In der Ferne hörte man das Rauschen der Wellen. Die Luft roch salzig und Möwen, die sich an den übriggebliebenen Leckerbissen in den Fischernetzen labten, kreischten um die Wette. Wir schreiben das Jahr 1889, Meiji-Zeit, in Fukuoka. Momoko war gerade erst 8 Jahre alt, als sie von ihrer Familie fortgerissen wurde. Sie war Dienstmagd bei einem hohen Beamten des kaiserlichen Hofes, Kobayashi-san. Er behandelte sie gut, zumindest für ihren Stand. Sie bekam stets genug zu essen, frische Kleidung und wurde nur selten geschlagen, aber ihre täglichen Pflichten als Dienstmagd beanspruchten sie völlig, sodass sie vom frühen Morgen an, wenn die Möwen aus ihrem Schlaf erwachten, bis zum Abend zu schuften hatte. Sie beklagte sich nie. Zu etwas anderem wär sie auch nie in der Lage gewesen. Sie war verantwortungsvoll, zuverlässig und viel zu ängstlich, um auch nur ein Wort der Klage von sich zu geben. Das war wohl auch der Grund, warum sie von Kobayashi-san so selten geschlagen wurde. Die andere Dienstmagd, Ayako, drei Jahre älter als sie, musste regelmässig Schläge über sich ergehen lassen, denn sie war freiheitsliebend, fühlte sich gefangen und konnte nicht schweigen. Sie konnte sich in ihr Schicksal nicht einfügen, wollte ein eigenes Leben haben. Momoko verstand das nicht. Sie war zufrieden mit dem was sie hatte. Sie konnte sich einfach kein anderes Leben vorstellen. Vermutlich lag es auch an ihrer Ängstlichkeit. Im Hause Kobayashi musste sie zwar von morgens bis abends schuften, aber sie war dort in Sicherheit. Sie hatte einen geregelten Tagesablauf und musste nicht fürchten, Hunger zu leiden. Bei ihrer Familie musste sie das oft. Sie war zu arm und das, was sie beim Fischfang verdiente, reichte gerade mal aus um zu überleben. Ihre Eltern hatten keine andere Wahl, als sie fortzuschicken. Sie hatte drei Brüder, und noch eine kleine Schwester. Ihre Brüder waren stark und konnten somit beim Fischfang mithelfen. Ihre Schwester war damals noch ein Baby und ihre Mutter wollte ihr das Schicksal eines Freudenmädchens ersparen oder das einer Geisha, obgleich niemand sie ihr in diesem Alter abgenommen hätte. Momoko machte sich damals schon sehr nützlich, indem sie alte Fischerfangnetze flickte oder ihre kleine Schwester hütete, aber da ein Kind nun mal weg musste und alle anderen dafür nicht in Frage kamen, wurde sie fort geschickt. Sie beklagte sich auch damals nicht, sondern weinte nur stumm. Sie wusste, dass sie als Dienstmagd bei den Kobayashis unterkäme. Sie machte ihre Arbeit gut und obwohl sie noch so klein war, spürte sie nicht das Bedürfnis zu spielen. Teilweise hatte man sogar den Eindruck, sie würde ihre Arbeit lieben, würde darin aufgehen, aber das täuschte nur, denn sie konnte sich so am besten ablenken und eine andere Wahl blieb ihr sowieso nicht.
Obwohl die anscheinend nur ein Leben führte, das nur aus Haushalt bestand, hatte sie dennoch einen Traum. Sie Träumte vom Meer. Ihr Vater hatte sie damals ab und zu zum Fischen mit aufs Meer genommen. Sie liebte das tiefe Blau und Grün, den salzigen Wind, der ihr ins Gesicht wehte. Aus diesem Grund schlich sie sich jeden Abend nach der Arbeit aus dem Haus. Sie ging durch das grosse Eingangstor. Ihre Holzgetas klapperten auf den gepflasterten Straßen. Man hörte die Stimme der Marktleute, die Ihre Waren einpackten und sich bereits auf das Abendessen daheim freuten. Sie schlängelte sich durch die engen Gassen, der salzige Luft folgend. Nachdem sie den Marktplatz überquert hatte, konnte man bereits die Möwen hören und die salzige Luft wurde intensiver, nur noch ein paar Schritte und der Hafen war in Sicht. Auch wenn sie jeden Abend dorthin ging, war sie dennoch stets wieder von neuem beeindruckt von den großen Schiffen und den vielen Menschen.
Sie ging zu den freien Bootsstegen und setzte sich am Ende hin, sodass sie Ihre Füsse im Wasser hätte baumeln lassen könnte, wenn sie größer gewesen wäre. Die Sonne ging langsam am Horizont unter. Nach einer Weile hörte sie die Stimmen der langsam weniger werdenden Menschen nicht mehr, denn sie war in ihre Welt eingetaucht. Sie schloss die Augen und sog die frische Meeresluft tief ein. Es war Frühling und noch relativ kühl, sodass sie mit ihrem grauen dünnen Kimono hätte frieren müssen, aber sobald sie am Hafen war, vergass sie solche Nichtigkeiten und genoss, als ob es nichts Schöneres gäbe. Inzwischen war sie bereits sechs Jahre bei den Kobayashis und jeden Abend, egal ob es regnete oder stürmte, ging sie zu diesem Hafen, sass auf einem der Bootstege und genoss das Meer. Als sie die Augen wieder öffnete, spürte sie die Kälte, die langsam unter ihren Kimono gekrochen kam, und beschloss, wieder zurück zu gehen. Doch an diesem Abend passierte etwas Unerwartetes. Ein Junge in einem braunen, einfachen Kimono trat auf sie zu. Weder grüsste er sie oder machte sich auf eine andere Weise bemerkbar. Er blieb nur stehen und schaute sie an. Sie schaute schnell weg, ignorierte ihn und ging denselben Weg, den sie gekommen war, rasch wieder zurück. Der Junge hielt sie nicht auf, sondern schaute ihr lediglich nach, wie sie in einer dunklen Gasse langsam verschwand. Momoko kannte diesen Jungen nicht, wollte es auch nicht. Sie hatte ihre Arbeit und das reichte ihr.
Dennoch dachte sie im Laufe des Abends noch Öfters an ihn. Auch ihr nächster Tag verlief wie der Tag zuvor. Heute hatte sie eine Vase zu Bruch gehen lassen, als sie den grossen Speisesaal mit dem Staublappen auf Hochglanz bringen sollte. Es klirrte und Scherben lagen verstreut auf den Tatami. Momoko hockte sich hin und verschränkte die Arme über dem Kopf. Es war nur eine Frage der Zeit bis die Dame Kobayashi den Saal betreten und sie für ihr Benehmen rügen oder vielleicht sogar schlagen würde. Herr Kobayashi hatte am Hoff zu tun, aber Abends nach seiner Heimkehr würde er es sich sicherlich nicht entgehen lassen, sie ebenfalls für die zerbrochene Vase zur Verantwortung zu ziehen.
Doch auch nach einer Viertelstunde war niemand erschienen, zumindest niemand, der ihr Leid hätte zufügen wollen. Die Dienstmagd Ayako betrat den Saal, in der rechten Hand einen Besen und in der linken eine Schüssel für die Scherben. Ayako hockte sich neben Momoko und legte ihr, nachdem sie den Besen und die Schüssel abgelegt hatte, den Arm um die linke Schulter. „Hey, es wird niemand kommen. Die Dame Kobayashi hat in momentan andere Sorgen. Das nenn ich Glück im Unglück.“ Momoko lächelte sie erleichtert und freundlich an. „Herr Kobayashi wurde hingegen ihrer Erwartung nicht befördert, sondern einen Amt zurückgestuft. Man wirft ihm vor, seine Ansichten seien konservativ und der neuen Zeit deswegen nicht angemessen.“ Man konnte deutlich die Schadenfreude in Ayakos Stimme hören. Momoko stand auf und wollte das Malheur beseitigen, als Ayako ihr mitteilte, sie habe nicht vor, heute noch etwas im Haushalt zu tun, da sich darum sowieso keiner scheren würde. Sie erwiderte mit einem Lächeln und wünschte ihr einen schönen Nachmittag. Als Ayako den Saal verlassen hatte, nahm sie den Besen und fegte die Scherben auf. Pflichtbewusst, wie sie war, erledigte sie ihre Aufgaben und ging anschliessend zurück zu ihrem geliebten Meer.
Als sie einen freien Bootssteg ansteuerte und sich setzte, bemerkte sie nicht, dass der Junge von gestern ihr folgte. Sobald sie Platz genommen und ihre Augen geschlossen hatte, um zu geniessen, sprach er sie an. „Wie heißt Du?“ Sie öffnete wieder ihre Augen und antwortete, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. „Momoko.“ „Pfirsichblüte? Ein schöner Name. Es ist bald so weit. Kirschblüten sind auch sehr schön, oder? Mein Name ist übrigens Toya, ich bin 16. Ich bin ein Neffe des Stoffhändlers. Kennst du den Laden meines Onkels?“ Sie antwortete ihm nicht, blickte nur aufs Meer und man hatte den Eindruck, sie würde ihn ignorieren, aber sie lauschte nur seiner Stimme. „Ich habe dich schon seit einiger weile beobachtet. Du schaust immer aufs Meer. Warum?“ Sie zögerte, ob sie ihm antworten sollte. Die Dame Kobayashi hatte ihr verboten, mit anderen zu reden, aber er schien nett zu sein. „Ich mag das Meer. Es beruhigt mich.“ Toya lächelte sie an. „Das kann ich verstehen. Ich mag es aus demselben Grund.“ Danach folgte schweigen. Beide schlossen die Augen und sogen die frische, salzige Luft ein, während die Sonne langsam unterging. Momoko öffnete zuerst ihre Augen, denn ihre innere Uhr sagte ihr, es wär Zeit, wieder zurück zu gehen. Sie stand auf und ging zum anderen Ende des Bootssteges, dann drehte sie sich um und sagte: „Tschüss, Toya!“ Daraufhin drehte er sich um und sagte ihr „Manchmal wünsche ich, ich könnte fliegen.“ „Wie eine Möwe?“ erwiderte sie. „Ja, wie eine Möwe.“ Sie lächelten sich an, denn beide wussten, was gemeint war. Mit einem Lächeln auf den Lippen durchquerte sie die Gassen.
Als sie bei den Kobayashis ankam, hörte sie, wie sich das Ehepaar des Hauses stritt. Herr Kobayashi verliess wutschnaubend das Schlafgemach seiner Gattin. An seiner Alkoholfahne merkte man, dass er versucht hatte, seinen Kummer für eine Weile zu vergessen. Als er Momoko sah, ging er auf sie zu und schlug sie zusammen. Seinen ganzen Kummer liess er an ihr aus. Bewegungsunfähig wurde sie später von Ayako in ihr gemeinsames Schlafgemach gebracht. Bis auf weiteres hatte sie Hausarrest. Etwa eine Woche konnte sie das Meer nicht sehen, was für sie wohl die schlimmere Strafe war, als die Schläge, die sie erhielt. Herr Kobayashi war zur dieser Zeit besonders gereizt und da kam ihm eine gebrochene Vase nur recht. Er gab sich immer öfter dem Alkohol hin, bis er eines Morgens tot vom Meer an den Strand gespült wurde. Im Betrunkenem Zustand sei er ins Meer gefallen und ertrunken, hiess es. Die Dame Kobayashi wollte zurück zu ihren Eltern gehen, um den Tod ihres Gatten zu verkraften, hiess es offiziell. Ob man über das Verhältnis der beiden von Liebe sprechen konnte, ist zu bezweifeln. Ihr Mann hatte sie dazu einfach viel zu oft betrogen. Momoko landete auf der Strasse. Zeitlos streifte sie durch die Strassen und ihr fiel nur der Stoffhändler ein. Sie ging durch ganz Fukuoka, um ihn ausfindig zu machen. Sie betrat seinen Laden und verlangte mit Toya zu sprächen. Mit einer gerümpften Nase wegen ihres einfachen Gewandes antwortete er ihr, er sei zu einem anderen Onkel gezogen, er habe sich lange genug um ihn gesorgt. Sie erfuhr ausserdem, dass er ein Waise ist. Seine Eltern seien bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen. Mit gesenktem Kopf verliess sie den Laden. Was sollte sie jetzt tun? Sie hatte niemanden. Ayako war mit einem Fischer durchgebrannt. Sie hatte wirklich niemanden. Das einzigste, was ihr noch einfiel, war das Meer. Sie hätte zu ihrer Familie zurückgehen können, aber sie würde ihnen nur zur last fallen.
Lange streifte sie durch die Stadt, bis sie unter ihren Füssen weichen, warmen Sand spürte. Sie war am Strand. Es dämmerte bereits, das Meer brauste und ein paar Möwen kreischten, als würden sie sich eine gute Nacht wünschen. Sie hockte sich hin und liess den Wind ihre Haare zerzausen. Mit ihren Armen umklammerte sie ihre Beine und beobachtete starr die Wellen. Ab und zu schaffte es eine, ihre Füsse zu berühren. Sie lächelte. Aber dann fiel ihr wieder ihre Situation ein. Sie hatte keine Ausbildung, kein Zuhause, keine Freunde, keine Hoffnung. Selbst mit solchen Zukunftsaussichten beklagte sie sich nicht. Sie hätte sich auch woanders um eine Stelle als Dienstmagd bewerben können, denn Fukuoka ist eine grosse Stadt. Dennoch zog sie das nicht in Erwägung. Sie war müde geworden, war alles leid, hatte Angst. Es wurde Nacht. Sie sass immer noch reglos da, dachte über ihr Leben nach, schaute das Meer an.
Als sich die Wolken vom Vollmond langsam fortbewegten und ihn freigab, stand sie auf und ging mit geradeaus gerichteten Blicken zu den Wellen. Wie in Zeitlupe setzte sie Fuss vor Fuss. Inzwischen reichte ihr das Wasser bis zu den Knien, dann bis zur Hüfte, und schliesslich hatte das Meer sie gänzlich verschlungen. Das Schicksaal herausfordernd. Sie war stolz auf sich. Gibt es etwas Wichtigeres im Leben, als sein Traum zu erfüllen?
Langsam dämmerte es. Die Möwen erwachten langsam und flogen kreischend über das Meer. Sie hielten Ausschau nach einem neuen Leckerbissen. Die Wellen hatten schon längst ihre Fussspuren verwischt..
Tag der Veröffentlichung: 14.11.2016
Alle Rechte vorbehalten