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Die kleine Taube

Die kleine Taube

 

 

Mit dem Morgengrauen erwachte die Stadt zu neuem Leben. Die Taube schlief wie immer auf dem Sims eines alten Hauses direkt neben dem Fenster, das nie geöffnet wurde. Mit den ersten hellen Streifen am Horizont erwachte sie und begann sich ihr Gefieder zu putzen. Feder für Feder, zog sie es durch ihren Schnabel, reckte und streckte sich und machte sich fein.

Sie machte es gründlich, jeden Tag, Sonntag wie Montag und auch am Donnerstag, wie es jede Taube zu tun pflegte.

Danach begann der Tag für sie aufs Neue. Jeder Tag war gleich. Erst flog sie hinunter zum Brunnen, um zu trinken. Dann machte sie sich auf, nach etwas essbarem zu suchen. Wie immer fanden sich kleinere Gruppen ein, die den Boden nach Brotkrümel und anderen essbaren Dingen untersuchten. Mehrere Tauben waren ein Zeichen für einen gedeckten Tisch, wie auch an diesem Morgen.

Wie immer reihte sie sich, die anderen begrüßend, in dem Getümmel ein und pickte die Reste eines Frühstückes auf.

Sie pickte hier, pickte da und dort und so fand jeder genügend, ohne den anderen etwas wegzunehmen. Eben eine Gemeinschaft, wie Menschen sie nicht bilden können.

An diesem Tag jedoch, gab es einen weißen Täuberisch, der sich für unsere Taube interessierte. Plötzlich war er da und begann sie zu schubsen. Sie verstand nicht was er wollte und so flog sie kurz auf, um sich am anderen Ende der Gruppe wieder niederzulassen. Aber der Täuberisch folgte ihr und begann sie wieder zu schubsen und zu picken.

Sie verstand immer noch nicht und so flog sie wieder auf, um sich auf der anderen Seite wieder unter das Volk zu mischen.

Der Täuberisch aber, war schnell wieder neben ihr und diesmal flatterte er ihr auf den Rücken und sprang dann wieder herab. Nun ahnte sie, was er wollte. Aber sie war noch nicht bereit, sich einem dahergelaufenen Täuberisch zu ergeben. Aber dieser gab einfach nicht auf und versuchte erneut sein Glück. Unserer Taube war es nun zu bunt und flog hoch hinauf und setzte sich auf die Drähte einer Stromleitung.

Der Täuberisch hingegen suchte sich ein neues Opfer aus. Diesmal hatte er mehr Glück bei einer älteren Taube, die einen weißen Flügel hatte. Nach zwei Versuchen gelang ihm, was bei der jungen Taube ihm versagt geblieben war.

Auf der Stromleitung aber saß die Taube und schüttelte den Kopf.

„So ein Grobian. Meint gleich nach zwei Mal werben, ich wäre schon zu haben. Bah und weiß ist er auch noch.“

Da sie immer noch Hunger hatte, flog sie ans andere Ende des Platzes und setzte sich in der Nähe eines alten Mannes auf den Boden. Zwei andere Tauben saßen bereits dort und warteten sehnsüchtig auf ein Stück Brot. Der alte betrachtet die drei Tauben und musste lächeln.

Dann brach er ein Stück Brot und warf es den drei Tauben zu. Die beiden anderen Tauben waren schneller und stritten sich um das Stück Brot, während die junge Taube leer ausging.

„Gib mir das Stück es ist meines.“ Rief die eine Taube

Die andere erwiderte:“ Das glaubt du bloß, der Alte hat es mir zugeworfen.“

„Auch noch eingebildet.“ Rief die andere

Und so stritten sie sich um das Stück Brot.

Unsere Taube belächelte die beiden, wie sie sich um das kleine Stück Brot balgten, obwohl es groß genug war, um es zu teilen. Aber jeder wollte es haben.

Dem alten Mann gefiel es, wie die beiden Tauben sich stritten. Er lachte und lachte.

Die junge Taube saß immer noch da und beobachtete den alten Mann, wohl eher wegen dem verbliebenen Brot.

„Da hast du ein Stück. Du scheinst mir ein wenig intelligenter zu sein.“

Dann warf er das Stück Brot. Die Taube schnappte es und wollte es gerade aufpicken, als sie einen Tritt bekam.

Aus dem Nichts war ein junger Mann erschienen und hatte nach der Taube getreten. Zum Glück war sie nur in die Hecke geflogen und war ängstlich dort sitzen geblieben.

Der alte Mann schimpfte auf den jungen Mann ein:“ Was hat die Taube dir Widerling getan?“ Rief er ihm nach.

„Sie machen nur Dreck und noch mal Dreck. Eine weniger ist ein Anfang.“ Rief er spöttisch

Die Taube saß immer noch ängstlich in der Hecke und war außer sich:“ Immer diese Menschen. Ich wünschte ich wäre so groß wie sie, dann würde ich auch nach ihnen treten.“

Der alte Mann drehte sich um und sah sie an:“ Na du, hast wohl Angst wieder herauszukommen, was?“

Sie kam ein Stück näher.

„Ach wäre es nicht schön nur für eine Stunde ein Mensch zu sein?“ dachte die Taube

Nachdem sie das letzte Wort gedacht hatte, wurde ihr ganz komisch, so als ob sie aus sich herauswachsen würde.

Ihr Körper schmerzte und ihr Kopf drehte sich im Kreis bis sie Ohnmächtig wurde.

 

Sie öffnete ein Auge und blickte sich um. Der alte Mann kniete neben ihr und hatte seine warme Hand auf ihr Gefieder gelegt. Sie wollte sich plötzlich aufplustern, wie es Tauben so machen, aber es ging nicht. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Ihr war kalt und ihr drehte sich der Kopf.

Sie öffnete das zweite Auge und sah den alten Mann an.

„Alles in Ordnung?“ fragte er

„Was ist passiert?“ fragte sie

„Nun das weiß ich nicht genau. Vielleicht kannst du mir es erklären?“

Moment mal, dachte die Taube, warum versteht er mich?

Sie blickte an sich herunter und erschrak in dem Moment. Kein Gefieder nur Menschenhaut.

Sie fiel wieder in Ohnmacht.

Als sie erneut erwachte, lag sie in einem Menschenhaus auf einem Sofa in eine Decke gehüllt, die sie wärmte.

Der alte Mann saß neben ihr und saß sie an.

„Geht es dir wieder gut?“

Etwas ängstlich schaute sie ihn an und zog das Gesicht etwas tiefer unter die Decke.

„Du brauchst keine Angst zu haben, ich tue dir nichts. Ich bin ein alter Mann, sieht nur.“ Sagte er

Sie blickte ihn an, aber rührte sich nicht aus Angst.

„Hier trink das. Es ist eine warme Suppe.“

Sie wusste nicht was eine Suppe war, aber instinktiv nahm sie die Tasse und trank.

Es schmeckte etwas komisch, aber sie war warm und wärmte sie ein wenig.

„Möchtest du eine Scheibe Brot dazu?“

Sie nickte nur.

Als sie die Tasse geleert und das Brot aufgegessen hatte, setzte sie sich auf und blickte den alten Mann fragend an.

„Ich weiß was du fragen willst. Ich kann dir aber diese Frage nicht beantworten. Einen Moment bist du eine junge kleine Taube und im nächsten Moment ein junges Mädchen, das vor mir liegt. Ich kann selbst nicht sagen was passiert ist. Weißt du es?“

Sie schüttelte den Kopf.

Eine Weile saßen sie beiden ohne ein Wort zu sprechen sich gegenüber. Der alte Mann sah nachdenklich aus. Was er wohl denken mochte?

„Ich weiß es nicht?“ sagte sie

„Einen Moment sitze ich vor ihnen, warte auf das Stück Brot, das sie mir versprochen haben und im nächsten Moment bekomme ich einen Tritt von diesem Mann und lande im Gebüsch.

Dann wache ich auf und bin das.“

Der alte Mann saß mit erhobenen Augenbrauen ihr gegenüber und dachte nach.

„Aber du bist schon diese kleine Taube gewesen, oder etwa nicht?“
“Ja ich bin diese kleine Taube gewesen, denke ich. Im Moment allerdings weiß ich nicht, ob das nur ein böser Traum ist und wenn ich die Augen schließe und sie wieder öffne, bin ich wieder die Taube – denke ich?“

Der alte Mann nickte.

„Alter Mann, können sie mir sagen, was passiert ist?“
Der alte Mann schüttelte den Kopf und sagte: “Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, ich würde sagen nein. Aber du bist die kleine Taube gewesen und plötzlich liegst du vor mir, als wenn Du schon immer eine junge Frau gewesen wärst.“

„Nein, ich war eine Taube. Ich fühle irgendwo meine Federn noch. Ich habe das Bedürfnis nach Brotkrummen zu picken. Aber ich habe keinen Schnabel mehr, ich bin wie du.“

„Und würdest du sagen es ist besser so?“

„Ich weiß es nicht. Je länger ich ein Mensch bin, desto weniger fühle ich wie eine Taube. Aber ich fühle noch wie eine Taube; wenn ich denn wirklich eine gewesen bin.“
“Du bist eine Taube gewesen, glaube es mir. In dem Moment bist du eine Taube und im nächsten bist du eine junge Dame. Ich weiß nicht warum das so ist.“

Die junge Frau dachte nach. Sie suchte nach ihren letzten Gedanken.

„Oh nein.“ Rief sie
“Was ist?“ fragte der alte Mann

„Das kann nicht sein. Ich dachte in dem Gebüsch: Ach wäre ich doch nur für eine Stunde ein Mensch.“

Sie begann zu weinen, noch bevor Sie den Satz zu Ende gesprochen hatte. Sie war zu einem Menschen geworden.

Der alte Mann sah sie erschrocken an und schüttelte den Kopf und senkte ihn.

Die kleine Taube weinte, ein Gefühl das sie noch nie erlebt hatte durchfuhr ihren Körper – den Körper einer Menschenfrau.

Eine Weile ließ der alte Mann sie weinen, dann setzte er sich neben sie und legte den Arm um sie.

„Sie nur meine kleine Taube. Ich weiß nicht ob es dir hilft. Der liebe Gott schenkt jedem sein Leben. Vielleicht hatte er bei dir einen Fehler gemacht und dich aus Versehen als Taube geschaffen. Und nun wollte er seinen Fehler wieder gut machen und dich in das verwandeln, was er schon vorher mit Deiner Seele vorhatte. Vielleicht empfindest du im Moment das es schlimm ist, aber sieh dir doch die Vorteile an? Du lebst länger, du kannst die Welt aus anderen Augen sehen und du kannst Liebe erfahren.“

Die kleine Taube in Menschengestalt sah den alten Mann an und antwortete: „Bei uns Tauben ist das alles anders. Wir werden geboren, um uns fortzupflanzen und dann nach kurzer Menschenzeit sterben wir wieder. Aber vorher haben wir unsere Gene vielfach weitergegeben und viele andere Tauben gezeugt. Wir leben um zu essen, wir leben um uns fortzupflanzen und wir sterben, um für unsere Nachkommen Platz zu schaffen. So denken wir Tauben.“

Der alte Mann sah sie an und nickte.

Dann setzte er sich wieder in den Stuhl gegenüber und sah die kleine Taube an.

 

„Ich bin eine kleine Taube, alter Mann. Du wolltest mich mit einem Stück Brot füttern. Jetzt bin ich ein Mensch. Was soll ich nun tun?“

„Was möchtest du lieber sein? Eine Taube oder eine Menschenfrau?“ fragte der alte Mann

Sie sah ihn aus ihren tränenden Augen an und schüttelte den Kopf: „ich weiß es nicht. Mein Kopf sagt ich bin eine Taube. Mein Körper sagt ich bin ein Mensch. Langsam empfinde ich es als eine Strafe ein Mensch zu sein. Was habe ich dem Menschengott getan, dass jetzt meine Seele in einem Menschenkörper eingeschlossen ist?“

„Vielleicht ist es eine Belohnung für etwas?“

„Eine Belohnung? Wofür denn? Ich habe Zeit meines Lebens nur schlechtes von den Menschen erfahren.“
“Wirklich nur schlechtes?“

„Nein nicht nur. Es gab auch Menschen wie sie, die uns immer gefüttert haben vor allem im Winter, wenn wir kaum etwas zu fressen fanden.“
“Nun siehst du, es sind nicht alle Menschen schlecht.“
“Bah, wissen sie wo ich geboren worden bin? In einem S-Bahntunnel oberhalb der Stromkabel. Meine Eltern haben mir erzählt, dass sie dreimal neu mit dem Nestbau anfangen mussten, weil jedes Mal die Nester von den Menschen zerstört wurden. Beim dritten Mal waren sie schlauer das Nest zwischen den Stromleitungen zu bauen. Dort waren sie sicherer vor den Menschen.“

„Erzähl mir etwas von Deinen Eltern.“ Unterbach der alte Mann die kleine Taube.

„Meine Eltern? Sie waren wunderbare Eltern. Sie waren liebevoll zärtlich und haben auf mich aufgepasst und mich groß gezogen.“
“Leben Deine Eltern noch?“
“Nein. Mein Vater ist eines Tages zwischen die Gleise geflogen, weil ihm ein Mensch ein Stück Brot zugeworfen hat. Er war so sehr mit dem Brot beschäftigt, dass er die herannahende S-Bahn nicht hörte.“
“Wurde er überfahren?“
“Nein im letzten Moment merkte er die Bahn und flog so schnell er konnte auf. Er streifte mit den Flügeln ein Stromkabel, es tat einen Knall und mein Vater war tot.“

„Das tut mir leid.“

Die kleine Taube weinte.

„Zum ersten Mal fühle ich einen Schmerz bei dem Gedanken an meinen Vater, dass er tot ist. Er ist ein seltsames Gefühl alter Mann. Ein Schmerz der hier an dieser Stelle ganz besonders stark ist.“
“Das ist Dein Herz. Wir Menschen erleben oft diesen Schmerz, wenn zum Beispiel unsere Partner sterben. Dann fühlen wir einen sehr großen Schmerz, ein Schmerz der uns verändert, der uns den Glauben an alles verlieren lässt, der uns kalt macht.“
Die kleine Taube sah den alten Mann an und nickte.
“Weißt du, manchmal kann dieser Schmerz auch eine andere Wirkung haben, wenn man zum Beispiel verliebt ist.“
“Verliebt?“ fragte die Taube

„Ja verliebt in einen anderen Menschen. So wie du eines Tages einen Taubenmann triffst, treffen wir Menschen einen anderen Menschen und fangen an ihn zu lieben. Dann, wenn die Liebe am größten ist, fühlen wir einen Stich in unserem Herzen.“

„Dann bedeutet der Stich Glück und Unglück?“
“Ja so ungefähr ist das. Und was ist aus Deiner Mutter geworden?“
“Eines Tages, ich flog seit einigen Tagen, da riefen andere Tauben. Seht nur, da drüben streut jemand Futter aus. Alle flogen hinunter und begannen zu fressen. Plötzlich gab es laute Knalle und einige von meinen Freunden und Verwandten fielen tot um. Es waren ein paar Menschen gekommen und hatten auf uns geschossen. Ich konnte mich in einer Hecke in Sicherheit bringen. Nachdem die Männer weg waren, kamen die Tauben aus ihren Verstecken und begannen das restliche Futter zu fressen. Meine Mutter kam nicht wieder. Ich glaube sie wurde von den Männern mitgenommen.“
Der alte Mann nickte.

„Ja ich erinnere mich. Im Frühjahr hat man jagt auf die Tauben gemacht, weil die Anzahl zu groß geworden war und der Taubenkot die Fassaden der alten Gebäude angreift und weil ihr immer auf Bänke und die Köpfe der Menschen alles fallen lasst.“

Die kleine Taube blickte ihn mit offenen Augen an und der Schmerz über den Verlust der Mutter drang nach außen.

„Es tut mir leid. So sind wir Menschen. Wir spielen immer Gott und glauben wir tun das richtige, dabei machen wir alle immer alles falsch auf dieser Erde. Weißt du wie schön es wäre, wenn es weniger Dummköpfe auf dieser Welt gäbe, weniger Menschen, die ihren Verstand nicht dazu einsetzen, wie man andere Menschen tötet oder die das Geld dafür verwenden, die Not auf dieser Welt zu lindern. Sei froh das Du eine Taube bist.“

Der alte Mann blickt sie entsetzt an:„Verzeih du bist jetzt ein Mensch. Ich hatte es schon wieder vergessen.“

Die kleine Taube blickte ihn an und schüttelte den Kopf.

„Ich weiß viel zu wenig über die Menschen. Wir Tauben kennen solche Gefühle nicht. Wenn eine Taube von einem Marder oder einem Turmfalken gefressen wird, fressen die anderen Tauben weiter als wäre nicht gewesen. Das einzige was sie denken ist: ich war es nicht. Deshalb habe ich auch keinen Schmerz gefühlt als meine Mutter nicht mehr zurückgekommen ist. Es war mir irgendwie gleichgültig.“

„Mach dir keine Vorwürfe. Es hat sicher auch Vorteile eine Taube zu sein. Sie nur uns Menschen an. Wir haben immer den Traum vom fliegen gehabt. Können wir fliegen? Nein wir müssen uns Hilfsmittel bauen, um zu fliegen. Ihr Tauben habt es da besser. Ihr erhebt euch in die Luft, als wäre es das einfachste auf der Welt. Ihr schaut von oben herab auf die Welt und seht sie aus einer Perspektive, die wir Menschen aus eigener Kraft niemals erreichen würden. Verstehst du denn nicht, ihr Tauben seid frei, könnt fliegen, wo immer ihr hin möchtet und landen, wo immer es euch gefällt. Wir Menschen können das nicht. Deshalb bewundere ich euch Tauben.“
Für einen Moment erhellte ein Lächeln das Gesicht der kleinen Taube.

„Du hast recht. Ich habe schon die ganze Zeit überlegt, was ich vermisse. Ich vermisse das fliegen, ich vermisse das sonnen auf den Dächern und das Bad im Brunnen. All das vermisse ich.“

Aber dann wurde ihr Gesicht wieder finster und das Lächeln erstarb.

„Aber ich bin keine Taube mehr. Ich bin eine Menschenfrau.“

Die kleine Taube wurde langsam müde und die Augen wurden schwer.

„Weißt du.“ Sagte der alte Mann „ich bin am Ende meines Lebens. Was würde ich dafür geben, nur einmal wie eine Taube in die Lüfte zu schwingen und die Welt von oben zu erblicken. Aber mein Leben neigt sich dem Ende zu und ich werde wohl meinen Traum niemals erleben. Du hast aber Dein Leben noch vor dir als Menschenfrau.“
“Ich möchte aber lieber eine Taube sein alter Mann, einfach nur eine Taube nicht mehr und nicht weniger.“ Damit schlief die kleine Taube ein.

„Und ich Träume vom fliegen. Schlaf schön meine kleine Taube.“

Dann öffnete er das Fenster ein wenig, legte sich in den Sessel und beobachtete die kleine Taube, bis er einschlief.

 

Als der morgen langsam heranzog, erwachte die kleine Taube. Sie fühlte sich eigenartig leicht. Anders als am Tag zuvor als sie sich in eine Menschenfrau verwandelt hatte.

Sie sah an sich herab und erblickte ihre Krallen. Über Nacht war sie wieder zu einer Taube geworden oder war das auch nur ein Traum?

Sie krabbelte auf dem Sofa ein Stück und erblickte neben der Kommode einen Spiegel. Mit einem Schwung war sie herüber geflogen und blickte in den Spiegel und sah darin eine Taube – sich selbst.

„Sie nur alter Mann ich bin wieder eine Taube.“ Vor Freude flog sie zurück auf das Sofa in dem sie den ganzen Tag verbracht hatte.

Wo aber war der alte Mann?

„Alter Mann wo bist du?“ Rief sie aufgeregt „wo bist du?“

„Hier bin ich, hier.“ Rief eine Stimme

Auf der Fensterbank saß eine Taube und blickte zum Fenster hinaus.

„Wo ist hier?“ Fragte sie
“Am Fenster.“ Rief die Stimme

Sie flog hinüber zum Fenster zu der anderen Taube und setzte sich neben sie.

„Sie sind das, der alte Mann?“

„Ja wie es scheint bin ich es.“
“Aber?“ Stammelte die kleine Taube
“Frag nicht, unsere Wünsche sind heute Nacht erhört worden, denke ich.“
Die kleine Taube musste lachen.

„Warum lachst du?“ fragte die Taube

„Jetzt bist du auch eine Taube.“
“Ja sieht so aus, aber was machen wir jetzt?“
“Ich würde sagen wir fliegen hinaus in die Welt und schauen uns alles von oben an.“
“Ich bin aber noch nie geflogen.“
“Das machte nichts Du kannst aber fliegen.“
“Ja, wenn du es sagst dann werde ich es wohl können müssen.“ Lachte die Taube

Und so flog die kleine Taube voraus und zog eine Bahn.
Die andere Taube aber zögerte.
“Worauf wartest du, du musst mit den Flügeln schlagen sieh nur.“
Einen Moment noch zögerte die Taube und dann flog sie los.

„Iaaaahahhhaaaaaa“ schrie er „ich kann fliegen.“

Sie zog einen großen Bogen und landete sanft auf dem Dach eines Hauses.

„Oh das war schön. Das muss ich gleich noch mal machen.“

Und schon flog er erneut einen großen Bogen machte einen Sturzflug in Richtung Brunnen und zog flügelschlagend wieder hinauf zum Dach.

„Siehst du, du kannst fliegen. Und wie gefällt es dir?“

„Ich hätte nie gedacht, dass ich das noch mal erlebe. Ich kann fliegen hinaus in die Welt.“ Lachte der Täuberisch

„Kommt mit, wir fliegen hinunter und essen eine Kleinigkeit und dann zeige ich dir die Stadt von oben.“

 

Nach dem Essen flogen sie hoch hinauf über die Dächer und sahen sich die Stadt von oben an.

Sie flogen über den Park, an den Fluss und hinüber zu den Wohnsilos der Vorstadt.

Der Täuberisch schaute neugierig in alle Richtungen und vergaß während dem Flug völlig, dass er eigentlich keine Taube war, sondern ein alter Mann.

Am späten Nachmittag endlich landeten sie wieder an ihrem Ausgangsort und flogen hinunter zu den anderen Tauben, wo Mütter mit ihren Kindern die Tauben fütterten.

Dem Täuberisch gefiel das ganze. Er lief freudig zwischen den anderen Tauben umher, hier und da ein Krümelchen pickend und war glücklich über das was mit ihm passiert war.

Die kleine Taube aber, machte sich Gedanken über die unglaublichen Geschehnisse, die sie zur Menschenfrau gemacht hatten und den alten Mann zu einer Taube.

Sie saß etwas abseits und schaute ruhig dem alten Mann zu.

Als dieser genug hatte, kam er zu ihr und setzte sich neben sie.

Eine ganze Zeit lang saßen sie nebeneinander und sagten kein Wort, während der Tag sich langsam zur Ende ging.

„Ich habe dich die ganze Zeit beobachtet, als ich zwischen den Tauben hin und her lief. Dich bedrückt doch etwas?“

Traurig blickte sie ihn an und sagte: „Ja ich glaube morgen bist du wieder ein alter Mann und ich bleibe eine kleine Taube. Das macht mich traurig.“

„Komm.“ Sagte der Täuberisch „ wir fliegen oben auf den Kirchturm. Von da hat man einen guten Blick, wenn die Sonne untergeht.“

Er hatte nicht zuviel versprochen. Der Sonnenuntergang war atemberaubend schön. Die beiden Tauben saßen nebeneinander und blickten gen Westen in die Sonne, die langsam den Horizont berührte.

„Ich werde diesen Tag sicher nie vergessen.“ Sagte der alte Mann

„Ich auch nicht den davor. Darf ich dich weiter besuchen?“ fragte die kleine Taube

„Wenn du möchtest jederzeit. Ich bin schon sehr alt und meine Kräfte lassen langsam nach. Außerdem bin ich ganz alleine. Meine Kinder sind groß und leben weit weg. Ich sehe sie nur selten. Ich würde mich über Deinen Besuch sehr freuen.“ Sagte der alte Mann traurig.

 

Als es schon fast dunkel war, flogen die beiden in die Wohnung des alten Mannes. Lange sprachen sie noch über viele Dinge, bis sie beide einschliefen.

Am nächsten Morgen erwachte die kleine Taube mit dem Sonnenaufgang.

Der alte Mann saß im Sessel und schlief noch. Sie flog hinüber zu ihm und pickte an seine Hand.

Der alte Mann erwachte und lächelte, als er die kleine Taube sah.

„Na du, hast du so gut geschlafen wie ich?“

Die Taube ließ einen gurgelnden laut von sich.

„Ah ich verstehe du hast auch gut geschlafen. Warte ich hole dir etwas zu essen, damit du gestärkt bist für den Tag.“
Nach dem Frühstück flog die Taube hinunter an den Brunnen zu den anderen Tauben.

Am Nachmittag kam der alte Mann und brachte Brot für die Tauben und die kleine Taube setzte sich neben ihn auf die Bank. Jeden Tag saßen die beiden dort und schauten sich das treiben der anderen Tauben an.

Eines Tages, kam der alte Mann nicht. Die Taube flog hinauf zur Wohnung und setzte sich an das Fenster. Drinnen waren zwei Frauen damit beschäftigt den alten Mann zu waschen und anzuziehen. Wie sie aus dem Gespräch erfuhr, war der alte Mann in dieser Nacht gestorben.

Die kleine Taube war traurig und flog hinauf auf den Kirchturm und setzte sich auf den Platz, auf dem sie gesessen hatten bis die Sonne am Horizont versank.

 

 

Copyright John Bienuck 2011

Impressum

Texte: John Bienuck
Bildmaterialien: John Bienuck
Tag der Veröffentlichung: 22.01.2014

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