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Ein leichter Sinn trägt auch eine schwere Last! Dies soll mich heute aufmuntern – denn kurz ist das Leben und in Wahrheit noch kürzer als wir’s begreifen können. Gestern war ein fürchterlicher Tag, mir war als hätte ich mehr Konflikte mit mir als mir der Umwelt um mich her gehabt. Weiß Gott mein Freund, aber du wirst mir gewiss Recht einräumen, dass es bestimmte Tage im Leben gibt, die wider einen sind, in denen man glaubt nichts zustande bringen zu können, und wenn dann ein ganz dumpfes, erdrückendes Gefühl die Brust noch befängt, sie einzudrücken droht; und schaut auf die Menschen dann, mit denen man sich täglich vergleicht, die neben einem sind, besser als diese zu sein, und sieht und geht drunter langsam zugrunde wie deren Handeln, wie man auf Brot die Butter schmiert, wie aus dem Nichts heraus von einer Leichtigkeit begleitet wird, dass man selbst noch mehr zu verzweifeln beginnt. Da mein Guter ist’s mir dann als stünde ich vor einer Leere – wo mich Wille und Ehrgeiz ganz verlassen, ich dann da stehe wie einer dem alle Ehren und Würde geraubt worden sind. Wie war ich also froh, ja gar überglücklich als ich Heim kam! In meinem Reich voll der wohltätigen Geister wieder mich zu finden! Das dumme Gedränge nach besserer Stellung und plattem Dasein da Draußen aus dem Gedächtnis zu verdrängen und an Stelle dieser die wahren Empfindungen im Leben eines Menschen wieder in Gedächtnis zurückzurufen!
Da war’s mir wieder wohl – und kann heute, glaub’ ich mein Freund, da mich nichts bedrängt und ich heiter in der Seele bin, was ich seit kurzem mit mir herum trage, eine außergewöhnliche und doch so realistische Begegnung zwischen mir und einer alten Freundin, erzählen.
Höre an was und wie’s war. Eine zweitägige Geschäftsreise war mir aufgetragen in die Stadt LB, in der meine Freundin selbst ihre Wohnung und Arbeit hatte. Es war mir eine Unterkunft dafür dort reserviert. Neben dem Schloss M. stand das Gebäude in dem ich übernachten würde. Wie ich dort ankam sah ich gleich das Schloss in mitten einer freien Fläche, das von Bäumen umgeben stand. Als ich in mein Zimmer einquartiert, war mein erstes Anliegen das Schloss zu besichtigen und wenn ich Glück haben würde, auch das Innere erkunden. Die Türen waren abgeschlossen – ein See hinterm Schloss eröffnete mir eine romantische Vorstellung auf die frühere Zeit, wie man hier wohl an dem Ort gelebt habe. Obwohl dunkle Wolken über mir zogen und ein leichtes Regenwetter die Stadt überkam, verließ mich nicht meine Phantasie, mir den Ort in Verbindung mit dem Schloss und den See in blühenden Frühlingstagen vorzustellen, wie es da einst schön gewesen und noch heute sein müsste. Wie die Zeit in einem Zustand der Schwärmerei verfliegt wird jeder wissen, der einmal schon woanders weg gewesen und es dort zu schön aber den Aufenthalt zu kurz empfand. Nach der aufheiternden Besichtigung folgten Stunden der Pflicht und Langeweile –
Mein Abendessen aß ich zügig, sah auch immer auf die Uhr, da mich meine Freundin gleich treffen würde. Sie gab mir eine Nachricht, dass sie den Ort nicht finden kann. Eine freundliche Dame, die ich bat mir zu helfen, erklärte ihr den Weg. Dann verließ ich die Bekannten, die ich durch Geschäfte kennen gelernt. Ein Nieselregen war Draußen. Mein erster Gedanke war das Schloss, denn dort könnte ich sie abfangen und gleichzeitig empfangen. Die Straßenleuchter warfen Licht auf den Weg – und das Schloss war von allen Seiten belichtet. Ich stieg paar Stufen hoch und war wie schon Vormittags an der verschlossenen Tür. Stille war um mich her, und die vom Wetter entstandene Kühle ließ mich frieren – einige Zeit verging, ich stand immer noch da, dann ein kleines Licht in der dunklen Ferne zwischen all den Bäumen und den Schatten näherte sich mir zu. Sie war es auf dem Fahrrad! Ich pfiff, machte sie auf mich aufmerksam. „Durch Regen und Wetter kommst du nur um mich zu sehen, und ich erwate dich am Schloss, wenn das kein romantisches Wiedersehen ist, dann weiß ich’s auch nicht.“ sagte ich, und sah in die so vertrauten blauen Augen. Ich muss sagen, meinen ersten Satz hab’ ich schon einstudiert gehabt, denn ich hatte genügend Zeit, ihn mir auszudenken, wie ich gewartet habe. Sie freute es. Ein ganzes Jahr haben wir uns nicht gesehen und nun! Ich könnte schwören, dass ich in ihren Augen Verwunderung und Freude gelesen habe –
Wir machten um das Schlossgut, und das war recht groß, einen Spaziergang von drei Rundgängen, und erzählten uns unsere Fortschritte, unsere Lage, und erinnerten uns an vergangene gemeinsam durchlebte Zeiten, und erfreuten uns an unseren wechselseitigen Meinungen, die gar nicht mehr so unterschiedlich sind, wie noch damals, an der Erkenntnis auch, dass unsere Ansichten vom Leben, der Liebe und der Welt immer mehr zusammenfließen; wie zwei Flüsse, die ins Meer münden. Auch entflammte die alte Glut der Liebe wieder, die durch das Schweigen oder eines anderen Gedanken zu keiner weiteren Flamme schlagen durfte. Mit einer herzlichen Umarmung und sanfter Wehmut in den Augen umarmte sie mich zum Abschied, und ich drückte sie an mich, wünschte ihr alles Gute, und sie stieg auf ihr Fahrrad und schied von mir, im Dunkeln der Nacht.
Zum Schreiben mein Lieber hab' ich mehr und mehr weniger Zeit, einmal ist’s die Lustlosigkeit die mich zum Schreiben hindert, ein andermal die Zerstreutheit der Gedanken – auch schreib’ ich dir, ich weiß nicht recht es zu sagen, mit halber Kraft oder letzter Kraft, die ich noch nach der langen lieben Pflicht aufbringen kann – auch fühl’ ich dass ich im Innern unruhig bin und fürchten muss, das was ich zu sagen habe, es nicht werde in Worte fassen können. So stell’ dir vor, dir ist in den See ein Wertstück hineingefallen, und du versuchst es mit der Hand wieder zu bergen – und musst doch einsehen, dass die Länge deines Armes nicht ausreicht das Wertstück zu ergreifen. Demnach fühl’ ich dass ich meine Empfindung werde nicht ergreifen können, da meine Gedanken nicht die nötige Tiefe haben, so ausführlich und nett ein Gefühl nachvollziehbar auszulegen, dass man mich versteht, den Augenblick mir gleich nachzufühlen. Ich sehe wohl ein, dass mir das Wertstück fern ist; und wie ich mich beuge und stelle, ich kann es doch nicht ergreifen – und so redselig ich nach Außen geworden bin, so im Innern bin ich geworden stumm.
Nun mein Lieber, ich fühle, dass mein poetischer Genius nicht gänzlich unter der Bürde der Pflicht verschüttet worden ist – letztens durchbrach er die engen Barrieren des seriösen Geschäfts, wie der Sonnenstrahl den dunkel bewölkten Himmel durchdringt! wie ich in einem recht ernsten Gespräch mit einem Herrn über die momentane Situation des Arbeitsmarktes und der Gehaltsentwicklung in den Bundesländern verwickelt wurde – und mich wunderte, dass der Mensch noch in der alten DM dachte. Dann sprach er sich über den Unterschied der DM und dem Euro aus – wie doppelt und dreifach man mit der DM noch verdient habe, was man heut’ nur die Hälfte an Gehalt in Euro auf dem Kontoauszug am Ende des Monats zu sehen bekommt; mitunter wie auch die älteren Menschen, die noch nicht das Rentenalter erreicht, mit den technischen Fortschritten, der Arbeit wegen, mithalten müssen, was Ihnen sehr schwer fällt. Es läuft was verkehrt in dem Land, sage er zu mir, es kann nicht sein, dass alles teurer wird, und die Gehälter kürzer; statt es in die andere gesunde Richtung zu lenken; nämlich konstante Gehälter und konstante Preise, lenkt man’s in die umgekehrte schädliche Richtung, statt das diese zwei Punkte sich nähern, breiten sie sich nur umso mehr aus – das gab zu nachdenken. Der Scharfsinn des Mannes traf gut den Wert des Geldes, als er sagte, dass allein das Geld den Menschen am meisten beeinflusse und den Geist des Menschen sehr oft nur zu den Dingen ziehe, die Geld einbringen. Der Mensch verbringt den größten Teil seines Lebens auf der Arbeit zu – neben dieser trachten viele nach einem soliden Einkommen, einen Wagen, eine Familie, ein Haus und hin und wieder im Jahr ein bis zwei Mal in den Urlaub zu fahren – dann noch da und dort zu Zeiten einige ungewöhnliche Vorstellungen beiwohnen, was die Seele erfrischt und aufs neue belebt, der Gewohnheit so zu entsagen. Es denken doch die Leute, fuhr er fort, dass Geld das einzige Mittel sei, was sie reicht macht. Und in dem er immer wieder das Geld für das Übel auf Erden hielt – blitzte mein Genius auf einmal überraschend wie die Sonne am Himmel; und ich sagte; weiß Gott wie’s mir einfiel – in der Weisheit und der Erfahrung liegt der größte Reichtum des Menschen – wie ich’s ausgesprochen, sah mich der Herr kurz staunend an, als hätte ich die ganze Masse seines Gehirns in die Gegenrichtung seiner Denkweise bewegt – dass er lächelte, jedoch darauf wies’ dass Ihm mein Spruch auch nicht helfen konnte, die vorhin fünfzig Euro, die er bei mir bezahlt, zu sparen. Da mein Lieber merke ich, dass wenn der frostige Ernst von mir abfällt und die Seele gegenüber den zu Dienst stehenden Menschen sich aus dem konventionellen Umgang befreit, ich in den Fass der Poesie den großen Schluck erheiternden Genusses nehmen kann, so der Zunge sinnreiche geflügelte Worte verleihen zu können.
Um es genau zu sagen – mein lieber ungeneigter Leser, schreibe ich diese Gedanken unter widrigen Bedingungen nieder. Statt wie’s die Menschen abends nach ihrer getaner Arbeit tun, sich schlafen legen, unterjoche und zwinge ich den Geist noch sich den losen Nebelschleiern die ihr Unwesen in meinem Kopf treiben, zu widmen – und es will gelingen, nur aus einem Grund denke ich, weil’s mir eine einfache Freude macht zu schreiben, und sollte auch daraus nichts werden – so habe ich mich doch mit der Muse begnügt – die um mein Herz die eisige Starre mit ihrem Feuer auf eine Zeit lang sprengt – dass sie mir eine warme Träne schenkt, als entstünden um die vereiste innere Welt heiße dampfende Quellen, die den Frost schmelzen lassen. So ist’s mit meinem Innern, wenn der Tag eine Maske aufsetzt – begnüge ich mich mit meiner in die Maske anderer zu lächeln – und die Worte und freundlichen Gesten streifen die Seele auf eine Art, wie man flache Steine wirft, die auf dem Wasser springen. Der Glückliche! sag’ ich da – dem das Leben und die im Leben aufkommenden unvorhergesehenen Schicksale den letzten Funken Fantasie im Leibe erloschen haben – dass für sie alles nur eine berechtigte Existenz hat, was sich nur in ihrem kleinen Kreise wieder findet, voll Beschränktheiten und Vorurteilen – und da leben sie so vergnügt und lachen in dir flackernde Röhre hinein, dem sie ihre wertvolle Zeit verschenken. Wenn die Fantasie erloschen – und die Tage den Geist verzerren – Leidenschaft in Asche gelegt und Poesie aus der Brust entschwunden, lebt man weiter als eine Art Marionnette. Und ich kann mir kein lebenswertes Dasein ohne diese Heiligtümer vorstellen; andere wohl schon, eben jene Menschen, deren Gehirne diese Heiligtümer, wie spanische Dörfer sein müssen, dass sie alle ihre Kräfte und Zeit auf den natürlichen Fortgang setzen, oder auch jene klassische Laufbahn genannt, die wir alle in der Gesellschaft durchlaufen, von der Kindheit an bis zum Tode. Allein aus diesen seichten Zuständen des allgegenwärtigen Theaters um uns umher zu entrinnen –lassen wir die erschöpfte Seele baumeln, die einen durch dumm und blöde wirkende flackernde Bilder aus der Röhre, und die Privilegierten, durch einen Besuch des Theaters oder Restaurant; und die Woche, so lieblos oder einseitig wie sie verlief, zu vergessen. Mein lieber ungeneigter Leser – so ist’s nun mal das ganze Leben eines Menschen, dass er die Woche fünf Tage oder gar auch sechs arbeiten muss – und es nur wenige besondere erfreuliche Tage braucht, die saueren Tage dadurch alle zu verdängen.
Viel mehr habe ich nun Eindrücke, wie ungerecht das Schicksal doch ist – ja, du der das liest – welch’ ein Glück du hast, nicht als ein schwarzes Kind in Afrika geboren geworden zu sein oder als eine Muslimin aus Afghanistan, die sich keine Begriffe von Liebe machen kann, da sie schon als Kind vom Vater dem Cousin verkauft wird – und zehn Kinder gebären muss, wie auch die Untreue ihres Mannes über sich ergehen lassen muss, da sonst ihr Schläge drohen und in Wahrheit Sterbens unglücklich ist, erträgt sie weiter hin das ihr vom Schicksal schwer aufgelegte Kreuz, dass wenige Freuden und gar keine Liebe gebärt. Oder der kleine Junge aus Afrika, in einer Strohhütte aufgewachsen, der nicht die Pinocciogeschichte vorgelesen bekommen, oder selbst gelesen, deren Seele weder Vorstellung noch Bilder, noch Worte davon kennt – und noch so vieles mehr, was den Waffen und Gewalten keinen Zutritt gewährt. Umgekehrt werden solche ideallosen einfachen Gemüter leicht von schlechten Menschen beeinflusst. Das Gute und das Edle im Menschen muss erst wachsen, wie der Samen zu einer Pflanze heranwächst, damit aus einem Knaben ein ordentlicher Mensch mit Geschmack und Moral im Leibe wird. In den Kinderjahren sollte der Samen gepflanzt – in den weiteren Jahren weiter gepflegt werden – und ein Mensch voll Güte und Barmherzigkeit und Sinn für Gerechtigkeit wird entstehen. Und mit den Worten ist es doch so – und da hat Nietzsche Recht – dass wir den Gegenständen Begriffe verleihen – die wir – die Gegenstände dann ohne sie vor den Augen zu haben, mit dem Geist aufgreifen können. Aber wie vieles bleibt bei einem Worte ungesagt? Wie sehr täuscht sich der Mensch in dem Verliebt sein – dass er die tiefsten Gründe seiner Seele und aller Vorstellungen unbegreifliche aus der Natur stammende Macht erreicht hat; wie oft! und können dabei nicht ihre geschwätzige Zunge im Zaum halten, und müssen sich drüber von anderen als von Gott trösten lassen – mit hoffnungsversprechenden leeren Erfolgen – die klaffende Wunde so zügig wie möglich zu schließen; wie etwa, das war ein scheiß Kerl, vergiss' ihn! Und der Nächste ist doch auch oft wie der Letzte! So ist manch' Frauen Vorstellung! Doch wer in seiner Demut erkannt hat, was er verloren, durch die tiefe Liebe zu einem Menschen gefühlt, aber mehr gewonnen – ja, der wird die Hoffnung in seinem Herzen halten, und wird seinen Weg zwischen den geheimen Kräften und unsichtbaren Mächten, welche die Natur verbirgt, still fortwandern.
Nun mein Lieber, ich möchte dir von einer ungewöhnlichen Laune berichten, die mich die letzten Tage mit einer außergewöhnlichen Freude erfüllte, und mich deshalb auf wundersame Ideen aufmerken ließ, die ich tatsächlich dann auch auszuführen gedachte – und letztendlich es auch ausgeführt habe. Wenn ich dir sage, dass ich die Inspiration dazu aus dem Fernseher erhalten habe, wirst du mir dies gewiss wohl nicht ganz glauben wollen – aber, es ist nun mal so Fall. Du weißt, dass ziemlich viel Müll und Quatsch im Fernseher gezeigt wird – jedoch möchte ich das Fernsehen nicht ganz verabscheuen, wie es sonst vielleicht so ein mancher tut. Denn, es gibt sogar für Kultur und Politik und dergleichen Dinge interessierte Menschen wirklich einige hervorragende Programme, die das Fernsehen anbietet.
Da saß ich also eines Abends vor dem Fernseher und habe mir eine hochbrisante Debatte, die in einen kleinen Kreis von fünf bedeutenden Menschen stattfand, angesehen. Zwei Politiker wetterten derbe und scharfsinnig über die Machenschaften eines Profitgeilen Stromkonzerns – der innerhalb eines halben Jahres einen Gewinn von 22 Milliarden Euro aufweisen konnte – eine unglaubliche Summe für ein einzelnes Unternehmen – der deshalb eben nicht im Wohle der Gemeinheit handelt, sondern nur auf den Gewinn und nichts als den Gewinn und auf eigene egoistische Interessen abzielt. Da mein Freund – da sieh’ – da müssen mittelständige Betriebe brave Leute entlassen, weil dieser durch die Finanzkrise angeschlagen wurde – und der große Konzern, der eine Monopolstellung in dem Lande innen hat, mehrt sein Geld, weil er den Preis für sein Gut frei bestimmen kann, da viele Haushalte von der Ware abhängig sind. Es wurde mir im Laufe der Sendung sehr klar, dass dem Menschen, der den Konzern vertrat, alle Mittel dafür recht waren, vor der Öffentlichkeit die entsetzliche Wahrheit zu verschweigen und den interessierten Zuschauer bewusst zu täuschen – dass der Mensch gar, so will ich’s meinen, sich auch nicht davor scheute, den heftigen Angriffen auf die Profitgeilheit mit einer Rhetorik abzuweisen – die nur darauf beruhte – der Gegenpartei den Wind aus den Segeln zu nehmen und dem Zuschauer einen Eindruck zu geben, dass die Angriffe keine sichere Hand und keinen festen Fuß haben, ja selbst, dass ohne Beweise alle der Wahrheit verpflichtenden Worte, nur ein Geschwätz sind. Mein Lieber, man braucht doch nur ein wenig Verstand und eine Empfindung, um zu erkennen, wie es um die Wahrheit steht. Denn es ist auch oft so mein Freund, ohne dass wir Beweise gegen eine Sache haben, sich uns im Innern eine Empfindung zudrängt, die uns als Beweis ausreicht, ohne dass wir den tatsächlichen Beweis dazu brauchen, da dieser das von vornherein empfundene Gefühl nur bestätigt. Ich rede hier von der natürlichen Gabe aller Menschen: der Intuition – denn Intuition nämlich heißt Erkennen – und der Mensch glaubt ja so vieles ohne Beweise und ohne auf ein Gefühl zu vertrauen, wenn man ihm von allem, und nur von der Wahrheit nichts erzählt. So viel dazu –
Etwas später um die Uhrzeit, es war da schon Nacht, zog mich über die Menschen in Indien eine Dokumentation an – übrigens, habe ich gar nicht dir erzählt, ich sitze hier in der Frühe, merke nicht wie der graue Tag hereinbricht, bin hundemüde und schreibe dennoch diese Gedanken nieder, Gott sei Dank ist Wochenende – die Dokumentation also erzählte von den gewissen Indern, die Leiber ihrer Toten auf einem Tempel neben einem heiligen Fluss verbrennen, und vom Leibe, dem Gefängnis der Seele also, die Seele befreien, und ihr die letzte Ehre, bevor sie ins Paradies entfliehet, damit erweisen. Es war auch folgendes, das die Asche nach der Verbrennung in den heiligen Fluss gestreut wurde, wobei den Angehörigen des Verabschiedeten dies auch ein sicheres Zeugnis über die glückliche Ankunft des Toten in das Paradies abgab. Erstaunt stand ich vor der Tatsache, dass viele Bürger Indiens an Diabetes erkrankt sind. Hernach nahm ich ein Büchlein in die Hand, stand vom Kanapee auf, schaltete den Fernseher aus, und las mir die Seiten, im hin und her gehen durch das Zimmer, laut vor. Recht merkwürdig war’s – ich las 59 Seiten – und, ich hätte es mir nicht gedacht, dass mir – obwohl ich das Büchlein schon öfters gelesen habe – haben dennoch sich eigenartige Zeilen offenbaren können, wodurch der Sinn viel mehr an Wirklichkeit gewann. Es war nicht wie sonst, dass den Inhalt, welchen ich einsaugte, ich in mir verschloss, nein, die Stille um mich her, und mein hin und her tappen, und lautes vorlesen, ließen – so unmöglich es auch klingen mag – ließen mich in den lebendigen Geist des Schriftstellers hineintauchen. In dem Sinne lebendig, dass Worte, die ich mir vorlas in mein Leben – somit auch in die Wirklichkeit – erwachten, und wie auch die Worte erwachen, so erwacht demnach auch der Geist des Autors mit. Ist denn nicht jedes ausgesprochene Wort lebendig? Und können nicht Gedanken zum Leben erwacht werden? Was ist der Mensch als nur Gefühl und Gedanke? Und Gefühl und Gedanke waren die Worte des Schriftstellers! Und sie wurden meine, und wie sie das waren, las ich sie ins Leben hinein, da ich wie er empfand und dachte – und so wurde auch er wieder lebendig! An den Anfang zurückzukommen, reifte durch diese kleinen Beobachtungen und Erkenntnisse eine außergewöhnliche Idee in mir heran – Bilder, aus Zeitungen und dergleichen Sachen, die die Welt von ihrer schönen und hässlichen Seite darstellen, zu sammeln und an meine Wände zu machen. Ich möchte – so war’s in meinem Innern – jeden Tag mit dem Bewusstsein aufwachen, wie die Welt in ihrer Wirklichkeit ist. Ich möchte, bevor ich in den Tag hinaus gehe, das Wissen mitnehmen, dass der Leid und das Elend noch viel tiefer in die menschliche Natur hinein gehen, als ich es überhaupt bisher je erfahren habe: mir schlägt es im Magen, wenn ich drüber nachdenke, dass das Schicksal einen Menschen zu einem Prinzen erwählt und den andern als einen afrikanischen Jungen, der in der Hungernot hineingeboren wird. Und eben da, dass man sich dessen bewusst wird, wie gut es das Schicksal mit einem gemeint hat, da man ja doch auch selbst irgendwo in Afrika hätte geboren werden können. Und da prahlen die Könige und Königinnen und die Privilegierten mit ihren Kindern – wo eins eben am Ende der Welt in den Augenblicken, ein Kind was kaum die wunderschöne Welt erblickt hat, kaum das goldene Los, die Freikarte ins Leben gezogen hat, einmal zwischen dem Nichts und Nichts, einmal das Licht der Sonne zu erblicken, – unter der Sonne und den Mond, einmal die Liebe fühlen zu dürfen, alltäglichen Freuden zu empfinden, und warme Tränen vor Glückseligkeit zu weinen und die vielen anderen einfachen Freuden des Lebens noch – und ach – und es muss dahin in den dunklen Abgrund, in die Schatten des Todes zurück, von wo es das Licht hergeholt hat; wegen dem Hungertod! Der Junge stirbt mit einem quälenden dumpfen Gefühl im Magen, mit einem letzten Schlag des Herzens und knurrenden aufgeblähten Magen dahin –
Freund, versteht du das! Siehst du diese elende Ungerechtigkeit! Fühlst’ du es nicht im Herzen, sollten es deine Augen auch nicht sehen? Denn, wie oft, mein Freund, sind wir blind und schenken einer unbedeutenden unmittelbaren Narretei unsere Aufmerksamkeit, dass wir die wahren Zwecke des Lebens, Schwächeren zur Hilfe zu eilen, Ungerechtigkeiten zu bekämpfen, durch den eigenen Leichtsinn und Desinteresse vergessen? Ach, wie sich das alles an meine Seele drängt! Und so voll mein Herz gemischter Empfindungen auf einmal! Und so nass mein Auge!
Ungerecht mein Lieber! Ungerecht! So ungerecht.
Ihren so wundervollen Brief habe ich eben erhalten. Ich habe ihn zweimal lesen müssen, und beinah mich dabei in Tränen verloren. Sie schreiben so freudvoll von ihrem Tag, so wahr von ihren Sehnsüchten, und so liebevoll von mir! der sie mehr liebt als sonst ein Mensch auf Erden! und was muss ich nicht deswegen alles leiden! was nicht alles deswegen meiner Seele aufbürden, damit ich nicht unter ihrer Abwesenheit zugrunde gehe! Den ganzen heiligen Engel, der sich mir in ihrem Bilde, in ihrer Stimme, in ihren Worten zeigte! All das hat mich überwältigt und entwaffnet, dass ich mich ihnen am liebsten zu Füßen werfen möchte, und dem Allmächtigen im Himmel danken, dass er mir sie geschickt und gegeben hat. Ich schaue nach Draußen, der Himmel ist bewölkt, und keinen Mond sehe ich die Nacht durchfluten. Doch was will ich mit ihm!? wenn sie mir im Herzen sind! und doch, ach, machen sie mich mehr traurig als sonst. Und so ist oft mein Herz vom Verlangen und Entbehren durchdrungen! und ich weiß nicht wohin mit mir dann, ich weiß es nicht, und muss diese Last doch still und leidvoll über mich ergehen lassen. Was bin ich so machtlos ihnen gegenüber! und doch wärmen sie meine Brust mit allem wie sie sind! mit allem was sie von sich entbehren können! wenn ich ihre Zeilen lese; sie würden gern an meiner Brust liegen, und meinem Herzen lauschen, und den Mond da am Himmel mit mir beobachten, wenn er sich sehen ließe, in seinem silbernem Lichte neben mir zu ruhen! Sie reizen meine Einbildung, und ich sehe diese bezaubernden Augenblicke vor iin meinen Gedanken schweben, ich greife nach ihnen, ich greife nach den Erscheinungen wie ein Betrunkener, und will es umarmen, ich will es an mich drängen, zu mir ziehen! alles vergebens –
Hundert mal hab’ ich dafür gebetet; dass Gott die Zeit bringen möge, dass wir uns sehen! hier bei mir! wo sie auch hin gehören! soll er sie zu mir bringen; doch wie klingt das? darf ich schon Prätensionen dieser Art an sie machen? darf ich Ansprüche an sie schon stellen? und doch wünschte ich aus ganzem Herzen; sie wären mein! ganz mein! Sie fühlen nicht mit welcher Gewalt die Zeilen über meine Seele schlagen; wie es dem Matrosen ist, wenn sein Schiffchen die hohen Wellen bedrängen. Ach, in ihrer Seele habe ich einen reinen Himmel zum atmen gefunden, unter dem ich auf ewig leben möchte, ein Reichtum an ausgefüllten Sinnen! Die Fülle der Empfindungen durchdringt mich, die an ihrem Munde zerfließen möchte, um an ihrer Brust, unter den himmlischen Augen, wieder neue Kräfte zu schöpfen.
Dass sie dahin ist! Das einzige liebste Geschöpf, das meinem Herzen noch auf der Welt der Balsam war; auf ewig dahin! – bester Freund, wenn ich es dir, diesen Schmerz, diesen Verlust, den ich fühle, nur klar wieder so ausdrücken könnte, der meine einzige Empfindung ist, woran ich leide, woran ich zugrunde gehe! Ach, warum, weshalb müssen immer die liebsten Menschen von einem scheiden; immer dann, wenn man zu begreifen beginnt, wie sehr sie einem das Herz ausfüllen, und wie sehr sie einem das Leben versüßen? Gott, viele andere hätten es mehr als sie verdient. Sie hat so ein braves Herz gehabt, hat sich so um ihre Familie fürsorglich gekümmert, wie nur eine gute Seele es tun kann. Ach wieso nur hast du sie mir genommen, Gott, wieso hast du sie aus ihrem vertrauten Kreise herausgerissen, wie ein Adler ein Küken entreißt, aus welchem Grund?
Wie ihr jugendlicher Anblick noch im Tode so schön mir schien, als ich sie noch ein letztes Mal sehen durfte, bevor sie zur Erden in einem Sarge hinab gelassen ward. Mir kamen die Tränen dabei; ich rief mir zu; sie ist von uns! Sie ist von uns! und ich sehe nichts als einen leblosen Körper vor mir da liegen! Sie ist von uns! schallte es in meiner ganzen Seele, wie ich mir versuchte immer wieder diesen Satz begreiflich zu machen; doch ich verstand ihn nicht! Ich verstehe diesen Satz nicht! sie ist auf ewig fort, tot! tot!
Dann trug man sie an den Friedhof; und ließ ihren Sarg ins finstere Loch langsam Seil abführend hinab, an einem grässlich nassen grauenhaften Herbsttag. Ich kann dir nicht beschreiben, wie die Geliebten nach der Abgeschiedenen trauerten, wie man um sie heiße Tränen vergoss; ich sah, als ob um mich her die Menschen ihrem inneren Ausdruck nur in dem schweren Tränenvergießen finden konnten; grässliche Unfassbarkeit stand ihnen in den Gesichtern gezeichnet; und da die Mutter noch heftig bewegt vom Verlust und Schmerz ausrief; so überraschend hast du uns verlassen! So überraschend hat man dich uns weggenommen! traf es uns der Verlust alle doppelt in der Seele.
Ihre Mutter fiel bei dem Anblick wie man dann das Grab zuschaufelte in Ohmacht; der Vater stand ihr zur Seite und trug sie fort an den Wagen. Ich sah die geliebte Seele unter der Erde langsam für immer begraben. Ich verlor mich im nächsten Tränenstrom, der meine ganze Seele ergriff, der wie eine unaufhaltsame mächtige Flut, das sonst so ruhige Tal einwärts niederriss und überflutete.
Tag der Veröffentlichung: 14.01.2010
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