„Da sind keine großen Erinnerungen.“
„Wie meinen du das?“
„Ich meine, dass so gut wie alles ausgelöscht ist. Unter der glühenden Hitze verbrannt. Ich weiß so gut wie gar nichts mehr. Ich denke es wäre besser, wenn sie jemand anderen interviewen.“
Der weiße Mann mir gegenüber lächelte.
„Du brauchst nicht viel zu wissen. Erzähl mir doch einfach das was du noch weißt.“
Ich sah ihn misstrauisch an. Was interessierte es ihn überhaupt was ich erlebt hatte? Die weißen scherten sich doch sowieso einen Dreck um uns. Wieso sollte er anders sein? Auf der anderen Seite: mir wurde eine doppelte Ration Essen versprochen… Was kostete es? Es waren ja nur Worte. Worte, die die Welt verändern konnten. Die Farbe des Himmels neu betupfen. Worte, die mehr wogen, als alles andere auf der Welt. Die alle Theorien in Frage stellen. Aber das wusste ich noch nicht.
Ich atmete tief durch.
„Was wollen Sie denn wissen?“, fragte ich vorsichtig. Der Mann vor mir blätterte ein Blatt von seinem Notizblock um. Sein Hemd hat unter den Achseln Schweißflecken und sein Gesicht war nass vom schwitzen. Komischer Mann. Für Frühjahr war es eigentlich ziemlich kühl. Um richtig zu schwitzen sollte er im Hochsommer vorbei schauen. Aber da hätte er uns sowieso schon wieder vergessen. Trotzdem versuchte er freundlich zu sein.
„Naja, ich würde gern wissen, ob dich noch an etwas erinnerst bevor du in dieses Hilfsorganisationscamp gekommen bist.“
Ich legte meinen Kopf schief und dachte nach.
„Wie schon gesagt, da ist nicht viel. Ich erinnere mich, dass wir in einer kleinen Hütte gewohnt haben. In einem Dorf, nicht weit von der Stadt entfernt. Bis es zu gefährlich wurde und wir geflohen sind.“
„Das ist alles?“, fragte der weiße Mann.
„Ja, das ist es.“
Der Mann sah mich stirnrunzelnd an. Ich hasse es, wenn jemand das mach! Dann sagte er:
„Schließ die Augen, Chipo.“
„Was?“ Der Mann lächelte.
„Du brauchst keine Angst zu haben. Mach deine Augen zu. Ich möchte dir etwas zeigen.“
Ich sah ihn an und machte widerwillig die Augen zu. Was man nicht alles macht für eine doppelte Ration Essen.
„Entspann dich. Es wird dir niemand etwas tun.“
Also versuchte ich mich zu entspannen. Ich atmete tief durch und konzentrierte mich auf das Schwarz vor meinen Augen.
„Und jetzt erzähl mir noch einmal was passiert ist. Von Anfang an.“
Ich runzelte die Stirn.
„Wir waren zuhause“, begann ich.
„Alles war wie immer. Es war ein Morgen wie jeder andere. Wir standen auf, als die Sonne aufging. Ich, meine drei Schwestern Aza, Baya und Chiku und mein Bruder Bruk. Meine Mutter Laini und mein Vater Labaan waren wie immer schon wach. Der Tag verlief normal, ohne Zwischenfälle, ohne Regen. Es gab wie immer Maisbrei zum Essen. Für etwas Anderes hatten wir kein Geld mehr. Wir gingen ins Bett, aber ich schlief nicht lange. Ich wachte mit einem unguten Gefühl im Magen auf. Irgendetwas drückte dagegen. Als ich aus dem Fenster schaute, war der Mond gerade erst aufgegangen, also dürfte nicht lange Zeit vergangen sein. Und dann hörten wir es…“
Ich stockte.
„Was Chipo, was hörtet ihr?“, fragte der Mann ruhig und eindringlich. Ich wollte nicht weiterreden, aber ich Zwang meine Lippen sich wieder in Bewegung zu setzen.
„Einen Knall. Und dann noch einen. Und noch einen. Zuerst dachte ich, jemand würde auf Vögel schießen oder so was, aber als ich die erschreckten Gesichter meiner Eltern sah, wusste ich, dass etwas passiert sein musste. Sie sprangen auf und begannen zu packen, sie wirbelten durch das Haus wie zwei verlassene Geister und schoben uns dabei vor sich her wir Eisenkugeln, die an ihren Fußfesseln befestigt waren. Nach nicht mehr als zwei Minuten waren wir schon aus der Hütte und liefen die Straße runter. Unsere Eltern drängten uns, wir rannten, wir rannten und weinten aus Angst, weil wir nicht wussten was mit uns passierte. Weil wir unerwartet Angst vor unseren Eltern haben mussten, die sich so plötzlich in Ungeheuer verwandelt hatten und uns jagten wie Indianer ihre Beute. Mein Vater trug nur die Jüngste von uns allen, Chiku, sie war erst eineinhalb Jahre alt. Der Rest von uns rannte so schnell er nur konnte. Als wir irgendwann endlich anhielten um uns auszuruhen, brach Aza in einem heftigen Asthma Anfall zusammen und Baya begann zu weinen, weil wir ihre einzige Puppe nicht mitgenommen hatten. Meine Eltern hatten in all dieser Eile nur das wichtigste mitgenommen. Bayas Puppe war es nicht gewesen.
Wir machten nicht mehr als zehn Minuten Pause, dann gingen wir weiter. Immer und immer weiter, aber wenigstens rannten wir nicht mehr. Wir hatten Glück, es war nicht tagsüber passiert, sonst wären wir unter der Einstrahlung der Sonne und von dem blauen Himmel geblendet worden. Wir liefen so lange, bis ich das Gefühl hatte, meine Beine würden auseinanderbrechen oder zusammenfallen wie ein Klappstuhl. Als wir endlich anhielten ging die Sonne schon auf. Wir legten uns unter den Schatten eines verdorrten Busches und trotz der Hitze schliefen wir ein. Meine Mutter weckte mich. Es muss nach dem Stand der Sonne um die neun Uhr gewesen sein. Und wir liefen weiter. Weiter. Weiter. Und ich weinte. Meine Geschwister weinten. Wir flehten unsere Eltern um Wasser an, denn mehr als einen Schluck hatten wir seit wir geflohen waren nicht bekommen, aber sie gaben uns nichts. Anfangs versuchten sie es uns noch zu erklären.
„Nein, Chipo, es tut mir leid, aber ich kann dir kein Wasser mehr geben. In der nächsten Zeit müssen wir an Wasser sparen“, sagte meine Mutter. Aber irgendwann hörten sie auf uns erklären zu wollen, dass wir einfach nicht genug Wasser hatten für alle. Mein Hals begann auszutrocknen, selbst das schlucken begann schwer für mich zu werden, aber ich musste nur in die Gesichter meiner Familie schauen um zu sehen, das es ihnen genauso ging. Wir liefen vielleicht drei Tage so weiter, bis auch das Essen knapp wurde. Wir begannen zu hungern. Und wenn wir etwas zu Essen hatten, war unser Hals so trocken, das wir es nur mit Mühe schlucken konnten. Unter der Einstrahlung des gelben Kreises am Himmel und dem staubigen Sand der ausgedorrten Wüste durch die wir liefen, begannen unsere Gedanken zu schwinden. Sie drehten sich durch unsere Köpfe und verschwammen unter Durst und Hunger. Ich hatte keine Kraft mehr zu denken. Das einzige was ich tat, an was ich denken konnte, war tagsüber zu laufen, nachts zu schlafen. Zu mehr war ich nicht mehr fähig.
Nach ungefähr zehn Tagen wurde ich am Morgen nicht von der heißen Hand meiner Mutter geweckt, sondern von den Schreien meines Vaters. Unter meinen verschwommen Gedanken, sah ich meinen Vater über den reglosen Körper meiner Mutter und meiner Schwester Chiku gebeugt. Er rüttelte sie beide, er schrie sie an und als er dann endlich bemerkte, dass sie sich nicht bewegen würde, sackte er auf die Knie, vergrub die Hände in sein Gesicht und begann jämmerlich zu weinen. Ich hatte meinen Vater noch nie in so einem Zustand gesehen. Der Sand hatte sich in seinem Bart und in seinen Wimpern verfangen, seine Wangen waren fahl und er war abgemagert wie wir alle. Ich wusste nicht was ich tun sollte, aber ich wollte das mein Vater aufhörte zu weinen, mein so starker Vater, der immer derjenige war, der uns zum Weitergehen treibte, war am Boden zerstört. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte bis er sich wieder erhob, seiner Frau die Arme auf der Brust kreuzte, ein kurzes Gebet für sie sprach, uns ansah und rief: „Kommt wir haben keine Zeit zu verlieren!“ Wir taten was er sagte. Ohne Widerworte. Wir hatten gelernt zu gehorchen. Und so liefen wir weiter, aber wir kamen nicht weit, denn nach nicht mehr nach zweihundert Metern, drehte sich Bruk herum und rannte zu unserer Mutter zurück und schüttelte sie. „Komm Mama, Bitte. Papa will ohne dich weitergehen, da kannst du doch nicht zulassen. Lass uns nicht allein!“
Mein Vater sah zuerst seine Frau, dann Bruk an und zehrte ihn von ihr weg. Mein Bruder wehrte sich, aber er hatte keine Chance. Mein Vater war viel zu stark für ihn. Also liefen wir weiter. Als wäre nichts passiert. Als würde niemand fehlen. Mein Vater versuchte stark zu sein für uns, aber in dieser Nacht hörte ich ihn weinen.“
Ich machte die Augen auf und sah den weißen Mann an, der auf seinem Stuhl saß und weinte. Die Tränen rannen ihm über die Wangen, wie bei einem Wasserfall. Ich wusste nicht was ich tun sollte, ich hatte noch nie einen weißen Mann weinen sehen. Vor allem nicht wegen mir. Weil ich nicht wusste was ich tun sollte sagte ich:
„Zwei Tage später erreichten wir das Camp. Wir haben jetzt ein Zelt, Wasser und Essen.“
Der Mann nickte und schaute mir in die Augen. Ich rutschte auf meinem Stuhl herum.
„Darf ich jetzt gehen?“
Er schniefte.
„Ja, das kannst du, Chipo.“
Ich sprang auf und rannte beinahe aus dem Zelt.
„Chipo?“
Ich drehte mich um.
„Gib die Hoffnung nicht auf, mein Junge!“
Ich nickte und verschwand aus dem Zelt.
Tag der Veröffentlichung: 13.08.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich habe dieses Buch für die Kinder In Ostafrike geschrieben und hoffe das ich einen Teil dazu beitragen kann, ihnen zu helfen.