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Vollmond. Der Jogger

Da wache ich doch von meinem eigenen Geschnarche auf. Wie gut kann ich meine Liebste verstehen, dass sie mich des Nachts aus quartiert hat.

Der Vollmond lacht. Draußen haben wir leichte Minusgrade. Leichte Minusgrade? Was sind schon leichte Minusgrade? Um 6.45h wird mich der Wecker meines Nokia-Handys rufen. Jawohl – ich habe es noch immer nicht verschrottet. Spricht heute noch einer davon? Warum sollte ich es auch verschrotten, nur weil ein paar deutsche Michel gepennt haben? Und sich jetzt über das big business aufregen. Sie haben bei Nokia sogar die Mitarbeiter nachgezählt. So wie sie sie jetzt beim großen Finanzcrash nachzählen. Ob sie auch dem Antrag folgen, die Chefgehälter bei Nokia zu limitieren. Lach, lach, lach. Hoch lebe der Ackermann. Dieser Crash birgt für uns auch eine große Chance. So, die ungekrönte Kaiserin der Sprechblase, die damals ihr Nokia Handy sofort zurück gegeben hat. Gute Nacht, deutscher Michel. Sei nicht nachtragend und lasse den Burschen, was sie verdienen sollen. Schließlich haben wir doch alle aus der großen Blase Luft geholt. Nokia soll ziehen und in Rumänien auf den Bauch fallen. Wenn nein, dann haben wir auch dort bald einen höheren Bildungsstand. Soviel von mir als bravem Sessel pupsendem Pensionär und Besserwisser. Verärgert mich nicht zu sehr mit eurem Unwissen. Sonst wähle ich tatsächlich auch noch den Oskar. Diesen in alle Richtungen furzenden Wendehals. Gute Nacht.

Gebrumme und Geklingel im Wechsel und rotes Streifenlicht blinkt.

Und ich komme flugs zurück aus Atlanta, wo ich gerade hinein geschlendert bin in einen wunderbar temperierten Schuhladen aus der feuchten, schwülen Hitze entflohen. Drinnen Mick Jagger und Jerry Hall. Beide haben richtige, echte Füße. Wirklich. Und die wirklich eleganten Schuhe sind auch der Jerry zu klein. Wie üblich und verteufelt. Die besten Schuhe sind immer eine Nummer zu klein. Wie bei meiner Liebsten. Mick flüstert sich aus breitem Mund Mut in beide Ohren und ist sehr höflich, freundlich, lieb und nett zu Jerry. Und siehe da. Es gelingt ihm tatsächlich, seiner Jerry superschicke, drucklose Lederteile an den Fuß zu klemmen. Mick, du bist nicht nur ein großartiger Sänger, Musiker und Entertainer. Gerade als ich mich wundere, dass die beiden wieder zusammen ausgehen und mich für ein Autogramm bei Jerry und Mick zu erkennen geben will, ja, mein Tagebuch mit Stift direkt vor den beiden schwebt, da passiert es.

Gebrumme und Geklingel im Wechsel und rotes Streifenlicht blinkt.

Wieder zurück bin ich in der heimatlichen Welt in meinem prickelnd warmen Bett. Nokia. Nokia. Dafür könnte ich dich in diesem Moment zum Teufel jagen oder sogar verschrotten. Verschrotten? Ich jage allerdings nur meine linke Hand mit einem Stück linken Arm aus den Federn zu meinem Nachttisch. Brrr. Brrr. 14 Grade. Allerdings im Plus. Diesen Gefahren ausgesetzt, ist es Hand und Arm doch möglich, den Befehl von oben auszuführen und die Schlummerfunktion einzustellen. Damit sind mir weitere fünf Minuten Bett gesichert. Die Zeit ist jedoch viel zu kurz für einen Rückflug nach Atlanta. Ich komme nicht einmal vor die eigene Haustür. Pech. Wirklich Pech auf ganzer Linie. Mick und Jerry können bestimmt nicht länger warten. Pech. Wer weiß, ob ich die beiden noch einmal zusammen treffe. Boing. Pech.

Die getrennten Kassen lenken mein Augenmerk auf mein Hinterteil. Es spielt Widerstand. Und wie. Ich stehe nicht auf. Ich will nicht joggen gehen. Ich versuche noch, väterlich zu fragen, warum denn nicht? Zickige Antwort. Ich will eben nicht. So. Basta. Schluss.

Gebrumme und Geklingel im Wechsel und rotes Streifenlicht blinkt.

Was mache ich nur mit dem Widerständler dort unten? Klebt wie ein Stück Blei am Laken. Ok. Ein Schlummerdruck. Ich stehe nicht auf. Ich stehe gar nicht mehr auf. Ich bleibe im Bett. Na, warte. Du A…. Entweder du stehst jetzt auf oder du musst heute Nachmittag auf die Piste. Ha, ha, ha. Heute Nachmittag. Weder heute Morgen noch heute Nachmittag. Ich jogge gar nicht mehr mit dir!

Gebrumme und Geklingel im Wechsel und rotes Streifenlicht blinkt.

Raus mit der linken Hand am linken Arm. Beide kennen die vierzehn Grad. Schlummerfunktion und wieder fünf Minuten.

Was soll ich euch, liebe Leser, noch länger auf die Folter spannen? Mein Hintermann, der Chef der Beine, siegt in vollem Umfang auf der ersten Etappe. Nach dem nächsten Gebrumme und Geklingel im Wechsel und rotes Streifenlicht blinkt, stelle ich meine Weckuhr vor auf 7.45h und schwöre Rache.

Jetzt muss ich auch noch vor Erregung aus dem Bett und das kleine Geschäft erledigen. Weil er diese Nässe fürchtet, sagt der Streikhammel von hinten schnell ja.

Er kennt sich genau aus. Um zum Joggen zu gehen, ist mir jetzt zu wenig Zeit geblieben. Kürzere Strecken laufe ich nicht. Da habe ich auch meinen Stolz. Da bin ich wie mein Hinterteil. 14 Grad im ganzen Haus. Die Zeituhr bringt erst in fünfzehn Minuten die höheren Temperaturen. Erledigt und schnell wieder unter die Federn.

Nun gelingt im Bett gar nichts mehr. Die Federn wärmen nicht. Die Füße sind irgendwie schweißig kalt. An Träumen ist nicht einmal im Wachen zu denken und unten klappert der Briefkasten mit der Morgenzeitung. Nein, die hole ich mir jetzt nicht rauf. Bevor die Zeituhr die Hitze nicht vollends in die Räume getankt hat, bewege ich keinen Zeh mehr unter diesem nun irgendwie fremden Laken hervor. Der Hintern freut sich. Er hat es wirklich noch am Wärmsten. Außerdem stehen in der Zeitung die Lügen von gestern. Die habe ich schon im Radio gehört. Aufstehen fürs Zeitung lesen? Wozu brauchst du diese Portion Bildung. Du bist doch schon Pensionär. Was du wissen musst, das weißt du doch. Und was du vergessen hast, Alter, das brauchst auch nicht mehr. Armleuchter, du. Woher willst du A…. das wissen? Apropos Bildung. Mit Angela schwabbelt die Parteienlandschaft. Es kocht in Hessen der Lügen Ypsi Brei so sauer auf. Der Niedersachse, der im Verlust gewonnen hat, bleibt der heimliche Kronprinz. Oder zieht rechts links der Hamburger vorbei. Passt doch gut nach Berlin, oder? Auch der Hamburger hat im Verlust gewonnen und mischt so richtig hanseatisch die Grünen auf. Die wollen jetzt alles, was sie vorher nicht kannten oder sollten. Das hat Ole von Gerhard gelernt. Der Gerhard sollte für uns alle ein Vorbild bleiben. Oder sind wir schon lange so wie er? Wer versteht das überhaupt noch?

Gebrumme und Geklingel im Wechsel und rotes Streifenlicht blinkt.

Wenn Nokia zu verschrotten ist, dann jetzt aber wirklich. Nokia verhindert meine interne Vorbereitung zur Diskussion zur Bildung mit Gipfel und Parteienlandschaft und…es ist kaum zu glauben, mein Hintern steht auf Nokias Seite und erhebt sich freiwillig mit leichtem Schwung aus den Federn. Warte ab, du Wackelkandidat. Ich werde mich rächen und durchsetzen und zwar wörtlich.

Gähnen, gähnen, gähnen. Irgendwie bin ich wie gerädert. Vielleicht hatte mein Hintern doch recht. Duschen, anziehen, Frühstück. Kochwäsche. Ich bin ein Mann und bezwinge die Waschmaschine.

Einkaufen gehen. Frau Schlurf und Herrn Schlapp treffen und Schwätzchen halten. Den Brandstifter haben sie gefasst. 20 Jahre alt und schon Langeweile und Frust. Hoffentlich steckt mir mein Hintern nicht auch noch die Federn unterm Rücken an. Aber der ist wirklich alt.

Der Grünkohl ist noch vom Dienstag und schmeckt gewärmt sowieso viel besser. Mein Hintern ahnt immer noch nichts von meinen Absichten und folgt mir ohne zu zögern überall hin. Auch zum großen Geschäft. Na, klar. Vorher lässt er noch ein paar knallige , stinkige Winde wehen, damit ich auch rechtzeitig in die richtige Richtung strebe. Wenn es um ihn geht, kennt er offensichtlich kein Pardon.

Ich hätte aufpassen sollen. Der kleine Nachbarhund, der König von Frauenschoß, springt, von den Geräuschen getroffen, empört zur Seite und landet in dem Brunnenloch, das sein Herrchen gestern Nachmittag gegraben hat. Bestimmt nicht dafür, dass sein Hund darin verreckt. Ich kann nicht länger warten. Soll doch der Mann von Frauenschoß ihn selber finden.

Nach dem Mittagessen gehe ich spazieren und treffe Nachbarn, die ich nicht sehe. Das erfahre ich aber erst morgen, wenn sie sich bei meiner Tante Erna beschweren. Heute ist es warm. Plötzlich Schneesturm. Und ich mitten drin. Mir fliegen fast die Ohren fort. Der Hintern lacht im Windschatten vor sich hin.

Vom Spaziergang zurück täusche ich ein Umkleidemanöver vor und rattz, fattz bin ich in den Joggingkleidern. Ein Ziehen, wie ein elektrischer Schlag, durchzuckt mein rechtes Bein und anschließend gleich das linke. Mit vom Schmerz verzerrtem Gesicht setze ich mich nieder und atme tief durch. Ich gebe nicht nach. Nein, nein, nein und mache weiter und ziehe die Joggingschuhe an.

Der Rest ist wirklich schnell erzählt. Dass der Chef der Beine alle Tricks der Verweigerung auffährt, erklärt sich von selbst. Die Füße verbünden sich sogar mit den Schuhen, die wie bei Jerry Hall, plötzlich eine Nummer zu klein sind. Oh, Mick, Hilfe. Der lacht aber nur sein Haifischlachen und flitzt an mir in seinen goldenen Nölteis locker vorbei. Frau Schlurf und Herr Schlapp, denen ich mit meinen sechzig Lenzen gut fünfzehn hinterher renne, jetzt sogar hier, treten ebenfalls Nölteis, aber schneeweiße. Sie drehend sich lächelnd zu mir um und flüstern sich etwas zu. Mick hat das wohl noch mitbekommen und lacht aus vollem Herzen. Die Entfernung zu mir reicht aber nicht aus, um ihm strafend in die Waden zu treten. Ich hechele den Dreien hinterher.

Als mich auch noch meine Liebste, die beste aller mir bekannten Ehefrauen, direkt aus Berlin kommend am Binnenseeufer der Ostsee überholt und dabei in völlig freiem Atem mit meiner fünfundachtzigjährigen Tante Erna plaudert, die ebenso schnell wie freundlich mithält und die Krücken unter den Achseln trägt, wache ich auf.

Gebrumme und Geklingel im Wechsel und rotes Streifenlicht blinkt.

Schweißgebadet bin ich. Versteht sich. Scheiß Vollmondnacht!

Die Uhr zeigt 6.45h. Ich bin erledigt vom Joggen auf der Matratze, bleibe in der schweißigen Nässe liegen und zwicke mich mit letzter Kraft in den Hintern. Der Schrei bildet sich oben hinter den Augen beginnend aus und bläst sich über die Lungen und den Hals ins Freie. Die Augen lassen in Anteilnahme zwei salzige Kugeln rollen.

Warst du zum Joggen? Nein. Hast du heute Morgen so laut geschrien? Nein. Mein Kaffee ist dünn und kalt. Ja, Tante Erna. Heute haben wir Vollmond, mein Junge. Volltreffer, Tante Erna.

„Hallo, hallo, hallo, du alte Schlafmütze, steh jetzt endlich auf! Wie oft soll ich dich noch rufen? Wir müssen gleich los. Schau mich nicht so blöde an. Um 20.00h ist heute unser Ben-Becker-Abend im Renaissance-Theater. Du weißt doch, Endstation Sehnsucht.“


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Tag der Veröffentlichung: 14.11.2008

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