zurück. Stille füllte nun die gesamte Höhle aus und sie wirkte nicht mehr freundlich und einladend, sondern eher unheimlich.

Die Stimmen der Undinen wirkten dermaßen hell, dass sie für einen Moment daran dachte, sich die Ohren zuzuhalten.

Eric schienen die Stimmen nicht auffällig zu bedrängen, aber vielleicht konnte er damit anders umgehen.

"Diese Stimmen... sie dröhnen unerträglich in meinen Ohren und in meinem Kopf! Eric, hilf mir!"

"Warte noch... warte nur noch wenige Sekunden... Sie erzählen uns gleich von dem Ort."

Emily befürchtete schon das Schlimmste, als plötzlich einige Sekunden später eine der Undinen aus dem Wasser auftauchte. Ihr nackter Oberkörper streckte sich Emily entgegen:

„Ich sehe deine Absicht! Du willst den Weg zum magischen Ort wissen, an dem man in die Träume Fremder eindringen kann.“

„Ja, das will ich!“, entgegnete Emily und wagte es kaum, sich zu bewegen.

„Ich werde dir den Weg verraten! Geht in Richtung Norden. Dort werdet ihr in eine Schlucht kommen. An diesem Ort gibt es einen Tempel der Alten. Wenn ihr dort angekommen seid, werdet ihr die Zeichen deuten müssen, um den magischen Ort zu finden. Es gibt an diesem magischen Ort einen Steinkreis. Wer sich dort ins Zentrum stellt, hat die Kraft, in den Traum eines Jeden einzudringen. Auch bei denen, die durch Magie davor geschützt sind.“

Kaum hatte die bezaubernde Undine ihre Worte gesprochen, tauchte sie wieder unter die Oberfläche.

“Du hast es tatsächlich geschafft...!”, triumphierte Eric.

Fassungslos wandte sich Eric an Emily, die nicht verstehen konnte, welche Bedeutung dieser Moment mit sich brachte: “Sie vertrauen dir, weißt du was das bedeutet?”

„Nein.“

„An diesem magischen Ort können wir den Schutz der Hexe umgehen, die die Königin davor bewahrt, dass man in ihre Träume eindringt. Und die Undinen haben dir den Weg zu diesem Ort verraten!“, entglitt es Eric, der voller Begeisterung war.

„Welche Hexe?“, hakte Emily sofort nach.

„Das ist jetzt unwichtig. Ich werde dir später davon erzählen. Wir müssen weiter!“

 

Eric fing gerade an, Emily zu erklären, dass sie nun den richtigen Pfad nach Norden finden mussten und dass sie keine Angst zu haben braucht, als die beiden ein Geräusch von hinten vernahmen. Das Mädchen warf einen Blick auf zurück und rief irritiert aus: “Was war das?”, woraufhin Eric ihre Hand nahm und direkt mit ihr losrannte.

Emily konnte für wenige Momente ihren Augen nicht trauen, da sie während des Rennens das Gefühl besaß, sie könne durch ihn hindurch sehen.

Endlich hielt er inmitten von Büschen neben einem hübschen kleinen Fluss an.

“Entschuldige, dass ich dich einfach mitgezerrt habe, aber wir werden verfolgt”, informierte er Emily. “Hier sind wir vorerst sicher.”

„Wer verfolgt uns denn?“

„Ich weiß es nicht“, entgegnete Eric.

„Sind es wieder die Wölfe?“

„Nein, es ist etwas, das sich zurückhält und uns beobachtet… Vielleicht ein Spion.“

Emily fühlte sich nun wirklich beobachtet. Doch ihre Ohren konnten nichts vernehmen. Dann schaute sie wieder Eric an. Sein Körper sah nun wieder normal aus, aber Emily war sich sicher, dass irgendetwas nicht mit ihm stimmte. Sie erinnerte sich an seine wechselnden Augenfarben und daran, dass er in der Höhle plötzlich neben ihr stand, obwohl er sie schon fast wieder verlassen hatte. Somit hatte er sich auf eine unglaubliche Weise sehr schnell bewegt.

Endlich traute sie sich ihre Frage zu stellen: “Was bist du?”

Eric schaute sie gar nicht an. Wie sie es gewohnt war, verbarg er seine Augen unter dem Schatten seiner Hutkrempe.

"Das willst du gar nicht wissen...", flüsterte er nahezu bedrohlich.

Emily hatte tatsächlich Angst, zu erfahren, wer oder was er tatsächlich war. Doch sie musste irgendwie prüfen können, ob sie ihm vertrauen konnte. Wenn sie an den Falschen geraten war, dann würde sie blindlings in die Falle tapsen und wahrscheinlich getötet oder von den Trollen aufgefressen werden. In diesem Fall müsste sie einen Fluchtplan schmieden, um Eric loszuwerden. Sollte sich jedoch herausstellen, dass sie Eric vertrauen konnte, dann würde sie nicht mehr so viel Angst besitzen und könnte ihre Aufgabe, Erics Tochter zu retten, sicherlich besser bewerkstelligen.

"Doch! Ich will es wissen!“, rief Emily. „Und wenn es das letzte ist, was ich in meinem Leben wissen will!"

Eric hielt für einen Moment inne und im nächsten Augenblick vollführte er eine dermaßen schnelle Bewegung, dass sie vor Schreck auf der Stelle stehen blieb.

Im Bruchteil einer Sekunde war es Eric gelungen, stehen zu bleiben, sich ihr zuzuwenden, einige Schritte nach vorn zu machen und ihr an den Hals zu fassen. Seine Hutkrempe lüftete den Schatten und sie konnte in seine funkelnden Augen blicken, wie sie von einer stahlblauen Farbe zu wunderschönem Bernstein wechselten und wieder zurück. Irgendwie schien Emily wahrzunehmen, dass sein ganzes Gesicht flüssiger wurde. Seine Gesichtszüge bewegten sich nahezu unkontrolliert. Mal wirkte die Nase länger, dann wieder klein und stupsig. Sein Mund wirkte einen Moment schmal und dann wieder voll.

Emily zitterte am ganzen Körper und war kreidebleich.

"Ich... hatte nie in meinem Leben eine solche Angst wie jetzt...", flüsterte sie zitternd, "aber ich will wissen, wer oder was du bist."

"Ich werde dich vielleicht töten müssen, wenn ich es dir zeige", antwortete er.

"Das ist mir gleich. Tu mit mir was du willst... aber ich will es aus tiefsten Herzen verstehen."

"Ich bin... ich bin nicht aus dieser und nicht aus deiner Welt."

"Woher kommst du dann? Bist du ein Engel?"

"Verschone mich mit Engeln!", rief er laut aus und ließ ihren Hals los. Emily fiel einfach zu Boden.

Ihr war überhaupt nicht aufgefallen, dass er sie mit seinem harten Griff gleich nahezu einen Meter vom Boden gehoben hatte.

"Töte mich doch! Ich bin dir jetzt eh ausgeliefert! Tu's doch! Aber ich will erst wissen, was du bist!"

Ihr ganzer Körper vibrierte, als stünde sie unter Strom. Die Höhle und die Feuchtigkeit des Sees hatten ihre Kleidung befeuchtet und sie fror am ganzen Körper.

Eric hatte sich für einen Moment abgewandt und ihr den Rücken zugedreht. In diesem Moment sprach er mit ihr weiter.

"Dein Mut zählt wie der Mut eines ganzen Heeres. In meinem Leben, das nun schon seit vielen Jahrhunderten andauert, habe ich noch kein Mädchen getroffen, das für ein solches Wissen zu sterben bereit war."

Dann drehte sich Eric wieder um und blickte erneut in ihr Gesicht: "Dann schau mir in die Augen! Siehe, was du wissen willst..."

Emily blickte tief in seine Augen. Sie sah, wie sie wieder funkelten und die Farben wechselten, bis alles Schwarz um sie her wurde.

Im nächsten Augenblick rasten unglaubliche Bilder an ihren Augen vorbei. Sie erblickte Eric in verschiedenen Situationen, die sie nur schwer beschreiben und verstehen konnte. In einer Szene erkannte sie, wie er ein Schwert in den Händen hielt und gegen ein Heer von dunklen Schatten kämpfte, die keine feste Konsistenz aufwiesen. Schon wechselte die Szene zur nächsten und sie sah ihn, wie er sich mit zwei Einhörnern unterhielt, die an einem Waldrand standen. Und im nächsten Moment erblickte sie ihn, wie er durch einen wahnsinnigen, silbernen Tunnel reiste, gefolgt von einem dunklen Wesen auf einem knöchernen Pferd. Das dunkle Wesen trug eine rasiermesserscharfe Sense in seinen Händen und schlug immer wieder nach Eric, der verzweifelt Abstand zu gewinnen dachte. Liebesszenen, Verwandlungen, die wahnwitzigsten Wesen und Tränen aus Blut waren die nächsten Eindrücke, die Emily nicht einordnen konnte. Dann wurde alles Schwarz um sie her und sie fiel in eine tiefe Ohnmacht.

Irgendwann erwachte sie wieder und als sie ihre Augen öffnete, blickte sie in ein knisterndes und wärmendes Lagerfeuer.

"Bist du nun zufrieden?", fragte Eric sie gleich zur Begrüßung. "Sei froh, dass du wieder zurückgekommen bist. Andere, die unbedingt wissen wollten, wer ich bin, sind nicht wieder aus dieser tiefen Ohnmacht aufgewacht. Vielleicht sind sie sogar noch heute ohnmächtig und indes jämmerlich verhungert... ich weiß es nicht... Und ich muss zugeben, es interessiert mich auch nicht!"

Emily setzte sich auf und rutschte ein Stückchen näher ans Feuer heran.

"Was habe ich da gesehen? Ist dir das alles begegnet?"

"Ja, das ist es."

"Und wie kann es sein, dass du mit Einhörnern redest und dich verwandeln kannst? Woher bist du?", hakte Emily nach.

"Ich komme aus einer anderen Welt. Ich kann mich nicht nur verwandeln, sondern ich beherrsche noch andere Fertigkeiten. Ich kann mich sehr schnell bewegen, wie du mitbekommen hast, und außerdem kann ich meine Atome und Moleküle so anordnen, dass ich jede beliebige Form annehmen kann. Wenn ich mich aber aufrege oder andere Gefühle beteiligt sind, entgleitet mir manchmal die Form."

"Bist du so was wie ein Formwandler?"

"So was in der Art. Für mich gibt es aber keine Bezeichnung", erklärte Eric.

"Aber es muss doch einen Begriff für dich geben!"

"Die allerersten Elfen, die auf eurem Planeten gelebt haben, die Tuatha Dé Danaan, nannten mich den Widerspenstigen."

"Das ist aber ein komischer Name. Was hat er zu bedeuten?"

"Vielleicht kennst du die Geschichten über Kobolde und Elfen, dass sie nur schwer Nachwuchs bekommen. So tauschen sie manchmal ein Menschenkind gegen einen Wechselbalg aus. Der Wechselbalg ist kein richtiges Kind und nur ein sehr schlechter Ersatz. Er lebt nicht lange und ist ziemlich dumm und triebgesteuert. In die Rolle eines solchen Wechselbalgs sollte ich einmal schlüpfen und als mich die Kobolde in das Kinderzimmer eines Menschenkindes schleppten und austauschen wollten, kam ich mit einer unbegreiflichen Magie in Kontakt, die mein Leben auf unheimliche Weise unzerstörbar machte. Von diesem Moment an gehörte ich weder zum Reich der Menschen noch zum Reich der Naturgeister. Also versteckte ich mich und lernte, meine Kräfte, die diese unbegreifliche Magie ausgelöst hatte, zu entdecken und zu kontrollieren."

Nachdem Eric seine Erklärung zu Ende geführt hatte, konnte sich Emily viele Dinge, die sie in seinen Augen gesehen hatte, schon besser erklären.

 

*

 

Der Wind zog über das Feld, verfing sich in Emilys Haaren und zog dann weiter in die Bäume.
"Erzähl mir mehr von diesen Kraftorten in dieser Welt", bat sie Eric.
"Du bist wirklich ein Mensch, an dem die Magie vorübergezogen bist. Was seid ihr Menschen nur für traurige Geschöpfe. Sie haben die Schöpferkraft der Götter und haben einfach keine Ahnung!"
Eric lachte laut und sein Haar wurde plötzlich blond, dann rot, bis es sich plötzlich wieder in seine gewohnte Haarfarbe zurückverwandelte.
"Ja, mach mich nur fertig! Lach ruhig über mich und die dummen Menschen! Ich weiß es halt nicht."
"Das stimmt. Doch bevor sich meine Moleküle gänzlich von mir verabschieden, erzähle ich dir lieber von den Kraftorten dieser und in eurer Welt."
Während Emily und Eric nebeneinander liefen, erblickte sie in der Ferne die ersten Sonnenstrahlen. Das Feuer der Nacht hatte sie schön gewärmt und irgendwie ihrem Körper die Möglichkeit geschenkt, sich nun besser auf den Tag vorbereitet zu fühlen. Sie ahnte Schlimmes, denn Eric hatte die Andeutung gemacht, dass sie bald in die Träume der Königin eindringen werde, um den Aufenthaltsort seiner Tochter auszuspionieren. Emily hatte überhaupt keine Ahnung, wie sie das schaffen sollte und in ihrer aufkommenden Verzweiflung zog sie ihre Beine an ihren Körper heran.
"Ein Kraftort", begann Eric zu erklären, "ist ein besonderer Ort, an dem sich Energielinien kreuzen. Jede Welt besitzt eine Art Mantel, der sie umhüllt. Dieser Mantel ist wie ein gigantisches Netz aus feinen Energien. Manche Kreuzungspunkte solcher Linien sind so stark, dass sie dich mit einem Mal in eine andere Welt teleportieren können, allein schon, wenn du auf sie trittst. Andere sind wiederum so schwach, dass man sie kaum bemerkt und man sich plötzlich müde fühlt. Wir suchen natürlich einen ganz bestimmten Kraftort, einen, der dir die Macht gibt, in die Träume der Königin einzudringen – so, wie es die Undinen uns erzählt haben. Die Elfen haben mir vor langer Zeit von diesem Ort erzählt. Sie wissen um die alten Geheimnisse, weil sie viel länger als Menschen leben, doch ich wusste nie, wo er sich befindet."
"Warum leben die Elfen länger als Menschen?"
"Sie wandeln zwischen den Welten und sind weder in der einen noch in der anderen Welt zu Hause. Sie leben in Wäldern oder auf großen Wiesen in Häusern, die ihr nicht sehen könnt. Trotzdem können sie eure Häuser sehen. Wenn ihr ein Haus baut, wo ein Haus von ihnen steht, dann müssen sie weichen, weil sie euch sehen können, während ihr das nicht tut."
"Das würde mich aber ganz schön nerven, wenn jemand sein Haus in meines hineinbaut! Können die denn keine Schilder aufstellen, damit wir Bescheid wissen?"
"Das ist mal wieder typisch für euch! Immer macht ihr andere für eure Taten verantwortlich. Ihr seid es doch, die sich so blind gemacht haben! Ihr würdet die Schilder doch niemals sehen!"
"Ja, ist schon gut! Ich bin ja schon still!", keifte Emily.

Einige Stunden später gelangten Emily und Eric an einen großen Hügel mit saftigen Wiesen und wunderschönen Blumen. Emily wunderte sich, weil sie diesen Hügel aus ihrer Welt kannte. Dort war er jedoch gar nicht so schön und sah ziemlich unattraktiv aus. Sie fragte Eric nach diesem auffälligen Unterschied.
"Dieser Hügel hier ist sozusagen eine Art Gerüst für den Hügel in eurer Welt. Er soll irgendwann man so aussehen, wie du ihn hier siehst. Die Elfen und Feen haben ihn so gestaltet."
"Er sieht wunderschön aus!"
"Richtig und hinter diesem Hügel befindet sich der Pfad, der zu dem Kraftort führt, von dem aus du in die Träume der Königin eindringen wirst, um den Aufenthaltsort meiner Tochter herauszufinden!"
"Sag das nicht so, Eric! Das verunsichert mich. Ich habe dann Angst, es zu vermasseln! Kannst du das verstehen?"
"Oh ja... und..."
Doch Eric konnte seinen Satz nicht zu Ende sprechen. Plötzlich jagten zwei seltsame Wesen aus dem naheliegenden Waldrand heraus und rannten in ihre Richtung.
Ihre geifernden Mäuler groß wie die hungriger Riesenwölfe liefen ihnen sabbernd und geifernd entgegen.

Während Emily bei dem Anblick der Bestien verzweifelt ihre Augen aufriss und gerade anfangen wollte zu schreien, packte Eric sie kräftig an der Schulter und schüttelte sie: „Wir müssen hier weg! Los, lauf!“

Sie wusste in diesem Moment sofort, dass er Recht hatte und die Beiden eilten den Hügel hinauf. Emily war sich sicher, dass die gierigen Monster hinter ihr sie umbringen würden, wenn sie nicht schnell genug war. Sie kamen immer näher. Der Gipfel des Hügels schien unerreichbar. Emily fühlte sich ihrem Ende noch nie zuvor so nahe. Sie wollte nicht sterben, nicht jetzt, da sie immer mehr spürte, wie sehr Eric ihre Hilfe doch brauchte und wie hoffnungslos verloren seine Tochter ohne sie ist. Endlich hatte sie mehr Bedeutung und ihre Taten erschienen ihr viel sinnvoller als die der Mädchen aus ihrer Klasse, die Partygirls, mit denen sie sich nie wirklich verstehen oder identifizieren konnte. Und jetzt wusste Emily, dass sie nicht alles ihrem Begleiter überlassen konnte. Blitzschnell nahm nun sie seine Hand. Entschlossen und zielstrebig, schloss sie ihre Augenlider und rannte so schnell sie nur konnte. Sie liefen über den Hügel und die Bestien liefen hechelnd hinter ihnen her.

„Ich werde dich nun an meine Geschwindigkeit anpassen, damit wir schneller als diese Monster sind!“, rief er und umfasste ihre Taille. Im selben Augenblick nahmen die beiden unglaublich an Geschwindigkeit zu. Eric zog Emily hinter sich her und sie konnten den Abstand zwischen ihnen und den wolfähnlichen Wesen vergrößern.

Nachdem sie sich in den Wald geschlagen hatten, liefen sie eine Weile durch einen Bach und konnten auf diese sie die Verfolger abschütteln. Sie waren nicht mehr in der Lage gewesen, ihre Spur zu verfolgen. In der Ferne hörten sie noch das Jaulen dieser unheimlichen Geschöpfe und zehn Minuten später verebbte ihr Geheul in der Ferne. Daraufhin hielt Eric an. Schnaufend warfen sie sich auf den Waldboden und gönnten sich eine Pause.

Eric war stolz auf Emily gewesen. Sie war tatsächlich imstande gewesen, sich zusammen zu nehmen, zur Tat zu schreiten und ihm zu vertrauen. Ohne ihre Entschlossenheit und Vertrauen hätten sie keine Chance gehabt, den Bestien zu entkommen; das war ihm sehr wohl bewusst.
“Du bist eine besondere, junge Frau! In der falschen Welt lebst du, du gehörst hierher.” Bei diesen Worten streifte Eric ihr sanft durch das Haar, das wie verzaubert in der Sonne schimmerte. Emily war ziemlich schnell erschöpft auf die Wiese gefallen, weshalb Eric ihr ein wenig Schlaf gönnen wollte.
Jetzt konnte er seinen Blick nicht von ihr wenden. Diese Augen, diese Haut, diese unschuldige Ausstrahlung. So lag sie dort und fiel in einen tiefen Schlaf. Wie friedlich sie doch anzuschauen war. Er ließ sie eine Weile schlafen und lauschte dem fernen Geheul der Wesen, in der Hoffnung, dass es niemals lauter werden würde.
Doch die Zeit drängte, das wusste Eric nur zu gut. Ein sanfter Kuss auf ihre zarte Wange. Dann berührte er sie liebevoll und bekam ein müdes Zwinkern zur Antwort.

„Warum bist du wirklich zu mir gekommen?“, fragte sie müde.

„Du bist die Einzige, deren Energie mit der meinen übereinstimmt. Nur gemeinsam können wir es schaffen, die Traumwelt der Königin zu betreten und ihr das Geheimnis zu entlocken. Sie verbirgt dieses Wissen tief in ihrem Inneren. Doch ich wählte dich auch, weil uns das Schicksal zusammengebunden hat. Es gibt weder für dich noch für mich ein Entkommen, von dem Zeitpunkt an, als wir uns das erste Mal begegneten.“

„Wie meinst du das?“

Eric holte tief Luft: „Unsere Seelen sind miteinander verbunden. Wenn einer von uns versuchen sollte, den anderen allein zu lassen, werden unsere Körper dies nicht zulassen. Sie würden sterben. Vielleicht in einer Stunde, in einer Woche, in einem Monat oder in einem Jahr. Das ist immer ungewiss.“

Emily glaubte Eric nicht wirklich, was er von sich gab. Sie hatte noch niemals von einer solchen magischen Begebenheit gehört. Doch Eric schien ihre Gedanken zu lesen.

„Ich werde dir nun die Wahrheit erzählen, auch wenn ich Gefahr laufe, dass du davon verrückt werden wirst“, begann Eric unheilvoll seine Stimme zu heben. „Vor einigen Jahren waren wir beide im Kampf gegen die Königin und ihre fürchterliche Hexe mit dem Namen Arnaka. Diese Hexe besitzt unglaubliche Kräfte und hat dir mithilfe der Trolle deine Erinnerungen gestohlen und dich gleichzeitig in die Welt der Menschen geschickt. Ebenso sind deine Eltern verhext, denn sie glauben, du seist ihre Tochter. Ich habe dich die ganze Zeit gesucht und es hat lange gedauert, bis ich dich in der Menschenwelt gefunden hatte.“

„Das ist doch wohl nicht dein Ernst?!“, rief Emily laut und mit einem Mal war sie putzmunter. „Ich erinnere mich doch an meine Kindheit, die Schulzeit, meine Freunde und überhaupt!“

„Das ist alles die Magie der Hexe. Sie hat dir diese Erinnerungen passend zu deinem neuen Umfeld eingeflößt.“

Mittlerweile hatte sich Emily aufgesetzt und schrie Eric förmlich an: „Du bist verrückt! Das ist der größte Unsinn, den ich jemals gehört habe!“

„Nein, meine Liebe, es ist die Wahrheit. Ich kann im Moment nichts gegen deine Amnesie tun oder deine wirklichen Erinnerungen deiner wahren Persönlichkeit in dein Bewusstsein holen, aber ich hoffe, dass, wenn wir die Hexe töten, du dich wieder erinnern wirst. Ihr magischer Bann hält solange, bis sie ihn zurücknimmt oder stirbt.“

Diesen Unsinn konnte Emily einfach nicht glauben, zumal ihr Eric von Anfang an unheimlich und zwielichtig schien. Nun war sie mehr denn je überzeugt, dass er verrückt war und ihm nicht vertrauen konnte. Vermutlich hatte er alles von Anfang an geplant, um sie zu töten oder für irgendwas zu benutzen.

„Ich weiß, was du nun denkst!“, meinte Eric. „Doch mein Wissen aus unserer gemeinsamen Zeit ist mir sehr bewusst. Ich möchte dir nicht alles anvertrauen, um dein jämmerliches Bewusstsein zu schonen, das dir die Hexe vernebelt hat, aber ich bin bereit, für möglichst all deine Fragen bereit zu stehen.“

„Ich glaube dir kein Wort! Du willst mich nur von meiner Familie wegholen, damit du mich für irgendwas benutzen kannst.“

„Keineswegs, denn ich bin gekommen, um dich wieder dorthin zu bringen, wo du hergekommen bist. In deine wahre Welt. Du gehörst nicht dorthin. Genauso wenig, wie ich dort hingehöre. Wir beiden sind die einzigen Wesen in dieser Welt, die nicht menschlich sind. Wir erscheinen menschlich, doch in Wirklichkeit sind wir es nicht.“

„Wenn du Recht haben solltest, wer bin ich dann gewesen? Wer bin ich wirklich?“, fragte Emily noch immer voller Zweifel.

„Du bist eine Elfe aus dem Land Zarnia gewesen. Wir lebten viele Jahrhunderte zusammen, bis wir eines Tages auf das schwarze Kind gestoßen sind. Das schwarze Kind war der Doppelgänger eines Menschenkindes, das seinen Schatten verloren hatte. Es bat uns um Hilfe. Dieses Kind wurde von der Königin entführt. Mit der Hilfe der Hexe Arnaka hatte sie es geschafft, den Schatten des Kindes zu stehlen und in ihr Reich zu befördern. Wir beschlossen in unserem Leichtsinn, dem Kind zu helfen und erklärten damit der Königin indirekt den Krieg.“

Emily konnte nicht ein Wort von dieser wahnwitzigen und verrückten Geschichte glauben. Wenn er doch nur gesagt hätte, dass er einfach nur ihre Hilfe bräuchte und diesen Unsinn von ihrer tatsächlichen Vergangenheit ausgelassen hätte, dann wäre es vielleicht möglich gewesen, ihm zu vertrauen, doch unter diesen Umständen war eine Grenze in ihr überschritten worden und sie konnte ihm nicht mehr glauben.

Eric betrachtete sie eine Weile skeptisch. Er erkannte, dass sie ihm nicht glaubte. Er hatte ihr einfach zu viel zugemutet. Für einen Moment bereute er, ihr dies erzählt zu haben, denn anfangs hatte sie ihm doch schon vertraut und war bereit, in die Träume der Königin einzudringen. Doch nun verhielt es sich so, dass sie glaubte, sie habe es mit einem Verrückten zu tun.

„Ich weiß, dass du mir all dies nicht glauben kannst. Die Wahrheit ist oft unglaublicher als eine Lüge. Aus diesem Grunde glaubt man den Lügen leichter. Lassen wir doch meine Behauptungen einfach im Raum stehen und dringe in die Träume der Königin ein. Sobald du es geschafft hast, wirst du in ihren Träumen die Erinnerungen anzapfen können, in denen ihr euch bereits begegnet seid.“

Langsam senkte sich Emilys Blick. Eric war definitiv verrückt. Vielleicht hatte sie sich alles nur eingebildet. Seine Verwandlungen, diese seltsamen Träume, das Dimensionstor, die Unterhaltung mit den Undinen. Bestimmt befand sie sich nur in einem Traum und schlief in Wirklichkeit tief in ihrem Bett. Hatte es sich nicht so verhalten, dass Eric mit einem Mal im Raum gestanden hatte? Ist das nicht typisch für das Träumen, dass irgendwer plötzlich aus dem Nichts erscheint? Und dann sein ganzes Gerede über seine Tochter und die Trolle. Sicherlich hatte er dies alles nur erfunden, um sie bis hierher zu locken. Das Misstrauen und die Zweifel wüteten in ihrem Kopf.

Mit einer sanften Bewegung ergriff Eric seinen Hut und zog ihn weiter ins Gesicht:

„Ich weiß, für dich bin ich nur ein Verrückter auf einer langen Liste, doch jedes meiner Worte ist wahr. Ich mag das eine oder andere Mal gelogen haben, um dein Vertrauen schneller zu gewinnen, aber ich hatte nie etwas Schlechts im Sinn. Ich wollte deine Eltern, dich und mich retten und vor allem, dich wieder zurückbringen.“

Wie aus heiterem Himmel erkannte Emily, das Erics Geschichte über seine Tochter nur ein Vorwand gewesen war, um ihr Mitleid anzusprechen. Sie wäre niemals mit ihm gegangen, wenn nicht das Leben eines kleinen Mädchens auf dem Spiel gestanden hätte. Emily sprang voller Wut auf und trat einmal nach Eric, der sich nicht dagegen wehrte.

„Du hast mich belogen! Du hast behauptet, du würdest deine Tochter retten wollen! In Wirklichkeit geht es dir nur darum, an die Informationen zu kommen, die in den Träumen der Königin stecken! Gib es doch zu, verdammt!“

Bedächtig nickte Eric und offenbarte seine Lügen: „Ich musste das mit der Tochter erfinden, sonst wärst du mir niemals gefolgt. Wären wir zu lange in deinem Zimmer geblieben, dann hätten uns die Trolle erwischt. Ich musste improvisieren! Es gab keine andere Möglichkeit, dich an deinem Mitleid zu packen. Versetze dich doch in Anbetracht meines Wissens in meine Lage. Wie hätte ich anders vorgehen sollen? Hätte ich dir schon zu Anfang die Wahrheit mitgeteilt, wärst du niemals mitgekommen.“

„Das ist richtig!“, schrie Emily. „Niemals wäre ich dir gefolgt und ich hätte dir niemals getraut! Und nun hast du es geschafft! Ich glaube dir überhaupt nichts mehr! Bring mich sofort zurück in meine Welt! Da gehöre ich hin! Dort sind meine Eltern und meine wahren Freunde! Lass mich in Ruhe! Bring mich zurück!“

Tränen liefen über Emilys Wangen. Sie sank in sich zusammen und legte die Hände vors Gesicht. Eric schaute zu ihr hinunter und fühlte den Impuls, sie in den Arm zu nehmen, aber er war sich nicht sicher, ob das die richtige Handlung gewesen wäre.

„Ich weiß, du hasst mich jetzt für meine Hinterhältigkeit, aber ich habe dir und deinen Eltern das Leben gerettet. Außerdem habe ich dir die Wahrheit erzählt, zumindest in kleinen Häppchen, und in diesen Momenten nehme ich kein Blatt mehr vor den Mund und spreche wahr!“

„Ich hasse dich!“, flüsterte sie. „Ich hasse dich…“

 

 

 

 

Kapitel 2

 

Die Hexe Arnaka

 

 

Langsam spannte die Hexe Arnaka ihren Bogen. Die Sehne knackte leicht, als sie sie bis zu ihrer Wange zog. Über die Pfeilspitze hinaus sah sie die Umrisse von Emily und Eric, wie sie im Gras saßen und sich unterhielten. Sie visierte Emily an und war gewillt, die Sehne im geeignetsten Moment loszulassen, damit sich der Pfeil auf seine unheilvolle Reise begab…

„Ich hasse dich!“, flüsterte Emily. „Ich hasse dich! Und diese Hexe und die Königin hasse ich irgendwo auch!“

 

„Jemand der hasst, hat keinen Humor... und erkennt sich nicht selbst. Wenn man einen Menschen hasst, dann ist es eigentlich Liebe, die man empfindet, nur man betrachtet die Dinge aus der negativen Sicht, man versteht die Vorgänge nicht. Wenn du unbedingt meinst, hassen zu müssen, dann nutze die Verachtung. Das bedeutet, dass man den anderen nicht einmal mehr mit einer einzigen Silbe erwähnt, die Person dann schlichtweg vergisst und sie nicht mehr beachtet, komme was wolle, aber dein Hass ist getarnte Liebe, erschaffen aus verletzter Eitelkeit. Überprüfe dich selbst! Frage dich, wen du mehr hasst! Die Hexe oder mich?“

„Die Hexe natürlich!“, rief Emily laut aus. Doch im Inneren musste sie sich eingestehen, dass ihre Gefühle bei Eric stärker reagierten trotz der Tatsache, dass die Bedrohung durch die Hexe um ein Vielfaches begründeter gewesen wäre.

„Gewiss ist dein Hass auf mich stärker. Es gibt jedoch, rein logisch betrachtet, wesentlich mehr Gründe, die Hexe zu hassen, denn sie wollte deine Eltern und uns beide töten. Verstehe, du hingegen hast nur einen Mantel über deine Gefühle gelegt, weil du dich verletzt fühlst, da ich dir gesagt hatte, ich brauche dich, um meine Tochter zu befreien. Du hattest mir vertraut und ich habe dein Vertrauen ausgenutzt. Es gibt jedoch wichtigere Dinge als dein Eigendünkel und dein Ego, denn wenn der Tod über uns kommt, dann wird alles unwichtig! Dann ist Hass, Verrat, Angst, Rache und alles Negative nur noch Schall und Rauch, denn der Tod macht alles gleichwertig und nimmt alles. Hass ist keine Lösung, damit schenkst du der Person, die deinen Hass empfängt, nur deine Energie und das mit jeder einzelnen Silbe, die du an sie verschwendest und nimmst dir damit gleichzeitig selbst die Kraft, die du brauchst.“

„Na toll!“, entgegnete Emily. „Welche Kraft denn?“

„Die unermessliche Energie in dir, die nur darauf wartet, von dir entdeckt zu werden und mit der du dein Schicksal selbst bestimmen kannst. Solange du jedoch hasst, so gibst du dich der dunklen Seite der Macht hin. Schlicht und einfach gesagt, du verschwendest deine Energie an mich, indem du mich hasst. Du machst mich damit zu dem, der über dein Leben bestimmen kann, weil der ‚Täter‘, in deinem Kopf, zum großen Bösewicht erkoren, derjenige ist, der das Schicksal regiert. Immerhin schenkst du mir die Macht. Und verschenkte Macht ist Ohn-macht. Denk einmal darüber nach“, erklärte Eric und fuhr gleich weiter fort: „Du kannst mich jedoch hassen, solange du willst. Mir soll es gleich sein. Wichtig ist nur, dass wir das Ziel erreichen. Wenn wir die Hexe besiegen, dann retten wir die Königin von ihrem Einfluss. Dann erst bist du die Trolle los und deine Eltern und du sind für immer in Sicherheit. Du kannst danach wieder nach Hause gehen und dein altes Leben aufnehmen“, erklärte Eric.

Emily schaute noch immer nachdenklich zu Boden: „Willst du sagen, dass die Entscheidung immer bei mir liegt, gleich, was ich tue?“

„Gut erkannt. Jeder Mensch hat seinen freien Willen. Wer sich über seinen Hass erhebt, gewinnt gegen die dunkle Seite in sich selbst und beginnt, sein Schicksal zu regieren. Es gibt keine andere Regel und dies ist einer der größten Herausforderungen, der sich ein jeder irgendwann einmal stellen muss. Du kannst stets entscheiden, was du willst. Wenn du gehen willst, dann geh in Frieden, wenn du mir jedoch helfen willst, diese große Aufgabe, die wir uns gestellt haben, zu lösen, dann hilf mir, in die Träume der Königin einzudringen und ihr Band zu Arnaka zu durchtrennen. Die Königin wird sich von der dunklen Seite abkehren und sich wieder darauf besinnen, wer sie wirklich ist und dass sie diese wunderschöne Welt hier mit positiver Energie anführt. Wir können folglich diese Welt von ihrem schlechten Einfluss befreien. Doch eine Garantie, dass alles glücklich enden wird, kann dir niemand geben. Entweder wir schaffen es oder wir werden untergehen.“

„Und was ist, wenn ich mich nun dagegen entscheiden würde, dir mit der Königin zu helfen?“, fragte Emily weiter.

„Dann werde ich aus deinem Leben verschwinden, als hätte es mich nie gegeben. Du musst nur aufrichtig sagen, was du willst und ich werde entsprechend handeln. Das Universum ist so aufgebaut, dass man seinen Wunsch laut ausspricht. Sag, was du willst und so wird es geschehen!“

Nervös spielte Emily mit ihrem Zeigefinger im Gras herum. Ab und zu blickte sie zum Himmel auf, als wartete sie auf Regen, aber der Himmel blieb klar.

„Du musst verstehen, dass mich das alles sehr verunsichert. Ich werde nie mit absoluter Sicherheit sagen können, woran ich bei dir bin. Das macht mir schwer zu schaffen. Du könntest mein bester Freund sein, aber du könntest mich auch plötzlich verraten und mich ganz einfach der Hexe übergeben. Woher soll ich es wissen? Das macht mich fertig!“

„Du wirst es niemals wirklich wissen! Finde dich damit ab! Ich kann dir nichts beweisen. Du kannst es nur dir selbst beweisen oder dich für eine Perspektive entscheiden und dann fest daran glauben. So ist es mit allen Entscheidungen in dieser Welt. Es gibt keinen absoluten Beweis für irgendwas. Du kannst nicht einmal wirklich sagen, ob du selbst tatsächlich existierst. Sieh dich um! Du kannst mich sehen und erkennen, dass ich Augen habe, einen Körper besitze und ich hier mit dir in dieser seltsamen Welt auf einer Wiese sitze, aber du kannst deine eigenen Augen nicht sehen. Ebenso kannst du nicht dein Selbst sehen, das scheinbar in deinem Körper steckt. Es ist unsichtbar für dich. Wie willst du folglich beweisen, dass es dich wirklich gibt? Es ist darum gleichgültig, was ich dir zu beweisen versuche, du wirst letzten Endes entscheiden, was wahr ist und was nicht. Ob deine Entscheidung nun tatsächlich der Wahrheit entspricht oder nicht, wirst du niemals wissen. Das ist auch ein Grund, warum es vielen Menschen schwer fällt, sich zu entscheiden. Sie wissen intuitiv, dass ihr Wissen nur auf Glauben beruht und auf irgendeine Entscheidung hinauslaufen wird, die der möglichen Wahrheit entsprechen könnte“, fuhr Eric fort.

„Was bleibt mir dann, außer meinem Hass?“, wollte Emily nun wissen.

„Jede Erkenntnis, die jemand unter Tränen macht, ist nutzlos und ohne Wert. Ausschließlich die Erkenntnis unter Gelächter ist der Weg zu Dir selbst. Und wenn es dir nicht gelingt, dich über dich selbst zu erheben, dann kann dir nur noch der Tod helfen.“

„Der Tod!“, rief Emily erstaunt aus.

„Richtig. Wenn der Tod auf die Bühne deines persönlichen Lebens tritt, befreit er dich von all deinen unnützen Problemen, denn seine Anwesenheit ist unter euch Menschen allmächtig. Er wird dich von deinem Hass und all deinen fehlgeleiteten Gedanken befreien, denn er weiß von seinem Wert, während der Mensch es nicht weiß.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen!“, entgegnete Emily nachdenklich und schaute hinüber zum Waldrand. Langsam langweilten sie seine Worte, denn sie konnte nicht wirklich viel damit anfangen. Viel lieber wäre es ihr gewesen, wenn sie das alles bereits hinter sich und sie wieder nach Hause in ihre vertraute Umgebung hätten gehen können.

Plötzlich vernahm Emily ein Surren in der Luft. Instinktiv zog sie ihren Kopf ein und im nächsten Augenblick erblickte sie, wie Eric in einer unglaublichen Geschwindigkeit einen schnellen Schritt zur Seite getreten war. Dabei streckte er zur gleichen Zeit seine Hand aus und umfasste im nächsten Moment einen Pfeil, der in gerader Linie auf Emily zugerast war. Sicher hielt er den Pfeil in seiner Hand, doch Emily konnte erkennen, dass Blut aus seiner Hand tropfte. Vermutlich hatte die Pfeilspitze seine Handfläche verletzt. Die Pfeilspitze befand sich in diesem Moment nur wenige Zentimeter von Emilys Stirn entfernt.

Ängstlich legte sich Emily nun ganz flach am Boden, während sich Eric kurzerhand neben sie warf.

„Die Hexe ist in der Nähe! Sie hat einen Bogen benutzt und wollte dich töten!“, flüsterte Eric. „Sie ist hier!“

„Ich glaub‘s nicht! Sie schießt mit Pfeilen nach uns!“, zischte Emily verstört.

„Das hast du gut erkannt.“

„Und was machen wir jetzt? Wenn ich aufstehe, dann steckt mir gleich ein Pfeil im Kopf!“

Doch in dem Moment antwortete Eric nicht mehr. Seine Augen fielen zu und er sackte in sich zusammen.

„Eric?“, rief Emily. „Eriiiiic!“

 

*

 

Arnaka senkte ihren Bogen. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Neben ihr stand ein riesiger, schwarzer Wolf aus dessen riesiges Maul der Sabber geiferte, als würde er nur auf ein Wort von ihr warten, um sich auf Emily und Eric zu stürzen.

„Ruhig, mein Lieber“, sagte sie leise zum Wolf. „Niemand soll denken, ich wäre ein gefühlskalter Mensch. Einen weiteren, vergifteten Pfeil werde ich nicht auf die Reise schicken. Ohne Eric wird sie nicht weit kommen. Sie wird vermutlich von den Trollen gefunden und dann getötet werden. Überlassen wir sie ihrem unvermeidlichen Schicksal. Und sollte sie es überleben, werde ich dafür sorgen, dass sie in meine Fußstapfen tritt.“

Dann wandte sich Arnaka mit einem lauten Lachen ab und machte sich zurück auf den Weg zur Königin. Sie würde sicherlich mit Freuden vernehmen wollen, was geschehen war.

 

*

 

„Eric! Was ist geschehen? Was ist mit dir? Bitte, sag doch etwas!“, rief Emily verzweifelt, doch Eric rührte sich nicht.

Im nächsten Moment nahm sie wahr, wie sich sein Gesicht mit einer fleckigen Schicht überzog. Diese Flecken breiteten sich rasend schnell aus, bis sie auch auf seinem Hals, seine Arme und Hände erschienen. Ratlos und vom Schrecken der letzten Minuten gelähmt, schaute sie zu, was mit Eric geschah. Die Flecken verwandelten sich nun langsam in münzengroße Schuppen und erinnerte sie an das Aussehen eines Reptils.

Von Sekunde zu Sekunde, die verging, wurde Emily klar, dass der Pfeil der Hexe vergiftet gewesen sein musste. Dies schien ihr die einzige Erklärung zu sein, warum sich nun diese Flecken auf Erics Körper ausbreiteten. Sie spielte mit dem Gedanken, Erics Hand zu ergreifen und das Gift aus ihr zu saugen, so, wie sie es einmal in einem Film gesehen hatte, aber da sich das Gift so schnell ausgebreitet hatte, glaubte sie kaum, dass dies noch einen Sinn gehabt hätte.

„Eric, bitte, wach auf! Was soll ich ohne dich tun? Ich weiß doch gar nicht, wie ich wieder nach Hause komme!“, stammelte sie und Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie warf sich im Geiste vor, dass sie sich zwar Sorgen um ihn machte, aber dass sie gleichzeitig wieder nur an sich denken und wie sie wieder nach Hause kommen konnte.

So blieb Emily neben ihm sitzen und starrte wie gebannt auf die Schuppen, die nun Erics Körper völlig überdeckten. Der Tod umschlich Eric und dies traf sie wie ein Schock. Es war ihr mittlerweile gleichgültig, ob ein weiterer Pfeil aus dem Nichts angeschossen kommen und sie treffen könnte. Sie wusste ohnehin nicht, was sie jetzt noch tun könnte. Sie konnte den Blick nicht von ihm nehmen und eine Leere machte sich in ihr breit, wie sie sie nie zuvor gefühlt hatte. Es vergingen Stunden und Emily schaute nun zum Horizont, wo sich langsam die Sonne senkte, um die nächste Nacht einkehren zu lassen. Innerlich kämpfte sie mit sich selbst, denn während ein Teil ihr riet, aufzuspringen und den Weg zurückzulaufen, empfahl ihr ein anderer Teil, einfach sitzen zu bleiben und die Nacht einbrechen zu lassen. Sollte sie vielleicht dann nur aufstehen, um ein Feuer zu machen oder Eric mit Blättern aus dem nahe gelegenen Wald zuzudecken, doch sie konnte sich einfach nicht rühren. So blieb sie eine sehr lange Zeit erstarrt sitzen.

Ängstlich führte sie ihre Hand auf Erics Brust. Sie schob ihre Hand weiter nach rechts, um sein Herz fühlen zu können. Was würde geschehen, wenn sie keinen Herzschlag fühlen würde? Dann besäße sie die Gewissheit, dass es um Eric geschehen war. Gleichzeitig fragte sich Emily, welch seltsames Gift eine solche Wirkung besaß, dass es Eric dazu veranlasste, sich in eine Mischung aus Mensch und Reptil zu verwandeln? Vielleicht war dies aber auch sein wirkliches Aussehen oder eine allergische Reaktion eines Formwandlers auf ein bestimmtes Gift. Sie konnte es einfach nicht sagen! Eric hatte Recht behalten. Sie konnte es nicht mit absoluter Sicherheit bestimmen, was hier geschah. In solchen Augenblicken, so hatte er ihr gesagt, würde sie nur eine Wahl treffen und hoffen können, dass diese der Wahrheit am nächsten kam. Sie konnte niemals wissen, was nun stimmte und was nicht. War nun Eric bereits tot oder konnte sie hoffen, dass er sich wieder erholen würde?

Nun lag ihre Hand auf Erics Herzen und sie spürte tatsächlich keinen Herzschlag! In diesem Moment war sie sicher, dass Eric nicht mehr unter den Lebenden weilte. Die Hexe hatte es geschafft und ihn mit einem vergifteten Pfeil getötet. Bei einem vergifteten Pfeil war es völlig unerheblich, wo man getroffen wurde, dabei zählte nur, dass das Gift irgendwie in den Blutkreislauf gelangte. Eigentlich war der Pfeil für sie bestimmt gewesen. Wenn Eric ihn nicht aufgehalten hätte, dann würde sie nun an seiner Stelle dort liegen. Wie noch nie in ihrem Leben zuvor fühlte sie eine unglaubliche Einsamkeit, die sie nun ergriff. Sie kroch in ihr Bewusstsein und überflutete sie mit Trauer und Verzweiflung. Ihr Leben lang hatte sie immer nur an sich gedacht, sobald irgendetwas geschehen war, das ihr nicht gepasst hatte. Wie oft hatte sie stets die anderen Menschen gehasst, die nicht so gehandelt hatten, wie sie es sich wünschte. Es stimmte, was Eric gesagt hatte. Der Tod macht alles gleichgültig. Wenn er kam, wurden alle Probleme belanglos. Dies musste Emily nun mit Schrecken erkennen. In diesem Moment konnte sie all ihren Hass und ihr Misstrauen gegen Eric loslassen. Die Anwesenheit des Todes, der sie hier so rücksichtslos umschlich und mit Sicherheit auch irgendwann von ihr Besitz ergreifen würde, zeigte ihr nun deutlich, worauf es im Leben ankam. All diese Dinge gingen ihr durch den Kopf, während ihre Hand noch immer auf Erics Brust ruhte.

Plötzlich glaubte Emily einen einzelnen Herzschlag gefühlt zu haben! Eine unglaubliche Last fiel für einen winzigen Augenblick von ihrem Herzen. Hoffnung keimte auf, dass Eric noch leben könnte, aber diese verflog im nächsten Wimpernschlag wieder, denn es folgte kein weiterer Herzschlag. Wahrscheinlich war dies nur eine nachträgliche Körperreaktion gewesen, schlussfolgerte sie. Doch eine Minute später spürte sie erneut einen Herzschlag, zumindest fühlte es sich so an. Dann warf sich Emily nach vorn und hielt ihre Wange ganz nah an seinem Mund. Sie hoffte, seinen Atem zu spüren, doch sie fühlte nichts.

„Eric! Sag was! Lebst du noch?“

Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, vernahm sie einen Atemzug, so langsam und gemächlich wie eine Raupe auf dem Weg zu einer Blattspitze.

Emily setzte sich in ihrer puren Verzweiflung auf Eric und ergriff ihn an seinen Schultern und schüttelte ihn: „Eric! Du kommst wieder zurück! Bitte sag was! Sag mir, dass du leben wirst!“

Langsam bewegten sich Erics Lippen und er versuchte etwas zu sagen. Nur schwer gelang es ihm, einen Satz zu formulieren: „Ich musste das Gift aufhalten… mich in Echse verwandelt…“

Beinahe hysterisch begann Emily zu lachen. Jetzt verstand sie, was geschehen war! Der Pfeil war tatsächlich vergiftet gewesen, aber ihre Annahme, dass es für diese Flecken und Schuppenbildung verantwortlich gewesen war, stellte sich als falsch heraus. Sie hatte sich für das Richtige entschieden und war nicht einfach den Weg zurückgelaufen, den sie gekommen waren, in der Hoffnung, einen Ausgang aus dieser Welt zu finden, um wieder nach Hause zu gelangen.

Die Sonne war längst am Horizont verschwunden und eine unheimliche Stille umgab nun die beiden. Nach einer weiteren Stunde war es Eric gelungen, sich wieder aufzurichten. Emily schmiegte sich an ihn, um ihn zu wärmen, denn er schien am ganzen Körper vor Kälte zu zittern. Eng umschlungen saßen sie auf der Wiese und die Sterne funkelten in einem silbernen Licht.

„Ich musste das Gift daran hindern, dass es zu meinem Herzen gelangen konnte“, erklärte Eric, nachdem er wieder einigermaßen zu Kräften gekommen war. „Aus diesem Grunde habe ich mich in eine Echse verwandelt. Deren Stoffwechsel ist wesentlich langsamer als das eines Menschen und ich konnte mir so genügend Zeit verschaffen, meine inneren Kräfte zu aktivieren und Abwehrmaßnahmen einzuleiten, um das Gift aufzuhalten. Mein Körper hat dann den Rest erledigt und das Gift aufgehalten.“

Emily war einfach nur erleichtert. Die Erklärung war ihr eigentlich nahezu gleichgültig geworden. Wichtig war nur, dass er es geschafft hatte, nicht zu sterben und bei ihr zu bleiben. Auf der einen Seite besaß er etwas an sich, das sie liebte, aber auf der anderen Seite gab es auch etwas, das sie abstieß und ihr stets Angst gemacht hatte. Seine Unberechenbarkeit war ihr unheimlich gewesen und sie konnte kein richtiges Vertrauen zu ihm aufbauen, aber auch seine seltsame Fähigkeit war so undurchsichtig und angsteinflößend, dass sie am liebsten davongelaufen wäre. Noch nie hatte sie sich einem Menschen gegenüber so gespalten gefühlt. Doch dies alles war nun in den Hintergrund getreten. Die Anwesenheit des Todes hatte ihr einen Hinweis zurückgelassen: Alles beginnt und endet mit einer Entscheidung. Warum also sich für die dunkle Seite der Macht entscheiden, wenn jede Entscheidung von einem selbst getroffen wurde? Die dunkle Seite raubte ihre Kraft, sobald man sich für sie öffnete. Das lag an der Natur ihrer Existenz. Nur wer dies erkannte, konnte Zugang zu seiner eigenen immensen Kraft finden und Herr über sein eigenes Schicksal werden.

Nachdem sich Eric wieder erholt hatte, raffte er sich auf und reichte Emily die Hand.

„Und, wie fühlst du dich?“, fragte er, nahezu wieder zu seiner alten Konstitution zurückgefunden. Ebenso hatte er sich mittlerweile in das vertraute Erscheinungsbild seiner selbst zurückverwandelt. Mit einem Handgriff hatte er sich seinen Hut geschnappt und wieder auf seinen Kopf platziert.

„Wie ich mich fühle? Ich bin froh, dass du nicht gestorben bist! Weißt du, dass du dem Tod nur um Haaresbreite entkommen bist?“

„Ja, das weiß ich, aber auch du bist dem Tod um Haaresbreite entkommen. Denn wenn du mit diesem Hass zurückgeblieben wärst und ich vorhin gestorben wäre, hätte dich die dunkle Seite für immer erobert.“

Danach gingen sie minutenlang an der Waldgrenze entlang. Jetzt hatten die beiden einen taktischen Vorsprung, denn die Hexe glaubte, dass Eric tot sei und Emily vielleicht längst den Trollen zum Opfer gefallen.

„Wie sieht unser Plan aus?“, fragte Emily.

„Wir werden unseren Weg nach dem magischen Ort fortsetzen und wenn wir angekommen sind, wirst du in die Träume der Königin eindringen und das unheilvolle Band zwischen ihr und Arnaka durchtrennen.“

„Ich glaube, Arnaka muss etwas Ähnliches passiert sein. Sie hat sich der dunklen Macht verschrieben. Weißt du, was mit ihr geschehen ist?“

„Nein“, antwortete Eric. „Das weiß ich nicht. Wir können aber sicher sein, dass sie sich irgendwann einmal für die dunkle Seite entschieden haben muss.“

„Meinst du, wir können sie auch retten, so, wie wir die Königin retten können?“, wollte Emily wissen.

„Ich weiß es nicht, sie ist schon sehr lange so, wie sie ist.“

„Aber wenn wir das Band zwischen der Königin und der Hexe trennen können, vielleicht wird sie dann wieder zu sich kommen und sich besinnen.“

„Nein, das wird sie nicht. Im Gegenteil, dies wird ihren Hass umso mehr schüren und sie wird alles daran setzen, uns und zusätzlich noch die Königin zu vernichten. Man kann nicht jemand anderes dazu bringen, sich von der dunklen Seite abzuwenden, das muss jeder für sich selbst erreichen.“

Mit diesen Worten setzten sie ihren Weg fort.

 

 

Kapitel 3

 

Emily träumt

 

 

„Was machst du da?“, fragte Eric.

Emily hielt ein leuchtendes Gerät in der Hand und tippte darauf herum.

„Nichts.“

„Was ist das?“, bohrte Eric weiter.

„Das ist ein Smart-Phone.“

„Und was kann man damit machen? Solche magischen Werkzeuge aus eurer Welt funktionieren hier in dieser Welt nicht…“

„Du meinst, es gibt keinen Strom hier? Also der Akku funktioniert noch. Hier, schau! Wie du siehst, kann ich damit noch was machen“, meinte Emily und hielt ihm das Gerät vor die Nase.

„Gut, es leuchtet noch, aber irgendwann wird es das nicht mehr tun. Die magische Kraft dieses Geräts lässt irgendwann nach, weil es aus eurer Stromwelt kommt.“

Emily lachte: „Um ehrlich zu sein, ich versuche ein GPS-Signal zu bekommen.“

„Was ist das für ein Signal? Hat das mit der Hexe zu tun? Kannst du damit ihren Standort bestimmen?“, wollte Eric wissen.

„Nicht wirklich! Ein GPS-Signal ist ein Signal, das mich über Satellit ortet und mir mitteilt, wo ich mich gerade genau befinde.“

Plötzlich lachte Eric laut los! Er drehte sich von ihr weg, damit Emily nicht sehen konnte, wie sich sein Gesicht verzerrte. Als Formwandler konnten unkontrollierte oder plötzliche Emotionen seine Erscheinungsform kurzzeitig beeinflussen und andere wiederum durchaus erschrecken.

„Warum lachst du so laut?“, fragte sie empört.

Nachdem sich Eric wieder unter Kontrolle hatte, schaute er wieder unter seiner Hutkrempe hervor und blickte in Emilys Augen:

„Du willst dich selbst orten? Du weißt doch, wo du bist!“, stammelte Eric in seinem Gelächter heraus.

Emily schaute verdutzt und lächelte verunsichert: „Was ist daran so witzig?“

„Weil du immer noch glaubst, wir befänden uns hier in deiner Welt. Sie sieht zwar sehr ähnlich aus, aber es ist trotzdem eine Nebenwelt. Eine Welt mit anderen Gesetzen. Wenn wir den magischen Ort erreichen, dann wirst du schon sehen, dass es diesen in eurer Welt nicht geben kann. Ebenso verhält es sich mit dem Schloss der Königin.“

„Da bin ich aber gespannt wie ein Flitzebogen!“

„Erinnere mich bloß nicht daran!“, entgegnete Eric und schaute wieder zum Horizont.

Eric erinnerte sich mit Schmerzen daran, wie der Pfeil der Hexe ihn bald tödlich vergiftet hatte. Wenn es ihm nicht gelungen wäre, die Wirkung des Giftes zu verlangsamen, indem er sich in eine Echse verwandelt hatte, würde die Reise schon längst ihr Ende gefunden haben.

Sie erreichte einen Hügel, den sie mit flinken Schritten erklommen. Oben angekommen präsentierte sich eine wunderschöne Aussicht für die beiden. Vor ihnen lag ein kleines Tal mit einem kleinen See in der Mitte, der mit Steinen umsäumt war. Auf der linken Seite des Teiches gab es einen Steinkreis, der in der Mitte einen seltsamen Aufbau wiederum aus Steinen besaß. Es waren mehrere aufrecht gestellte, säulenförmige Steine, die im Halbkreis aufgebaut waren. Weitere solcher Steine lagen auf den Säulen und verbanden sie miteinander. Auf der Wasseroberfläche des kleinen Sees trieb ein seltsamer Nebel, begleitetvon einem mysteriösen, hellblauen Leuchten.

„Ich glaube nicht, was ich da sehe!“, staunte Emily.

„In der Tat! Dies ist der magische Ort! Wir haben es geschafft! Und so gefährlich das auch mit dem vergifteten Pfeil gewesen sein mag, so hat es uns letzten Endes doch einen Vorteil verschafft, denn Arnaka glaubt, dass wir mit der Suche aufhören mussten.“

Emily nickte, selbst wenn sie mit Trauer an diese unangenehme Situation zurückdachte, so hatte die Begegnung mit dem Tod für Emily die Auswirkung, dass ihr Misstrauen und Hass Eric gegenüber verschwunden waren. Es war für sie nicht einfach gewesen, einem Formwandler zu vertrauen, der sich wie ein Chamäleon jeder Situation und sogar jedem Aussehen anpassen konnte. Seine dunkle Gestalt und sein ins Gesicht gezogener Hut unterstrichen das düstere Bild eines nicht sonderlich vertrauenswürdigen Mannes umso mehr. Sie konnte sich keinen Vorwurf machen, auch wenn sie hier mit Klischees zu kämpfen hatte, die ihr im Laufe ihres Lebens als negativ vermittelt worden waren. So wie der dunkle Mann, mit Hut und einer Tüte Bonbons, um Kinder in den Wald zu locken. Eric war eben auf seine Weise speziell und aufgrund seiner Erscheinung unberechenbar, so unberechenbar, wie seine unkontrollierten Verwandlungen in gewissen Stresssituationen.

„Wir haben es geschafft! Wir sind endlich angekommen!“, triumphierte Eric und stiefelte auch schon los in Richtung Steinkreis. Emily stolperte hinterher, um mit Eric Schritt zu halten. Nur noch wenige hunderte Meter und sie waren endlich an dem geheimnisvollen Ort angekommen, an dem es möglich war, in die Träume der Königin einzudringen, damit sie von der bösen Hexe befreit werden konnte.

Noch immer stand ihr das Staunen im Gesicht bei diesem wunderschönen Ort. Er war geradezu überirdisch und sie konnte Erics Worte nun verstehen, als er gemeint hatte, dass sie sich tatsächlich nicht mehr in ihrer vertrauten Welt befindet.

„Es… es ist wunderschön hier!“, flüsterte Emily erhaben, als sie endlich vor dem Steinkreis standen. „Wer hat diesen Ort erbaut?“

Eric lehnte gegen einen der aufrecht gestellten Steine und blickte auf den See hinaus:

„Das waren die Schöpfer…“

„Und wer sind die Schöpfer?“

„Sie sind die All-Einen, die, die es geschafft haben, alles in sich zu vereinen und das Weltall mit all seinen Kreaturen geschaffen haben…“, erklärte Eric stolz und mit angeschwollener Brust.

„Du meinst Gott?“

„Nein, den meine ich nicht! Euer Gott aus eurem dunklen Buch ist nicht der All-Eine, sondern nur jemand, den ihr für den All-einen gehalten habt!“

„Du meinst, er war ein Schwindler? Du glaubst, unsere ganze Welt glaubt seit tausenden von Jahren an einen Schwindler?“, rief Emily empört.

„Also, den Begriff hast du jetzt gewählt…“, entgegnete Eric und lachte wieder laut. „Euer Gott ist eine Person aus Fleisch und Blut, so wie du und ich. Er ist einst aus einer anderen Welt in die eure gekommen und hat eure Entwicklung als Mensch beschleunigt. So besaß er die unerklärliche Macht, Ein Tier und ein Mensch zu nehmen und sie miteinander zu vermischen. Sie sind auf eurem Planeten umhergewandelt und heute existieren sie nur noch in euren Geschichten. Früher haben sie tatsächlich existiert! Euer Gott hat auch Tiere genommen und sie vermischt, dabei entstanden die verrücktesten Wesen wie fliegende Pferde, Ziegen mit Pferdeköpfen und einem Horn auf der Nase oder Löwen mit Flügeln… Seine Magie war viel größer als eure Magie es heute ist. In seinem Besitz befanden sich riesige Flugmaschinen und geheime Elixiere, mit denen er dies alles bewerkstelligen konnte.“

Emily dachte über seine Worte nach, aber konnte sich einfach nicht vorstellen, dass auch nur ein Wort von dem stimmte, was er von sich gab. Mit Sicherheit erlaubte er sich einen Spaß oder wollte sie nur wieder ärgern.

„Warum ärgerst du mich die ganze Zeit, setzt mich blöden Situationen aus, erzählst mir verrückte Sachen, die nicht stimmen oder aber bist immer irgendwie auf Streit aus? Ich möchte einmal nur den Sinn begreifen!“

„Wenn ich dich ärgere, dann nur, weil ich will, dass du lernst, dich nicht mehr ärgern zu lassen, und wenn ich mit dir streite, dann nur, weil ich deutlich erkennen kann, dass du nur in dir wachsen und zu einer wundervollen Persönlichkeit werden kannst, sobald du bestimmte Steine, die dir den Weg blockieren, aus dem Wege räumen kannst“, erklärte sich Eric ganz zur Überraschung von Emily. Sie hatte geglaubt, er würde nur wieder abwinken und überhaupt nicht auf ihre Fragen eingehen.

„Dann ist diese ganze Dramatik manchmal von dir nur gespielt?“

„Das ist richtig. Es gibt keinen Moment, in dem ich nicht weiß, was ich tue. Ergänzend muss ich hinzufügen“, und an dieser Stelle schob er seinen Hut nach oben, bis die Krempe seinen Nacken berührte, „dass es mir manchmal ungeheuren Spaß macht, so zu sein, wie du meinst, dass ich es wäre. Es macht mir auch nichts, mich dabei zum Narren zu machen.“

„Ich weiß nicht, ob ich das gut finden soll“, gab Emily zu bedenken.

„Natürlich findest du das nicht gut, weil du dazu erzogen wurdest, nur Spaß zu haben und jedem Problem aus dem Weg zu gehen, an dem du persönlich wachsen könntest. So beendest du Freundschaften einfach, weil du nicht willst, dass man dir zu nahe kommt. Das wiegt dich in Sicherheit und macht dich stark. Doch deine Stärke basiert nur auf einer Illusion, die auf deinen Gedanken aufbaut, aber nicht auf Erfahrungen.“

„Trotzdem kann ich nicht glauben, dass Gott ein Schwindler war. Warum sollte er das getan haben?“

„Das ist mir nicht bekannt. Jedenfalls lag ihm viel daran, und dies haben mir einige Naturwesen mitgeteilt, sehr viel Material von eurer Welt in seine zu transportieren. Aus dem Grund hatte er diese riesigen Flugmaschinen mitgebracht. In diese passte allerhand Zeug hinein, wie mir berichtet wurde.“

Nun stockte Emily der Atem. Mit einem Schreck schoss ihr die Frage ins Bewusstsein, ob Eric mit Wesen bekannt war, die bereits so alt waren, dass sie Gott persönlich getroffen hatten.

Eric grinste von Ohr zu Ohr, als er ihre Gedanken aus ihrem Gesicht lesen konnte – mindestens aus ihrem Gesicht.

„Lass uns ein anderes Mal darüber reden, Emily. Wir müssen nun eine große Aufgabe bewältigen! Du wirst in diesen famosen Steinkreis eintreten und unter meiner Führung werde ich dich in die Träume der Königin führen, auf dass du sie von ihrem Fluch und dem negativen Einfluss der Hexe befreist.“

Nachdenklich nickte Emily. Eigentlich war sie überhaupt noch nicht bereit, diesen großen Schritt zu unternehmen. Was sollte sie in den Träumen der Königin bewirken? Soll sie dort die Hexe verdreschen oder sie im tiefen Unterbewusstsein suchen, um diverse Spinnweben einer verrückt gewordenen Hexe zu entfernen? Es war ihr nicht wirklich deutlich, was sie nun zu tun hatte.

Emily schluckte: „Was soll ich denn tun?“

„Du brauchst keine Angst zu haben. Lege dich in diesen Steinkreis, ordne dein Haar und nehme die Hände hoch, sodass sie neben deinem Kopf liegen. Es ist wichtig, dass du dich dem Moment und der Kraft in deinem inneren hingibst. Versuche, nichts zu kontrollieren oder Einfluss auszuüben. Lasse es geschehen und gib dich einfach nur hin. Dann sagst du dir immer wieder, dass du zur Königin gebracht werden willst. Wiederhole es, ohne auch nur einmal damit aufzuhören! Mache es immer wieder, solange, bis du zur Königin gebracht wirst.“

„Woran bemerke ich, dass ich in den Träumen der Königin bin?“, fragte Emily noch immer ziemlich verunsichert und legte sich mit wackligen Knien in den Steinkreis, die Haare zu den Seiten ausgebreitet und die Hände mit den Handflächen nach oben neben ihren Kopf gelegt.

„Das ist ganz einfach! Alles um dich herum wird Rot. Danach erfährst du das Gefühl, getragen zu werden. Nach ein bis zwei Minuten wirst du in ihren Träumen angekommen sein. Pass auf, dass du dort bleibst und nicht wieder zurückschnellst. Konzentriere dich sofort auf die Umgebung um dich her und denke nicht darüber nach, wo du wirklich hergekommen bist. Denke auch nicht darüber nach, wie du heißt oder wer oder was ich bin. Konzentriere dich ganz allein auf die Königin. Ich werde hier draußen auf dich warten und deinen Körper beschützen.“

Nun erblickte sie Erics Kopf über ihr, der sich zwischen ihr und dem wunderschönen blauen Himmel geschoben hatte.

„Pass genau auf! Gib dich der Situation hin! Versuche nicht, gegen etwas anzukämpfen. Sei bereit!“

„Eric… ich weiß nicht… ich habe langsam richtig Angst! Ich glaube nicht, dass ich dem gewachsen bin! Überhaupt habe ich nicht die geringste Ahnung, wo mich das alles hinbringen wird. Außerdem habe ich keine Vorstellung darüber, was ich zu tun habe. Kannst du das nicht für mich erledigen? Ich gebe dir gern meine Fähigkeit als Traumwandlerin! Ich schenke sie dir, damit du zur Königin…“

In diesem Augenblick verschwand alles, was soeben noch existiert hatte. Der Himmel über ihr, Erics Gesicht, der Steinkreis, die sanfte Brise, die über die Wiesen gehuscht war, waren verschwunden und diesen wich mittlerweile eine lausige Kälte. Als sie ihre Augen öffnete, sah sie ihren Atem, der sich bei jedem Atemzug bildete.

„Wie kann ich hier atmen? Das ist ein Traum! Da stimmt was nicht! Eric hat was falsch gemacht! Und warum habe ich so schnell gewechselt? Eeeeeerrrrriiiiiicccccccc, hilf miiiir!“

Ihre Stimme hallte zurück, als würde sie von nahestehenden Wänden zurückgeworfen werden. Es war dunkel um sie her und unter äußerster Anstrengung konnte sie einschätzen, dass sie sich in einer Art unterirdischem Gewölbe befand. Wo war sie hier gelandet? War dies wirklich ein Traum oder hatte sich die Hexe eingemischt und sie bereits abgefangen?

„Verdammt nochmal!“, fluchte Emily, die sich nun vor Kälte ihre Oberarme rieb und immer wieder in die Handinnenflächen hauchte, damit ihr warm wurde, „wo hat mich dieser Idiot jetzt schon wieder hingebracht? Ich stehe hier mutterseelenallein in der Kälte, an einem Ort, der den Eindruck erweckt, als wäre er selbst von der Hölle vergessen worden und das Schlimme an dem Ganzen ist, dass ich nicht weiß, wo ich hier überhaupt bin!“

Nun tastete sich Emily langsam zu den Umrissen einer Mauer, die sie links von sich erblickt hatte. Als sie an der Mauer ankam und sie berührte, zog sie ihre Hand schnell wieder zurück. Sie war dermaßen kalt, dass sie bereits klebrig wirkte. Hätte sie ihre Hand länger dort behalten, wäre sie an die Mauer angefroren. Wie sehr wünschte sie es sich, sofort wieder zurück zu dem Steinkreis zu gelangen, dort, wo es warm, angenehm und schön war. Worauf hatte sie sich nur wieder eingelassen? Zuerst war sie einem fremden Mann gefolgt, hatte ihre Eltern im Stich gelassen, sich mit dem Mann angefreundet, um sein Leben gebangt, als er von einem Giftpfeil getroffen wurde, mit Nymphen gesprochen und nun hing sie in einem dunklen, kalten Verließ einer vergessenen Burg.

„Habe ich gerade Burg gedacht?“, fragte Emily sich selbst.

Wie war sie auf den Gedanken gekommen, dass es sich hier um eine Burg handeln könnte? Es könnte auch ein unterirdischer Gang oder ein altes, verfallenes Gebäude sein.

Plötzlich erblickte sie eine Nische in der Mauer. Schnellen Schrittes eilte sie dorthin, in der Hoffnung, einen Ausgang gefunden zu haben. Tatsächlich! Sie stand nun vor einer alten Holztür. Sofort suchte sie nach der Türklinke, aber alles, was sie entdecken konnte, war ein Ring aus Eisen, an dem man ziehen konnte. Wie wild drückte und zog sie an dem Ring, aber sie blieb verschlossen.

„Verdammt! Wo bin ich hier?“

Plötzlich hörte sie Schritte. Hinter der Tür schien sich ein Gang zu befinden. Endlich nahte Rettung! Emily war überglücklich: „Vielleicht ist es dieser Formwandler… Ernst oder Erich oder wie er hieß, und wird mich nun aus diesem grauenhaften Drecksloch befreien!“

Die Schritte endeten genau vor der Tür auf der anderen Seite. Emily legte ihr bezauberndes Lächeln auf, um den Formwandler zu begrüßen und sich bei ihm zu bedanken, als jemand eine kleine Klappe in der Holztür öffnete.

„Hallo Emily, da bist du ja! Wir haben dich schon erwartet!“

Und Emilys Lächeln verlor sich wie ein Eiskristall in der alles schmelzenden Sonne, denn sie blickte direkt in das Gesicht der Hexe Arnaka.

 

 

 

Kapitel 4

 

Der Schüler Zadig und Leonora

 

 

Die Kreatur war hier! Er konnte sie nun atmen hören, ein röchelndes, klapperndes Geräusch verhieß eine enorme Größe und der faulige Atem zog sich bereits wie ein bleiernder Nebel durch die verlassenen Gänge dieses alten Bergstollens. Die Bergzwerge hatten ihre Arbeiten an diesem Stollen schon vor langer Zeit eingestellt und die Knochen, auf denen Zadig gerade unvorsichtig herumgetrampelt war, durften mit Sicherheit ein Zeugnis dieser furchterregenden Entdeckung der Bergzwerge gewesen sein. Wie viele von den fleißigen Arbeitern mochte sie mit ihrem gefräßigen Maul gepackt und verschlungen haben, nur um Minuten später laut rülpsend ihre blankgeleckten Überbleibsel auszuspucken? Zadigs Informant hatte ihn darüber aufgeklärt, dass diese Kreatur der Wächter des Blutes eines uralten Drachens sei, der vor tausend Jahren in diesem Berg zu seiner endgültigen Ruhe gefunden hatte. Dies hatten die Zwerge nicht wissen können, als sie mit ihren Grabungen begonnen hatten und wurden auf das Tödlichste überrascht. Kopfüber waren sie geflohen, doch nur die wenigsten entkamen. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, hätte Zadig normalerweise für einige Augenblicke die Zeit angehalten, wäre daraufhin bis zum Ende der Stollens gerannt, mit einem breiten Grinsen das Drachenblut an sich genommen, längst erfolgreich von dannen gezogen und die unheimliche Kreatur mit Verwunderung in den Augen zurückgelassen haben, doch das Schicksal hatte andere Pläne mit ihm, denn es war noch keine zwölf Stunden her, als Zadig auf der Insel Goldar vor dem Rat der Zauberer stand und seiner magischen Kräfte beraubt worden war. Dabei hatte er nur versucht, den Rat davon zu überzeugen, dass sich ein böser Zauberer unter ihnen befand, der sie von innen heraus zu infiltrieren versuchte, um seine dunklen Pläne durchzusetzen.

Die weisen Zauberer hatten dies jedoch leider als ein Versuch gedeutet, Misstrauen im Rat zu sähen und ehe er sich versah, wurden Zadig und seine beiden treuen Gefährten ihrer Kräfte beraubt und von der Insel Goldar verbannt. Nun verblieb der Rat, der Einfluss auf sämtliche Länder besaß, verblendet und nichtsahnend zurück. Die Auswirkungen dieses dunklen Einflusses würden allen Ländern schaden. Aus dem Grund gab es für Zadig nur eine Möglichkeit, nämlich seine Kräfte mithilfe des Drachenblutes zurückzugewinnen, seinen Elfenring zu reaktivieren und auf eigene Faust den bösen Zauberer und dessen globalen Einfluss zu beweisen. Leider war es absolut nicht geplant gewesen, mit unangemessener Lautstärke in die Knochen der armen Opfer dieser gefräßigen Kreatur zu treten. Eigentlich, so musste Zadig nun vor sich selbst eingestehen, besaß er überhaupt keinen ausgeklügelten oder erfolgversprechenden Plan. Wieder einmal hatte er sich allzu sehr auf seine Intuition und spontanen Ideenreichtum verlassen, um an das ersehnte Blut zu gelangen. Nicht einmal durfte er sich sicher sein, dass ihm das Drachenblut die Wiedergewinnung seiner Fähigkeiten bescherte, immerhin war dies nur eine Information, die er sich in seiner bloßen Verzweiflung für zwei Goldstücke hatte erkaufen können.

Während die Zweifel an seinem Gemüt nagten und er vorsichtig und möglichst lautlos einen Schritt vor den anderen setzte, kramte er in seinen Taschen herum, in der Hoffnung, irgendetwas zu finden, das seinen Plan ein wenig konstruktiver erscheinen ließe.

Plötzlich vernahm Zadig das bedrohliche Knurren dieser grauenhaften Kreatur, die sich nun offensichtlich keine 20 Meter von ihm entfernt befinden dürfte. Ekelerregend stieß ihm der verfaulte Atem entgegen, dass er sich geschwind den Kragen seiner Jacke vor die Nase hielt, um ihn nicht in seiner ganzen Fülle einatmen zu müssen, während der aufgewirbelte Staub winzige Leuchtfunken in die Luft trieb, die sich nur im Schein der Fackeln spiegelten, die die Zwerge hinterlassen hatten und sich wie durch einen magischen Zauber stets selbst entzündeten, sobald man in ihre Nähe gelangte.

Wenn sich diese Kreatur nun unmittelbar vor ihm befand, musste er einen Gang finden, um sie zu umgehen. Doch so weit er sich orientieren konnte, gab es keine Abzweigung, die er hätte nutzen können. Eigentlich lief er in einer direkten Geraden auf einen Kreuzungspunkt zu, an dem sich diese Bestie offensichtlich befand. Zwar besaß Zadig das Glück, dass dieses unheilvolle Wesen seinen Standort verraten hatte, aber in einer direkten Begegnung war er mit Gewissheit der Unterlegene. So schnell würde er gar nicht schreien können, wie dieses Ungeheuer seinen Kopf abgebissen und zufrieden hinuntergeschluckt hätte. Seine letzte Erinnerung aus diesem Leben wäre dann höchstens sein blankes Entsetzen gewesen, das sich auf seinem Gesicht abgezeichnet und sich in den Augen der Kreatur gespiegelt hätte.

Kaum hatte er diesen Gedanken bereits leicht fröstelnd zu Ende gedacht, sprang die Kreatur fauchend in den Gang hinein, in dem sich Zadig gerade befand. Im Lichtschein der Fackeln erblickte er ihr Aussehen: Sie war dunkelbraun und von deformierter Statur. Ihr Kopf war überdimensional groß, das gefräßige Maul geiferte und lechzte nach frischem Fleisch und sei es auch nur das eines schmächtigen Mannes, wie es Zadig war! Mit einem lauten Schrei wandte er sich panikerfüllt um und rannte den gleichen Weg zurück, den er gekommen war. Hinter ihm spürte er, wie die schreckliche Kreatur sabbernd auf seiner Fährte war und voller Entsetzen suchte Zadig nach einem Ausweg. Dieser Plan mit dem verdammten Drachenblut war der Schlechteste, der ihm jemals eingefallen war, dachte er noch, während er wieder orientierungslos über die Knochen trampelte, sodass sie fürchterlich knirschten und knackten und schloss gleichzeitig innerlich bereits mit seinem Leben ab. Doch nachdem er keine drei Meter in die Knochen gelaufen war, fiel er im nächsten Augenblick unvermittelt in die Tiefe. Der Boden hatte unter ihm nachgegeben und es ging direkt einen Stollengang weiter nach unten. Wenige Augenblicke später verlor er sein Bewusstsein und das letzte, was er erblickte, war die sabbernde Kreatur am Rande des Loches, durch das er gefallen war.

 

*

 

Die Stille bohrte sich wie eine Pfeilspitze in Leonoras Kopf. Sie wusste nicht, wie lang sie bereits in diesem Bergwerk umhergelaufen war, aber eins war gewiss, dass sie es nicht eher verlassen würde, bis sie das magische Artefakt gefunden hatte, von dem ihr in einer zwielichtigen Spelunke in Lemar berichtet worden war. Diese dunklen Gassen gefielen ihr ebenso wenig wie diese unübersichtlichen Stollengänge. Die magischen Fackeln verliehen ihr etwas mehr Sicherheit und Geborgenheit, andernfalls hätte sie sich gewiss verlaufen. Der Händler hatte ihr erklärt, dass sie nach einem steinernen Gesicht suchen solle. Im Mund dieses Gesichtes würde sich ein Hebel verbergen, der bei Betätigung eine Kammer öffnete und sie sodann zum Artefakt führen würde. Sie musste dieses Artefakt um jeden Preis finden, denn derjenige, der es benutzte, so hieß es, würde augenblicklich von jedem Leiden befreit. Dabei war es völlig gleichgültig, worunter die Person litt, das Artefakt würde es sofort heilen. Leonora war darum auf das Äußerste gespannt und vor allem sicher entschlossen, es bald persönlich in den Händen zu halten. Es verhielt sich nicht so, dass Leonora unter einer unheilbaren Krankheit litt, aber vor genau drei Tagen war sie ohne jede Erinnerung vor den Toren Lemars erwacht. Selbst ihren wirklichen Namen konnte sie nicht mehr erinnern und hatte sich kurzerhand für Leonora entschieden, um im Kontakt zu anderen Menschen in keinster Weise zurückgeblieben zu erscheinen. Doch zurückgeblieben war Leonora in keinem Fall, denn sie besaß das intuitive Wissen, für eine unglaubliche Tat ins Leben getreten zu sein, nur hatten ihre Widersacher auf eine bisher unbekannte Art und Weise offensichtlich ihr Gedächtnis gelöscht. Wie unvorteilhaft doch das fehlende Wissen darüber war, sich nicht an seine Freunde und nicht einmal mehr an seine Feinde zu erinnern. Darum war die Hoffnung groß, dass ihr dieses Artefakt das Gedächtnis zurückgeben würde.

Deutlich konnte sie erkennen, dass der Gang in zwanzig Metern sein Ende finden würde. Sie war gespannt, was dort auf sie wartete. Ein schwaches, grünliches Licht nahm sie bereits wahr. Doch ehe sie zum Gangende gelangen konnte, wurde die Stille durch ein seltsames Grollen unterbrochen, auf das ein lauter Schrei und ein mächtiges Getöse folgte. Sie riss ihren Kopf in den Nacken und blickte zur Decke des Stollenganges, der an dieser Stelle erstaunlicherweise über sechs Meter hoch zu sein schien. Offensichtlich war der Spuk mit dem Schrei nicht beendet, denn plötzlich brach über ihr die Decke ein und ein Mann fiel von oben herab! Für einen Augenblick wusste Leonora nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Fiele der Unbekannte einfach zu Boden und starb, musste sie das Artefakt mit niemanden teilen, doch auf der anderen Seite hatte sie plötzlich den starken Impuls, dem Fremden dennoch zu helfen, der so unangekündigt durch die Decke fiel! So sprintete sie los und machte sich bereit, den Fremden, der bereits bewusstlos zu Boden raste, aufzufangen.

Leonora streckte ihre Arme aus und fing ihn mehr schlecht als recht auf. Natürlich entglitt er ihren Armen, aber ihr Rettungsersuch hatte den Sturz schon einmal gebremst. Doch hatte Leonora nicht die Steine mit einkalkuliert, die zusätzlich von der Decke fielen und einer der dickeren Brocken erwischte sie am Hinterkopf. Sofort wurde ihr schwindelig und sie taumelte nach vorn, stolperte über den fremden Mann, der bewusstlos am Boden lag, und fiel der Länge nach hin. Wenige Augenblicke später wurde es dunkel um sie her.

 

*

 

Langsam kam Zadig wieder zu sich. Sein erster Blick galt sofort dem Loch in der Decke und der übel riechenden Kreatur, die gerade noch sabbernd zu ihm heruntergeblickt hatte, doch sie war spurlos verschwunden. Vermutlich hatte sie angenommen, dass er bei dem Sturz ums Leben gekommen war und setzte ihre Jagd anderenorts fort. So fühlte Zadig in seinen Körper hinein, ob er sich etwas gebrochen oder verstaucht hatte, aber zu seiner Überraschung ging es ihm gut, nur sein Rücken schmerzte ein wenig. Mehr als eine Prellung hatte er sich offensichtlich nicht zugezogen.

Nun tastete er nach einer Waffe oder zumindest einen Stock, um sich verteidigen zu können, doch er konnte nichts finden. Das einzige, was er fühlte, war das lange Haar einer Leiche, die sicherlich ebenfalls auf das Konto der Bestie zu verbuchen war. Doch erstaunlicherweise fühlte er nun das Gesicht der Leiche, es war warm und es schien noch Leben darin zu stecken. So richtete Zadig sich auf und entdeckte eine Frau, die bewusstlos neben ihm lag. Was hatte es nur mit dieser Frau auf sich? Wer war sie?

Dann nahm er sich eine der Fackeln, die an der Wand ihr Dasein fristete. Nun konnte er die Umgebung ausleuchten und sich die Fremde genauer anschauen. Als er die Fackel über sie hielt, bekam Zadig einen Schreck! Zuerst nahm er nur eine am Boden liegende Frau wahr, die sich aber überraschenderweise für winzige Augenblicke in ein engelhaftes Wesen verwandelte, dessen bezaubernder Anblick ihm augenblicklich den Atem raubte. Dieses faszinierende Wesen richtete sich in vollster Schönheit und in purem Glanz auf, umsäumt mit einer silbernen Aura, die sich um ihren Körper gezogen hatte und ihre funkelnden wunderschönen Augen bohrten sich direkt in Zadigs Hirn. Er war dermaßen perplex in dem Moment, dass er sich nicht rühren konnte und sich stocksteif der Vision hingab, die sein komplettes Sein erfüllte. Dieser Engel blickte ihn nun direkt an und öffnete den Mund, als wollte sie ihm etwas mitteilen. Leider sah er nur die Bewegungen ihrer Lippen.

Doch so schnell diese Vision aufgetaucht war, so schnell verschwand sie wieder und er fand nur eine normale Frau am Boden des Stollenganges. Zadig war noch immer von dieser Wahrnehmung irritiert und konnte sich nicht erklären, was dies nun zu bedeuten hatte. Stand dieses engelhafte Wesen etwa mit dieser Frau in Verbindung? Was wollte diese Frau hier und war sie gekommen, um das Drachenblut für sich zu beanspruchen? Somit würden sie Gegner sein und mussten um das Drachenblut kämpfen!

Er beugte sich zu der Frau hinunter und rüttelte an ihrer Schulter: „Wacht auf!“, rief er. „Wacht auf!“

Langsam richtete sie sich auf und hielt sich ihren Kopf: „Bei den Göttern, mein Kopf dröhnt gewaltig!“

„Wer seid Ihr?“, fragte Zadig neugierig.

„Mein Name ist Leonora. Du bist durch das Loch in der Decke gefallen und ich habe versucht, dich aufzufangen.“

„Oh, habt Dank! Nun weiß ich, warum ich mir nichts gebrochen habe. In dem Durcheinander und auf der Flucht vor der schrecklichen Bestie habe ich Euren beherzten Einsatz völlig verpasst.“

Irgendwie gewann Zadig den Eindruck, es mit einer höher gestellten Persönlichkeit zu tun haben. Vielleicht war sie eine Prinzessin oder eine wohlhabende Frau aus dem Norden. Sicherheitshalber sprach er sie darum so förmlich an.

„Ich würde vielmehr behaupten, dass du nicht durch den Sturz, sondern den Schreck in Ohnmacht gefallen bist! Das klingt mir jedenfalls nicht nach einem Held, den ich gerettet habe“, bemerkte Leonora scherzhaft. „Aber bevor wir uns in Details verlieren, sag mir, wer bist du?“

„Mein Name ist Zadig, ich bin einer der wenigen Menschen, die vom großen Rat der Zauberer der Insel Goldar dazu auserkoren wurde, ein Lehrling der Magie zu sein und dem es tatsächlich gelungen ist, einen Elfenring zu erlangen. Diese Auszeichnung ist für mich von größter Bedeutung, denn als Mensch auf der Insel Goldar zum Zauberer ausgebildet zu werden ist eine große Ehre!“

„Das kann ich mir gut vorstellen!“, entgegnete Leonora und erhob sich schwerfällig. „Was willst du denn hier, großer Zauberer? Und warum hast du deine Magie nicht eingesetzt, als du durch die Decke gefallen bist?“

„Ich habe nur mit einer überaus schrecklichen Kreatur gekämpft, einer wahren Bestie, die durch die Stollengänge hetzt und etwas zu bewachen scheint. Ich war zu sehr abgelenkt, als dass ich so schnell reagieren konnte“, flunkerte Zadig spontan. Er wollte ihr gegenüber nicht schwach erscheinen.

„Dann bewacht diese Bestie das Artefakt!“, rutschte es Leonora spontan heraus.

„Das Artefakt? Ich habe gehört, es sei eine Ampulle voller Drachenblut, die sich hier in dem alten Bergwerk befinden soll.“

„Drachenblut? Was sollte man damit anfangen können? Unsterblichkeit? Magie?“, wollte Leonora wissen. „Ich glaube, dass es vielmehr ein Artefakt ist, ein Objekt von den Sternen, das einst auf unsere Welt fiel. Von wem hast du diese Information?“

„Magie erhoffe ich mir, das muss ich aufrichtig zugeben, dass es sich um Drachenblut handelte, das erklärte mir ein Informant in Lemar.“

„Haha“, lachte Leonora laut auf, „mir erzählte es ebenfalls ein Handelsreisender in Lemar. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es die gleiche Person war! Es fragt sich nur, wer war er und warum gab er uns unterschiedliche Hinweise?“

„Vielleicht wusste er nicht, um was es sich bei diesem Gegenstand tatsächlich handelte“, vermutete Zadig.

„Wer immer er auch sein mag, wir werden zuerst das Artefakt finden müssen. Danach können wir uns um diesen seltsamen Informanten kümmern!“, beschloss Leonora und blickte den Stollengang hinunter zum grünen Licht.

„Gut, dann lasset uns gehen! Doch nehmt Euch in Acht vor dieser grauenvollen Bestie. Sie ist sehr schnell, gewandt und höchst fürchterlich anzusehen. Sie könnte uns in wenigen Augenblicken zerfleischen und dann können sich unsere Knochen zu diesen hier gesellen“, erklärte Zadig und wies auf Teile eines vermoderten Skeletts, das sich unweit ihrer Füße befand.

Leonora nickte und ging los. Nun liefen sie gemeinsam den Stollenweg entlang. Die Wände waren sehr gut herausgearbeitet worden und an manchen Stellen funkelten Kohle und Katzengold in verführerischen Farben hervor. Am Ende des Ganges trat jedoch etwas für ihre Augen in Erscheinung, das sie kaum fassen konnten! Eine gewaltige Höhle mit einer Decke, die hundert Meter nach oben reichte. Sie war in ein wunderschönes Grün getaucht, ohne, dass man auf Anhieb erkennen konnte, woher sie ihr bezauberndes Licht bezog. Die Höhle erstreckte sich mehrere hundert Meter in die Länge und wies sogar einen kleinen See in einem Krater auf und von dem leichter Nebel aufzusteigen schien. Von den Decken hingen gewaltige Tropfsteine herab und vervollkommneten die Atmosphäre in höchster Perfektion. Dieser Anblick war derartig atemberaubend, das sie für Minuten mit offenen Mündern staunend dastanden und die Zeit vergaßen.

Leonora unterbrach irgendwann die Stille und murmelte nachdenklich vor sich hin: „Es ist unfassbar! Was ist das für eine wunderschöne Höhle!“

„Ich hörte einst von Bergzwergen, die in Stollengängen und Minen arbeiteten, aber eine solche Höhle entdeckten sie nur in den seltensten Fällen und wenn, dann haben sie sie nach Schätzen durchsucht und diese fortgebracht.“

„Es sei denn“, warf Leonora ein, „sie wurden daran gehindert! Beispielsweise durch eine Bestie, die jemand hier ausgesetzt hatte, um etwas ganz Bestimmtes zu schützen! Lass uns also möglichst schnell den Hebel finden, damit wir an das Artefakt kommen!“

Plötzlich vernahmen sie ein fürchterliches Grollen hinter sich! Dies verhieß nichts Gutes! Die Bestie war nach erfolgloser Jagd höchstwahrscheinlich durch das Loch gesprungen!

„Lauf!“, schrie Zadig und rannte mit seinen flinken Beinen auf den See zu. Seine Idee war es, dass er dort ins Wasser springen würde, um die Bestie somit auf Abstand zu halten. Die Kreatur hechtete aus dem Stollengang heraus und erblickte den flüchtenden Zadig und nahm sofort seine Spur auf. Der Geifer floss aus dem gierigen Maul der Bestie und ihr Brüllen war ohrenbetäubend laut, während es endlos von den Höhlenwänden widerhallte.

Leonora hatte sich hingegen einfach mit wenigen Schritten zur Seite bewegt und ihren Rücken gegen die Höhlenwand gedrückt, sodass sie von der Kreatur vom Stollenausgang aus nicht mehr gesehen werden konnte. Die Bestie war somit einfach an ihr vorbeigelaufen. Zadig hatte bereits genügend Aufmerksamkeit mit seinem Verhalten auf sich gezogen, dachte sie, und beobachtete nun das Schauspiel.

„Wie praktisch wäre es nun, einen Bogen zu besitzen!“, murmelte Leonora.

Doch irgendwie tat er ihr gleich wieder leid, wie er verzweifelt versuchte, zum See zu gelangen und darauf zu hoffen, dass die Bestie wasserscheu sei und ihn dort in Ruhe ließe. „Diese Zauberer! Wenn es darum geht, ihre Kräfte einzusetzen, dann denken sie entweder nicht daran oder sie stehen ihnen gerade aus irgendwelchen Gründen nicht zur Verfügung“, dachte sie und schüttelte mit dem Kopf. Sie musste sich demnach etwas einfallen lassen. Somit lief sie auf einem Umweg zum See und hielt nach irgendetwas Ausschau, das ihr vielleicht im Kampf gegen die Bestie Unterstützung liefern konnte.

 

*

 

Zadig rannte wie ein Verrückter zum See und er spürte die Bestie wieder einmal im Nacken. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er betete zu den Göttern, dass er es bis zum See schaffen würde. Nach wenigen Augenblicken kam er endlich an und sprang mit einem großen Satz ins Wasser und schwamm direkt zur Mitte. Dort angekommen drehte er sich fiebernd um und hoffte, dass die Bestie ihm nicht folgen würde. Tatsächlich verharrte sie am Rand und fletschte ihre blanken Zähne. Daraufhin fauchte sie zornig und scharrte mit seinen Tatzen wie ein Pferd mit den Hufen. Sie sah wirklich furchterregend aus, wie Zadig nun deutlicher denn je erkannte.

Doch plötzlich spürte Zadig eine unglaubliche Energie, die aus dem See zu kommen schien und an seinen Beinen wie sanfte Schlingpflanzen emporkroch. Sie erfüllte ihn immer mehr und ein Blick auf seine Hände zeigte ihm, wie sie grün anliefen. Dies war kein normaler See! Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Voller Entsetzen dachte er mittlerweile verzweifelt darüber nach, ob er dieser Energie vertrauen oder einfach aus dem See herauslaufen sollte. Leider saß er hier eindeutig in der Falle, denn die Bestie würde ihn augenblicklich töten, sobald er das Wasser verließ. Vielleicht war die Bestie überhaupt nicht wasserscheu, sondern mied das Wasser aus ganz bestimmten Gründen, die ihr, im Gegensatz zu Zadig, absolut bewusst waren! Diese Gedanken halfen ihm leider nicht dabei, sich auch nur irgendwie mit der Situation anzufreunden und so schimpfte er mit sich selbst in dieser unheilvollen Situation.

Wie aus dem Nichts sprang jedoch Leonora aus der Dunkelheit hervor und rammte der Bestie eine Lanze in die Seite. Das Ungetüm fauchte ohrenbetäubend und hasserfüllt, schlug ohne zu Zögern nach Leonora, die von der Pranke erwischt und mehrere Meter weit fortgeschleudert wurde!

Zadig hielt sich völlig verängstigt die Ohren zu und konnte dieses Knurren und Fauchen nicht länger ertragen. Seine Ohren fiepten unbeschreiblich laut und er fürchtete um sein Gehör, als er plötzlich eine Stimme in seinem Kopf vernahm: „Du musst den Engelhybrid beschützen!“

Diese Stimme war sanft und warm, weiblich, aber dennoch voller Bestimmtheit und fordernd, sodass er einfach alles für sie getan hätte.

So blickte sich Zadig nun panischer denn je um. Gleichsam fiel sein Blick auf seinen Elfenring. Er leuchtete in einem satten Grün und schien ebenfalls die Farbe des Wassers angenommen zu haben! Scheinbar hatte die Energie in diesem See nicht nur Auswirkung auf seinen Körper, sondern auch auf den Ring. Ohne nur eine Sekunde zu zögern, konzentrierte er sich auf den Ring und ein grüner Strahl schoss aus diesem heraus und traf auf die Bestie. Diese verharrte mit einem Mal und eine aschfahle Schicht zog sich über ihren Körper. Sie konnte sich keinen Millimeter mehr bewegen. Zadig hatte einen Zauber über sie verhängt, trotz der Tatsache, dass der Rat der Zauberer ihn seiner Fähigkeiten beraubt hatte. Wie konnte dies sein? Weder hatte er das Drachenblut zu sich genommen, noch durften der Rat ihm seine Fähigkeiten zurückgegeben haben.

Flink bewegte er sich aus dem See heraus und lief zu Leonora. Sie hatte sich mittlerweile wieder aufgesetzt und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Seite:

„Dieses verdammte Vieh! Es hat mich doch tatsächlich erwischt.“

„Keine Sorge, ich werde dies mit meinem Ring heilen! Wartet!“

Er hielt den mittlerweile wieder verdunkelten Ring an Leonoras Taille, aber es geschah nichts!

„Ich… ich verstehe nicht!“, stammelte Zadig irritiert. „Ich glaube, es funktioniert nur, wenn ich mich in dem See befinde.“

Es gab keine andere Erklärung, stellte Zadig für sich selbst fest. Hastig erklärte er es Leonora und schlug vor, wieder in den See zu gehen, um sie zu heilen. Wenige Minuten später war es ihm tatsächlich gelungen, sie von ihren Schmerzen zu befreien.

„Verdammt! Ich kann nur zaubern, wenn ich hier in diesem grünen Wasser sitze“, rief Zadig verzweifelt. „Ich kann doch jetzt nicht mein Leben lang hier drin sitzen. Wie soll ich dem großen Rat der Zauberer denn helfen?“

„Jedenfalls vielen Dank für deine Hilfe!“, meinte Leonora trocken.

„Nun, Ihr habt mir auch geholfen! Wenn Ihr die Bestie nicht abgelenkt hättet, dann wäre mir nicht aufgefallen, dass mein Ring wieder leuchtete.“

Mit großem Interesse blickte Leonora auf den Ring: „Hast du ihn von den Elfen bekommen?“

„Richtig. Diesen habe ich bei Beginn meiner Zaubererausbildung bekommen In der Zaubererschule lernte ich mit der Zeit, die Energie dieses Ringes zu nutzen, um meine Kraft zu bündeln.“

„Aber warum hast du den Zauber nicht früher eingesetzt und wieso funktioniert deine Kraft nur in dem See?“

Nun blickte Zadig beschämt zu Boden und beschloss, ihr die Wahrheit zu sagen: „Der Rat der Zauberer hat mir meine Magie genommen, weil ich behauptet hatte, dass er infiltriert wurde. Daraufhin wurde ich verbannt und musste die Insel Goldar für immer verlassen. Ich habe keine Gelegenheit mehr, wieder an meine Magie zu gelangen. Aus dem Grund…“

„…bist du hier und suchst nach deinem Drachenblut, um deine Magie zurück zu erhalten!“

Zadig nickte.

Leonora blickte nachdenklich auf den See: „Vielleicht hat das Artefakt eine gewisse Wirkung auf den See. Wasser ist ein hervorragender Leiter. Es könnte doch sein, dass es damit zusammenhängt. Dann würde das Artefakt tatsächlich die Möglichkeit bieten, dir deine Magie zurückzugeben.“ Daraufhin blickte Leonora enttäuscht zu Boden: „Leider bedeutet dies gleichzeitig, dass es mir nicht dabei helfen wird, meine Erinnerungen wieder herzustellen…“

„Lasset uns das Artefakt zuerst finden. Vielleicht besitzt es mehrere Eigenschaften - und sollte es nur mir dienen können, dann werden wir einen Weg finden, um Eure Erinnerungen wieder zurückzuholen.“

„Dann kann ich dir nun zu deinem Glück mitteilen, dass ich den Kopf aus Stein und den Hebel entdeckt habe! Davor lag jedoch ein Leichnam, von dem ich mir den Speer geborgt hatte!“, erklärte Leonora freudig.

Gemeinsam gingen sie zurück zu der Stelle, an der Leonora den Speer entdeckt hatte. Ganz unscheinbar war das steinerne Gesicht Teil einer Säule und besaß vielleicht einen Durchmesser von einem Meter. Sein Mund war geöffnet und gerade so weit, dass eine menschliche Hand hineinpasste. Zadig schaute misstrauisch auf das Gesicht aus Stein:

„Also, mit Verlaub, ich stecke meine Hand dort sicherlich nicht hinein! Es könnte eine Falle sein und ehe ich mich versehe, wird mir meine Hand rücksichtslos abgebissen. Ich dürfte mich an dieser schmerzvollen Stelle nicht einmal beschweren, denn mein Plan ist es, etwas aus dieser grünen Höhle zu stehlen. Würde mir dies alles…“

Zadig konnte seine Rechtfertigungen nicht zu Ende führen, denn Leonora hatte einfach ihre Hand in den Mund des Steingesichts gesteckt und den Hebel ausgelöst. Deutlich vernahmen sie das Geräusch von schwerem Stein, der verschoben wurde. Eindeutig war dies zumindest ein akustischer Hinweis, dass sich die geheime Kammer soeben erfolgreich entriegelt hatte. Leider entdeckten sie jedoch keine Tür, die sich gerade hätte öffnen können.

„Es ist ganz sicher etwas passiert, aber wo befindet sich nun die Kammer? Ich sehe nicht einmal, woher dieses Geräusch kam.“, fragte Leonora neugierig und ihr Blick wanderte suchend umher.

„Schaut! Der See!“, rief Zadig.

Das grüne Wasser des Sees war verschwunden. Vermutlich war es durch das Öffnen der Kammer nach unten abgeflossen. Somit befand sich die Kammer die ganze Zeit unterhalb des Sees.

Doch fiel Zadig Leonoras trauriges Gesicht auf, denn immer mehr bestätigte sich seine Version, dass es sich hier um grünes Drachenblut handelte, das dem Finder magische Fähigkeiten verlieh. Zadig würde somit seine Kräfte wiedererlangen und sie würde leer ausgehen.

Beherzt schritten sie auf den Platz zu, wo sich zuvor der See befunden hatte und sie entdeckten eine steinerne Treppe, die in eine pechschwarze Dunkelheit führte.

Langsam schritten sie die Treppe hinab und eine Fackel leuchtete ihnen den Weg. An den Wänden entdeckten sie mehrere Höhlenmalereien. Neugierig leuchteten sie diese aus. Sie erkannten einen riesigen Drachen, der von mehreren Kämpfern mit Speeren umzingelt wurde. Sie versuchten den Drachen zu bändigen oder gar zu töten. An einer anderen Stelle durften sie eine blass gezeichnete Sonne sehen, die irrtitierenderweise jedoch am nächtlichen Firmament zu leuchten schien. Mehrere Sterne umrahmten die vermeintliche Sonne und darunter befanden sich weitere gemalte Figuren, die zum Himmel wiesen.

„Es könnte sich hier um eine Sonnenfinsternis handeln“, gab Zadig zu verstehen. „Eine solche Finsternis hat bei den frühen Völkern stets für viel Irritation gesorgt.“

Leonora schaute kritisch auf die Höhlenzeichnungen und schüttelte den Kopf: „Das sieht mir nicht nach einer Sonnenfinsternis aus. Vielleicht ist es ein Komet oder ein Objekt, das fliegen kann. Aber wie auch immer, lass uns das Artefakt holen! Ich habe nicht ewig Zeit! Und wehe, nur du kannst es benutzen, dann bringe ich diesen Händler in Lemar um!“

Langsam endete die Treppe und sie gelangten in eine größere Halle. Diese Halle besaß auf jeder Seite drei Türen, die verschlossen waren. Es waren dichte Türen aus schwerem Holz und mit rostigem Eisen beschlagen. An jeder von ihnen befand sich ein handgroßer Eisenring, der als Griff diente sowie ein dickes Vorhängeschloss. Am Kopf der Halle entdeckten sie eine weitere Tür, die etwas breiter als die anderen schien und gleich zwei Eisenringe und ebenfalls ein Schloss besaß.

„Dies erweckt für mich den Eindruck, als sei dies ein Gefängnis!“, vermutete Zadig flüsternd.

„Warum flüsterst du?“, wollte Leonora wissen.

„Ich weiß es nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir hier unten nicht allein sind!“

Auf alles vorbereitet gingen sie nun vorsichtig Schritt für Schritt auf die letzte Tür zu, die sich am Ende der Halle befand. Die komplette Halle war feucht. Vermutlich von dem Wasser des Sees. Es musste irgendwo hin abgeflossen sein, spekulierte Zadig.

„Wie bekommen wir diese Türen auf?“, wollte Leonora wissen. „Ich habe keine Schlüssel dabei. Vielleicht verfügst du noch über etwas Energie in deinem Ring, damit du sie öffnen kannst.“

„Einen Augenblick bitte!“, bemerkte Zadig und nahm einen Stein vom Boden auf, ging auf die letzte Tür zu, holte weit aus und schlug mit dem Stein auf das leicht rostige Vorhängeschloss. Mit einem lauten Knall fiel es auseinander und glitt zu Boden.

„Geht doch!“, meinte Zadig stolz und stieß die Tür auf. Sie knallte scheppernd gegen die Wand und ihnen bot sich ein weiterer Gang. Auf der linken Seite neben der Tür befand sich jedoch ein Hebel.

„Ich glaube, wenn wir diesen Hebel betätigen, dann können wir die anderen Kammern öffnen und in einer von ihnen wird sich sicherlich das Drachenblut befinden“, verkündete Zadig selbstbewusst und nickte eifrig, während sich seine Hand schon um den Hebel legte.

„Ich könnte mir auch vorstellen, dass das Artefakt am Ende dieses neuen Ganges zu finden ist. Dieser Hebel hier öffnet vielleicht eine weitere Kammer. Immerhin besitzen diese Kerkertüren dort ein Vorhängeschloss. Warum sollte es zusätzlich einen Hebel geben?“

Zadigs Blick wanderte nun zu den Kerkertüren und den neu entdeckten Gang hin und her: „Ich denke, ein Hebel ist dazu da, damit man ihn benutzt!“

Gleichzeitig zog er den Hebel mit aller Kraft nach unten und im selben Moment brach ein Inferno über die beiden zusammen! Die Kerkertüren flogen mit einem gewaltigen Knall gleichzeitig auf und aus den dahinter befindlichen Räumen entstiegen die grausamsten und fürchterlichsten Kreaturen, die Leonora und Zadig jemals in ihrem Leben zu Gesicht bekommen hatten. Eine drei Meter große geflügelte Schlange aus deren Mund eine überdimensional lange Zunge nach einem neuen Opfer lechzte, kroch in die Mitte der Halle und ein graufarbener Zyklop mit einer gewaltigen Keule, die er einsatzbereit hinter sich herzog und bei nächster Gelegenheit einzusetzen drohte, stampfte bereits in ihre Richtung. Weiter bot sich ihnen das nächste Ungetüm, ein Säbelzahntiger mit gewaltigen Flügeln und langen, gebogenen Zähnen, dicht gefolgt von einem kreiselnden Derwisch, welcher sich mit ungeheurer Geschwindigkeit ebenfalls in die Mitte der Halle begab und rücklings mit der Schlange zusammenstieß. Blitze zuckten aus seinem kreiselnden Feld und reizten sie bis zur Weißglut, während noch weitere Ungetüme ihren Weg in die Freiheit fanden.

„Lasst uns besser verschwinden!“, meinte Zadig mit panikerfüllter Stimme und sie schlugen die Tür von innen zu und rannten den Gang hinunter.

Die feuchten Mauern wirkten künstlich erschaffen, als gehörten sie vielmehr zu einer Burg. Die Steine waren fein herausgearbeitet und nahtlos aufeinander geschichtet worden. Der Kerker und nun dieser Gang wirkten für Leonora und Zadig wie einem Gebäude zugehörig. Wie konnte es in einem Bergstollen gleichzeitig ein solches Gebäude geben? Allein physikalisch war dies schwer nachzuvollziehen. Wer würde ein Interesse daran besitzen, eine Burg unter der Erde zu errichten?

Noch immer liefen sie so schnell es ihnen möglich war, um endlich das Ende des Ganges zu erreichen. Als sie dort ankamen, gelangten sie in einen Raum, der in seiner Mitte einen gläsernen Kasten besaß. Dieser stand auf einem silberfarbenen Pfahl. In dem Kasten befand sich ein Flakon, der mit silbernen Ornamenten versehen war, aber dennoch war es möglich, an bestimmten Stellen durch das Gefäß zu blicken.

Mit einer flinken Bewegung schlug Zadig auf den Glaskasten, der sofort in seine Einzelteile zerfiel. Gierig langte er nach dem Flakon und hielt ihn nun fest in seinen Händen:

„Endlich! Das Drachenblut!“, rief er zufrieden aus.

Doch im nächsten Augenblick blickte er Leonora an. Sie wirkte niedergeschlagen und der Glaube an ein Artefakt, das ihr die Erinnerungen hätte wiedergeben können, schwand dahin. Sie setzte sich auf den Boden und lehnte sich resigniert gegen das Gemäuer des Raumes.

„Wir sind gefangen!“, stellte Leonora enttäuscht fest, „Der Raum bietet keine Möglichkeit, zu entkommen und draußen warten die schreckenerregendsten Wesen auf uns, die vermutlich seit Äonen dort eingesperrt waren und von uns beiden Idioten befreit wurden. Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass sie nach dieser langen Zeit etwas hungrig sein könnten!“

So kauerte sie nun an der Wand und blickte sinnentleert zu Boden. Für sie war der Weg hier zu Ende. Es gab keine Hoffnung. Selbst wenn Zadig Recht behielt und er seine Magie durch diesen Trank wiedererlangen würde, so könnte er gegen diese fürchterlichen Wesen nichts ausrichten.

„Du wirst vielleicht ein oder zwei von ihnen mit deinem Ring vernichten oder einfrieren können, aber du wirst es nicht bei allen schaffen. Sie werden uns auseinanderreißen, tottrampeln oder fressen. Es kommt nur darauf an, welches von ihnen uns zuerst erreicht!“

Zadig ging zu Leonora und kniete sich vor sie, dabei umfasste er ihre Knie und meinte: „Wir wissen noch nicht, was sich in diesem Flakon befindet und wie es wirkt. Vielleicht wird derjenige sterben, der es trinkt oder ich werde mich nur hervorragend an meine Geburt erinnern und Ihr hättet es besser trinken sollen. Ihr seht, die Situation ist aussichtslos, aber dennoch unklar.“

„Es ist besser, wenn du es trinkst“, gab Leonora nachgiebig zu verstehen. „Ich verzichte darauf, es zu mir zu nehmen. Du sollst es trinken, weil deine Magie uns eine winzige Chance gibt, um uns hier heraus zu holen – so aussichtslos die Situation auch ist. Bitte, trinke du es!“

Zögernd blickte Zadig auf den silbernen Flakon. Am Boden befand sich nur ein einzelner Tropfen einer grünlichen Flüssigkeit. Langsam schraubte er den Deckel auf.

„Es reicht nur für eine Person“, bemerkte Zadig und hielt ihr den Flakon hin. „Erinnern sollt Ihr Euch, wer Ihr seid, und wenn es das letzte ist, was Ihr in Eurem Leben tun werdet.“

„Es wäre töricht, es zu trinken, denn meine Erinnerung wird uns in dieser Situation nicht retten. Nimm du es! Es ist unsere einzige Chance!“

Zadig nickte nachdenklich und er trank den einzigen Tropfen, der sich in dem Flakon befand, während Leonora mit Tränen in den Augen zuschaute.

 

 

 

Kapitel 5

 

Arnakas Doppelgänger

 

 

 

Die Hexe Arnaka öffnete die schwere Holztür und ließ Emily aus dem dunklen Verlies heraus.

„Folge mir!“, sagte die Hexe und schritt voran. Dabei wehte ihr langer, schwarzer Kapuzenumhang vor Emily her und tauchte die Atmosphäre in eine unheilvolle Stimmung.

Emily lief nur zögernd hinterher, da sie der Hexe bis auf das Äußerste misstraute. Sie wusste, dass dies alles eine Falle gewesen war, denn ihr Sprung aus der Welt der Naturgeister in den Traum der Königin wurde von der Hexe offensichtlich erwartet. Aus keinem anderen Grund wäre sonst Arnaka die erste Person gewesen, die ihr begegnete. Auch hatte sie zunehmend Probleme, sich an die Zeit vor dem Verlies zu erinnern. Sie wusste nur noch, dass sie mit einem Mann durch Land und Tal gereist war, um in den Traum der Königin zu springen. Doch wusste Emily nun weder aus welchem Grund, noch wie ihr das im Einzelnen gelungen war. Wenn sie recht darüber nachdachte, war sie sich nicht einmal mehr sicher, ob sie sich überhaupt in einem Traum befand. Langsam begann sie zu glauben, dass sie betäubt und danach in das Verlies geschleppt wurde. Es gab einfach keinen Unterschied in Emilys Wahrnehmung oder ein Hinweis, dass sie sich hier in einem Traum befand. Alles war so, wie sie es schon immer gewohnt war.

„Wo gehen wir hin?“, fragte Emily zurückhaltend, beinahe flüsternd.

„Ich werde dich doch nicht in diesem Verlies verrotten lassen, mein Kind! Ich werde dich auf ein hübsches Zimmer geleiten, dass ich extra für dich habe herrichten lassen. Dort kannst du dich ausruhen und zurecht machen.“

Emily war eigentlich froh, dass sie endlich aus diesem muffligen Verlies geholt worden war. An Flucht konnte sie später immer noch denken, wenn sich die Gelegenheit ergab. In dem Verlies war eine Flucht unmöglich gewesen.

„Werde ich noch die Königin treffen?“

„Sicherlich! Du wirst sie gleich sehen. Sie wartet bereits auf uns“, erwiderte die Hexe.

Während sie durch mehrere dunkle Gänge liefen, die feucht und bedrückend wirkten mit ihrem kalten grauen Gestein und den wenigen Fackeln, die auf unerklärliche Weise ganz automatisch entflammten, sobald man sich ihnen näherte, vernahm Emily plötzlich ein unglaublich lautes Grollen. Es war markerschütternd und ging ihr direkt unter die Haut, sodass sich ihre Nackenhaare aufrecht stellten.

„Was… was war das?“, stotterte Emily ihre Frage heraus.

„Das war nur der Schlosshund. Kümmere dich nicht weiter darum. Er beschützt unser Heim vor Streunern und Dieben.“

Emily hoffte an jeder Abzweigung darauf, dass sie diese dunklen Gänge endlich hinter sich gebracht hätten, aber es folgte dann nur ein weiterer. Sie schienen Teil eines komplexen Irrgartens zu sein, der für einen Gefangenen, falls er es schaffen sollte, sich aus seinem Verlies zu befreien, zu einer weiteren großen Hürde werden würde, die er sicherlich nicht allein bewältigen könnte. Darum war sie sicher, dass ihre Entscheidung, sich von Arnaka herausführen zu lassen, eine gute gewesen war.

Nach einer langen Zeit verließen sie den unterirdischen Trakt über eine Treppe, die nach oben in einen großen Vorraum führte. Auch hier erblickte Emily mehrere Fackeln, jedoch waren sie bereits entzündet und erloschen nicht, wenn man sich von ihnen entfernte. Sie fragte sich, woher die Fackeln wussten, wann sie dauerhaft oder nur dann zu leuchten hatten, wenn man sich ihnen näherte. Das war mit normalen physikalischen Gesetzmäßigkeiten nicht zu erklären.

„Hier befinden wir uns im großen Empfangssaal der Königin. Hier kann das Volk vorsprechen und um Gaben oder Problemlösungen bitten. Wie du siehst, die Königin hat für alles ein offenes Ohr und ist sehr gerecht in ihren Entscheidungen.“

„Von ihrer Gerechtigkeit habe ich bisher aber noch nichts in Echtzeit sehen dürfen“, gab Emily schnippisch zurück.

„Das mag sein, mein Kind, aber lass dir gesagt sein, die Königin wird in wenigen Augenblicken auch in deinem Fall eine gerechte Entscheidung treffen“, erwiderte die Hexe.

„Ich habe nichts Unrechtes getan!“, rief Emily zu ihrer Verteidigung.

„Das werden wir gleich alles klären. Keine Sorge!“, entgegnete Arnaka freundlich.

Nun fühlte Emily weichen und angenehmen Teppich unter ihren Füßen. Dieser führte die beiden direkt auf den Thronsaal zu. Nach vielen Metern erblickte Emily am Ende des Raumes die Königin! Sie saß auf einem herrschaftlichen Thron mit silbernen Verzierungen und Schnörkeln, der wiederum auf einem Podest stand. Die Königin trug ein purpurrotes Gewand und darunter ein weißes Kleid mit Spitze und runden, spiegelnden Pailletten. Ihr Kleid war dermaßen ausschweifend, dass die Schleppe, nahezu wie ein Brautkleid, die Stufen des Podests herunterwallte. Gleich rechts von ihr lag am Boden ein sehr schlanker, schwarzer Hund, der nicht einmal seinen Kopf hob, als sich Arnaka und Emily näherten.

„Eure Hoheit, ich habe hier Emily, ein Menschenkind, das ich im Verlies gefunden habe. Was soll mit ihr geschehen?“, kündigte Arnaka ohne große Umschweife ihr Erscheinen an.

„Das ist Emily? Das ist ja fast noch ein Kind! Und dieses Mädchen hat sich unerlaubt und gewaltsam Zutritt zu meiner Burg verschafft?“, fragte die Königin laut.

Eigentlich war die Königin von sympathischem Aussehen. Sie besaß hellbraune Augen und einen weichen, vollen und auffällig roten Mund. Ihre Nase war wunderschön geformt und ihr Haar blond, lockig und schulterlang.

„Ich habe die Burg nicht gewaltsam betreten!“, rief Emily laut heraus.

Die Königin schaute Emily nun direkt mit einem höchst skeptischen Blick an:

„Für mich ist die Lage eindeutig! Du hast dir unerlaubt Zutritt zu meiner Burg verschafft, hast irgendwie die Wachen ausgetrickst, um an ihnen vorbeizukommen und bist in das Verlies eingedrungen – vermutlich um einen Gefangenen zu befreien.“

„Nein, das ist nicht wahr!“

Die Hexe wandte sich nun Emily zu. Endlich konnte sie Arnaka direkt ins Gesicht schauen, ohne dass es von ihrer Kapuze halb verdeckt war. Sie hatte langes, braunes Haar und eisblaue Augen. Ihre Wangenknochen wirkten hart und sie schien sehr schlank zu sein. So sehr Emily auch Arnakas Augen fixierte, so schaffte sie es nicht, ihr auch nur eine Emotion anzusehen. Die Königin hingegen wirkte sehr emotional und vielleicht sogar ein wenig unbeherrscht.

„Was hast du dann zu deiner Verteidigung zu sagen? Wie bist du dann in meine Burg gelangt und aus welchem Grund bist du sonst gekommen?“, bohrte die Königin weiter.

Emily wunderte sich, warum keine Wachen in der Nähe waren. Normalerweise besaß eine Königin doch eine Leibwache oder Soldaten, die dafür sorgten, dass sie nicht angegriffen wurde. Die einzigen Anwesenden waren wirklich nur die Hexe, die Königin und sie selbst. Das konnte hier nicht mit rechten Dingen zu sich gehen, dachte Emily. Doch davon unabhängig musste sie zugeben, dass die Fragen der Königin sicherlich schwer zu beantworten waren. Genau genommen hatte sie sich tatsächlich unerlaubt Zutritt zur Burg verschafft und ihr fiel im Moment keine passende Ausrede ein. Sie musste nun improvisieren:

„Ich… ich bin im Verlies zu mir gekommen und kann mich an nichts erinnern. Ich glaube, ich bin entführt worden“, log Emily.

Wie sollte sie anders erklären, dass sie mit einem Mann gemeinsam versucht hatte, in die Träume der Königin einzudringen. Das würde ihr niemand glauben, zumal es anscheinend auch nicht möglich war. Offensichtlich war dies kein Traum hier und man hätte sie ausgelacht und gleich verurteilt. Emilys Verdacht, dass die Hexe sie bereits erwartet hatte, bröckelte vor sich hin, denn wie es aussah, wussten sie beide nicht, wie sie hierhergekommen war.

„Vielleicht bist du aber einfach nur tollpatschig gewesen und hast dich dort unten versehentlich selbst eingesperrt“, warf Arnaka von der Seite her ein. Es war unklar, ob sie Emily damit verteidigen oder lächerlich machen wollte.

„Wie dem auch sei! Wir müssen dann erst einmal überprüfen, ob deine Version stimmt und du tatsächlich entführt wurdest. Arnaka, bring sie auf ihr Zimmer. Dort wird sie so lange verwahrt, bis es einen Zeugen für ihre Erklärungen gibt“, befahl die Königin und erhob sich.

Sie warf noch einen Blick in die Runde, stieg das Podest herunter, drehte sich nach links und verließ mit ihrer weiten Schleppe graziös den Raum.

Nachdem die Königin verschwunden war, schaute Emily Arnaka an:

„Und wie soll ich nun beweisen, dass ich entführt wurde? Die Entführer werden sich ja wohl kaum melden und das zugeben.“

„Wir wissen beide, dass du diese Geschichte nur erfunden hast!“, platzte es aus Arnaka heraus. „Du bist hier hergekommen, weil man dir weisgemacht hat, dass die Königin unter meinem Einfluss steht und ich sie verhext hätte. Du bist nur gekommen, um mich zu töten!“

Emily verschlug es die Sprache! Die Hexe sprach nun klare Worte und gab zu verstehen, dass sie die ganze Zeit Bescheid gewusst hatte.

„Weiß die Königin auch Bescheid?“, stammelte Emily unsicher.

Die Hexe schüttelte langsam den Kopf. Dann ging sie einige Schritte zurück, als wollte sie zu Emily auf Abstand gehen:

„Du fragst dich nun bestimmt, warum ich dich bei der Königin nicht verraten habe… Nun, ich wollte dir noch einmal die Möglichkeit geben, deine Gedanken und Gefühle zu überprüfen. Überlege doch einmal, was bisher geschehen ist: Du bist mit diesem Formwandler in diese Welt gekommen und er hat dir eine rührselige Geschichte über eine Tochter erzählt, die es gar nicht gibt. In Wirklichkeit möchte der Formwandler auf den Thron der Königin gelangen, aus keinem anderen Grund hat er dich vorgeschickt!“

Emily riss ihre Augen auf und konnte die Worte Arnakas nicht glauben. Der Formwandler, dessen Name sie mittlerweile schon fast völlig vergessen hatte, schien immer sehr nett und hilfreich gewesen zu sein. Er hatte sich doch einmal schützend vor sie gestellt, damit der Pfeil der Hexe Emily nicht traf.

„Und was ist mit deinem Pfeil, den du auf mich abgeschossen hast? Du wolltest mich töten!“

„Nein, das wollte ich nicht“, antwortete Arnaka scharf. „Ich wollte diesen Formwandler treffen, da er dich in dem Moment töten wollte. Du warst unaufmerksam und hattest angefangen, ihm zu vertrauen. Das war seine große Stunde und er hatte endlich einen unachtsamen Moment entdeckt, in dem er dich hätte besiegen können.“

Angestrengt dachte Emily nach. Entsprach dies den Tatsachen? Immerhin hatte sie ihm gegenüber stets ein gewisses Misstrauen empfunden, das einfach nicht völlig verschwinden wollte. Sollte es etwa so gewesen sein, dass der Formwandler einfach nur die Chance ergriffen hatte, um das Misstrauen endgültig aus dem Weg zu räumen, indem er dann so tat, als hätte er den Pfeil der Hexe aufgefangen und wäre daran fast vergiftet?

„Glaubst du etwa, er hat das alles nur geschauspielert?“, wollte Emily wissen.

„Richtig, so sehe ich das. Überleg einmal, erst von diesem Moment an hast du ihm vertraut. Mein Versuch, ihn zu töten, war fehlgeschlagen und anstatt zu fliehen, hat er den Umstand dazu benutzt, um dein Vertrauen ein für alle Mal zu gewinnen.“

Nun überschlugen sich die Gedanken in Emilys Kopf. Die ganze Situation zerriss sie innerlich entzwei. Auf der einen Seite besaß sie warme und freundschaftliche Gefühle für den mysteriösen Formwandler, aber auf der anderen Seite war das ursprüngliche Misstrauen wieder gewachsen. War etwa alles von Anfang an von ihm geplant gewesen? Emily fühlte sich so gespalten, dass sie nicht mehr wusste, was nun stimmte oder nicht.

Plötzlich ging die dunkle Hexe zur Seite und Emily konnte deutlich die Doppelartigkeit ihres Wesens erkennen. Jede Bewegung erschien ihr, als würde sie diese zweifach ausführen und zog eine Art silbernes, halb durchsichtiges Abbild ihrer selbst hinter sich her.

"Was ist das?", rief Emily erstaunt ins Zwielicht der großen Halle. "Ich sehe dich ja doppelt!"

"Das liegt daran, mein Kind, dass ich in mir nicht mehr allein bin. Ihr Menschen, ihr seid einsam, euer ganzes Leben lang!"

„Wie meinst du das?“, fragte Emily irritiert.

„Sieh dich an! Du bist nun hin- und hergerissen und weißt nicht mehr was stimmt und was nicht! Du bist blind und naiv, weil dich deine Mitmenschen so gemacht haben. Sie haben dir verwirrende Geschichten erzählt, damit du nicht mehr klar denken kannst. Du lebst nur noch von einem Genuss in den nächsten, aber erkennst die Trickserei dahinter nicht. Deine Eltern sind nicht deine Eltern und deine Freunde nicht deine Freunde. Die Gedanken, die du hast, haben sie dir eingepflanzt, als du jung und dumm warst.“

Emily schaute die Hexe misstrauisch an: "Ich glaube dir kein Wort!"

"Doch, mein Kind, dein Alltag und deine Welt sind ohne Zauber. Nicht, weil sie tatsächlich ohne Zauber wäre, sondern weil sie von dunklen Mächten regiert wird, die euch den Zauber genommen haben. Sie sind Hexer und Magier ohnegleichen und haben Wege gefunden, euch blind zu machen."

"Wie sollen sie das gemacht haben?"

"Über die Nahrung, mit Rauchwerk und mithilfe von Zaubersprüchen...", entgegnete die Hexe, während sie sich wieder zur Seite bewegte und noch immer ein durchscheinendes Doppel ihres Körpers hinter sich herzog.

"Und hör auf, dich dauernd zu bewegen und diesen komischen Trick da zu machen. Das macht mich völlig kirre im Kopf!", rief Emily. "Außerdem glaube ich nicht an Zaubersprüche!"

"Du dummes Kind! Du verstehst nur meine Worte nicht, das ist dein Problem! Ein Zauberspruch kann auch ein Satz sein, den jeder glaubt und den jeder als seine eigene Realität anerkennt. Alles, was diesem Satz widerspricht, wird als Verrücktheit oder Fantasie abgetan. Sieh dir beispielsweise mein durchscheinendes Doppel an. Du kannst an seine Existenz nicht glauben, weil über dich ein Zauberspruch verhängt wurde. Du glaubst, es sei ein Trick. Dieser andere Zauberspruch macht dich blind, lässt dich zweifeln und im Endeffekt nimmst du nur das wahr, was dir dieser Zauberspruch befiehlt. Dass du mein Doppel sehen kannst, das verdankst du nur meiner bloßen Anwesenheit. Nur, weil ihr allesamt verzaubert seid, kann ich mich frei in eurer Welt bewegen und niemandem falle ich auf."

"Das ist irgendwie sehr beunruhigend, dass du niemandem auffällst! Du könntest sonstwas anrichten!", rief Emily empört.

"Nein, es ist sehr beunruhigend, dass dies die dunklen Magier können, die eure Welt anführen. SIE fallen niemandem auf. Ich bin nur eine Hexe, die sich von ihnen befreit hat. Mein Preis, den ich dafür zahlen musste, war, dass ich nun als böse gelte."

Emily ließ sich auf die Stufen des Podestes sinken und vergrub ihr Gesicht in ihren Handflächen.

„Ich weiß nicht mehr, was stimmt und was nicht. Ich sehe die böse Hexe doppelt und den Formwandler als Trickser. Was ist denn nun wahr und was ist falsch? Was soll ich tun? Was ist richtig und was nicht?Was ist mit mir passiert??“

„Was mit dir passiert ist?“, rief es plötzlich aus einer dunklen Nische des Raumes und die Königin trat hervor. „Du hast das Rätsel empfangen, das auch mir gestellt wurde.“

Nun bewegte sich die Königin einfach an Emily vorbei. Der Stoff ihres Kleides rauschte an ihr entlang und berührte ihre Schulter. Dann setzte sich die Königin wieder auf ihren imposanten Thron.

"Und, Emily, kannst du dieses Rätsel lösen?", fragte die Königin.

„Welches Rätsel denn?“

„Nun, die Fragen die du dir stellst! Entscheide dich, was ist richtig und was ist falsch und warum siehst du die Hexe doppelt?“

„Woher soll ich das wissen? Ich weiß nicht einmal, was hier geschieht!“

„Dann kann ich dich auch nicht gehen lassen“, erwiderte die Königin.

"Nein, ich kann das Rätsel nicht lösen!", resignierte Emily nun und schaute zu Boden.

Die Königin kicherte vergnügt und rief: "Dann gib doch endlich auf!"

"Gut, ich gebe auf. Verrate mir die Lösung!", bat Emily sie nun verzweifelt.

"Die Lösung? Ich habe keine Ahnung!", antwortete die Königin und lachte irre, als sei sie von einer unheilvollen Kraft besessen, die ihr die Sinne vernebelte.

Doch wie Emily es auch drehte und abermals drehte, sie konnte die Königin nicht verurteilen, unabhängig davon, ob sie nun besessen war oder nicht, denn sie war ebenso dumm wie sie und beide konnten das Rätsel nicht lösen.

"Was wird nun mit uns geschehen?", fragte Emily.

"Nichts, alles wird bleiben, wie es ist!", entgegnete die Königin.

"Und das bedeutet wohl, ich muss für immer hier bleiben?"

"Richtig! Für immer. Genau wie ich und all die anderen, die in meinem Reich unter mir dienen."

 

 

Fortsetzung folgt...

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 21.10.2011

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