Vollmond. Ein Flockenblick hinter die Schneekulissen
Ich komme nicht in den Schlaf. Heute Nacht ist es wieder so weit. Jetzt höre ich es. Es war das letzte „Klick“ und dein goldenes Rund ist wieder gefüllt. Rundherum und prall. Es wird nicht mehr lange dauern. Dann kommst du.
Mein Fenster im Oberlicht ist weit geöffnet und immer stärker erstrahlt der Rahmen in deinem Licht. Und dann bist du da. Du steigst langsam zu mir ins Zimmer herein, setzt dich auf meine Bettkante, streichelst mir über mein blondes, an vielen Stellen schon ergrautes, Haar und lächelst mich an. „Guten Morgen, lieber Mond“, sage ich zu ihm und er? Er sagt: „ Guten Morgen, mein lieber Freund. Es ist wieder so weit. Der Monat ist herum. Ich bin gefüllt bis obenhin. Willst Du mir wieder helfen? Willst Du mir wieder helfen, damit ich abnehmen kann, um wieder zu zunehmen?“
Selbstverständlich nicke ich ihm zu. So wie jeden Monat. Natürlich so wie jeden Monat. Es ist ein Ritual. Vollmonde lieben Rituale. Denn als Belohnung für meine Hilfe bekomme ich jedes Mal eine Geschichte, mal eine wahre, mal eine erfundene, die wahr sein könnte, vorgelesen. Mal ist es auch ein Märchen, mal eine Legende, die er mir aus seinem reichen Fundus erzählt. Märchen nennt er: Aufgeklärtes Märchen. Aufgeklärt? Ich habe ihn nie gefragt, warum. Vielleicht wohl, weil ich schon ein älterer Herr bin und aufgeklärt. Ha, ha, ha!
Der Mond lächelt weiter mich an und zieht dann aus dem einen seiner Krater ein dickes Buch hervor. Aha, heute also wieder ein aufgeklärtes Märchen. Na, da bin ich aber wirklich sehr gespannt darauf, was heute Nacht auf mich zu kommt. Aus einem anderen Krater holt er seine Nickelbrille, die er mit einer galanten Bewegung aufsetzt, heraus. Das Buch wird an der Stelle aufgeschlagen, wo er schon einen Mondstrahl als Lesezeichen eingelegt hat. Heute ist die Seite 4343 an der Reihe. Er räuspert sich kurz. Schnäuzt sich die Nase mit einem riesigen weißen Tuch, das er auch aus einem seitlichen Krater, so mehr schon auf seiner Rückseite, heraus zieht. Heute hat er zu meiner Überraschung eine rote Schnupfnase. Dass so ein Vollmond einen Schnupfen bekommen kann, das interessiert mich schon. Doch soll ich ihn wirklich fragen? Auch scheint es mir, dass sein Licht heute eine ganze Spur wärmer scheint. Vielleicht hat er sogar erhöhte Temperatur. Ein Mond mit erhöhter Temperatur? Wo gibt es denn so etwas, das werdet ihr fragen! Bei mir auf der Bettkante zum Vollmond Morgen. Er steckt das Taschentuch wieder ein und muss es sofort wieder zücken, weil er heftig niesen muss. Oho, oho. Das wird gefährlich. Diesen lauten Nieser hat bestimmt meine Liebste gehört und wird gleich kommen, um zu schauen, ob mit mir alles in Ordnung ist. Ich streichele also dem Mond über das Haupt, schleiche mich aus meinem Einzelzimmer für Schnarcher auf den Korridor und horche. Nichts. Nein, wirklich nichts. Na, dann kann es jetzt doch hoffentlich los gehen. Der Mond hat sein Taschentuch wieder verstaut und räuspert sich noch einmal. Gut, dass ich ein Zimmer für mich alleine habe. Wenn das meine Liebste alles so mit bekäme. Ich glaube, sie würde mich zu sich ins Zimmer holen. Nun, gut. Wenn das nicht gerade zur Vollmondnacht sein müsste, könnte sie mit mir darüber reden.
Mit seiner angenehmen Stimme, in der Tiefenlage eines Baritons, legt er los:
Flockenblick hinter die Schneekulissen
Jeden Diaria, das ist bei euch der Tag, treffen sich an einem geheimen Ort im riesengroßen Imperium die Schneefürsten. Sie kommen von überall her. Das Imperium ist so groß, dass ihr Menschen selbst mit den Raketen oder Teleskopen oder Radaren es niemals werdet durchmessen können. Und ich sage es so direkt, denn als Mond kenne ich alle Entfernungen genau: Niemals! Auch nicht mit so etwas genialem wie Weltraumstationen, die immer mit mutigen Wissenschaftlern besetzt sind, die alles auf eurer Erde erforschen wollen…und an der Erde vorbei zu den anderen Planeten. Sie halten auch immer wieder Ausschau nach dem lieben Gott und seinen Heerscharen. Doch der ist mit den Seinen viel klüger als eure klügsten Menschen; selbst bedeutender als Martin Luther und der Papst.
Und Gott allein weiß auch, wohin überall er noch andere Lebewesen auf andere Planeten oder in andere Welten geschickt hat, um nach seinem Ebenbild zu leben. Und eines Tages werden Vater, Sohn und Heiliger Geist in ihrer Dreifaltigkeit die Lebenden und die Toten zu sich rufen und wir alle werden Rede und Antwort stehen müssen für unser Dasein. Nur ist es auch mit der Bibel als Lehrbuch unter dem Arm nicht so ganz einfach zu erkennen, wie wir uns später aus allen unseren kleinen und großen Sünden werden herausreden können.
Ach, ich merke es schon wieder, ich komme von meinem Thema, von uns Schneefürsten zu berichten, ganz ab. Das ist natürlich natürlich. Wir Schneefürsten gehören mit zu Gottes Heerscharen. Er kann doch wirklich nicht in dieser Unendlichkeit des Imperiums, nur Gott weiß, was hinter diesem Imperium alles liegt, jeden Handgriff selber machen.
Jetzt habe ich auch schon ein bisschen verraten, wo die Schneefürsten sich wirklich täglich treffen. Na, klar. Direkt hinter dem Imperium haben wir Parlamentsplätze. Solange ihr aber noch sozusagen, bildlich gesprochen, an den Haarspitzen des Imperiums forscht, werdet ihr, oho, jetzt höre ich besser auf…Bestimmt bekomme ich für meine Schwatzhaftigkeit vom Schneekönig beim täglichen Bericht einen mahnenden Blick. Doch er ist gütig und weise und wird mit einem Auge dabei zwinkern und verstehen, dass ich so ein klein wenig aus dem Nähkästchen plaudere. So wie ihr Menschen dazu sagt.
Das ist jedes Mal ein Geschnatter von allen Seiten. Laut die einen und leise tuschelnd die anderen. Einige haben sich auch in Grüppchen zurückgezogen und machen sehr kluge, wichtige Gesichter. Sie streichen sich mit dem Finger über Kinn und Mund. Der Daumen ist verankert in die Kiefermulde eingedrückt. Der rechte Ellenbogen wird vor der Brust von der linken Hand getragen. Dazu der elegante Schneeanzug im modischen Schnitt. Echte Fürsten sind wir eben. Einige wenige von uns sitzen schon ganz ruhig in dem großen Saal auf ihren an gestammten Plätzen und schauen vor sich hin. Andere sitzen und lesen die neuesten Himmelsnachrichten und freuen sich an den schönen Fotos der Reporter und den klugen Texten der Redakteure. Gut, gut, gut. Sie zeigen ihre Freude nicht immer ungetrübt. Dann stehen sie energisch auf und schließen sich einer oder mehreren dieser Grüppchen an und diskutieren ihren Unmut und suchen Verbündete. Und der Schneefürst aus Sibirien hört sich das alles geduldig an und blickt verständnisvoll. Dabei will er gar nicht richtig nachempfinden, dass jetzt sogar Wüstus gerne größere Anteile an den weißen Massen haben möchte. Doch, doch. Vielleicht ein klein wenig. Als er einmal eine Woche Urlaub genommen hatte und bei seinem Freund Europus verweilte, da wurden sofort Klagen laut, dass das Klima sich dramatisch verändere. In Sibirien sei ungewöhnlich wenig Schnee im Vergleich zu europäischen Verhältnissen gefallen. Wird Sibirien bald eine grüne Insel sein? So oder ähnlich schrieben die Zeitungen. Kurz nach seiner Rückkehr war das Thema aus den Blättern verschwunden und die freien Hintern einiger Popsternchen gewannen wieder die Oberhand. Wüstus. Wüstus.
Na, nun, nicht ganz. Wir nehmen sehr wohl die Berichte und Meinungen der Menschen auf euerem Planeten Erde sehr ernst. Aber versteht es bitte, unser Imperium ist so gewaltig groß, dass Themen eurer Erde nicht immer in der ersten Reihe unserer Aufgaben stehen. Aber wir haben einen Ausschuss gegründet zur „Untersuchung der vergangenen 100 Menschenjahre auf dem Planeten Erde zur gerechten und mengenangepassten Verteilung des Schnees unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung des technologischen Fortschritts in Anpassung an eine sozial ausgewogene und den Bedürfnissen der Gesamtheit, aber auch des Individuums, ausbalancierte normengerechte Verwendung der Schneemassen unter Phasen weiser Nutzung der unbekannten Menge der stillen Reserven außerhalb des Imperiums“. Ich gehöre diesem Ausschuss an. Wirklich, ihr werdet es nicht glauben. Wir tagen nun schon dreißig Klimer. Entschuldigung, ihr kennt Klimer nicht. Ein Klimer entspricht ungefähr einem Menschenjahr mit 365 Tagen. So wie ihr es kennt. Die vielen Interessenverbände. Die einen wollen allen Schnee. Die anderen freuen sich, dass keiner oder wenig oder weniger fällt. Und so weiter und so weiter. Jede Kombination ist denkbar. Die Abgeordneten Lobbyisten des Wassers sehen sich in Sorge um die steigenden Wasserstände hier und die sinkenden Wasservorräte dort. Da lachen an den geeigneten Stellen wieder die Vertreter der Wüste oder des Feuers. Feuer, Wasser, Wüste gegen oder mit Luft, Wind oder Sturm.
Luft, Wind und Sturm, diese dreifaltigen Drillinge, sind geschmeidig. Sie könnten mit allen zurecht kommen. Da sie aber kleine Teufel in ihrem Herzen tragen, verbünden sie sich mal hier und mal dort mit interessierten Verbänden oder Schneefürsten. Ihr kennt alle die erdlichen Ergebnisse. Dann prasseln zum Beispiel in eurem Sommer apfelsinengroße Hagelkörner vom Himmel und zerdeppern eure Häuser und Autos und Wälder und manchmal noch viel mehr.
Seit ein paar Klimern gibt es unter uns Schneefürsten auch Schneefürstinnen. So eine bin auch ich. Viele, viele Klimanter hat es gedauert. Klimanter kann ich vielleicht so erklären, dass bei euch noch die Saurier lebten, bevor durch ein Versehen eines Ministers von Vulkanitorius auf dem Planeten Exterry über euch das Verhängnis kam. Die Saurier waren dann weg und von damals bis heute sind drei Klimanter.
Wir werden noch viel an uns Fürstinnen arbeiten müssen, bis wir auf einer Stufe mit den Fürsten stehen. Noch vor kleiner Zeit haben die Dichter und Denker kein gutes Schneehaar an uns gelassen. Wir waren nur Objekte der Begierde Schneefürstlicher Gelüste. Ihr Fürsten, wartet nicht länger zu, wir kommen, und wir kommen durch.
Ja, das passiert bei uns so alles und noch viel mehr. Dann beginnt der Diaria mit dem Glockenläuten des Schneekönigs. Der Saal wird langsam leiser und alle gehen an ihre Plätze. Nach dem dritten Läuten sitzen auch wirklich alle.
Wenn ich jetzt noch weiter berichten wollte, wie es so vor sich geht bei uns, dann bekommt ihr wirklich das große Gähnen. Ihr kennt das alles aus euren Parlamenten. Reden, popeln, telefonieren, heimliche Zeichen mit den Daumen, den Füßen oder Köpfen. Brille auf, Brille ab. Wichtige Mienen und zürnen auf der Bühne und draußen das heftige Freundschaftsklopfen auf die Schultern. Lachen, zustimmen, ablehnen, Ausschüsse gründen und so weiter. Wir Schneefürsten und Schneefürstinnen sind euch wirklich sehr ähnlich. Wir sind mächtig, sexy, und wir lieben uns; Entschuldigung, kleiner Versprecher, euch. Euch Planeten, draußen.
Unser Ausschussvorsitzender, ihr wisst noch, die Untersuchung der 100 Menschenjahre. Abgekürzt „Uhumesozfonowelt“ hat gerade vor ziemlich leerem Saal das Wort zu unserem neuen Bericht. Die große Linie ist klar. Wir können nur verteilen, was da ist. Anleihen außerhalb der Systeme führt auf Sicht in die Abhängigkeit der großen nichtplanetarischen Schneekonzerne. Aber das Wichtigste ist, wir laden die Schneeschulden auf die Schultern der Kinder des Planeten Erde. Das kann und darf nicht das Ergebnis sein. Wenn sie schon nicht genügend ausgebildet und beschäftigt werden können, dann dürfen wir ihnen mit einem kurzsichtigen Konzept nicht zusätzlich das derzeitige Schneebedürfnis des Planeten Erde anlasten. Bei einigen Ausschussmitgliedern verspüre ich sehr deutlich allerdings diese Tendenz. Dagegen werden wir übrigens zu kämpfen wissen…Einig sind wir uns alle, dass es zu einer großen, ja umfassenden Reform des Schnees kommen muss. Jeder Erdenbürger hat das Recht auf Schnee. Auch gegen die Sonne, ja, ich betone, auch gegen die Sonne.
Es folgen sehr technische Dinge, die ich euch ersparen will. Vielleicht noch so viel Erdanalyse dazu: Sie lieben Neuschnee, sie fürchten ihn. Sie lieben das Schneetreiben, sie fürchten es. Sie hassen Schneematsch, die Autokonzerne lieben ihn. Es lieben ihn die Feuerwehren, die Notarztwagen, die Krankenhäuser mit ihren Ärzten und Schwestern und auch die Bestattungsspezialisten. Nur der Totengräber in Heringsdorf ärgert sich, weil er bei der so harten Erde, immer noch den Spaten benutzen muss.
Ach, ihr Lieben. Ich könnte so als Abgeordnete und Schneefürstin noch viele, viele Stunden erzählen aus unserem Parlament. Aber seht selbst, wie euer Winter bisher ausgefallen ist, dann versteht ihr unser und mein Leben und Wirken.
Nein, noch schnell von unserem alljährlichen Treffen der Universen unter Leitung von Gott, unserem allmächtigen Vater, muss ich kurz berichten.
Vulkanitorius hat mich am Rande des Treffens angesprochen. Er hat seinen Minister für Bodenerwärmung und Explosionen auf Exterry wegen der Geschichte mit den Erdsauriern und anderen Kleinigkeiten (es hörte sich an wie permanente private Nutzung von Exterry-Anlagen und Investition von Luftblasengeldern in die Erdatmosphäre) entlassen.
Ich muss es mir überlegen. Das ist ein heißer Job. Aber hoch interessant und bei bester Klingeling. Ach so, Klingeling. Das ist unser imperiales Zahlungsmittel. Einheitswährung. Das mit der Hitze macht mir schon ein wenig zu schaffen. Vulkanitorius sagt, dass er für seine neue Ministerin sogar einen Deal mit seinem aktivsten Krater, dem Exitussurprise, eingehen würde. Erlöschen und dann die Spitze vereisen. Ein herrliches Anwesen mit Weit- und Überblick. Also, ich könnte schwach werden. Aber was wird dann aus meinem Berlin? Kein Schnee mehr? Vulkanitorius meint, das Exitussurprise schon immer dort hin wollte und bester Ersatz für mich würde.
Na, dann los. Ich melde mich mal wieder.
Ach so, was geschah auf dem Treffen der Universen ansonsten? Ihr werdet es sicher verstehen. Ich war so belegt mit den Vorbereitungen zu meinem neuen Chef, dass ich mich gar nicht um die Tagesordnung kümmern konnte. Glücklicher Vulkanitorius.
Ich schaue erwartungsvoll auf den Mond und denke, wie das Märchen wohl weiter geht. Doch offensichtlich ist hier Schluss und…ok., jetzt bin ich aufgeklärt. Ich werde darüber und worüber auch immer jetzt nicht mit dem Mond diskutieren.
Der Mond hat wie immer ein paar Schweißperlen auf der Stirn, die ich ihm zärtlich mit meiner Bettdecke ein wenig abtupfe. Wieder räuspert er sich. Steckt seine Brille und das Märchenbuch in die Krater zurück, schnäuzt sich noch einmal heftig und ist schon fast weg als er mich höflich fragt, ob er im nächsten Monat wieder zu mir kommen darf. Welch eine Frage! Dafür nehme ich doch gerne die schlaflose Zeit bis zum letzten „Klick“ auf mich.
Ganz leise zwängt er sich durch mein Oberlicht wieder hinaus. Ich streichele noch einmal über die kleine Delle in meiner Matratze, die bis zur Aufstehzeit wieder verschwunden sein wird. Verschwunden ist auch meine Schlaflosigkeit. Nur als der Wecker klingelt, bin ich doch ein wenig wie gerädert. So wie jeden Monat nach der Vollmondnacht.
Heute Morgen bin ich wieder sehr nachdenklich geworden, denn das Märchen, das er mir vorgelesen und mit blumigen Worten ein wenig verfremdete, ist kein Märchen. Das ist so Tag für Tag auf unserem Planeten. Danke, lieber Vollmond, ich weiß jetzt, was ich zu tun habe.
Tag der Veröffentlichung: 05.12.2008
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