Die Adaption an die Crew verlief relativ unproblematisch.
Irgendwie gehörte er fast zur Schiffsführung. Sein höfliches und selbstsicheres Auftreten brachte ihm viel Sympathie ein.
So ganz fremd war ihm der Kahn nicht. Hatte er doch früher mal als Schiffsbauer sein Arbeitsleben begonnen und zu Hause bei seinen Eltern lag noch der alte Segelschein.
Jetzt kamen dem „neugeborenen“ Schiffsarzt jedoch langsam Bedenken, wegen einer möglichen ernsten Erkrankung an Bord.
In einem solchen Fall würde der Schwindel nicht nur auffliegen, sondern würde sein Verhalten sogar Menschenleben gefährden. Daran durfte er gar nicht denken.
Er brauchte sachkundige Verbündete für diesen Notfall.
Dr. Heberle , ein pensionierter Allgemeinpraktiker, der mit seiner Frau diese Kreuzfahrt mit Begeisterung genoss, suchte seine Nähe. Er erzählte ihm offen, dass er früher in Kaiserslautern Stationsarzt einer chirurgischen Abteilung war und in den letzten 10 Jahren einen interessanten Job als Gefängnisarzt in der JVA Dietz bekleidete.Innerlich jubelte Dr. Wellenbrinck über diesen fachmännischen Begleiter auf seiner ersten Kreuzfahrt. Im Falle aller Fälle würde er sofort seine Bordambulanz an Heberle übergeben und würde sich selbst krankschreiben lassen.
Wenn andere falsche Ärzte jahrelang in Krankenhäusern praktizierten, warum sollte es hier an Bord mit gesunden und wohlhabenden Passagieren nicht klappen.
Mit diesem Job stand er keinem anderen auf dem Schiff im Weg. Noch nie hatte er so ungeteilte Zustimmung bei der Arbeit erfahren, wie gegenwärtig. Seine Kabine war geräumig und war in unmittelbarer Nachbarschaft zu seinem „Bordkrankenhaus“ er hielt täglich Sprechstunden ab, die ihm keine Mühe machten. Hier befand sich auch eine gut sortierte Sammlung medizinischer Fachliteratur und sein Vorgänger hatte für einen ausreichenden Vorrat an Medikamenten und Verbandszeug gesorgt. Schwester Martina war offiziell als Krankenschwester an Bord.Wellenbrinck behandelte sie kühl aber freundlich – sie hielt zu ihm eine wohltuende Distanz und übernahm alles, was ihr zukam ohne Diskussion.
Einmal wöchentlich holte der Kapitän ihn zu sich auf die Brücke bzw. lud ihn zum Dinner ein.
Alles verlief störungsfrei bis auf die Begegnung mit Thomas.
Thomas, ein Mann Anfang 60 mit Goldkette kannte ihn aus dem Steigenberger Hotel.
Er schlenderte auf dem Promenadendeck mit seiner Frau entlang und da trafen sich die Blicke der Männer. Im Bruchteil einer Sekunde hatte Thomas, ein erfolgreicher Handlungsreisender, die Lage erfasst und übernahm die Gesprächsführung. „Hallo Doc, so sieht man sich wieder.
Wissen sie noch, voriges Jahr, tranken wir noch im Steigenberger so manches Gläschen und nun schippern wir über die Meere. Die Welt ist doch klein.“
Dr. Wellenbrinck konzentrierte sich auf die Ehefrau von Thomas und hauchte ihr einen galanten Kuss auf die hingereichte Rechte.
Auch ihm reichte der Bruchteil einer Sekunde, um zu verstehen, diesen Mann hatte er ebenso in der Hand, besorgte er ihm doch seit Jahren von der Bar aus Prostituierte aufs Zimmer.
Dabei kassierte er schamlos von den Mädchen
und auch von Thommi, wie er ihn längst nannte.
Diese Begegnung riet ihm aber zur Vorsicht.
Fortan trug er an Oberdeck eine sehr große Sonnenbrille, für den Fall weiterer Bekannter an Bord. Den Kontakt zu seinen Freunden und seiner kleinen Familie beschränkte er auf gelegentliche Besuche in Internetcafes bei den Landgängen.
So langsam schlüpfte er in die Schiffsarztrolle wie in eine Haut aus Neopren beim Tauchen.
Krankenschwester Martina nannte er mittlerweile Tinchen und sie zeigte ihm Fotos von ihrer Bremer Familie.
Während der Sprechstunden zog Routine ein. Täglich hatte er die bekannten Patienten. Er kontrollierte den Blutdruck, ließ von Tinchen Blutzuckerwerte bestimmen oder einen kleinen Verband anlegen. Einmal kam Gerda, eine rüstige Frau aus Hannover mit einer Bitte zu ihm.
Er solle ihr doch persönlich den Armgips abnehmen. Natürlich machte er das gerne und recht professionell, wie er selbst feststellte.
Leichte fieberhafte Erkrankungen waren schon die Seltenheit. Bei Seegang waren seine Mittel gegen Reisekrankheit gefragt und er selber machte seine Witze, wie ein alter Hausarzt:
„Ich würde mir an Ihrer Stelle immer ein Stück trockenes Brot einstecken.“
Neben dem bordeigenen Spielkasino gab es eine Bibliothek mit Veranstaltungsraum. Hier hörte Wellenbrinck neuerdings lautes Lachen. Eine kleine Gruppe von Autoren des weltberühmten BookRix-Verlages hatte zu humorvollen Lesungen eingeladen.
Manchmal stellte er sich einfach dazu und lächelte mit. Eine kleine Freche von der Autorengruppe, die von ihren Kollegen Lämmchen genannt wurde, sprach den Schiffsarzt direkt an : "Gell Doc, schreiben müsste man können, dann hat man auch Glück bei den Frauen!"
Beschäftigkeit vortäuschend wandte sich der Doc ab und hörte noch das fröhliche Gelächter hinter sich.
Dieser Seefahrerjob könnte seine Lebensstellung sein, oder?
Irgendwie beschlich ihn ein Gefühl der Unsicherheit.
Tag der Veröffentlichung: 29.05.2011
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