Als ich die ersten Buchstaben zu sinnvollen Worten aneinanderreihen konnte war für mich der glücklichste Tag in meinem Leben. Endlich erfüllten diese Kleckse auf dem Papier eine Aufgabe. Das erste Wort was ich lesen konnte war: Katze. Auf dem Bild neben dem Wort war eine Katze abgebildet und wer hätte daran gezweifelt, das die fünf Buchstaben die in großer Schrift danebenstanden zu diesem Bild gehörten. Ich gebe zu ich war schon damals ein Skeptiker gewesen, glaubte nur etwas, das ich Kraft meiner eigenen Beweisführung ins Licht der Wahrheit gerückt hatte.
Als sich mehr und mehr Worte dazugesellten war mein Lesehunger geweckt. Nur leider gab es bei uns Zuhause nicht viel zu lesen. Wir verfügten nicht mal über eine Tageszeitung. Für meinen Vater bestand der tiefere Sinn des Lesens darin, die Bedienungsanleitung aufmerksam zu studieren, wenn er ein neues Elektrogerät anschaffte und meine Mutter begnügte sich damit ihre grauen Zellen auf Trab zu halten, indem sie auf die Packungen der Fertiggerichte blickte und nachsah, wie sie essbar aus der Mikrowelle kämen. Das erste Mal mit Literatur in Berührung, kam ich auf der Toilette. Nicht mit Weltliteratur! Nein, dieses Tor war mir noch verschlossen. Das Einzige was ich damals in die Finger bekam, waren die Anwendungshinweise und Inhaltsangaben zu den Hygieneartikeln.
Im Bad standen unzählige Flaschen mit Duschgel und Shampoo, Tuben und Tiegel mit Pflegeprodukten von Kopf bis Fuß. Man konnte über meine Familie sagen was man wollte, aber bei uns ging es reinlich zu.
Mutter konnte an keiner Drogerie vorbeigehen, ohne wenigstens eine Tube Zahnpasta mit neuer Formel, oder mehrere neue Cremes gegen trockene Haut und zur Vorbeugung von Falten in den Einkaufswagen zu legen. In meinen frechen Jahren fragte ich sie einmal, ob es nicht besser gewesen wäre, das ganze Geld was sie für diese Produkte ausgegeben hatte, in einen Schönheitschirurgen zu stecken.
Die Ergebnisse wären auf jeden Fall sichtbar gewesen. Meine Ehrlichkeit brachte mir drei Tage Hausarrest ein.
Irgendwann ging mir der Lesestoff auf dem Klo aus, wohl auch, weil meine Mutter sich aufgrund meiner frechen Bemerkung erstaunlich willensstark mit ihren Kosmetika einschränkte. Ich muss dazu sagen, dass ich jede Flasche und jeden Tiegel nur einmal las. Als dann aber nichts Neues dazu kam, musste ich mir anders behelfen. Wohl oder übel musste ich mich mit meinen Schulbüchern begnügen. Der Mathematik kann ich noch immer nichts abgewinnen, wohl kann ich addieren und subtrahieren, aber für die großen Aufgaben in den Zahlen, fehlte es mir schlicht am Interesse.
Trotzdem las ich in meinem Mathebuch gerne, in Ermangelung einer ernsthafteren Lektüre. Die Textaufgaben konnte ich flüssig vorlesen, aber sie zu lösen, daran scheiterte ich eins ums andere Mal.
Ein Lichtblick schien auf meine Betrübnis, als ich das zwölfte Lebensjahr erreichte. Zu meinen Geburtstagen bekam ich stets nur Kleidung, an Weihnachten schon einmal das ein oder andere Spielzeug. Aber meine Eltern schienen der festen Überzeugung zu sein, das Kleidung überlebensnotwendig für einen heranwachsenden Jungen wäre. Sie ließen dies auch alle Gratulanten auf meiner Geburtstagsparty wissen.
Dies sollte sich jedoch an diesem besagten zwölften Geburtstag ändern. Ich glaubte von mir selbst, die nötige Reife zu besitzen, um endlich ein gutes Buch nicht nur zu lesen, sondern auch zu genießen.
Von meinen Eltern bekam ich wiederum Kleidung, aber als ich das Päckchen mit dem grünen Papier öffnete, kam dort ein Buch zum Vorschein. Für einen Augenblick war ich baff erstaunt. Ein Buch. Ein richtiges Buch. Ein Buch was mir gehören sollte.
„Kleidung wärmt den Körper, aber Geschichten wärmen das Herz“, pflegte meine Lieblingstante dann zu meinen Eltern zu sagen. Ich war von Tränen gerührt und strich zärtlich über den bunten Einband. Ein Märchenbuch sollte mein erstes eigenes Buch sein. Ich wollte es gleich lesen, doch meine Eltern befanden, dass ich mich erst einmal um meine Gäste zu kümmern hatte.
Das Buch ließ ich jedoch nicht mehr los und trug es wie einen kostbaren Schatz unter dem Arm. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
Meine Lieblingstante geriet jedoch ziemlich schnell für mich in Verruf. Ich mochte sie, jedoch nur, weil sie mir Bücher schenkte, ansonsten konnte ich sie nicht leiden. Sie kniff mich immer in die Wange.
In frühester Kindheit war dies für mich ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie nur wissen wollte, ob ich schon fett genug zum Schlachten war. Zu dieser Erkenntnis gelangte ich, als ich mit dem Märchenbuch fertig war. Ich hatte Angst vor ihr und hielt mich immer in der Nähe meiner Eltern auf, damit sie mich nicht einfangen und verspeisen konnte.
Die schöne Zeit der Bücherschenkungen endete jedoch abrupt. Zu meinem Bedauern wie ich sagen muss. Mit vierzehn war ich reifer und wusste, dass sie mir nichts Böses wollte, doch kniff sie mich noch immer in die Wange. Ich ging zu meinen Eltern und sagte ihnen das die Tante mich dort berührte hatte, wo ich es nicht mochte.
Meine Eltern, zwar wenig belesen, aber dafür kämpferisch, wenn es um ihr Kind ging, stellten sie sogleich zur Rede, ohne meine Erklärung abzuwarten, warum ich mich genötigt gefühlt hatte.
Die Tante reagierte auf zweierlei Arten. Zuerst peinlich berührt und dann aggressiv. Sie durchbohrte mich mit einem bitterbösen Blick.
„Was hast du deinen Eltern denn erzählt?“
Dieser Satz sprach nicht gerade für sie, weshalb meine Eltern sie sofort auf die Straße setzen und ihr jeglichen Umgang mit mir verboten.
Im Rückblick betrachtet hätte ich diese Zudringlichkeiten lieber zulassen sollen. Was war schon ein kurzer Kniff in die Wange, wenn man dafür Bücher geschenkt bekam. Doch nun war die Tante weg und mein Lektüren-Lieferant gleich mit.
Notgedrungen blieb mir nichts anderes übrig, als meine Eltern um Geld zu bitten.
Wie es zu erwarten gewesen war hielten sie nichts davon.
„Das sind unnötige Kosten, die es zu vermeiden gilt“, meinte meine Mutter. „Dein Vater und ich verdienen nicht das große Geld, das wir damit um uns werfen könnten.“
Ich zog einen Schmollmund, redete aber nicht weiter auf die beiden ein. Schließlich und endlich erbarmten sie sich aber meiner und standen mir einen Euro als monatliches Taschengeld zu, wenn ich dafür den Müll hinaustrug und den Abwasch erledigte.
Meine Eltern, so schien es mir jedenfalls, glaubten wohl das ich die gleiche bittere Erfahrung wie sie zu machen hatte, nur eben viel früher. Nämlich das man sich mit dem wenigen an Geld was man bekam, eben nur das Nötigste leisten konnte.
Verklagen schien mir angesichts der miserablen, finanziellen Situation meiner Eltern aussichtslos. Da wäre nichts zu holen. Notgedrungen musste ich mich also auf Arbeitssuche begeben. Ich verdiente mir etwas dazu, wenn ich für Nachbarn Einkäufe erledigte, den Rasen mähte oder Wäsche auf die Leine hing.
Jedoch erwiesen sich die Nachbarn als genauso knauserig. Wohl auch weil sie selbst nicht viel besaßen, aber das war mir in meiner gegenwärtigen Lage egal. Ich wollte mir endlich ein eigenes Buch kaufen. Auf meinem Schulweg kam ich jeden Tag an einer Buchhandlung vorbei. Morgens war sie noch geschlossen und ich konnte nur durch die Schaufenster, einen Blick auf die schönen Werke erhaschen. Aber am Nachmittag, wenn ich von der Schule nach Hause ging, umwehte mich bereits der Duft von Papier und ich wagte einen Schritt in das Königreich der Buchstaben.
Nur nicht zu weit hinein. Ich wollte nicht als jemand angesehen werden, der etwas zu kaufen gedachte. Immerhin fehlte mir noch die entsprechende Summe um überhaupt in den Genuss eines Buches zu kommen. Dreißig Euro würde ich zusammenbekommen müssen, wenn ich überhaupt zu träumen wagen durfte, eine Buchhandlung zu betreten.
Es sollte ein gutes dreiviertel Jahr dauern, aber schließlich und endlich bekam in die Summe zusammen. Mit den dreißig Euro in der Tasche fühlte ich mich gut.
Ich konnte es gar nicht erwarten, dass die Schule endlich zu Ende ging und ich in die Buchhandlung kam. Ich hatte Schmetterlinge der Vorfreude in meinem Bauch und ein nervöses Kribbeln in meinen Beinen. Endlich gongte die Glocke und ich konnte mich auf den Heimweg machen.
Bevor ich die Buchhandlung betrat, prüfte ich noch einmal ob sich das Geld noch immer in meiner Tasche befand. Das tat es und so betrat ich das Heiligtum der Wörter und wurde schier erschlagen, von der Menge an Literatur. Es gab dicke, gebundene Bücher, handliche Taschenbücher und ein Zwischenformat, welches Paperback genannt wird.
Ich ging die einzelnen Regale entlang, wo mich ein Mitarbeiter plötzlich mitten im Gehen anhielt.
„Kann ich dir helfen, junger Mann?“
„Nein, vielen Dank.“
Der Angestellte räusperte sich.
„Es ist nur so, mein Junge. Du befindest dich hier in der Erwachsenenabteilung. Kinder- und Jugendbücher findest du dort hinten.“
Er zeigte mit dem Finger auf vier Regale auf der anderen Seite des Raumes. Sanft buxierte er mich dorthin.
„Hier wirst du sicher fündig werden.“
Ich dankte ihm und er ließ mich allein. Die Kinderbücher ließ ich links liegen. Schließlich war ich kein Baby mehr. Bei den Jugendbüchern zog ich verschiedene Titel aus dem Regal, die mir zusagten. Liebe und Mädchenkram wollte ich garantiert nicht lesen. Abenteuer, Horror und Krimi – das waren schon eher meine Favoriten.
Die Cover waren üppig gezeichnet und der Klappentext ließ mich kribbelig werden vor Aufregung. Ich blätterte durch die Seiten und atmete wieder diesen tollen Duft nach Papier ein und das interessante war: jedes Buch roch anders. Jeder Verlag schien seine eigene Duftkomposition zu besitzen, welches einem Buch seinen Charakter verlieh. Erst als sich ein kleiner Stapel gebildet hatte, wurde mir bewusst, dass ich nicht alle meine Schätze würde mit nach Hause nehmen können, als ich an die dreißig Euro in meiner Tasche dachte. Schlussendlich entschied ich mich für Schwarze Mitternacht, einen Mystery-Roman und Die drei ??? und das Gespensterschloss, einen Krimi.
Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass das zweite Buch eigentlich in die Riege der Kinderbücher gehörte, aber beim Lesen war mir ein wohliger Schauer über den Rücken gelaufen. Ich wollte dieses Buch unbedingt haben. Ich schmiss meine Prinzipien über Bord. Grundsätzlich sollte man nie zu vorschnell ein Buch ausschließen. Ich lernte diese Weisheit bereits in meinen jungen Jahren.
Mit den beiden Büchern unterm Arm ging ich zur Kasse, bezahlte und ließ mir das Wechselgeld geben. Dies, so sagte ich mir, würde ich meinen Eltern geben um unser Einkommen etwas aufzustocken. Immerhin war ich nun ebenfalls jemand der Geld verdiente und daher seinen Beitrag zum Lebensunterhalt zu leisten hatte.
Ich strahlte den ganzen Weg bis nach Hause über beide Backen. Glücklich mit meinen beiden Schätzen. Diese tiefste Befriedigung sollte mich auch in hohen Jahren niemals verlassen. Noch heute, alt und gebrechlich gehe ich in die Buchhandlung und lasse mich vom Duft des Papiers verzaubern und von den Buchstaben ins Reich der Fantasie führen.
ENDE
Texte: D. K. Stone
Tag der Veröffentlichung: 01.10.2023
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