Ich machte die Augen auf. Auf jeden Fall versuchte ich es. Die Welt um mich herum drehte und wendete sich. Mir wurde speiübel und ich schloss die Augen wieder. Alles schmerzte fürchterlich. Jeder Zentimeter meines Körpers schien überfahren worden zu sein. Die Schwerkraft presste meinen Bauch auf den Boden, sodass ich vor Schmerzen fast das Bewusstsein verlor. Der leichte Nieselregen schien jetzt Tonnen zu wiegen, als er auf meinen Rücken prasselte. Wieder machte ich die Augen auf und diesmal schaffte ich es, sie auf zu behalten. Ich starrte auf den Schlamm der Straße auf der ich lag. Die Häuser waren alle halb zerfallen und keiner schien große Lust gehabt zu haben sie wieder aufzubauen. Die Dunkelheit hinderte mich daran mehr als das zu sehen. Es war mitten in der Nacht. Ich stöhnte. Niemand würde vor Anbruch des Tages kommen, um mir zu helfen und selbst wenn jemand kam, war ich mir nicht sicher ob er mir überhaupt helfen würde. So wie die Häuser aussahen hatten die Bewohner genug mit sich selbst zu tun.
Wie bin ich nur hier her gekommen?
Ich wusste es nicht mehr. Ich wusste gar nichts mehr. Nichts mehr außer ein großes, schwarzes Loch. Nicht einmal mehr meinen Namen. Ich suchte jeden kleinen Fetzen meiner Gedanken ab, aber ich fand absolut nichts.
Keine Gedanken.
Keine Erinnerungen.
Kein Leben.
Keine Namen.
Nur die Schmerzen, die mir den Atem raubten.
Panik überkam mich. Sie schnürte mir den Hals zu, klammerte mein Herz fest und ließ es dann beinah davon springen. Die Panik quetschte mich aus wie einen nassen Waschlappen. Sie überflutete mich mit Wahnvorstellungen und Ängsten. Ich schloss die Augen, versuchte mich zu beruhigen und fiel vor Angst in Ohnmacht.
Ich stand auf. Ich weiß nicht wie lange ich wie der in der Schwarzen Leere war, aber es war Tag und ich schaffte es. An der Wand abstützend kroch ich langsam auf die Beine bis ich stand. Ich holte tief Luft und ein Schmerz schoss mir durch die Rippen. Mein Blick wanderte auf den Boden, der mein Gefängnis gewesen war und sah die rote Farbe. Der rote Fleck auf dem Boden. Schon eingetrocknet; genauso wie auf meinem grauen, langem Mantel.
Wo sollte ich jetzt hingehen?
Ich wusste nicht wer ich war. Ich wusste nicht wo ich hingehörte.
Ich wühlte in den Taschen meines Mantels und fand ein bisschen Geld und ein Bild. Es war, wegen des Alters, schon lila gefärbt. Es zeigte einen kleinen Jungen mit seinen Eltern an seinem sechsten Geburtstag.
Keiner lächelte.
Keiner schaute in die Kamera, obwohl sie nicht weit von ihr entfernt standen. Vielleicht war das ich? Meine Eltern? Wenn sie schon längst gestorben sind? Auf jeden Fall war es ein Anhaltspunkt, der mir helfen konnte herauszufinden wer ich war.
Langsam zog ich meinen Mantel aus. Ich hatte ein Hotel gefunden, dass ich mit meinem bisschen Geld bezahlen konnte. Dementsprechend war es auch eingerichtet, aber das war mir egal. Es waren zwei Tage seit meiner roten Widergeburt auf der Straße vergangen und die Wunden fingen an zu heilen. Heute war ich den ganzen Tag mit dem Bild durch die Straßen gegangen und hatte gefragte ob jemand die Menschen auf dem Bild schon einmal gesehen hatte, aber niemand konnte mir helfen. Die anfängliche Hilflosigkeit, die sich in mir ausgebreitet hatte, verwandelte sich in Wut. Wut auf die Menschen, die mir ein noch nicht gelebtes Leben genommen hatten, Wut auf mich selbst, dass ich meine ganze Hoffnung auf ein Bild gesetzt hatte. Ich trottete ins Bad und wusch mir das Gesicht. Mein Blick glitt in den Spiegel und ich hätte mich fast erschreckt als ich das fremde Gesicht darin sah. Einen jungen Mann, zerschunden, wie vergraben. In rote Farbe getaucht. Ich starrte mich an. Die Wut brodelte wieder in mir auf.
„Wer bist du?“, fragte ich leise, aber ich bekam keine Antwort.
„Wer bist du?“, brüllte ich jetzt. Ich schlug in den Spiegel und schrie. Mein Körper bebte vor Wut und ich schlug weiter auf ihn ein. Ich achtete nicht auf das Blut an meinen Händen, bis ich schließlich bebend und schluchzend in der anderen Ecke meines Zimmers saß. Meine Hände bluteten stark, aber ich starrte nur auf die Scherben des Spiegels.
Auf die Trümmern meines zweitägigen Lebens.
Ich schlug meinen Hinterkopf gegen die Wand.
Ist das alles? Ist das alles was ich bin? Ist das alles was ich war? Was ich sein werde? Scherben? Zerbrochene Scherben? Ein rot getauchtes Leben?
Ich schaute auf das Bild, das ich an die Wand geheftet hatte.
Vielleicht hatte ich mal ein Leben gehabt. Ein Leben fern abseits von Rot, aber nun war ich nichts mehr. Ich war ein Niemand. Ein Niemand ohne Namen, Herkunft und ohne Familie.
Es regnete. Wieder. Gott musste echt einen scheiß Tag gehabt haben, um so ein Wetter heraufzubeschwören. Der Regen war bitter kalt. Neblig. Und dunkel. Kein Mensch war auf der Straße außer mir. Ich saß auf einer Bank und hasste Gott und die Welt. Gott, für das was er mir angetan hatte, und die Welt, weil sie nichts dagegen tat. Weil jeder sah, wie hilflos ich war, weil sie sahen, dass ich nicht wusste, wohin ich gehen sollte, aber niemand sich darum kümmern wollte. Also, blieb ich sitzen. Fertig mit der Welt, während der Regen auf mich einregnete und mir einzureden versuchte, dass ich zurück ins Hotel gehen sollte.
Da hörte ich eine Frau rufen:
„Jetzt komm doch rein, Lisa. Nun mach schon!“
Ich schaute mich um und sah ein kleines Mädchen auf einer Wiese nicht weit von mir entfernt liegen. Sie hatte nichts weiter als ein Kleid an. Ich stand noch immer stöhnend auf und humpelte zu dem Mädchen rüber.
„Ist der Platz noch frei?“, fragte ich es und zeigte neben sie.
Sie hatte blonde lange Haare, die ihr nass am Gesicht klebten.
„Wenn du willst.“
Ich legte mich mit einem halben Meter Abstand neben sie und fragte:
„Wie heißt du?“
„Lisa. Und du?“
„Ich weiß nicht. Nenn mich wie du willst.“
„Du weißt nicht wie du heißt“, fragte sie amüsiert.
„Nein, ich habe mein Gedächtnis verloren“, antwortete ich.
„Oh. Das tut mir leid.“
Ich sah sie von der Seite an.
„Was ist das schlimmste daran?“
„An was?“
„Na, sich an nichts mehr erinnern zu können.“
Ich überlegte.
„Die Ungewissheit. Du weißt, dass es da draußen irgendjemanden gibt, der dich liebt, der dich vermisst und der denkt, dass du ihn verlassen hast. Das ist das schlimmste. Zu wissen, dass man ihn seinem eigenen Unglück auch noch andere Menschen verletzt.“
Die Kleine drehte den Kopf zu mir um und sah mich an. Erst jetzt bemerkte ich die kleine rote Schleife, die in ihrem Haar steckte. Die Frau rief wieder nach ihr, doch sie tat so, als würde sie sie nicht hören.
„Mach dir nicht zu viele sorgen. Du bist ein guter Mensch und Gott hilft guten Menschen. Er wird auf dich aufpassen. Das verspreche ich.“
Mit diesen Worten stand sie auf und wollte gehen, blieb aber dann noch mal stehen.
„Ich taufe dich Matthew. Ist ein schöner Name.“
Damit ging sie endgültig. Sie verschwand im Haus, wo sie von ihrer Mutter mit offenen Armen empfangen wurde. Ich schaute ihr wie hypnotisiert hinterher. Richtig, ich hatte alles verloren. Ich hatte niemanden. Ich war ein Niemand. Aber vielleicht hatte ich einfach nur Glück. Vielleicht war mein Leben vorher noch weniger Wert gewesen. Ich strich mir durchs Haar.
Steh auf Matthew!
„Ihren Namen bitte.“
„Matthew. Matthew Benford.“
Sie hatte Recht, Matthew war ein schöner Name.
Die Frau am Schalter schaute mich über ihre Brille an.
„In Ordnung Mister Benford. Sie gehen bitte einfach gerade aus. Irgendwann sehen sie ein Schild. Gehen sie in Richtung Gleis 8. Viel Glück.“
Ich lächelte.
„Danke“, sagte ich.
Mit einem Klemmbrett unterm Arm machte ich mich auf den Weg. Als ich an einem Blumenbeet vorbei kam, blieb ich stehen. Etwas Rotes war mir ins Auge gestoßen. Als ich an der Rose roch musste ich automatisch an Lisa denken. An ihren leichtfüßigen Gang. Ihr Lächeln. Und an ihre rote Schleife. Ich lächelte.
"Danke", murmelte ich.
Tag der Veröffentlichung: 05.08.2011
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